Lasst die Kinder los - Margrit Stamm - E-Book

Lasst die Kinder los E-Book

Margrit Stamm

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Verunsicherte Kinder mit vollen Terminkalendern, gestresste Eltern, die nur alles richtig machen wollen und dabei trotzdem das Gefühl haben, dass irgendetwas falsch läuft: Bei der Erziehung und der Entwicklung ihrer Kinder stehen Väter und Mütter heute mächtig unter Druck – das führt zur Überforderung aller und selten zu wirklich glücklichen Kindern. Die renommierte Erziehunsgwissenschaftlerin Margrit Stamm kann anhand von zahlreichen empirischen Studien nachweisen, warum Eltern gut daran tun, ihre Kinder weniger zu behüten und zu kontrollieren und wie das gelingen kann. Sie zeigt Wege zu einem entspannteren Erziehungsstil für lebenstüchtige Kinder und zufriedene Eltern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97378-6

März 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: corbis und plainpicture

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Vorwort

Einleitung

1 Das Problem: Eltern sind an allem schuld

2 Familien- und Kindheitsmythen

Familienmythen

Kindheitsmythen

Historische Mythen

3 Perfekte Eltern

Förderwucht

Bildungspanik

Partnerschaftliche Erziehung

Überbehütung und Verwöhnung

Sicherheitsangst und Risikoscheu

Die perfekten Eltern gibt es nicht

4 Perfekte Kinder

Das vermessene Kind

Das Königskind

Das abhängige Kind

Das gefährdete Kind

Das perfekte Kind gibt es nicht!

5 Hinreichend gute Eltern sein oder werden

Raus aus der Perfektionsspirale

Positive Autorität und Distanz

Stärkung der Autonomie

Kindliche Entwicklungsgesetze als Maßstab

Alles auch mit Intuition!

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Warum bekommt man heute Kinder? Um dem Leben einen Sinn zu geben, um Liebe zu schenken und sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. So antwortet zumindest in unseren Forschungsstudien ein Großteil der Eltern oder solche, die es werden wollen. Elternliebe gilt als einmalig und unvergleichlich. Auch der Schriftsteller Jean Paul hat einmal gesagt, mit einer Kindheit voll Liebe könne man ein halbes Leben lang in der kalten Welt auskommen. Tatsächlich ist die Liebe zwischen Eltern und Kind für die fundamentale Ausgestaltung des Lebens etwas Grundlegendes. Zwar entspricht sie nicht dem »coup de foudre«, der Liebe auf den ersten Blick, den die Franzosen »Blitzschlag« nennen. Doch gilt sie als größer, inniger und zarter. Männer und Frauen, die Väter und Mütter werden, erträumen ihre Elternliebe in vielen Farben. Aber nicht nur die Liebe, sondern auch die Verantwortung gegenüber dem Kind schreiben sie groß: 62 Prozent der 35- bis 42-Jährigen meinen, dass Eltern ihr eigenes Leben hinter dasjenige des Kindes stellen sollten. Diese Aufopferungspflicht ist international. Sie gipfelt darin, dass Kinder immer mehr zu genau geplanten Lebenswerken, zu etwas Besonderem werden und alles überstrahlen sollen. Das Ziel ist das perfekte Kind, und perfekte Kinder brauchen perfekte Eltern. Allerdings haben solche gegenseitigen Abhängigkeiten möglicherweise problematische Folgen. Die Hauptverantwortung hierfür liegt jedoch nicht bei den Eltern, sondern bei der Gesellschaft.

In den letzten zehn Jahren sind Eltern immer stärker zum Gegenstand des öffentlichen und politischen Interesses geworden. Grundsätzlich ist dies eine positive Entwicklung, denn die Familie ist lange genug ein Stiefkind der Politik gewesen. Problematisch ist allerdings, dass Erziehung, Betreuung und Bildung mehr und mehr politisiert werden und dies für Väter und Mütter mit negativen Folgen verbunden sein kann. So ist die gesellschaftliche Überzeugung heute übermächtig, dass allein der familiäre Einfluss das Verhalten und Gedeihen eines Kindes bestimmt. In der Bildungs- und Sozialpolitik besonders beliebt ist der Begriff der »verantworteten Elternschaft«. Damit ist gemeint, dass man keine Kinder in die Welt setzen soll, wenn man nicht in der Lage ist, sie gut zu erziehen, zu fördern und zu bilden und dabei alle ihre Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt zu stellen. Den Eltern wird zudem kontinuierlich eingetrichtert, dass die ersten Lebensjahre die wichtigsten überhaupt sind. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Aussage zwar weitgehend richtig, doch die mit ihr verbundenen unterschwelligen Drohungen – wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördere, nehme das Risiko verpasster Chancen in Kauf – haben möglicherweise ernst zu nehmende Auswirkungen. Denn gerade verantwortungsbewusste Eltern setzen alles daran, keine Fehler zu machen. Sie unterlassen nichts, was das Kind am bestmöglichen Aufwachsen hindern könnte, merken aber vielleicht gar nicht, dass es von einer solchen »Treibhausförderung« überfordert wird.

