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Die junge Französin Lila liebt das Leben und die zauberhaften Sommer ihrer provenzalischen Heimat. Doch ein Geheimnis belastet die fröhliche Lebenskünstlerin und nach einem schweren Schicksalsschlag ist ihre Zukunft ebenso ungewiss, wie die des charmanten Landhotels, in dem sie aufgewachsen ist. Als sie dem erfolgsverwöhnten kanadischen Architekten Ben begegnet, fliegen die Funken und schon bald entwickelt sich eine zärtliche Liebe. Das Glück scheint zum Greifen nahe, – bis Bens Vergangenheit ihn einzuholen und alles zu zerstören droht …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie der Autorin oder wurden in einen fiktiven Kontext gesetzt und bilden nicht die Wirklichkeit ab. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Ereignissen, Orten oder Organisationen sind rein zufällig.
Warmer Wind trug den Duft von Thymian und Rosmarin übers Land und die Zikaden sangen das Lied des herannahenden Sommers.
Die junge Französin Lila liebt das Leben und die zauberhaften Sommer ihrer provenzalischen Heimat. Doch ein Geheimnis belastet die fröhliche Lebenskünstlerin und nach einem schweren Schicksalsschlag ist ihre Zukunft ebenso ungewiss wie die des charmanten Landhotels, in dem sie aufgewachsen ist.
Als sie dem erfolgsverwöhnten kanadischen Architekten Ben begegnet, fliegen die Funken und schon bald entwickelt sich eine zärtliche Liebe. Das Glück scheint zum Greifen nahe – bis Bens Vergangenheit ihn einzuholen und alles zu zerstören droht …
Ben
Sainte-Émilie-de-Vauclain. Beinahe hätte er das windschiefe Schild übersehen. Ben fluchte, stieg in die Bremsen und setzte zurück. Die Anfahrtsbeschreibung des französischen Kollegen hatte einfach geklungen: »Avignon-Süd fährst du runter von der A7 und danach Richtung Gordes. Sainte-Émilie liegt dahinter.«
Blöderweise war sein Smartphone leer, und das Ladekabel lag in Paris im Hotelzimmer.
Wie oft wird man sich wohl schon auf der kurzen Strecke verfahren?, hatte Ben gedacht. Seither war er fast zwei Stunden unterwegs und kannte die Antwort ebenso wie den unkomfortabel großen Wendekreis des Leihwagens. Dabei hätte ihm bereits im ersten Stau, wenige Kilometer hinter der Stadtgrenze von Paris, klar sein müssen, dass man europäische Autobahnen nicht mit den Highways zu Hause in Kanada vergleichen konnte. Er wollte gar nicht wissen, wie der Verkehr am morgigen Freitag aussehen würde. Schon heute schien ganz Paris in den Süden des Landes zu eilen, für den der Wetterbericht nach einem verregneten Frühling das erste sonnige Wochenende vorhergesagt hatte.
Wenigstens das stimmt, dachte Ben, während er die schmale Straße hinauffuhr, und war fast schon vom Anblick des Dorfes versöhnt, das, wie in goldenen Ahornsirup getaucht, den vor ihm liegenden Hügel krönte.
Die gute Laune hielt sich bis zum geschotterten Parkplatz vor dem Stadttor, an dem seine Reise vorerst ein unerwartetes Ende fand. Er stellte den Motor aus und starrte eine Weile regungslos hinaus. Der Blick über das Tal war zweifellos grandios. In der Abendsonne warfen die Zypressen lange Schatten. Das Grün der Lavendelfelder im Tal wirkte ebenso geheimnisvoll wie die silbrig glänzenden Olivenhaine zwischen den exakten Linien der Weinreben auf den Terrassen zu Füßen dieser Ortschaft mit dem unmöglich langen Namen. Der Wald, den er auf seiner Fahrt durchquert hatte, sah fast dunkler aus als die schwarzen Trüffel, die früher im Jahr darin zu finden sein sollten. Sein französischer Kollege hatte sich mit verzücktem Grinsen die Fingerspitzen geküsst, als er ihm davon erzählte. »Für ein gutes Trüffel-Kartoffelpüree aus dem Luberon würde ich jederzeit meine Freundin eintauschen!«
Ben verstand, dass dies ein riesiges Kompliment sein sollte – jedenfalls für die kulinarische Köstlichkeit. Die Freundin hätte sich gewiss weniger geschmeichelt gefühlt.
Die Worte des Kollegen im Ohr, erinnerte er sich daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Was er jetzt brauchte, war etwas für den Magen, dazu ein Glas Wein und anschließend ein Bett. Die letzte Woche hatte ihn gefordert.
Paris plante ein Jahrhundertbauwerk, und er, Benoît Aubry, hatte gute Chancen, den Zuschlag dafür zu bekommen. Deshalb gönnte er sich nun auch den Luxus, einige Tage abseits urbaner Verlockungen in einer Region zu verbringen, aus der seine Vorfahren stammten und die er, der in Kanada aufgewachsen war und die halbe Welt bereist hatte, überhaupt nicht kannte.
Inzwischen näherte sich die Sonne dem Horizont. Er öffnete die Wagentür und keuchte. Es waren immer noch mindestens dreißig Grad. Die Klimaanlage hatte ihm eine angenehme Frische vorgegaukelt, doch nun bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.
Widerstrebend stieg er aus, folgte den großspurigen Hinweisschildern, die in Richtung Centre wiesen, und ging durch schmale Gassen hinauf zum Dorfplatz von Sainte-Émilie-de-Vauclain. Zwischen den Häusern hing die Hitze des Tages, kein Lufthauch brachte Abkühlung. Die kleinen Geschäfte hatten bereits geschlossen, und an der Tür der sogenannten Tourismuszentrale im Rathausgebäude hing ein Schild, das den Obdachsuchenden auf ein Café L’Occitan verwies, in dem auch nach Geschäftsschluss Hilfe zu erwarten sei.
Beim Betreten des Cafés verspürte Ben sofort das Bedürfnis, diese optimistische Annahme infrage zu stellen. Die beachtliche Geräuschkulisse, die ihn empfangen hatte, erstarb, und alle Blicke schienen sich auf ihn zu richten.
