Lästrygonenland - Matthias Freytag - E-Book

Lästrygonenland E-Book

Matthias Freytag

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Beschreibung

"Die Wirtschaft ist heut alles, was noch mein Fall ist", sagte Fall grimmig, der ganz in Schwarz gekleidet in der Washington-Bar an der Bar saß, als einziger Gast, denn draußen an der Tür hing ein Schild: 'Wegen Trauerfall geschlossen'. Es war eine Beerdigung im engsten Kreise gewesen. Nicht mehr viele der alten Freunde und Bekannten hatten noch zu Frank Bohnschanze gehalten, einst erfolgreicher Kriminalkommissar, anschließend noch erfolgreicherer Kriminalautor. Dann aber hatte er immer mehr getrunken, so daß er, selbst ohne Glas oder Flasche in der Hand, bald eine Fahne um sich geschwenkt hatte wie etwa ein Fünf-Mast-Vollschiff seine sämtlichen Segel. Und niemand wußte letztlich, was mit ihm los war, außer Jacky und natürlich Fall, den die geistigen Nachwirkungen ihres letzten gemeinsamen Abenteuers auch in gefährliche Gewässer gebracht hatten. "Dein Frankie, unser Frankie", begann Fall beinahe flüsternd, "Jacky, wie hast du ihn als Mitfinanzier genannt, stiller Teilnehmer?"– "Schtiller Teilhaber, w'sso?"– "Und das still heißt, niemand hat davon gewußt?"– "Jja doch, außer dem Fff'nanzamt."– "Und unsere korrekten Ämter verraten keine Vertraulichkeiten. Also hätte auch der blasierte Blazerlaffe nichts wissen dürfen… Jacky, daß Frankie gerade jetzt – daß dieser Abgesandte dich auf dem Friedhof – ich fürchte, Frankie hat sich nicht zu Tode gesoffen – nein, so wahr ich Zacharias Urs Fall heiße und an Zufall nicht glaube – da hat jemand nachgeholfen – mit einem Wort: Mord!"

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T(h)ril(l)ogie des Wahnsinns Band 3

Was auch ist, sei stets von Nutzen –

Unsinn heißt es, dem zu trutzen.

Soll man über Unsinns-Sachen

Lauthals schimpfen oder lachen?

Oder bleibt in jähem Schrecken

Beides dann im Halse stecken…?