Je mehr unsere Gesellschaft Erfolg und Versagen den Müttern und Vätern zuschreibt und dabei mit Angstszenarien argumentiert, desto größer werden ihre Verantwortungs- und Schuldgefühle. Eine solche Einschüchterungskultur setzt auch an sich normale Eltern unter Dauerdruck und Dauerstress, sodass auch sie nur ein Ziel haben: alles fürs Kind zu tun und dabei keine Fehler zu machen, also perfekt zu sein. Davon handelt mein Buch. Dabei plädiere ich dafür, dass sich Eltern emanzipieren und sich diesen Druckversuchen widersetzen, damit sie aus der Perfektionsspirale herauskommen. Damit dies gelingt, müssen sie jedoch nicht nur ihre Erziehungs- und Förderstrategien überdenken, sondern vor allem auch selbstkritisch in den Spiegel schauen und sich fragen, in welcher Hinsicht sie selbst Teil des Perfektionsproblems sind.

Die Motivation, mich verstärkt mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, hat viel damit zu tun, dass ich selbst Mutter von zwei erwachsenen Kindern bin und solche Zwänge und Schuldgefühle aus eigener Erfahrung gut kenne. Zudem belegen die Studien, welche ich an meinem Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg und anschließend in meinem Forschungsinstitut Swiss Education in Bern durchgeführt habe, immer wieder die große Verunsicherung vieler heutiger Eltern. Auf der Basis meines persönlichen Hintergrunds bringe ich ihnen somit nicht nur viel Verständnis entgegen, sondern es ist auch zu einer meiner empirisch legitimierten Gewissheiten geworden, dass Unsicherheiten von Eltern nicht einfach ihnen allein in die Schuhe geschoben werden können.

Das vorliegende Buch ist kein Erziehungsratgeber. Wie man Kinder erzieht, kann man nicht aus Büchern oder von  Beratern lernen. Selbstverständlich kann man gewisse Dinge nachlesen oder bei Experten, vor allem aber auch bei Verwandten und Freunden nachfragen, beispielsweise was man bei Halsschmerzen tun soll oder bei einer Magenverstimmung beachten muss. Aber Kinder zu »er-ziehen« kann man nicht durch Nachhilfe oder Checklisten lernen. Erziehung hat viel mit selbstkritischer Haltung und Intuition zu tun. Hier setzt mein Buch an. Erstens will es Eltern helfen, die gesellschaftlichen Wurzeln zu verstehen, die ihre Schuldgefühle und ihre Zweifel bedingen, und ihnen aufzeigen, wie sie aus Opferrolle und Perfektionsspirale herauskommen können, in die sie durch die gesellschaftliche Elternschelte geraten sind. Zweitens will es sie darin unterstützen, ihr Vertrauen in die eigene Urteilskraft zu stärken, ein neues Selbstbild zu entwickeln und eine emanzipierte, aber auch selbstkritische Haltung zu erwerben – oder aufrechtzuerhalten. Vielleicht hat diese Haltung dann zur Folge, dass sie einen ganz anders lautenden Rat von Experten oder von allzu beflissenen Verwandten ausschlagen. Will man jedoch Vertrauen in die eigene Erziehungskompetenz (wieder)finden, so ist ein Blick in den Spiegel und die Frage notwendig, in welcher Hinsicht man selbst Teil des Perfektionsproblems ist. Schon Sokrates hat einmal gesagt, jede Erziehung des Nachwuchses beginne damit, sich selbst zu erkennen und bei sich zu beginnen. Das gilt auch heute noch.

Die Hauptadressaten meines Buches sind Mütter und Väter. Zudem richtet es sich an alle, die sich mit Bildung, Erziehung, Förderung und Betreuung von Kindern beschäftigen, also an das Fachpersonal im Vorschulbereich, an Lehrkräfte, an Fachexperten, an Ausbildende und Studierende und selbstverständlich auch an in der Bildungs- und Sozialpolitik Tätige.

Dabei habe ich nicht alle Eltern im Blick. So klammere ich gezielt die sogenannten »Null-Bock-Eltern« aus. Gemeint sind damit diejenigen Väter und Mütter, die schnell einmal überfordert sind, an ihren Nachwuchs kaum Anforderungen stellen, sich wenig um ihn kümmern und schon froh sind, wenn er nicht delinquent wird. Über solche Familien wird zu Recht viel geforscht, debattiert und geschrieben. Mein Fokus richtet sich vielmehr auf die etwa 60 Prozent aller Eltern, die als bildungsinteressiert und bildungsambitioniert gelten. In meinen Forschungsstudien habe ich viele von ihnen kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Doch wäre es vermessen, sie als einheitliche Gruppe anzusprechen. Denn es zeigen bei Weitem nicht alle Eltern Symptome »perfekter Eltern«, und auch diese unterscheiden sich in ihren primären Zielen und Haltungen. Aber die vielleicht wichtigste Erkenntnis meiner Forschungsstudien ist die, dass es kaum Väter oder Mütter gibt, die sich dem Elterndruck, der Verunsicherung und der Wettbewerbslogik entziehen können, welche heute die Erziehung und Förderung in unserer Gesellschaft überschatten.