Ben ignorierte die ablehnende Neugier der Einheimischen und ging zur Bar. In Kanada ist es nicht anders, erinnerte er sich. Je ländlicher die Umgebung, desto genauer beobachtet man einen Fremden.
»Ich suche ein Zimmer«, sagte er und lächelte die Frau an, die hinter dem Tresen Gläser polierte und ihn seit seiner Ankunft nicht aus den Augen ließ.
»Monsieur, Sie haben …«
»Pech!«, ergänzte der Mann neben ihr und legte ihr einen Arm um die Taille.
»Was redest du, Jean-Claude?«, rief jemand, und der Wirt besann sich seiner gastgeberischen Aufgaben. »Monsieur, dieses Wochenende sind alle Unterkünfte ausgebucht. Sie hätten reservieren sollen, wie die anderen …« Er hatte noch mehr sagen wollen, aber seine Frau stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
Ben begriff, dass er keine weitere Hilfe erwarten konnte. Er bedachte Jean-Claude und seine Gattin mit einem kühlen Blick, wandte sich dem Ausgang zu und verließ das ungastliche Café. Auf der Straße sah er sich suchend um. Sicher gab es hier doch noch andere Hotels oder Pensionen?
»Warten Sie, Monsieur!« Die Wirtin war ihm gefolgt. »Sie sind aus Paris, nicht wahr?«
Der Einfachheit halber nickte er.
Sie drückte ihm eine Flasche Wein in die Hand. »Jean-Claude ist ein Idiot!«, sagte sie. »Richten Sie Lila aus, dass es mir leidtut.«
»Lila?«, fragte er verwundert.
»Sie wollen doch zum Château Vauclain?«
Bevor er nachfragen konnte, erklangen Schritte. »Sandrine!« Das musste Jean-Claude sein.
»Schnell, schnell! An der Ortsausfahrt links bis zum Menhir. Dahinter rechts dem Schild folgen. Das können Sie gar nicht verfehlen.«
Ben bedankte sich, und als er sich an der nächsten Hausecke noch einmal umsah, war Sandrine bereits verschwunden.
Eh bien. Versuche ich es also in diesem Château. Falls das nicht klappt, habe ich zumindest etwas zu trinken, dachte er.
Das Hotel sollte laut Sandrine etwa eine Viertelstunde entfernt liegen. Ob damit ein Fußweg oder die Fahrt mit dem Auto gemeint war, würde er wohl selbst herausfinden müssen. Ben ließ den Motor an und folgte der Wegbeschreibung.
Den Menhir konnte man in der Tat nicht übersehen. Doch das Schild mit der Aufschrift Le Château Vauclain zeigte mit der Spitze in den dunklen Abendhimmel, und er fragte sich allmählich, ob sich in dieser Gegend jemand einen Spaß daraus machte, Wegweiser zu verdrehen.
Als wollten sie nicht gefunden werden, dachte er. Langsam, um den Wagen nicht in einem der Schlaglöcher zu versenken, bog er nach rechts in die erste Abzweigung ein und fuhr die schmale Straße entlang – zuerst durch ein Waldstück. Als die Landschaft dahinter flacher wurde, mündete sie in eine Platanenallee, die oberhalb eines erstaunlich großen und offensichtlich gut besuchten Anwesens endete. Erst nachdem er eine beachtliche Anzahl an Luxuslimousinen passiert hatte, fand er einen freien Stellplatz.
Ben steckte die Weinflasche in seine Reisetasche, warf sich den Kleidersack über die Schulter und stapfte über den dick mit Kies bedeckten Vorplatz. Durch die Eingangstür konnte er ins Foyer sehen, in dem nur eine Notbeleuchtung brannte. Er läutete, und nach einer Weile wurde der Türöffner betätigt. So abweisend die Fassade mit den geschlossenen Fensterläden ausgesehen hatte, so großzügig wirkte nun der Blick durch große Sprossenfenster in einen festlich erleuchteten Garten, in dem offensichtlich gefeiert wurde.
Es war schon spät, und wie auf dem Land üblich, war die Rezeption um diese Zeit nicht mehr besetzt. Ben zögerte noch, hinauszugehen und nach einer Kellnerin oder anderem Personal zu suchen, als ein augenscheinlich angeheiterter Mann erschien, der ihn vermutlich auch eingelassen hatte. Er sprach undeutlich, aber mit einem unverkennbar britischen Akzent. »Noch ein Nachzügler! Komm, mein Freund. Es ist genug zu essen da!«
»Ehrlich gesagt bin ich nicht hungrig«, log er höflich. Nach einer Party stand ihm absolut nicht der Sinn. »Ich brauche eigentlich nur ein Zimmer.«
»So? Ich fürchte, es ist alles ausgebucht.« Der Mann schwankte ein wenig und sah sich suchend um. Dann huschte ein schwer zu deutender Ausdruck über sein Gesicht.
Irritiert rieb sich Ben die müden Augen. Was sollte das?
Doch im nächsten Augenblick wirkte der Typ sogar amüsiert und murmelte etwas, das klang wie: »Bezauberndes Lila …« Dann reichte er ihm einen Schlüssel über den Tresen und zeigte auf eine Seitentür. »Am Ende des Gartens ist ein kleines Tor – vergiss nicht, es hinter dir zu schließen.« Der Mann machte eine entschuldigende Geste. »Die Viecher, du verstehst?«
Ben verstand nicht, nahm aber den Schlüssel und wünschte ihm eine gute Nacht. Von den Feiernden unbemerkt durchquerte er den dezent beleuchteten Garten. Große Lampions schwebten zwischen Bäumen wie zahllose Monde. Als er das Tor sorgfältig hinter sich schloss, sah er zurück zum Haus, das dunkel vor dem Nachthimmel stand. Es wirkte abweisend und auf eine merkwürdige Weise traurig. Bei diesem Gedanken schüttelte Ben den Kopf.
Auf der anderen Seite des Zauns fehlte die Beleuchtung, doch der fast volle Mond schien, und so fiel es ihm nicht schwer, dem hellen Kiesweg zu folgen, bis er vor einem kleinen Steinhaus stand. Als er beim Aufschließen die Klinke hinunterdrückte, schwang die Tür wie von selbst auf. Ben tastete vergebens nach einem Lichtschalter und nahm schließlich die Taschenlampe seines Handys zur Hilfe.