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

I

»Die Wirtschaft ist heut alles, was noch mein Fall ist«, sagte Fall grimmig, der ganz in Schwarz gekleidet in der Washington-Bar an der Bar saß, als einziger Gast, denn draußen an der Tür hing ein Schild: ‚Wegen Trauerfall geschlossen‘.1 Er hob sein Glas, das mit einer goldbraunen Flüssigkeit gefüllt war. »Prost, Jacky«, brummte er.– »Ach, red nicht so daher«, kam es von ihr.– Mit traurigem Gesicht zwischen der strubbig wirkenden Löwenmähne ihres blondierten Haars und über hochgeschlossener schwarzer Bluse – denn heute war kein Tag für ein perlmuttschimmerndes Paillettenbustier, wie Er es an ihr geliebt hatte –, so lehnte sie auf der anderen Seite der Theke. »Ihn hat diese Wirtschaft hier vollends zu Fall gebracht«, sprach sie mit brüchiger Stimme weiter. »Hätt ich einen Naturkostladen, würd ich Kräutertee verkaufen und wär Hausmütterchen und hätte mich darum gekümmert, ob mein Frankie-Boy auch warme Pantoffeln an den Füßen trägt, wo er sich doch so leicht erkältet hat –ach, ach ja, dann hätt er sich – eben anderswo ersäuft. Und eigentlich, Fall, bist du schon auch mit schuld daran: Euer Fall damals, seit Frankie angefangen hatte, über diese ganze Sache ernsthaft zu schreiben, hatte er allen immer weniger getraut und am Ende so richtig gar niemandem mehr, auch dir nicht und – selbst mir nicht. Ach, sogar sich selber nicht mehr. Das hatte sich schließlich als fixe Idee in ihm festgefressen, ans Schreiben war da längst gar nicht mehr zu denken. Hier saß er, hier, und kaum mehr drüben am Tisch, wo er doch früher immer geschrieben und, wenn er aufsah, meinen Blick gesucht und mir zugezwinkert und wieder weitergeschrieben hatte, ach früher, seine harmlosen Kriminalreißer – aus war es damit … nein, hier an der Bar saß er nur noch und schüttete das braune Zeugs in sich hinein. Hätt ich’s ihm wehren können? Einmal hab ich gesagt: Schluß jetzt, Frankie!, und ihn, Entschlossenheit markierend, hinausgeworfen. Wozu hat es geholfen? Daß er an anderer Quelle sich versorgt hat, und es war schlimmer als je. Dann lieber vor meinen Augen, hab ich mir gesagt. Auch wenn es so weh tat, ihn so zu sehen, wie er Glas um Glas leerte und die meiste Zeit stumm vor sich hinstierte. Und wenn er nicht stumm vor sich hinstierend dahockte, dann schaute er mich aus verquollenen, aus so trüb gewordenen Augen an und lallte bloß: ‚Bist du’s noch, Jacky, bist du’s noch, sag, bin ich’s denn noch, bin ich’s noch, wer sind wir denn, was sind wir denn …?‘– aber was erzähl ich dir das, hast es ja oft genug miterlebt. Alle Menschen waren ihm verdächtig geworden, keine mehr zu sein.«– »Ja, ich weiß ja«, äußerte Fall zerknirscht und trank einen Schluck. »Mir ging es, mir geht’s ja nicht viel besser, bloß – bloß daß ich an uns, an dich, an mich noch glaube, und genauso an ihn geglaubt habe. Wir sind es noch, und er war es auch noch. Und wenn auch alle übrigen keine mehr wären, dann wären wir noch die letzten Menschen, mit allen Schwächen und Fehlern, mit allen Macken und Unzulänglichkeiten und mit all unserer Lächerlichkeit meinetwegen, aber: wirkliche Menschen noch – wie ich das Frankie mal gesagt habe und wie er es damals auch selber noch geglaubt hat.«– »Wenn wir ihm diesen Glauben doch hätten wiedergeben können«, sagte Jacky, »daß wir nicht ferngesteuert, nicht programmiert, keine Menschmaschinen sind, wir wenigstens nicht – mein Gott, in was für Abgründe ich durch euch beide schauen mußte, mein armes Hirn will’s ja noch immer nicht fassen und er, er hat es doch auch nicht fassen können, aber ich steh noch da und er, mein Frankie-Boy – ach, nicht einmal mehr an mich hat er noch glauben können, nicht einmal mehr an seine Jacky. Und jetzt, jetzt ist es so egal geworden, woran er glaubte oder nicht, die Welt, die Menschen, ich: aus, vorbei, zu Ende, alles hat ein Ende, nie mehr wird er mich heiraten wollen, nie mehr wird er das Heiraten aufschieben können, ach, wie er’s immer wieder getan hat, der Feigling, der liebe, und vielleicht ja war’s auch gut, daß nichts daraus wurde, sonst wär ich jetzt, sonst wär ich doch – seine Witwe …«– und weinend sank sie über der Theke zusammen, vergrub ihren Kopf in den Armen.

»Nu, nu«, machte Fall und tätschelte ungeschickt den unter Schluchzern zuckenden Lockenhaufen, der da vor ihm lag. Es war eine Beerdigung im engsten Kreise gewesen. Nicht mehr viele der alten Freunde und Bekannten hatten in den letzten Monaten noch zu Frankie gehalten, Frank Bohnschanze, einst erfolgreicher Kriminalkommissar, anschließend noch erfolgreicherer Kriminalautor, an dessen Erfolg sich der Rattenschwanz der Profiteure und derer, die es so gern sein wollten, angehängt hatte. Alle hatten sie seine Gesellschaft gesucht, um aus seinem Glanz auf irgendeine Weise eigenen Vorteil zu ziehen. Dann aber war er wunderlich geworden, abweisend, ausfallend, peinlich auffällig, hatte immer mehr getrunken, mehr als er vertragen konnte (und das war eine ganze Menge), so daß er, selbst ohne Glas oder Flasche in der Hand oder vielmehr am Mund, bald eine Fahne um sich geschwenkt hatte wie etwa ein Fünf-Mast-Vollschiff seine sämtlichen Segel, und er, auch wenn er saß, oft genauso geschwankt hatte, auf und nieder und hin und her, wie jenes unter vollen Segeln im Sturm auf hoher See schwanken würde – und das würde kentern müssen, falls kein verantwortungsbewußter Kapitän »Refft die Segel« beföhle. Bohnschanzes innerer Kapitän aber war schon über Bord gegangen, und niemand konnte das Kommando übernehmen, niemand wußte letztlich, was mit ihm los war, außer Jacky und natürlich Fall, den die geistigen Nachwirkungen ihres letzten gemeinsamen Abenteuers auch in gefährliche Gewässer gebracht hatten. Doch hatte er sich zu fangen und in den Hafen zurückzukehren vermocht. Und in der Folgezeit gelang es Fall, sich so weit im Griff zu behalten, daß er, wenn er doch den Drang verspürte, sozusagen in See zu stechen, im Flachwasser an der Küste des Festlandes entlangsegelte. Bohnschanze dagegen driftete immer weiter ab und galt seiner Umwelt schlichtweg als durchgeknallt. Und als er gekentert, als er untergangen war, hatten diejenigen, die davon erfuhren, es längst vorausgesehen, und sich bloß gewundert, daß er so lange ausgehalten. Aber auch dann fragte niemand, warum, sogar die nicht, die bis zuletzt noch ab und zu nach ihm geschaut hatten – sah man von Jacky und Fall einmal ab. Es mußte ja so kommen, war die gängigste Bemerkung auf seinen Tod hin, und als zweites: besser ein Ende mit Schrecken als – – oh ja, dieses Blabla, Jacky, die den paar letzten halbwegs Getreuen Nachricht gegeben hatte, klang es noch in den Ohren.