Die Idee, eine solche Publikation zu verfassen, hat Marc Koralnik von der literarischen Agentur Liepman an mich herangetragen. Ich habe mit Freude zugesagt. Zum einen ist eine solche Anfrage eine Ehre für mich und meine Forschungstätigkeit. Andererseits bekomme ich dadurch die Möglichkeit, bei einem renommierten Verlag meine jahrelange Arbeit im vorliegenden Buch zu bündeln. Deshalb danke ich an dieser Stelle Anne Stadler und Heike Specht, welche die Realisierung des Buches unterstützt und tatkräftig begleitet haben. Die Entstehung eines solchen Buches ist immer auch ein Abenteuer mit Unwägbarkeiten. Ich bin stolz, dass es gelungen ist, das Projekt im geplanten Zeitrahmen abzuschließen. Mein Dank geht aber auch an die vielen ehemaligen Mitarbeitenden meiner Forschungsprojekte, ebenso jedoch an Hunderte von Familien mit ihren Kindern und an Lehrkräfte, welche in unseren Projekten mitgewirkt haben.

Der größte Dank gilt jedoch meiner Familie, meinem Partner Walter Stamm und unseren beiden Kindern Sibylle und Ralph. Sie haben mir den Rücken frei gehalten, damit ich mich jahrelang dieser Thematik habe widmen können. Und ohne sie hätte dieses Buch gar nicht geschrieben werden können. Denn es sind die vielen Erfahrungen mit ihnen während unserer gemeinsam erlebten Kleinkind-, Schul- und Ausbildungszeit, welche mir immer wieder geholfen haben, die wissenschaftlichen Fragen und empirischen Antworten an unsere gelebte Erziehungspraxis anzubinden.

Bern und Aarau, im August 2015

Margrit Stamm

Einleitung

Vor dreißig Jahren hatte meine Generation die gleichen Träume und Sehnsüchte wie Eltern heute: Unsere Kinder sollten gesund, hübsch, klug, beliebt werden und später erfolgreich sein. Und doch gibt es große Unterschiede: Während unsere Sehnsüchte damals von einem grundlegenden Vertrauen in die Zukunft getragen wurden, ist dieses Vertrauen heute einem ebenso grundlegenden Misstrauen gewichen. Als junge Eltern waren wir euphorisch und verbanden unsere Zukunftsaussichten mit Fortschritt. Wir waren überzeugt, Krebs heilen zu können, Kriege zu verhindern, Wohlstand aufzubauen und soziale Gerechtigkeit und »Bildung als Bürgerrecht« zu verankern, so wie dies Ralf Dahrendorf schon 1965 gefordert hatte. All dies ist nicht so eingetroffen. Heute müssen wir erkennen, dass unsere Fortschrittsgläubigkeit fast zum Paradox geworden ist und Verheißung in Bedrohung, Optimismus in Pessimismus umgeschlagen ist. Neben den Gefahren des Klimawandels, der Selbstgefährdung durch Atomkraft, des teils problematischen wissenschaftlichen Fortschritts (beispielsweise in der Gentechnologie oder der Fortpflanzungsmedizin), der Migrationsbewegungen oder neuartiger Krankheiten (AIDS, Vogelgrippe) sind es die zunehmende Globalisierung und Wettbewerbsorientierung, welche auch den Bildungsbereich stark betreffen und damit die Erziehung und Förderung unseres Nachwuchses.

Eltern verhalten sich heute so, wie dies die Bildungspolitik lange gefordert hat

Logischerweise haben solche Bedrohungsszenarien auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis von heutigen Vätern und Müttern. Sie können ihre Kinder nicht mehr so erziehen, wie dies für unsere Generation noch möglich gewesen war. Einen wesentlichen Anteil an der zunehmenden Leistungs- und Wettbewerbsorientierung haben Leistungsstudien wie PISA, TIMMS, IGLU und wie sie alle heißen. Angesichts der teilweise lediglich mittelmäßigen oder gar schlechten Leistungen der Schüler begann die Bildungspolitik auf der Basis solcher Studien unentwegt vor einer »Bildungskatastrophe«1 zu warnen und die Angst vor dem Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und dem Abbau des gesellschaftlichen Wohlstands zu schüren. Solche Krisendiagnosen führten zu der Forderung, alle Kinder seien früher zu fördern und besser als bisher auf die Schule vorzubereiten. Nur so könnten die Schülerleistungen nachhaltig verbessert werden. Deshalb wurde die Frühförderung in vielen Parteiprogrammen als neuer Schwerpunkt definiert und die Bedeutung von Bildung als einzigem Rohstoff und die Wichtigkeit einer guten Ausbildung für alle zu tragenden Leitideen erklärt. Fast gleichzeitig wurde auch die Familie neu entdeckt. Quer durch die politischen Parteien hindurch war die Botschaft nun erstaunlich einhellig: Eltern sollten in die Erziehung ihrer Kinder investieren, damit ihre Anstrengungen Früchte tragen. Nur wenn sie sich stärker für die Schule interessieren und sich ihrer zentralen Rolle bewusst werden, kann die schulische Förderung greifen. In der Folge wurde die frühe Elternarbeit intensiviert und in den Schulen verbindlich festgelegt, die individuelle Förderung der Kinder durch eine ausgeklügelte Diagnostik verbessert, frühe Sprachförderung in vielen Programmen etabliert, die vorzeitige Einschulung ermöglicht und die Ausbildung und Einstellung Heilpädagogischer Zusatzlehrkräfte vorangetrieben.