Es gab weder einen Schalter noch Möbel. Im Haus roch es nach Mörtel, und es war unübersehbar, dass hier gebaut wurde.
Ärgerlich warf er die Tür hinter sich zu und kehrte um. Inzwischen hatten sich Wolken über den Mond geschoben. Im Freien half ihm das Handylicht nicht viel, und so brauchte er für den Rückweg länger als gedacht. Der Abendwind wehte Musik und Stimmenfetzen herüber, es duftete nach Gegrilltem, und Ben bereute es, die Einladung des Briten nicht angenommen zu haben. Sein Magen knurrte.
Morgen würde er bestimmt darüber lachen können, doch momentan näherte sich seine Laune dem Tiefpunkt des Tages. Anstatt wie erwartet vor der eisernen Gartenpforte, fand er sich schließlich vor einem zweiten Häuschen wieder.
Der Schlüssel passte, und obwohl es dieses Mal einen Lichtschalter gab, blieb es dunkel, als er ihn betätigte. Ben leuchtete mit dem Handy im weiten Bogen durch den Raum. Er stand direkt in einer großen Küche, zu seiner Rechten lag ein Wohnbereich mit Kamin, und als der Lichtstrahl ihn durch eine offene Tür führte, erblickte er ein frisch bezogenes Bett. Erleichtert stellte er seine Tasche ab, nahm die Weinflasche heraus und fand auf dem Küchentresen sogar Gläser und – er konnte sein Glück kaum fassen – eine Packung mit Salzkeksen sowie eine Flasche Wasser. Bei den Straßenverhältnissen kam es bestimmt häufig vor, dass Gäste spät anreisten und nach ihrer Odyssee für eine karge Notverpflegung dankbar waren. Ben war es jedenfalls, als er kurz darauf in der milden Nachtluft auf der Terrasse vor dem Haus saß, die Füße hochgelegt, in der Hand ein Glas Wein.
Auf dein Wohl!, prostete er der Wirtin aus Sainte-Émilie in Gedanken zu und nahm sich vor, bis zur Rückreise einige Flaschen davon zu kaufen.
Der ausgezeichnete Tropfen und das Zirpen der Zikaden an einem milden Abend waren beinahe schon ein Synonym für Ferien unter südlicher Sonne. Das Wetterleuchten in der Ferne hatte etwas Magisches, und er bereute nicht mehr, sich die kurze Auszeit im Midi gegönnt zu haben.
Ein lauter Schlag ließ ihn hochschrecken. Er musste wohl eingenickt sein. Kräftige Windböen hatten nicht nur die Zikaden zum Schweigen gebracht, sondern den Geräuschen nach zu urteilen auch einen Fensterladen losgerissen. Das Gewitter näherte sich bedrohlich schnell, und er tat gut daran, ihn wieder zu befestigen, bevor der Regen kam. Rasch brachte er den Wein in Sicherheit und folgte anschließend dem Klappern auf die Rückseite des Hauses, wo er seine Vermutung bestätigt sah. Der Laden schwang hilflos im Wind und schlug immer wieder gegen die Hauswand. Glücklicherweise ließ er sich mit einem Haken festmachen, doch kaum war das erledigt, fielen die ersten dicken Tropfen vom Himmel und verbanden sich schnell zu einem heftigen Sturzregen. Blitze zuckten über den Nachthimmel, und das Donnergrollen folgte ihnen in geringem Abstand. Im Laufschritt bog er um die Ecke – und sah direkt vor sich, im Lichtschein eines neuen Blitzes, für Sekunden die Konturen einer Frau. Als sie anfing zu schreien, hielt er sie, ohne zu überlegen, blitzschnell fest. Keine gute Idee, denn nun schlug sie um sich. Bedrohliches Donnern verschluckte ihren Protest. Die zierliche Person wand sich in seinen Armen wie ein Aal.
»Ich tue dir nichts!«, rief er gegen den prasselnden Regen an und zerrte sie kurzerhand ins Haus, wo sie sich losriss.
»Espèce de salaud! Mistkerl, was willst du von mir?«
Rasch machte er einen Schritt zurück und prallte gegen die Tür, die laut krachend zufiel. Plötzlich war die Stille greifbar.
»Wer sind Sie?« Ein bisschen zu spät besann er sich seiner Manieren. »Ich will Ihnen wirklich nichts tun. Was machen Sie in meinem Haus?«
»Ihrem Haus? Hier wohne ich!«
Zu seiner Überraschung lachte sie plötzlich, und er fragte sich, was für Leute hier eigentlich herumliefen. Erst der ungastliche Wirt, der betrunkene Rezeptionist – und nun dieser kleine Kobold.
Ihre Schritte entfernten sich. Ein Streichholz flammte auf, und gleich darauf erhellten Kerzen den Raum. Die Frau war jung, reichte ihm höchstens bis zur Schulter, und ihr schwarzes Kleid klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper. Regenwasser tropfte aus langen, glatten Haaren und bildete um ihre bloßen Füße herum eine Pfütze. Draußen tobte ein Sommergewitter, aber hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein, während sie einander misstrauisch musterten.
Schließlich sagte sie mit einem schwachen Lächeln: »Ich hole uns wohl mal Handtücher.«
Während sie durch eine Tür im hinteren Teil des Hauses verschwand, sah Ben ihr ratlos hinterher. Es war offensichtlich, dass sie sich auskannte. Wohnte sie tatsächlich hier? Dem sonderbaren Rezeptionisten würde er morgen noch erzählen, was er von seinen Scherzen hielt.
Da kehrte sie schon zurück und warf ihm zwei flauschige Frotteetücher zu.
»Bin gleich wieder da. Inzwischen könnten Sie mir ein Glas Wein einschenken.« Sie zeigte auf die Flasche und verschwand erneut.
Eilig ging er in sein Zimmer, erleichtert, dass sie nicht darin zu wohnen schien, und zog sich frische Sachen an. Die Haare rubbelte er trocken, fuhr rasch mit den Fingern hindurch und kehrte dann in die Küche zurück.
Gerade hatte er ein zweites Glas mit Wein gefüllt, da tauchte sie mit einer flackernden Laterne in der Hand wieder auf. Offensichtlich war es ihr nicht neu, dass es in der Küche kein Licht gab.