Fall tätschelte noch immer. Endlich fragte er, indem er hoffte, sie dadurch abzulenken: »Wer war denn der Typ im schwarzen Blazer, der dich nach der Bei– äh, dich auf dem Friedhof beiseite genommen hat? Also die silbernen Riesenknöpfe, ganz schön daneben, was?«–Jackys Kopf hob sich mit einem Ruck. »Der …«, fuhr sie auf.– Dann spürte sie Falls Hand, die nun fest auf ihrem Haar lag. Sie drückte den Kopf noch etwas stärker dagegen und versuchte zu lächeln. »Du bist der einzige Freund noch«, sagte sie leise. »Und kümmerst dich so nett um mich. Entschuldige, daß ich mich so gehn lasse, du hast es ja auch nicht einfach …«– Sie richtete sich hinter der Bar auf und ergriff Falls Hand, die jetzt in der Luft hing, mit ihren beiden Händen, legte sie auf die Tresenplatte. »Sag du jetzt einmal, wie geht es denn Martha inzwischen? Hat sich was gebessert?«– Falls Oberkörper wurde schlaff. »Nichts, in all diesen Monaten nichts«, antwortete er dumpf. »Sie weiß einfach nicht mehr, wer sie ist, weiß nicht mehr, wer ich bin, sitzt tagein, tagaus stumm und reglos auf dem Fleck, wo man sie hinsetzt, bloß auf Befehle reagiert sie, komm, Martha, halt, Martha, sitz, Martha, iß, Martha, leg dich hin, Martha, gib Hand, Martha – Martha sag ich immer dazu, obwohl es ganz sinnlos ist, das immer noch zu tun. Anfangs hab ich ja geglaubt, sie höre auch noch darauf, auf ihren Namen, aber er hat keine Bedeutung für sie, nur die Befehle versteht sie, nur sie bewirken Reaktionen in ihr, Martha aber, Martha gibt es nicht mehr, was Martha war, ist entschwunden« – Fall wurde lauter – »ich könnte sie irgendwie nennen oder gar keinen Namen sagen, wie’s mein Freund, in dessen Institut sie noch immer ist, ja längst macht, auf, komm, halt, sitz sagt der bloß, während er gleichzeitig, der Herr Arzt, mir noch weiszumachen versucht, daß sich diese Leere in – ja, in wem denn?! – irgendwann einmal wieder füllen könnte, ganz plötzlich – das sagt er zu mir und sagt nicht einmal mehr ihren Namen, spricht zu ihr wie zu einem Hund, lauf, bei Fuß, Platz, aber keinen Namen mehr, wo doch jeder Hund noch einen Namen hat, auf den er hört, weil er weiß, daß er damit gemeint ist. Könnte ich es verkraften, ich nähme sie zu mir, aber sie so um mich zu haben, nein, das hielte ich nicht aus, da würd ich am Ende – das würde böse enden – und hätte ich dazu ein Recht, trotz allem?, und wer würde mir dieses Recht anerkennen?, also laß ich sie in ärztlicher Behandlung, und weiß, es gibt nichts mehr zu behandeln, aber weiß auch wenigstens, sie ist dort gut aufgehoben und versorgt – oder kann es mir einreden – – reden wir nicht mehr davon, vor allem heute nicht, das hilft dir überhaupt nicht weiter, und mir auch nicht, komm, Jacky, hol dir auch ein Glas, laß uns auf Frankie trinken, daß er seinen Frieden wiedergefunden hat.«– Jacky nickte, griff sich vom verspiegelten Regal hinter ihr ein großes Glas und schenkte es mit der goldbraunen Flüssigkeit aus der Flasche, die auf der Theke stand, voll. Auch Fall füllte sein Glas aufs neue. »Auf Frankie-Boy, und auf dich«, sagte Jacky.– Sie stießen an und tranken beide in einem Zug ex. »Ach, wenn man wirklich allen Kummer und alle Probleme damit hinunterspülen könnte«, murmelte Jacky.– Dann saßen beide stumm einander gegenüber, ihre Blicke versanken in den Gläsern, in die Jacky kurz darauf nachschenkte und wenig später nochmals und, aus einer neuen Flasche, wieder.