Solche Botschaften und Reformen sind bei Vätern und Müttern schnell angekommen und als Vorgaben verstanden worden, auf die entsprechend reagiert werden muss. Deshalb betrachten sie die intensive Beschäftigung mit den Bildungs- und Laufbahnfragen ihrer Sprösslinge als normale Angelegenheit, die sie allerdings mit hohem zeitlichem, finanziellem und nervlichem Aufwand bezahlen und dabei oft auch die eigenen Bedürfnisse zurückstellen müssen.

Warum ist eigentlich angesichts dieser Entwicklung das allgemeine Erstaunen so groß, dass Mütter und Väter ihre Antennen dauernd ausgefahren haben und permanent darum bemüht sind, sich in Startposition zu bringen? Sie verhalten sich ja nur exakt so, wie dies Bildungspolitik und Fachexperten jahrelang eingefordert haben. Denn wohin Eltern auch schauen und an wen sie sich auch wenden, ihnen wird bestätigt: Die Krise der Familie ist allgegenwärtig, und schuld daran sind die Väter und Mütter. Infolgedessen liegt es nur in ihrer Hand, den Erfolg des Nachwuchses zu planen und zu sichern. Ihre Perfektionsträume und ihr überdimensioniertes Engagement sind deshalb logische reaktive Strategien, um sich zumindest ein wenig gegen die Schuldzuweisungen, aber auch die diffusen und bedrohlichen Zukunftsängste zu stemmen.

Als wäre das noch nicht genug, verlangt die Gesellschaft eine Menge mehr von Eltern. Sie sollen ausgleichen, was die Gesellschaft den Kindern vorenthält. Platz zum Toben zum Beispiel, altersgemäße, sinnvolle Aufgaben, Schutz vor einer Konsumgesellschaft, die alles daransetzt, Wünsche zu wecken, welche die Eltern dann heldenhaft ablehnen sollen. Und natürlich sollen sie immer dann zur Verfügung stehen, wenn wieder ein Sprössling aus dem Kindergarten kommt, während die Großen zum Nachmittagsunterricht müssen. Schließlich haben sie ihre Kinder gesund zu ernähren und bei allem so viel zu verdienen, dass der Staat nicht mit Transferleistungen eingreifen muss. Vor einem solchen Anforderungsprofil müssten eigentlich alle kapitulieren. Eltern, der Großteil von ihnen jedenfalls, geben jeden Tag ihr Bestes. Aber viele verausgaben sich dabei sehr, manchmal zu sehr.

Das normative Muster perfekter Eltern

Warum tun sich Väter und Mütter dies alles an? Warum brechen sie nicht einfach aus dem normativen gesellschaftlichen Muster aus? Weil sie sich in einer paradoxen Situation befinden, der sie nicht einfach so entfliehen können. Denn zum einen macht die Gesellschaft Eltern für alles verantwortlich, was mit der Erziehung und Bildung der Kinder zu tun hat, und zeigt ihnen auf, welche Konsequenzen ihre Erziehung hat. Zugleich spricht sie ihnen mit Verweis auf die vielen Fachexperten die Kompetenz ab, Erziehungsprobleme eigenständig lösen zu können. Als inkompetent hingestellt zu werden und gleichzeitig die alleinige Verantwortung für das Wohlergehen und den Bildungserfolg der Kinder tragen zu müssen, treibt Eltern in Ängste und Gewissensbisse, die sie mit einem Hang zur perfekten Elternschaft zu bewältigen versuchen.

Auf dieser Bestandsaufnahme basiert die These, welche ich im vorliegenden Buch anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse diskutieren und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen werde. Sie lautet:

Heutzutage fördern, umsorgen und kontrollieren Eltern ihren Nachwuchs nonstop. Diese Anstrengungen sind nicht das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, Kinder »richtig« zu erziehen. Vielmehr ist es unsere elternunfreundliche Angst- und Sicherheitskultur, die Väter und Mütter dazu zwingt, perfekt zu sein und perfekte Kinder haben zu wollen. Perfekte Eltern sind zu einem normativen Muster geworden, das sich anhand von vier Merkmalen umschreiben lässt: der Förderwucht, der partnerschaftlichen Erziehung, der Überbehütung sowie der Sicherheitsangst.

Mit normativ meine ich, dass die gesellschaftliche Vorstellung, was gute Erziehung sein soll, recht eng ist und die vier Merkmale deshalb mit großer Selbstverständlichkeit als solche guter Elternschaft anerkannt sind und kaum hinterfragt werden. Man muss somit etwas genauer hinschauen, um ihre problematischen Seiten jenseits der elterlichen Schuldfrage zu erkennen. Dies will ich in meinem Buch in insgesamt fünf Schwerpunkten tun. Dabei beziehe ich mich immer wieder auf die empirischen Daten verschiedener Studien, welche ich in den letzten zehn Jahren durchgeführt habe. Am häufigsten ist es die Längsschnittstudie FRANZ (»Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft?«), welche die Entwicklung von Vorschulkindern bis zum Kindergarten- respektive Schuleintritt untersuchte und dabei die familiäre und außerfamiliäre Förderung, die Betreuung und die Erziehungsziele und -stile der Eltern genauer unter die Lupe nahm.2 Da es sich dabei um eine relativ bildungsnahe Stichprobe handelte, lassen sich die Daten gut für die in diesem Buch in den Blick genommenen Väter und Mütter nutzen.