»Das ging schnell«, sagte er überrascht. Die Frauen, die er kannte, hätten stundenlang gebraucht, um sich nach so einer unfreiwilligen Dusche präsentabel zu fühlen.
Sie jedoch hatte nur ein trockenes Kleid angezogen und sich ein großes Handtuch um den Kopf geschlungen. Der Turban betonte das Profil und die sanft geschwungene Nackenlinie. Als Architekt besaß Ben einen Blick für ausgewogene Proportionen, und an ihren gab es nichts auszusetzen. Eine schmale, gerade Nase, große Augen – und der Hals … Bevor er beim Starren ertappt werden konnte, reichte er ihr das Weinglas.
»Ich bin Lila«, stellte sie sich vor. »Sie müssen der Spätankömmling sein, von dem Clive gesprochen hat. Ich dachte, er macht einen Scherz.«
»Dieser Clive … er ist kein Mitarbeiter?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Freund meiner … ein langjähriger Hausgast. Es tut mir leid.«
»Ist ja nicht Ihre Schuld.« Ben zuckte mit den Schultern. »Ich bin Benoît Aubry. Ben«, sagte er und hob sein Glas. »Der Wein ist ausgezeichnet.«
»Ich weiß – Ben.« Sie lächelte ihn an, nahm einen Schluck und seufzte genussvoll. »Wie hast du es geschafft, Sandrine eine Flasche davon abzuluchsen?«
Er erzählte von ihrer Begegnung. »Deine Freundin hat einen furchteinflößenden Gatten.«
Sie schmunzelte. »Jean-Claude ist krankhaft eifersüchtig, was sehr ungünstig sein kann, wenn man mit einer so hübschen Frau verheiratet ist.«
Ben fand Lila weitaus attraktiver. Sie strahlte eine Herzlichkeit aus, die nichts mit der kühlen Höflichkeit gemein hatte, an die er gewöhnt war.
Das behielt er selbstverständlich für sich. Aber was sollte er nun tun? Es war klar, dass sie hier lebte und er der Eindringling war.
Als hätte sie seine Gedanken erahnt, sagte sie: »Du bleibst natürlich heute Nacht hier. Ich hatte das Gästezimmer ohnehin für eine Freundin vorbereitet, die doch nicht kommen konnte. Morgen werden drüben im Haupthaus zwei Zimmer frei. Dann kannst du dir sogar eines aussuchen.« Sie versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, und stand auf. »Entschuldige, es war ein anstrengender Tag.«
Ben erhob sich ebenfalls. »Danke sehr!« Während sie im Bad verschwand, wusch er die Gläser ab und stellte sie zurück ins Regal. Es dauerte nicht lange, da wünschte sie ihm eine gute Nacht.
Auf dem Weg in sein Zimmer hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Lila war gastfreundlich, aber nicht so leichtsinnig, einem vollkommen Fremden Unterkunft zu gewähren, ohne wenigstens hinter sich abzuschließen. Seltsamerweise erfüllte ihn das mit Befriedigung.
Als Ben am nächsten Morgen nach einer ausgiebigen Dusche und frisch rasiert das Bad verließ, rechnete er nicht damit, dass Lila bereits in der Küche hantieren würde, denn es war gerade mal sechs Uhr. Den ersten Hahnenschrei hatte er in der Morgendämmerung gehört. Beim hundertsten hielt ihn nichts mehr im Bett.
Die Haare noch feucht, ein Handtuch für den kurzen Rückweg ins Zimmer nachlässig um die Hüften gebunden, blieb Ben stehen. Wäre er ein Gentleman gewesen, hätte er sich unbemerkt zurückgezogen, um sich so schnell wie möglich etwas anzuziehen und ihr Hilfe anzubieten. Stattdessen sah er ihr zu, wie sie auf Zehenspitzen stehend vergeblich versuchte, die Kaffeedose aus dem Regal zu nehmen.
Ben ließ den Blick über die schlanken Beine gleiten, bis zum Saum eines viel zu großen, hellblauen Männerhemdes, unter dem cremeweiße Dessous hervorblitzten, wenn sie sich streckte. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was seine Aufmerksamkeit auf ihr delikates Profil lenkte. Den Tageslichttest hat sie allemal bestanden, dachte er und musste unwillkürlich schlucken. Sie war überhaupt nicht sein Typ, doch er wusste Schönheit zu schätzen – und an Lilas Aussehen gab es nichts auszusetzen. Ganz im Gegenteil.
»Wenn es dir nicht allzu viel ausmacht, könntest du mir jetzt mal behilflich sein«, sagte sie in diesem Augenblick und warf ihm einen belustigten Blick zu, bevor sie die Gasflamme unter dem pfeifenden Kessel ausdrehte.
Ben erwachte aus seiner Trance. »Und wie löst du das Problem, wenn gerade keine Hausgäste in der Nähe sind?«
Sie zeigte auf eine hölzerne Trittleiter, die er im ersten Augenblick für einen Hocker gehalten hatte.
»Ach, und warum benutzt du ihn nicht? Hast du geglaubt, der Regen hätte dich wachsen lassen?«
»Frechheit!« Sie funkelte ihn in gespielter Empörung an. »Ein Bein wackelt.«
Dieser Erklärung zum Trotz stieg sie auf die erste Stufe – offenbar in der Absicht, ihm zu beweisen, dass sie ohne seine Hilfe zurechtkam. Prompt knackte das Holz, und das lose Bein gab nach. Lila fiel in seine Arme.
Sie lachte. »Siehst du!« Ihre warme Stimme ging ihm direkt unter die Haut.
In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür, und ein dunkelhaariger Mann trat ein. Mit einem Blick erfasste er die Situation, und sein eben noch fröhliches Gesicht verfinsterte sich auf bemerkenswerte Weise.
Ben
»Christian, was machst du hier?« Lila klang überrascht.
»Das könnte ich dich auch fragen.«
Ihr Freund, dachte Ben und stellte sie behutsam auf die Füße. Er machte einen Schritt zurück und lehnte sich mit vor der bloßen Brust verschränkten Armen an den Küchenschrank, als ginge ihn das alles nichts an. Dabei ließ er den Mann nicht aus den Augen, der zusehends wütender wurde.