Nach einigen Minuten meinte sie: »Ob ich nach der Beerdigung nicht doch noch ’n paar Leute hätte einladen sollen? Vielleicht hätte das Frankie besser gefallen, als daß wir jetzt hier alleine Trübsal blasen … Die paar, die auf dem Friedhof waren, die warn ja ganz in Ordnung soweit, immerhin sind sie gekommen …«– Fall schlug mit dem Glasboden auf die Tresenplatte. »Lieber Trübsal blasen als – nee, du, denen hätt ich am liebsten den Marsch geblasen, die wollten doch bloß sehen, ob Frank jetzt tatsächlich in die Grube fährt oder nicht doch noch einmal davonkommt. Mensch, Jacky, das weißt du doch auch. Auch für die war Frank letzten Endes nichts weiter als einer, der eben übergeschnappt ist und sich zu Tode säuft. Und hätte er ihnen wirklich gesagt, was ihn umtreibt, dann wär doch gleich gekommen: Uijuijui, der ist ja schon im Delirium, die Welt bedroht von Menschmaschinen, ha ha ha, mal was andres als weiße Mäuse, und was quietscht, sind dann keine Mäuseschnäuzchen, sondern unsre Gelenke, die rosten, ha ha ha … – Nee, sei froh, daß wir unter uns sein können. Mit denen, das wär ein Leichenschmaus im wahrsten Sinne des Wortes geworden, die hätten noch unsre Erinnerungen an Frankie zwischen die Zähne genommen, sie zerkaut und verdaut – und am Ende hätten wir ihn nicht mehr wiedererkannt und ein zweites Mal verloren …«– Mit einem Schluchzen sank Jacky erneut zusammen, lag ihr Kopf, unter der zerzausten, zitternden Löwenmähne verborgen, vor Fall auf der Theke.

Dem war es sehr peinlich. Manchmal sagte er etwas, bevor er recht wußte, was. Er mußte sie unbedingt ablenken von diesem kannibalischen Bild. Am besten nochmals mit der Frage von vorhin. Darauf hatte sie sofort reagiert. Außerdem interessierte ihn die Antwort selber, diese geschniegelte Type war seinem in langen Profijahren als Detektiv geschulten Blick sofort ungut aufgefallen. Und auf halbem Weg zu Jackys Haarschopf zog er seine Hand zurück. Die Wirkung seines Handauflegens hatte sie ja abgelenkt vom ersten Ablenkungsversuch, das durfte nicht wieder passieren.