Im Folgenden ergründe ich die Grundproblematik im ersten Kapitel und frage dabei nach den Hintergründen meiner These: Wie es dazu gekommen ist, dass sich Väter und Mütter heute derart unter Druck fühlen, und welche gesellschaftlichen Entwicklungen dafür verantwortlich gemacht werden können. Dies zu verstehen bildet die Ausgangslage für das zweite Kapitel, das sich verschiedenen Familien- und Kindheitsmythen widmet, die immer wieder herumgeistern. Solche Mythen widerspiegeln bestimmte Annahmen über einen Sachverhalt, die Überzeugungscharakter haben und kaum hinterfragt werden. Ich tue dies zunächst mit Blick auf einige Mythen rund um die Aufgaben und Profile heutiger Eltern und die Kindheiten ihres Nachwuchses, bevor ich sie aus einer historischen Perspektive beleuchte.

Im dritten Kapitel widme ich mich der Thematik perfekter Eltern. Gedankenleitend ist dabei das in der These angesprochene normative Muster perfekter Elternschaft. Dazu gehören die Förderwucht und Bildungspanik, die partnerschaftliche Erziehung, die Überbehütung und Sicherheitsangst sowie Risikoscheu. Abschließend zeige ich auf, dass es die perfekten Eltern im Singular nicht gibt, sondern nur im Plural.

Das vierte Kapitel untersucht das Ziel perfekter Elternschaft, die perfekten Kinder. Analog zu den Definitionsmerkmalen ihrer Eltern lassen sich solche Kinder wie folgt beschreiben: die mit Diagnosen und Therapien eingedeckten Kinder; die als kleine Könige behandelten Kinder, die es gewohnt sind, im Mittelpunkt zu stehen und ihre Bedürfnisse befriedigt zu bekommen; die abhängigen Kinder, die stets behütet und umsorgt werden, damit sie keinen Unwägbarkeiten oder Enttäuschungen ausgesetzt sind, sowie die gefährdeten Kinder, die in einer beispiellosen Sicherheitskultur aufwachsen und vor jeder Gefahr geschützt werden wollen. Analog zur Erkenntnis, dass es die perfekten Eltern nicht gibt, trifft dies auch für ihre Kinder zu.

Das fünfte Kapitel regt zu grundsätzlichen Überlegungen an, frei von Richtungsstreits und Fachdebatten. Es basiert auf meiner Überzeugung, dass wir eine elternfreundlichere Gesellschaft brauchen, die Väter und Mütter grundsätzlich als fähige und kompetente Erzieher und nicht als Hilfe bedürfende Versager versteht. Vor diesem Hintergrund zeige ich Ansätze auf, wie Eltern sich zum Ziel setzen können, »hinreichend gute Eltern« zu werden oder zu bleiben. Dabei halte ich zunächst nochmals fest, dass die Probleme von Eltern wenig mit den Kindern selbst, sondern viel mehr mit den gesellschaftlichen Spannungen und Schuldzuschreibungen zu tun haben. Väter und Mütter müssen diese erkennen, aber auch, dass sie sich ihnen nur schwer entziehen können. Deshalb sollten sie Strategien entwickeln, um aus der Perfektionsspirale herauszukommen. Vertrauen in die eigene Erziehungskompetenz (wieder) zu finden, erfordert jedoch einen selbstkritischen Blick in den Spiegel, um zu erkennen, in welcher Hinsicht man selbst Teil des Problems ist. Was können Eltern vor diesem Hintergrund folglich tun? Sie können sich um den Aufbau einer positiven Autorität und um mehr Distanz sowie um die Stärkung der kindlichen Autonomie bemühen. Ebenso bedeutsam ist jedoch, dass sie ihren Sinn für die kindlichen Entwicklungsgesetze schärfen, ihrem Sprössling deshalb mehr spielerische Ruhe gönnen und die eigenen Förderambitionen kritisch überprüfen. Schließlich plädiere ich für die Wiederentdeckung der Intuition und damit für mehr Mut und Gelassenheit, öfters den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und vernünftiger mit den eigenen Ängsten umzugehen.

1Das Problem:

Eltern sind an allem schuld

Väter und Mütter stehen heute unter einem großen Druck. Die gesellschaftlichen Erwartungen verunsichern sie enorm. In unseren Studien sagen etwa zwei Drittel, dass sie oft von Selbstzweifeln geplagt sind. Solche Ergebnisse erstaunen kaum. Denn wirft man einen Blick in die Heerscharen populärwissenschaftlicher Neuerscheinungen, die jedes Jahr auf den Markt kommen, dann dominiert vor allem in Publikationen psychotherapeutischer oder individualpsychologischer Ausrichtung die »Krise der Familie«. Dazu gehören Bücher von Caroline Thompson, Wolfgang Bergmann, Michael Winterhoff oder Hara Estroff Marano. Sie decken Eltern mehr oder weniger mit Fundamentalkritik ein und entwickeln teils apokalyptische Vorstellungen, wonach die mangelhafte Erziehung der Kinder die Existenz unserer Gesellschaft gefährde.