»Lila, das kann doch nicht dein Ernst sein. Nur weil wir uns gestern gestritten haben, steigst du mit dem Nächstbesten ins Bett?«
»Spinnst du?« Empört stemmte sie die Arme in die Hüften, machte aber keine Anstalten, hinter dem Küchentresen hervorzukommen.
Sie wird nicht wollen, dass er sieht, was sie anhat, dachte Ben. Oder besser: Was sie nicht anhat. Obwohl die Situation tatsächlich verfänglich gewirkt haben mochte, fand er es nicht fair, ihr derartige Vorwürfe zu machen.
»Eigentlich geht es dich nichts an. Aber ich will dir sagen, was geschehen ist. Ben ist gestern spät angekommen.«
»Ben, also. Ihr duzt euch.«
»Ja«, sagte sie, für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht. »Weißt du was? Ich möchte das jetzt nicht vor einem Gast diskutieren. Was willst du überhaupt um diese Zeit hier?«
»Das frage ich mich auch.« Er warf eine Tüte auf den Küchentresen, die verführerisch nach frischen Croissants duftete. »Dieses Wochenende und die gesamte nächste Woche ist halb Europa hier, um Ferienhäuser zu besichtigen. Ich werde nicht eine Sekunde Zeit haben.« Er sah auf die Uhr. »Um halb neun habe ich den ersten Termin in Gordes. Ich wollte einfach nur eine Stunde ungestört mit dir verbringen. Ist das denn so schwer zu begreifen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich auf dem Absatz um, stürmte hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
»Autsch!«, sagte Ben und sah sie entschuldigend an. »Dein Freund?«
»Ein Freund«, sagte sie entschieden und hob das Kinn.
Aus dem widerspenstigen Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, schloss er, dass die beiden eine längere gemeinsame Geschichte hatten.
Ihr Privatleben geht mich nichts an, dachte er und nahm den Kaffee vom Regal. »Meinst du, er nimmt es uns übel, wenn wir die Croissants aufessen?«
»Wahrscheinlich schon.« Ihr melodisches Lachen ließ eine Saite in ihm vibrieren, die er lange nicht mehr gespürt hatte. »Aber nach dem Auftritt ist es das Mindeste, was er für uns tun kann, meinst du nicht auch?« Sie wurde plötzlich verlegen. »Es tut mir leid. Er hat sich ziemlich daneben benommen.«
»Kein Problem«, sagte er und wandte sich seinem Zimmer zu. »Ich werde mir jetzt aber lieber etwas anziehen. Nicht dass gleich der nächste Besucher hereinplatzt …«
»Ben?«, rief sie hinter ihm her.
Die Hand bereits auf der Klinke, drehte er sich um.
»Außer den Croissants und Kaffee habe ich nichts im Haus. Drüben gibt es ab acht ein Full English Breakfast. Du bist doch Kanadier, vielleicht möchtest du lieber dort frühstücken?«
»Madame, ich bin untröstlich. Sagen Sie nicht, ich hätte einen Akzent!« Er presste sich die Hände aufs Herz, als hätte sie ihn verletzt.
»Ein klein wenig vielleicht. Ich mag es, wenn ihr Kanadier diese altmodischen Begriffe verwendet. Das hat irgendwie einen großväterlichen Charme.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Ich werde einfach so tun, als wäre das ein Kompliment. Sonst bekommt mein Ego einen erheblichen Schaden. Das hält sich nämlich nicht für uralt, musst du wissen.«
Lila grinste. »Es war ein Kompliment. Du scheinst mir zu jung zu sein, um bei den Irokesen-Kriegen mitgekämpft zu haben.«
»Das war im siebzehnten Jahrhundert.« Er schüttelte den Kopf und zwinkerte ihr zu. »Aber meine Familie lebt tatsächlich schon lange in Québec und stammt ursprünglich aus Frankreich. Kaffee und Croissants sind also okay, solange ich keine Gitanes dazu rauchen muss …«
»Bloß nicht!« Sie lachte und setzte den inzwischen abgekühlten Wasserkessel erneut auf.
Als er zurückkehrte, trug sie ein schlichtes Sommerkleid und hockte mit angezogenen Beinen auf einer Bank am gedeckten Tisch. Die Croissants waren warm, außen knusprig und innen ganz weich und buttrig. Genau so, wie er sie mochte.
»Der Kaffee schmeckt großartig!«
»Danke.« Sie lächelte und betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf. »Was hat dich hierher verschlagen?«
Er erzählte ihr von seinem Meeting in Paris und der spontanen Entscheidung, für ein paar Tage Ferien zu machen, bevor er wieder nach Kanada flog. Den eigentlichen Grund für die Auszeit verschwieg er allerdings.
»Also hast du keine geschäftlichen Termine in der Gegend?«
Er ahnte, worauf sie hinauswollte. Christian war offenbar Immobilienmakler und betreute eine finanzstarke Klientel. Er hatte einen Anzug getragen, der jedoch weitaus besser zu sommerlichem Wetter passte als seine eigene dunkle Hose und das schlichte weiße Hemd. Dennoch wollte er wissen, warum sie ihn das fragte.
»Der Wetterbericht hat für die nächsten Tage über dreißig Grad vorhergesagt.«
»Und du meinst, ich bin nicht passend gekleidet? Da könntest du recht haben«, gab er zu. »Die Entscheidung, in den Süden zu fahren, war ziemlich spontan.«
»Wenn du nur solche Sachen dabei hast, hättest du lieber spontan in die Bretagne reisen sollen. Dort regnet es dauernd.« Verschmitzt sah sie ihn an. »Ich mache dir einen Vorschlag. Um halb elf muss ich in Avignon beim Notar sein. Mein Auto hat keine Klimaanlage. Wenn du mich mit deinem Luxuswagen fährst, zeige ich dir, wo du ein paar passendere Klamotten einkaufen kannst.«
»Wie kommst du darauf, dass mein Leihwagen luxuriös ist?«
»Weil die Pariser Halunken sind. Sie werden dir gesagt haben, dass es keine anderen Fahrzeuge mehr gibt, um einen gehörigen Aufschlag zu kassieren.«
Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ben musste wider Willen lachen. »Für die Klimaanlage bin ich allerdings dankbar.«
In Paris hatten die Wolken bei seiner Abreise so tief gehangen, dass die Spitze des Eiffelturms darin verschwunden war, aber je weiter er gen Süden gekommen war, desto höher waren die Temperaturen auf dem Außenthermometer gestiegen.