»Jetzt sag mal, wer war der Knopftalersammler dort auf dem Friedhof? Es sah ja fast so aus, als ob ihr euch kennt.«– »Der …«, kam es wieder von Jacky und wie zuvor fuhr ihr Kopf nach oben. Aber keine Hand stoppte diesmal die Bewegung und die Empörung hatte freie Bahn. Sehr aufrecht saß Jacky da, ihre Augen funkelten, und was hierbei von den Tränen herrühren mochte, machte sie nur blitzender. »Kennen, das ist zuviel gesagt, Gott sei Dank, obwohl ich ihn leider trotzdem gut genug kenne, allzu gut. Manche Menschen muss man nicht erst lange kennenlernen, um zu wissen, wer und was sie sind. Und der ist ein Schwein und handelt im Auftrag der Abbruchgeschäftler hier.«– »Du meinst, der hat mit der Sanierung des Viertels hier zu tun?«– »Hat er, ja – wenn du das, was mit diesem Viertel passiert, Sanierung nennen willst.«– »Na ja, ist im Moment ja nicht mehr viel davon übrig.«– »Eben.«– »Aber es wird doch alles neu gebaut.«– »Eben. Von dem, was hier einmal war, all die Läden, Kneipen, die kleinen Hotels und Wohnungen – das ist dann perdu. Zugegeben, von den fünf oder sechs Hotels waren vier mehr oder weniger bloße Absteigen, und die Wohnungen beherbergten oder verbargen so manche verkrachte Existenz. Halbwelt gab es hier, und manche munkelten sogar: Unterwelt. Aber auch dafür muss in einer Stadt Platz sein. Und es gab hier auch anderes, im Grunde war dieses Viertel gut durchmischt, jeder konnte seinen Platz finden, der Durchschnittstyp und der goldene Mittelwegler wie der Außenseiter und der Chaot, die Huren, von der Gossenschlampe bis zum Cashmere-Callgirl, ebenso wie die Schickimickis, von den Möchtegerns bis zu den wirklichen Geldstinkern. Aber die meisten, die hier wohnten, waren schlichtweg ganz normale Leute, wenn du die Welt im ganzen normal nennen willst. Nur hatten diese Meisten und auch die meisten von den nicht so ganz Normalen einen großen Fehler …«– »Tja, ich kann’s mir schon denken«, sagte Fall und nickte mit ernster Miene. »Genau«, sagte Jacky, schnippte mit den Fingern etwas Unsichtbares von der Theke und fügte hinzu: »Das fehlende Geld.« Und nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Aber das ändert sich ja inzwischen mächtig. Wenn erst mal alles Alte abgerissen ist und schließlich die neuen Kästen hier stehen, natürlich fein designed, nicht mehr so eine Kistenkasten-Architektur, die es vor langer langer Zeit einmal gegeben hat, wenn ein Gebäude modern sein sollte – dann regiert hier nichts mehr als Geld, wer dann kein Geld hat, ist garantiert fehl am Platz, ein Fehler im System, den man beseitigen muß.« »Und der Typ, was hat der genau damit zu schaffen?«, fragte Fall und nickte ernst.– »Hast du dich noch nicht gewundert, daß ich samt Bar noch hier bin?«– »Na«, sagte Fall und wiegte den Kopf.– »Ja, ja, Hauptsache, die Brünnlein fließen«, meinte Jacky und versuchte ein Lächeln, das ihr indes ziemlich entglitt. »Aber ernsthaft«, fuhr sie fort, »um hierher zu gelangen, musst du inzwischen durch die Wüste, will sagen durch Baustellenland. Du hast es dich nicht verdrießen lassen, aber viele andere, so durstig sie auch waren, oder gerade deshalb, scheuten den Weg doch. Ganz abgesehen davon, dass die Nachbarschaft einfach wegbrach, immer mehr, zuerst durch Geschäftsaufgaben und Wegzug, und dann buchstäblich: Von dem ganzen Viertel steht jetzt ja praktisch nur noch die Häuserzeile auf dieser Seite. Und auch sie wird von den Enden her schon angeknabbert.«– »Ist das nicht ein etwas verniedlichendes Wort?«, warf Fall, wieder den Kopf wiegend, ein.– »Du sagst es, genau das ist der Fall, mein lieber Fall. Weiter plattgemacht wird, und in kurzem ist alles hier platt – vielmehr wäre es, wenn nicht ich noch wäre. Aber …«– »Aber du machst den Brüdern das Leben schwer, ja, so kenn ich dich, keiner unrechtmäßigen Gewalt weichen, das würde auch Frank gefallen, das hat ihm an dir gefallen, deine Bar und seine Bar, denn sie war, sie ist doch auch seine Bar, sie muß bleiben, hier hat er gesessen, Frank Bohnschanze, und zu einem guten Teil seine unsterblichen Werke verfasst, das ist hier doch auch ein Ort der Kultur, das ist hier sozusagen eine Dependance des kastilischen Quells. Und weißt du was?!, das fällt mir gerade so ein, gib der Bar doch, zum Gedenken an sein Wirken an diesem Ort, einen neuen Namen, nenn sie »À la Bonne Chance«, wie wäre das …?«– »Du hast auch ein bisschen zu viel intus mittlerweile, wie? Na, was soll’s, ich auch, bloß spür ich’s gar nicht richtig, ach, wie gern würd ich’s spüren, würd am liebsten alles vergessen und vorher im Vollrausch alles hier kurz und klein schlagen … Komm, ich schenk uns noch was ein … von seinem Inspirationsquell … so … und jetzt: cheerio, à la bonne chance perdue!«– Sie kippte den Inhalt des vollgefüllten großen Glases in einem Zug weg, während Fall nach der Hälfte innehielt und husten mußte.