Das ist fatal. Denn solche Argumentationen verdeutlichen einerseits, wie sehr Eltern heute für alles verantwortlich gemacht werden. Andererseits stehen sie ebenso für die Annahme, ein solcher »Elterndeterminismus« sei angeboren – genauso wie dies für die »Mutterliebe« behauptet wird.1 Mit Elterndeterminismus meint Frank Furedi in seinem Buch Die Elternparanoia2 die Vorstellung, dass die Fähigkeiten des Kindes und die Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern zu sein, unmittelbar kausal miteinander verknüpft sind. Mit anderen Worten: Zeigen sich Probleme in der kindlichen Entwicklung, so sind die Eltern schuld. Umgekehrt ist ein leistungsfähiges, sich rasch entwickelndes Kind das Verdienst seiner Eltern und damit auch ein Ausweis ihrer Kompetenz. Elterliches Verhalten gilt dann als »gelungen«, andernfalls als »misslungen«.

Wie nie zuvor sind Elternschaft und Kindheit heute von gesellschaftlichen Entwicklungen und damit von einer wettbewerbsähnlichen Vergleichspraxis geprägt. Dies hat viel mit dem Wettbewerbs- und Leistungsgedanken zu tun, der spätestens seit den PISA-Studien mit Elternschaft verknüpft ist, allerdings nicht explizit, sondern verdeckt und teilweise auch uneingestanden.

Welches sind somit die Hintergründe, die zu diesem enormen Druck auf Eltern führen, wie äußert er sich und was sind die Folgen?

Die PISA-Studie als Mutter des Bildungsdrucks

Ursprünglich waren die PISA-Studien, die seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus durchgeführt werden, dazu angelegt, die Qualität der Schulen zu optimieren, aber auch sicherzustellen, dass alle Schülerinnen und Schüler bestimmte Niveaus erreichen. Angesichts der im internationalen Vergleich unbefriedigenden Leistungen der 15-Jährigen wurden in vielen Ländern Vergleichsprüfungen eingesetzt, Bildungsstandards in den einzelnen Fachbereichen entwickelt, und es wurde auch vermehrt in die frühe Sprachförderung investiert.3 Eines der unbeabsichtigten Nebenprodukte von PISA war dabei, dass eine regelrechte Bildungswerbung in Gang kam und seither dem Schulerfolg des Nachwuchses nun auch familienintern eine herausragende Bedeutung beigemessen wird. Möglichst frühe Bildung und möglichst hohe Abschlüsse sind zu Schlüsselbegriffen für erfolgreiche Kinder und ihre bestmögliche Förderung zur verbindlichen Norm geworden. Zwar gibt es immer wieder Eltern, die sich solchen Trends widersetzen, doch sind sie im Rückschritt begriffen. Der »Bildungsdruck« hat Väter und Mütter schon früh im Griff. Hierin liegt eine wichtige Ursache dafür, dass sich Eltern überfordert fühlen. Für Mütter trifft dies mehr zu als für Väter, kümmern sie sich doch trotz Emanzipation und Berufstätigkeit nicht weniger, sondern mehr um die Kinder als je zuvor.4

Ob Eltern wollen oder nicht, der Beginn des Bildungsprozesses wird heutzutage nicht erst mit dem Schuleintritt, sondern biografisch weit früher verortet. Leistungen, die ehemals der Schule vorbehalten waren, sind heute verstärkt im Vorschulbereich angesiedelt. In diesem Zusammenhang wird auch die familiale Leistung redefiniert. Heute erwartet man von Familien mehr als nur die Bereitstellung von Motivation und allgemeinen Fertigkeiten, wie etwa der Schulfähigkeit. Die Familie gilt als strategischer Lernort, als »Bildungsort«5, der stärker genutzt werden soll. Mit PISA hat der Wind vollkommen gedreht. Der »Speedy-Reiz« dominiert die Bildungspolitik und hat auch auf Väter und Mütter übergegriffen6.

Wir alle sind Mitglieder der »Risikogesellschaft«

Wir leben in einer Risikogesellschaft. Dieser vom Soziologen Ulrich Beck im gleichnamigen Buch geprägte Begriff meint, dass in unserer hoch entwickelten Gesellschaft mehr Risiken entstanden sind und laufend entstehen, als unsere staatlichen Kontrolleinrichtungen zu bewältigen vermögen. Dazu gehören soziale, ökologische, politische, aber auch individuelle Risiken. Diese Risiken bestimmen zunehmend unsere Lebensbedingungen, die von einem raschen gesellschaftlichen Wandel mit vielen Veränderungen und neuen Anforderungen geprägt sind. Erhöhte Mobilität in der Berufswelt, steigende berufliche Anforderungen oder Ängste um die Sicherheit der Arbeitsplätze schaffen nicht nur für Individuen, sondern vor allem auch für Familien und die Erziehung ihrer Kinder neue Unsicherheiten. Während einerseits heute jeder Mensch deutlich höhere Chancen hat, sich selbst zu verwirklichen, und viel mehr Handlungsspielräume bestehen als in jeder Generation zuvor, fehlen soziale Normen und Vorgaben, welche Handlungs- und auch Erziehungssicherheit geben würden. Eine solche »Entbettung der Verhältnisse«, wie der Sozialwissenschaftler Anthony Giddens dieses Phänomen nennt, ist in allen Lebensbereichen spürbar. Sichtbar wird dies daran, dass eindeutige Leitbilder für Familie, Beruf, für das Aufwachsen und Erziehen des Nachwuchses fehlen, weil die traditionellen Werte und Normen oder auch moralische und soziale Standards nicht mehr verbindlich sind. Unsere Gesellschaft ist eine »Multioptionsgesellschaft« geworden, die auch in der Pluralisierung von Familienformen sichtbar wird.