Er überlegte. Was er in der Nacht von dem Hotel hatte sehen können, gefiel ihm. Anstatt sich auf die Suche nach einer einzeln gelegenen Unterkunft zu machen, wie ursprünglich geplant, konnte er ebenso gut hierbleiben. Ganz gleich, wie er sich entscheiden würde, passendere Kleidung bräuchte er in jedem Fall.
»Einverstanden.«
Gemeinsam gingen sie wenig später durch den Garten hinauf zu dem schnörkellosen Château aus unverputztem Kalkstein, das er nun zum ersten Mal im Tageslicht sah. Obwohl es über der sanft abfallenden Landschaft thronte, schien es nicht auffallen zu wollen mit seinem hellen Grau, das an dunklen Tagen die Farben des Himmels tragen würde. Die hohen Sprossenfenster gaben ihm zwar etwas durchaus Elegantes, doch ein Château stellte er sich weitaus spektakulärer vor. Dies hier war eines der klassischen Landhäuser, die man aus provenzalischen Filmen oder Bildbänden kannte. Und dementsprechend entdeckte er rundherum zwischen hohen Bäumen Wirtschafts- oder kleinere Wohngebäude. Nichts war hier glänzend und neu, doch alles wirkte gepflegt. Die Beete mit Lavendel und üppigen Kletterrosen ebenso wie die ausgetretenen Stufen, die zum Haus hinaufführten. Ein Krächzen ließ ihn zur Seite blicken.
»Ihr habt Flamingos?«, fragte er erstaunt. Drei rosafarbene Vögel standen in einem romantisch angelegten Teich und blickten zu ihnen herüber.
»Haben kann man das nicht nennen. Sie kommen und gehen, wie es ihnen passt. Ein Nachbar hat die Tiere angeschafft und nun stehen sie gelegentlich auch bei uns dekorativ herum.«
Ihr Lachen klang so fröhlich und unbeschwert, dass er unwillkürlich beschwingter ausschritt, bis sie die obere Terrasse direkt am Haupthaus erreichten.
Von den abendlichen Festlichkeiten war nichts mehr zu sehen. Nur die weißen Lampions hingen noch wie riesige Früchte in den Bäumen. Am Pool lagen einige Gäste, die träge herübersahen, und in der Eingangshalle herrschte geschäftige Betriebsamkeit. Wem sie auch begegneten, jeder begrüßte Lila mit großer Herzlichkeit … und jeder warf ihm einen neugierigen Blick zu.
Am Empfang verabschiedete sie sich von ihm. »Wir treffen uns um halb zehn hier, einverstanden? Michel wird dir alles Wissenswerte über Château Vauclain erzählen.«
Der Empfangsmitarbeiter begrüßte ihn höflich und bot ihm an, das immer noch leere Smartphone gleich an der Rezeption zu laden. »Wie lange werden Sie bleiben, Monsieur?« Er reichte ihm ein Anmeldeformular.
»Ich weiß noch nicht. Eine Woche vielleicht.«
Michel blinzelte und konsultierte seinen Computer. »Désolé, Monsieur. Nach dem Wochenende sind wir ausgebucht.« Er deutete Bens Gesichtsausdruck richtig und lächelte. »Keine Sorge, wir werden eine Lösung finden. Vorerst bekommen sie ein schönes Zimmer, und ich spreche nachher mit Mademoiselle Vauclain.« Danach klärte er ihn über die Frühstückszeiten auf. »Wenn Sie wünschen, können Sie bei uns auch dinieren. Ab sechs Personen servieren wir ein mehrgängiges Abendessen mit Produkten aus der Saison. Viele unserer Gäste sprechen sich untereinander ab und buchen einen gemeinsamen Abend.«
»So wie gestern?«, fragte er.
»Gestern? Non, Monsieur. Gestern war … etwas anderes«, beendete er den Satz mit verschlossener Miene. »Ihr Zimmer steht ab drei Uhr bereit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Damit wandte er sich dem klingelnden Telefon mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen zu, dem in letzter Sekunde Rettung zuteilwurde.
Was war das gestern bloß für eine Party?, fragte sich Ben, und weil er hier keine Antwort erwarten konnte, suchte er sich einen schattigen Tisch auf der Terrasse und studierte den umfangreichen Hausprospekt, den Michel ihm gegeben hatte.
Im Herrenhaus gab es seiner Einschätzung nach deutlich mehr Platz als die sechzehn Zimmer, die man anbot. Wahrscheinlich bewohnt der Besitzer einen Teil davon selbst, dachte er. Zum Anwesen gehörten Oliven- und Obstbäume, ein Rosengarten und Lavendelfelder sowie der Wald, den er auf der Herfahrt durchquert hatte. Interessierte Gäste konnten unter fachkundiger Anleitung Ausflüge zu Pferd unternehmen, in einem anderen Hofgut nicht weit von hier Wein verkosten oder an geführten Stadtrundgängen in Sainte-Émilie teilnehmen. Steinmetz- und Zeichenkurse wurden angeboten, und viermal pro Jahr fand ein Seminar für angehende Schriftstellerinnen und Schriftsteller statt. Vauclain hieß, so las er, auch die hier ansässige Familie, die dieses Landgut im achtzehnten Jahrhundert errichtet hatte, nachdem ihr Haus einem Feuer zum Opfer gefallen war.
Entspannt lehnte er sich zurück, nippte an dem kühlen Wasser, das ihm ein schüchterner junger Mann serviert hatte, und nutzte die heitere Ruhe des Vormittags, um über seine Zukunft nachzudenken.
»Ich bin so weit«, unterbrach Lila diese vorerst ergebnislosen Überlegungen.
»Madame Vauclain, Sie sehen bezaubernd aus«, sagte er galant und sprang auf, um sie hinauszubegleiten. Sein Kompliment war spontan, aber keineswegs übertrieben. Das hochgesteckte Haar und ihr Kleid ließen sie erwachsener erscheinen. Heute Morgen war er ein wenig erschrocken gewesen, weil sie so jung wirkte. Viel zu jung für ihn und erst recht für diesen Christian, den er auf Mitte dreißig schätzte, also etwas älter, als er selbst war. Nun aber verkörperte sie geradezu vollendet das Bild der eleganten Französin. Ihr Kleid wirkte schlicht, war aber raffiniert genug geschnitten, um einerseits die reizende Figur zu betonen und andererseits wenig preiszugeben. Lila trug dezenten Schmuck und eine Aktentasche unter dem Arm. Es war offensichtlich, dass sie einen Geschäftstermin wahrnehmen wollte.