»Ja, in diesen Zeiten bleibt einem manches im Halse stecken, sogar das Glück legt sich quer, denn es ist ja nicht mehr«, sagte Jacky und schaute in das leere Glas, das sie sich vors Auge hielt. Dann schenkte sie sich und Fall nach. »Seine Bar«, sprach sie weiter, »das war sie, mehr als du denkst. Als die Probleme hier anfingen, als immer mehr Geschäfte, die Läden, Hotels, Kneipen, Restaurants, Handwerksbetriebe, Büros und sonstige Firmen aufgegeben wurden, als die Anwohner aus ihren Wohnungen wegzogen; als es öde und ungemütlich wurde, noch in der Verkaufs- und Kündigungsphase und in der Phase, wo man die Leute bereit und willig machte, das zu tun, was sie ursprünglich gar nicht tun wollten; als man auch mir Angebote unterbreitete, mit der Anmerkung, daß sie jetzt noch günstig seien, und ich mich wunderte, wie wertvoll mein Laden geworden war, seit ich ihn vor zwölf Jahren hatte kaufen können, und wie günstig, gemessen daran, in der Tat die Angebote auf den ersten Blick waren, wobei mir freilich ein zweiter Blick jedesmal enthüllte, daß ich mit dem Erlös, wenn ich mir etwas neues aufbauen wollte, wohl nicht weit kommen würde; als schließlich die Situation allmählich bedenklich wurde, weil die Zahl der Gäste und der Umsatz schrumpften, und als die Angebote von Mal zu Mal offensichtlich weniger günstig ausfielen und die Anmerkungen dazu ‚Überlegen Sie es sich gut‘ oder ‚Sie müssen es wissen, wie lange Sie sich das noch leisten können‘ lauteten – in dieser Situation hat mir Frankie-Boy finanziell unter die Arme gegriffen. ‚Jacky-Baby‘, hat er gesagt, ‚die Bar ist dein Lebenswerk und du bist mein Leben und da helf ich dir mit meinem Lebenswerk aus der Patsche. Meine Krimischwarten werfen mehr als genug ab, und nur weil es dich und diesen Ort gibt, konnte ich sie schreiben, außerdem will ich noch weiterschreiben, und ohne dein Lebenswerk kann meines nicht mehr wachsen und gedeihen, und dann verwelke auch ich und gehe ein und ohne mich du auch‘ – so hat er gesagt, und ich weiß ja, wie er es meinte. ‚Die Gangster sollen ein Konzept vorlegen, das deine Bar, in die du dein Leben gesteckt hast, miteinbezieht‘, hat er gesagt. Und er hat recht gehabt. Außerdem, wäre denn mein Lokal fehl am Platz? Sogar rein ökonomisch betrachtet, müßte denen doch klar sein, daß sich eine Bar für ihr Projekt rechnet, die zieht doch Leute herbei. Aber klar, meine Art von Barbetrieb wollen die nicht, die paßt nicht zu der Mischung aus Versicherungen, Banken und Spielhöllen bei Tag und Spielhöllen, Eventgastronomie und Ballermann-Allotria bei Nacht, die die hier wollen. Ich zöge das falsche Publikum an, zu gemischt, zu unkategoriell, zu anarchisch, also wäre aus deren Sicht meine Bar doch fehl am Platze. Aber ich mein Konzept, mein Lebens-Konzept, ändern, das, was ich mir erarbeitet habe, aufgeben – nie, darin hat mich auch Frankie-Boy bestärkt. ‚Die sollen gefälligst selbst ihr Konzept ändern‘, hat er gesagt und mir geholfen, die Umsatzverluste so gut es ging auszugleichen. Aber …«