Der rapide gesellschaftliche Wandel und die veränderten Familienbeziehungen haben dazu geführt, dass Eltern in einer Welt sich widersprechender Anforderungen leben, sich mit sehr unterschiedlichen Rollenerwartungen auseinandersetzen müssen, meist auch persönliche berufliche Pläne mit ungewissem Ausgang verfolgen, deshalb außerordentlich unsicher sind und sich stark unter Druck fühlen. Woher jedoch kommt diese Zwiespältigkeit? Unter anderem aus der Konfrontation mit komplexen und teilweise auch widersprüchlichen Lebensbedingungen. Fünf Gründe hierfür stehen im Vordergrund:

Zunahme der Unsicherheit in der Erziehung: Vor der Geburt des ersten Kindes mangelt es der Mehrzahl junger Eltern heute an Erfahrung im Umgang mit Babys und Kindern. Für viele Väter und Mütter ist das eigene Kind der erste Säugling, den sie in den Armen halten. Deshalb fehlt ihnen das bisher über Generationen selbstverständlich vermittelte und durch das natürliche Zusammenleben erfahrene Know-how. Infolgedessen wissen sie auch kaum mehr, welche Probleme es immer schon in der Erziehung eines Kindes gegeben hat und dass diese deshalb auch mit etwas Geduld und Distanz betrachtet werden könnten.Konzentration auf das einzelne Kind: Weil die moderne Familie heute nur noch ein bis zwei Kinder hat, konzentriert sie sich stark auf das einzelne Kind, während in früheren Generationen die Geschwister und Nachbarskinder ein eigenes System in der Familie bildeten und ihre Eltern in der Betreuungsaufgabe entlasteten. Die Kinder waren deshalb auch nicht in einem vergleichbaren Sinn, wie dies heute der Fall ist, auf die ständige Präsenz der Eltern angewiesen.Fehlende Spielkameraden: Sowohl der Geburtenrückgang als auch die Tendenz, Vorschulkinder in Förderkurse zu schicken und sie familienergänzend betreuen zu lassen, haben dazu geführt, dass Spielkameraden in der Nachbarschaft fehlen. Deshalb müssen Eltern immer mehr Aktivitäten entwickeln, um ihre Kinder mit anderen Kindern zusammenzubringen. Diese »Verinselung der Kindheit« hat zur Folge, dass die Eltern, vor allem die Mütter, verstärkt zu Transporteurinnen werden, aber auch zu Managerinnen, welche die Zeitorganisation der Kinder mit derjenigen der Familie in Übereinstimmung bringen müssen.Mehr Fachwissen, mehr Diagnostik, mehr Experten:Die Leistungsanforderungen an Eltern haben aber auch deshalb zugenommen, weil Medizin, Psychologie und Pädagogik heute über ein viel größeres Wissen verfügen und ihre Erkenntnisse in vielen Ratgebern an die Eltern weitergeben. Als guter Vater oder gute Mutter gilt, wer über dieses Wissen verfügt, weshalb Eltern auch viel stärker bereit sind, die notwendige Informationsarbeit zu leisten. Ein ausgeklügelter Apparat an Instrumenten erlaubt zudem in fast allen Fachdisziplinen, differenzierte Diagnosen zu stellen, Störungen zu identifizieren und diese zu therapieren.7 Hierzu stehen viele Experten zur Verfügung, die manchmal sogar vorbeugend eingesetzt werden und den Lauf der kindlichen Natur korrigieren sollen. Mütter und Väter werden so zu Entwicklungshelfern ihrer Kinder. Denn nicht fördernde und geförderte Zeit gilt als verlorene Zeit.Zukunftsangst und der Vergleich mit dem »sozialen« Nachbarn: Eltern haben zwar noch nie so viel über Erziehung und Bildung gewusst und noch nie so viel für ihre Kinder getan, aber ebenso hat noch keine Generation vor ihnen eine derart große Zukunftsangst entwickelt. Das fast grenzenlose Vertrauen der 68er-Generation in die Zukunft ist durch das enorme Misstrauen heutiger Eltern ersetzt worden. Vielleicht gerade deshalb ist der Vergleich mit »dem sozialen Nachbarn« so wichtig geworden. Damit meint der Soziologe Georg Simmel alle Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, welche einen ähnlichen Status in Bezug auf Beruf und Einkommen haben. Soziale Nachbarn dienen als Vergleichsmaßstab für die Art und Weise, wie sich der Nachwuchs entwickelt, wie erfolgreich er ist und was er schon kann, aber auch, was aus ihm werden soll. Solche Vergleiche gründen in den Sorgen vieler Eltern vor dem Gedanken, ihr Kind könne etwas nicht, das von ihm erwartet wird und das es gegenüber anderen Kindern aus ähnlich situierten Familien auszeichnen würde. Der Philosoph Alain de Botton bezeichnet diese Sorge in seinem gleichnamigen Buch als Statusangst. Diese Statusangst äußert sich auch in gezielten »Abschottungspraktiken« wie etwa der bewussten Wahl des Wohnquartiers. Gemeint ist damit, dass gut situierte Eltern zunehmend aus Gegenden wegziehen, in denen benachteiligte Familien wohnen.