Als er die Autotür für sie öffnete und einen Blick auf die makellosen Beine warf, hatte er plötzlich das Bild vor Augen, wie sich diese Beine um ihn schlangen, ihr Körper unter seinen Berührungen erbebte …
Du wirst demnächst einunddreißig Jahre, ermahnte er sich selbst. Benimm dich nicht wie ein unreifer Teenager!
Doch sein Körper ließ sich nur widerwillig überzeugen, und Ben gab vor, noch etwas im Kofferraum zu suchen, bis es ihm schließlich gelang, die unwillkommene Erregung zu überwinden. Das konnte ja heiter werden.
Lila
Der Kanadier strahlte eine Männlichkeit aus, die Lila nervös machte. Gestern Abend hatte sie sich in einem heiklen Ausnahmezustand befunden. Der Zusammenstoß mit ihm war ihr wie der angemessene Abschluss eines ungeheuerlichen Tages erschienen, und es war nicht weiter verwunderlich, dass sie schlecht geschlafen und wild geträumt hatte.
Doch als Ben am Morgen nur mit einem Handtuch bekleidet in ihrer Küche gestanden und mit ihr geflirtet hatte, war die Verwirrung nur noch schlimmer geworden. Bereits ein Blick auf seine fein geschwungenen Lippen reichte aus, um ihre Fantasie anzuregen. Die klaren Augen unter dunklen Brauen, das entschlossene Kinn und die hohen Wangenknochen sorgten dafür, dass ihr die Knie weich wurden, sobald sie zu ihm hinübersah. In seinem dunkelblonden Haar tanzten Lichter, die in der provenzalischen Sonne heller werden würden, während sich seine Haut bräunte. Er gehörte zu diesem Menschenschlag, der wie für das mediterrane Leben geschaffen zu sein schien.
Normalerweise hätte sie sich über ihre stürmische Begegnung gefreut, aber er kam zur falschen Zeit. Sie wollte nicht flirten und sich schon gar nicht verlieben. Im vergangenen Jahr hatte sie in beiderlei Hinsicht keine Ambitionen gehabt, und das würde eine Weile so bleiben, dachte sie, und es tat ihr beinahe leid um die verpasste Gelegenheit.
Überzeugt davon, immun gegen seinen Charme zu sein, hatte sie den günstigen Umstand genutzt, sich zum Dank für ihre Gastfreundschaft von ihm nach Avignon bringen zu lassen. Nach dem Zwischenfall heute Morgen konnte sie ja schlecht Christian fragen. Außerdem hatte er viel zu tun, und es gab da etwas zwischen ihnen, das sie dringend klären musste. Ein gemeinsamer Ausflug wäre das falsche Signal gewesen. Der Immobilienmakler war ein guter Freund, aber überhaupt nicht ihr Typ. Ben dagegen schon.
Sie sah zu ihm rüber, und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte, ihr Herz machte einen Hopser. Vielleicht hätte sie sich doch lieber Julies Auto leihen sollen. Mit welcher Leichtigkeit er sich aufs Flirten verstand, wie lässig er sich bewegte und auf Christians Auftritt reagiert hatte – das alles zeugte von einem Selbstbewusstsein, das man oft bei Leuten mit Geld im Rücken fand. Die Anzugjacke, die zusammengefaltet auf dem Rücksitz lag, wirkte handgenäht und überhaupt: Wer hängte einfach mal spontan ein paar Tage Urlaub an eine Geschäftsreise an? Sicher kein kleiner Angestellter. Wahrscheinlich leitete er einen Weltkonzern oder war Teil einer mächtigen Familiendynastie. Wer sonst hätte schon seine Familiengeschichte bis in die Gründerjahre Kanadas zurückverfolgen können?
Heute Nacht hatte sie trotz ihrer moralisch einwandfreien Vorsätze äußerst lebhaft von ihm geträumt. Gequält schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sie Bens flachen Bauch küssen, das Handtuch, das er am Morgen um die Hüften geschlungen hatte, lösen und …
»Lila, alles in Ordnung?«
»Aber ja.« Beim Klang seiner Stimme schreckte sie auf und zeigte nach links: »Da vorn musst du abbiegen und die nächste gleich wieder rechts.«
Im Parkhaus fanden sie einen Platz auf der schattigen Nordseite. Sie tauschten die Nummern für später, und Ben bestand darauf, sie bis zum Büro des Notars zu begleiten. Er war also nicht nur sexy, sondern besaß obendrein angenehme Umgangsformen.
»Melde dich einfach, wenn du hier fertig bist«, sagte er und ging davon.
Lila sah ihm hinterher, bis er auf seinem Weg zu den eleganten Boutiquen Avignons um die nächste Hausecke gebogen war.
Monsieur Cavelli öffnete ihr persönlich. Er war gestern auch auf Antheas Beerdigung gewesen und begrüßte sie warmherzig.
»Schön, dass Sie kommen konnten, Mademoiselle ... Pardon, ich meine natürlich Madame Vauclain.« Er bot ihr einen Platz an und begann ohne Umschweife: »Wie Sie wissen, kannte ich Anthea Vauclain schon seit frühester Jugend.« Er zögerte. »Der Inhalt ihres Testaments ist Ihnen bekannt?«
»Ich darf mir Gemälde aus ihrer Sammlung aussuchen. So viele ich haben möchte. Das Herrenhaus und die Gärten erbt ihre Tochter Susette.«
Die Erleichterung war Monsieur Cavelli anzusehen. »Einige der Kunstwerke dürften inzwischen einen beträchtlichen Wert haben. Das wissen Sie?«
»Das hat sie mir gesagt.«
»Gut. Ansonsten hat sich nichts Wesentliches geändert. Es gibt nur ein Problem.«
»Welches?«
»Bevor wir Susette oder ihren rechtmäßigen Erben nicht gefunden haben, kann ich das Testament nicht eröffnen, und bis dahin sind alle Konten eingefroren. Sie wollte ein weiteres Konto einrichten, aber dazu ist es offensichtlich nicht mehr gekommen. Das tut mir sehr leid.«
»O nein!« Erschrocken sah sie ihn an. »Demnächst sind die Gehälter fällig, und die Touristensaison hat gerade erst begonnen. Ich weiß nur, dass Antheas Tochter in Kanada lebt.« Sie verstummte kurz und sagte dann leise: »Ein großes Land, habe ich recht?«
»Allerdings. Es kann eine Weile dauern, bis wir sie finden. Aber machen Sie sich keine Sorgen, finden werden wir sie, auch wenn sie alles getan hat, um Frankreich zu vergessen.«
»Was ist damals eigentlich vorgefallen?«
Anthea hatte nie mit ihr über den Grund des Zerwürfnisses mit ihrer Tochter gesprochen, die jeder für Lilas Halbschwester hielt. Eine Schwester, die alt genug war, um selbst ihre Mutter zu sein. Nur wenige Menschen kannten ihr Geheimnis, und Monsieur Cavelli gehörte dazu.