»Aber mir habt ihr nie etwas davon verraten, ich hatte keine Ahnung, daß Frank bei dir geschäftlich beteiligt war«, äußerte sich Fall, dem es nicht gefiel, nichts gewußt zu haben, obwohl er beider Freund war und überdies professioneller Detektiv, dem sonst alles auffiel und nichts entging. – »Das sollte niemand wissen, außer dem Finanzamt. Frankie war stiller Teilhaber. Mit dem geschäftlichen Kram, wie er sagte, wollte er nichts zu tun haben. Er wollte nur, daß ich so lange hier aushalten könnte, bis die Planung doch geändert würde, weil die Leute sähen, daß ich nie verkaufen würde; daß kein Angebot, keine mehr oder weniger versteckte Drohung mich zur Aufgabe zu treiben vermöchte; so lange, bis meine und seine Bar in die Neubebauung praktisch eingebaut würde. Wahrscheinlich war’s von vornherein utopisch. Trotzdem wollten wir nicht klein beigeben, auch wenn ringsherum zuerst die Häuser leer wurden und anschließend die Häuser selbst eins nach dem anderen verschwanden. Tja, und dann war ich wirklich die letzte. Die Galerie nebenan – der Besitzer, du erinnerst dich sicher auch an ihn, er war ebenfalls Stammgast bei mir …«– »Natürlich, der von der Galerie da nebenan, ja, ja«, Fall nickte kräftig.– »Genau der«, sagte Jacky und mußte doch ein wenig lächeln. »A. O. Gutekunst, der Name war ja ein Begriff im städtischen Kulturleben, und bei seinen Vernissagen hat er immer mich, ich meine, meine Bar, miteinbezogen. In letzter Zeit freilich weniger, obwohl die Abbruch- und Baustellenlandschaft für gewisse Kunstprojekte einen attraktiven, passenden Rahmen darstellte. Aber das geht zweimal, dreimal, dann ist es ausgereizt, dann nervt es die meisten Leute bloß noch, wenn sie in diese Ödnis hier kommen. Trotzdem wollte auch Gutekunst ausharren, schließlich war auch er nicht bloß Mieter, auch ihm hat der Laden gehört, er war schon länger als ich hier ansässig und war beileibe kein abgehobener Ästhet, der hat sich im Viertel menschlich engagiert, das ‚Prosit‘ hat er zum Beispiel unterstützt oder das ‚Obacht‘ …«– »Äh …?«– »…ein Café für die Prostituierten und eine Obdachlosenunterkunft …«– »Ach ja, klar …«– »…aber das war einmal, die, die sind jetzt auch weg, sind ja auch die Huren und Obdachlosen weg, also hat man das Problem gelöst, sogar zwei …« Jacky nahm wieder einen großen Schluck, bis das Glas geleert war. Fall knetete sich mit Daumen und Fingern das Kinn und schaute aufmerksam zu, wie der Inhalt des Glases in den Mund floß, wie am Hals der Kehlkopf hastig zuckte. Dann streckte er den Zeigefinger nach oben. »Du redest immer von ‚war‘ und ‚hat‘«, sagte er, ganz in der Überzeugung, dass ihm Wichtiges aufgefallen sei.– »Wie wahr, wie wahr, das hat was, was!?«, stieß Jacky etwas heftig hervor. »Das hat so was Endgültiges, schön war die Zeit, liegt schon so weit … Tschuldigung, bin nicht mehr ganz nüchtern, und endlich spür ich’s auch – erinnerst du dich, wie unser Frankie oft nicht mehr ganz nüchtern war, ach was, von wegen nicht mehr ganz – und wie das zu spüren war und wie mich das geärgert hat, ja, ja, ‚war und ‚hat‘ – nüchtern ist das alles ja nicht zu ertragen, oh ja, ja, ‚war‘ und ‚hat‘, war mal was, hat sich was, der Spaß ist vorbei, dumdideldei – ach so, der gute Gutekunst, na, der ist auch nichts mehr, ich meine, den gibt’s nicht mehr, Herzschlag hieß es, vor einigen Tagen, dem war’s am Ende doch zuviel, jetzt hat er Ruh vor allen Plagen, und die sind fast am Ziel … Tschuldigung, was sich reimen tut, ist gut, aber hier ist gar nichts gut, außer mir ist niemand mehr hier, ich bin jetzt allein das Fähnelein der letzten Aufrechten, aber –aber keine Bange, ha ha, nicht mehr lange, ohne das Geld von meinem Frankie-Boy kann ich jetzt und sofort einpacken, ach i wo!, wegschmeißen kann ich alles, kann’s denen schenken, an ein Angebot in meiner Not brauchen die gar nicht mehr zu denken, und – und selbst wenn, ja selbst wenn ich genügend Geld noch hätte, was soll ich denn, was soll ich denn an dieser Stätte – ohne ihn …!?« Und aufschluchzend sank Jacky wieder über der Theke zusammen.

»So ist das also, das ist wirklich …«, murmelte Fall, und wußte nicht, wie ihm war. Sein Ablenkungsmanöver für Jackies Gemüt war wieder dort angelangt, wo er damit begonnen hatte, und noch immer wußte er nicht, was er, als Detektiv, der einen Fall witterte, und als Freund, der beistehen wollte, zu wissen begehrte. Es ging nicht anders, noch einmal mußte er sein Ablenkungsmanöver starten, bevor Jacky ganz in Jammern und Klagen zerflösse und mit ihr die Information, die er – seine in langen Berufsjahren als erfolgreicher Detektiv erarbeitete Intuition sagte ihm das – unbedingt brauchte, um Jacky helfen zu können, denn Hilfe hatte sie so nötig wie im Moment jenes Lebenselixier dort in der Flasche, das war klar, und er war der Mann zur rechten Zeit am rechten Ort; außerdem mußte er seinen Wissensdurst endlich stillen.