All diese neuen Bedingungen der Risikogesellschaft haben dazu geführt, dass Familien mit deutlich höheren Leistungsanforderungen konfrontiert werden – oder sich selbst die Messlatte hochlegen – als jede Generation zuvor. Das macht sie verletzlich und fragil. Einerseits hat der gesellschaftliche Wandel den Kindern auf vielen Ebenen neue Chancen gebracht: Sie sind noch nie so von den Eltern geliebt und in den Mittelpunkt des Familienlebens gestellt worden, sie werden individuell gefördert, und auch Geschlecht und soziale Herkunft spielen heute eine viel kleinere Rolle. Andererseits haben Eltern noch nie das Aufwachsen ihrer Kinder so eingeschränkt, vorbestimmt und überwacht und sie unter einen derart großen Druck gesetzt wie heute. Kindheit findet zu großen Teilen in pädagogisch besetzten Institutionen statt, in denen Kinder nahezu durchgängig überwacht werden. Sie dürfen kaum mehr unbeaufsichtigt spielen, dafür wird ihre Entwicklung vor allem durch geplante Aktivitäten und Programme bestimmt. Oft wird deshalb von »Helikopter-Eltern« gesprochen.8

Das falsch verstandene »Hänschen-Argument«

Vorbei sind die Zeiten, als Bildung wie bei den alten Römern und Griechen noch »schola« und »schole« hieß und als Zeit verlieren, Innehalten und Muße finden verstanden wurde. Dass sie heute vielfach mit einem Treibhaus gleichgesetzt wird, hat seinen Grund auch in der Forschung, in erster Linie in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Erziehungswissenschaft.9 Obwohl diese Wissenschaften unterschiedliche Schwerpunkte setzen, bauen sie auf einem gemeinsamen Grundverständnis auf. Erstens erachten sie die Vorschuljahre als eine Zeit enormen körperlichen, emotionalen und geistigen Wachstums, in der Kinder eine ungeheure Kapazität zum Lernen entwickeln können. Zweitens unterstreichen sie immer wieder, wie wichtig das hierfür notwendige Fundament ist. Kinder brauchen Liebe, Fürsorge, soziale und emotionale Sicherheit sowie auch Stimulation derjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche sie erfolgreich auf den Schuleintritt vorbereiten. Auch ihre Botschaft ist eine identische: Wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördert, nimmt das Risiko verpasster Chancen in Kauf. Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans nimmermehr der Fall sein können.

Dieses »Hänschen-Argument« wird jedoch oft falsch verstanden. In den Medien und vielen Erziehungsratgebern wird nicht selten so getan, als ob das Kind eine Blackbox sei und Frühförderung deshalb bedeute, dass man Hänschen nach Belieben wie einen Diamanten schleifen und formen könne. Leider haben es anwendungsorientierte Publikationen weitgehend verpasst, solche Missverständnisse anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu relativieren.10 Die ersten Lebensjahre sind zwar enorm wichtig für eine gelingende Entwicklung, doch zeichnet sich der Mensch durch eine lebenslange Lernfähigkeit aus. Menschen können auch als Jugendliche, als junge Erwachsene oder sogar noch als ältere Menschen vieles lernen. Dennoch ist spätes Lernen mühevoller und weniger wirkungsvoll als in der frühen Kindheit.11 Deshalb sollten wir unsere Aufmerksamkeit zwar auf die frühe Kindheit legen und uns versichern, dass sie tatsächlich für den Aus- und Aufbau von Kapazitäten wie Neugier, Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit oder Frustrationstoleranz genutzt wird, die für einen erfolgreichen Schulstart so zentral sind.12 Genauso wäre aber zur Kenntnis zu nehmen, dass nach dem Vorschulalter keinesfalls alles hoffnungslos verloren ist.

Eine anregungsreiche und liebevolle familiäre Umwelt ist für eine optimale Entwicklung ausreichend. Hingegen kann eine überehrgeizige Stimulation in Form von frühen Förderkursen schädlich sein, wenn sie das Kind in seiner eigeninitiierten Aktivität lähmen oder seine Bedürfnisse nicht berücksichtigen. Allerdings trifft dies für zwei Gruppen von Kindern nicht zu: für solche mit Entwicklungsstörungen und für Kinder aus stark benachteiligten Familien. Beide Gruppen brauchen eine gezielte und frühe Stimulierung und Förderung. Forschungsergebnisse belegen, dass sie davon enorm profitieren können.13