Fall erhob sich vom Hocker, begab sich hinter die Theke, nahm Jackys Glas, goß den Rest aus der Flasche hinein und schob es vor sie hin. »Da, trink das, das tut dir gut«, sagte er, und seine Hand legte sich sachte zwischen den Schulterblättern auf ihren Rücken, was, wie er, der erfahrene Menschenkenner, wußte, beruhigend wirkte.– »Nichts tut mir gut«, klang es dumpf unter Jackys zerzauster Löwenmähne und ihre Hände fuhren vom Kopf herab, eine traf das Glas, wischte es von der Theke, und klirrend zerscherbte es auf dem Fliesenboden.

Jacky schnellte auf und setzte sich gerade. »Oh Gott«, rief sie, »jetzt ist aber Schluß, so wahr ich in Wirklichkeit Johanna Pfaff bin. Genau das hat mich immer mit am meisten erbost, wenn besoffene Gäste am Tresen mit ihrer groben Arm- und Hand-Motorik Gläser umstießen, natürlich volle, oder gar zu Boden schickten. Und ausgerechnet ich fang jetzt auch schon an, so mein Inventar zu demolieren. Ich blöde dusselige Kuh.«– »Bravo, richtig«, rief neben ihr Fall und faßte sie von hinten her fest an den Schultern – wodurch er die aufrechte Haltung unterstützte und zugleich sinnlich fühlbar seinen Beistand signalisierte. Er war eben, wie er sich zugestehen durfte, in all den Berufsjahren auch ein wirklich geschickter Psychologe geworden. Und darum fügte er rasch hinzu: »Ich meine: recht so, Kopf hoch, laß dich nicht unterkriegen, lähmende Trauer lähmt dich nur, bloße Verzweiflung läßt dich bloß an allem verzweifeln, Weinen hat seine Zeit und La– ja – laß die Tränen auch fließen – aber zeig trotzdem die Johanna, die in dir steckt, kämpfe, gib nicht einfach alles auf, kämpfe auch für dich als Jacky, für deine Bar, für das, woran du geglaubt hast und im Innern immer noch glaubst, kämpfe für das, was dein Leben ist, und ich werde dir helfen, wo ich nur kann, und deshalb sag mir endlich: Was ist denn genau mit dem Möchtegernyachtkapitänsilbertalerjackettheini vom Friedhof?

»Der …«, rief Jacky wieder, und diesmal voller Verachtung. »Ich sagte doch schon, der steckt mit den Auftraggebern und Planern, die unser Viertel hier zerstören – zerstört haben –, unter einer Decke. Der war schon einmal bei mir in der Bar, zur Zeit der günstigen Angebote – später dann kamen sie ja nur noch schriftlich. Damals standen noch die Zeilen gegenüber und hinter uns. Jenseits davon hatte man schon angefangen, die Häuser zu Birnenmus zu machen, aber hier hatten wir noch Illusionen, dass wir etwas retten, dass wir erreichen könnten, uns einbinden zu lassen in die Sanierung des Viertels. Sanierung, an das schöne Wort glaubten wir damals noch oder wollten daran glauben, denn die früheren Zeiten, als man einfach alles flachlegte, waren doch vorbei, oder? Leider sind die Zeiten, als das vorbei war, in Wirklichkeit auch schon wieder vorüber. Vielleicht dauert’s manchmal ein bißchen länger jetzt, bis etwas wegkommt, vielleicht sind die neuen Fassaden jetzt ein bißchen schöner häßlich, am Ende aber kommt längst wieder alles weg, was weg soll wegen Kauf, Verkauf, Nutzungseffizienz, Kosten-Nutzen-Rechnung, Ökonomie …«

Fall hielt es als hochprofessioneller Detektiv, herzlich zugetaner Freund, lebenserfahrener Menschenkenner, allesdurchschauender Psychologe, kurz: als neugieriger Mensch kaum mehr aus. »Und was …?«, rief er jetzt fast schrill.– »Und heute auf dem Friedhof«, begann Jackys erlösende Antwort, »tauchte der, also der Affe da in dem Blazer, nach so vielen Wochen plötzlich wieder auf. Plötzlich fühle ich eine Berührung im Rücken, dann faßt mich auch schon eine Hand an der Schulter, hält mich fest, und mehr als ich mich selbst umdrehe, werde ich von ihr