Ziemlich unglücklich sah er sie an. »Anthea war in ihrer Jugend ein wildes Ding.« Er stand auf, schenkte großzügig Cognac in zwei Gläser, von denen er ihr eines reichte. »Trinken Sie ruhig. Sie werden es gebrauchen können.«
Lila ahnte schon lange, dass das Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter mit ihr zu tun gehabt hatte. Nun würde sie die Wahrheit erfahren. Sie nahm einen Schluck und sah ihn erwartungsvoll an.
»Als Anthea in Paris diesen Henry de Beaumont heiratete«, sagte er, »wussten alle in Sainte-Émilie-de-Vauclain, dass das nicht gut gehen würde.«
»Warum?«
»Er war Engländer. Mit normannischen Wurzeln zwar, aber das hat hier im Süden wenig zu sagen. Das eigentliche Problem war, dass seine Familie zum britischen Hochadel gehörte und seine Ehe mit einer Lady längst abgemacht war.«
»So was gibt es noch?«
»Sie wären überrascht. Ob Geld oder Adel, die Leute versuchen, ihren Besitz zu vermehren, und das klappt ganz ausgezeichnet durch eine Eheschließung. Mit entsprechendem Vertrag selbstverständlich.«
»Da habe ich ja Glück, zu keiner der beiden Gruppen zu gehören.« Sie blinzelte und trank noch einen kleinen Schluck.
Cavelli räusperte sich. »Soweit ich weiß, haben Anthea und Henry keineswegs nur wegen des Kindes geheiratet. Sie haben sich wirklich geliebt. Doch der Alltag war zu viel für die beiden. Anthea war gerade mal siebzehn und der junge Lord kaum älter.«
»Sie haben sich also getrennt?«
»Nach etwa einem Jahr. Anthea hat das lange nicht verwunden, glaube ich. Seither widersetzte sie sich jedenfalls gesellschaftlichen Konventionen und wurde Teil der Pariser Bohème.«
»Und ihre Tochter?«
Er leerte sein Glas. »Ich war nicht dabei. Aber man sagt, die Kleine habe sich zum ganzen Gegenteil ihrer Mutter entwickelt. Sie zog direkt nach der Schule aus und ging später nach Kanada. Und als Anthea Sie, Mademoiselle, nach Château Vauclain gebracht hat, das sie kurz zuvor geerbt hatte, brach Susette den Kontakt endgültig ab.«
»Es tut mir leid, aber in gewisser Weise kann ich verstehen, dass sie verletzt war. Zumal wenn Anthea selbst ihrer eigenen Tochter nicht verraten hat, wer meine leibliche Mutter ist und warum sie mich zu sich genommen hat.«
»Niemand sonst weiß davon. Außer Marie natürlich. Sie war die Hebamme.«
»Ja, das hat sie mir erzählt. Ich hatte großes Glück, von Anthea aufgezogen worden zu sein.«
»Ich glaube, sie wollte an Ihnen wieder gutmachen, was sie aufgrund ihrer Jugend bei Susette versäumt hat.« Väterlich lächelte er ihr zu. »Ich habe Madame Vauclains unbedingten Freiheitswillen immer bewundert. Sie war eine Frau, die das Leben umarmt hat, und Sie sind ihr ähnlich.«
»Aber wir sind doch gar nicht …«
»… miteinander verwandt?« Er schenkte sich nach. »Die Verwandtschaft im Geiste ist oftmals wichtiger als die des Blutes. Glauben Sie mir.«
Lila schwieg dazu.
»Ich werde einen Antrag stellen, dass die Konten freigegeben werden. Dafür wäre es hilfreich, wenn Sie sich verpflichteten, die Geschäfte im Sinne des zukünftigen Erben vorerst weiterzuführen.« Er schob ihr ein vorbereitetes Schreiben zu.
»Natürlich mache ich das, ich habe es Anthea versprochen. Aber die Angestellten haben ein Recht darauf zu erfahren, wie ihre Zukunft aussehen soll.«
Er lachte. »Sie sind ihr wirklich ähnlich. Ohne etwas zu verraten, darf ich wohl sagen, dass dieses Testament gewisse Bedingungen enthält. Das Personal braucht sich vorerst keine Gedanken zu machen.« Er stand auf.
Lila tat es ihm nach, und als sie schon an der Tür waren, sagte er: »Verstehen Sie bitte, dass ich nicht mehr sagen kann. Sollten sich Fragen ergeben, bis wir Susette gefunden haben, können Sie sich jederzeit an meine Assistentin wenden.«
Sie verabschiedeten sich, und Lila dachte an ihre Schulfreundin, die das Jurastudium abgebrochen hatte und dank Antheas Vermittlung für Monsieur Cavelli arbeitete. Manon also würde womöglich Auskunft geben, wo ihr Chef an seinen Berufskodex gebunden war.
Ben
Einkaufen in Frankreich, stellte Ben fest, war ein sinnliches Erlebnis. Er wusste recht genau, was er wollte, doch dank der engagierten Beratung kaufte er mehr als geplant. Eine vollkommen neue Erfahrung für ihn.
Zu offiziellen Anlässen mochten Franzosen auf konservative Garderobe setzen, doch en vacances erlaubte sich die hiesige Designer-Riege offenbar durchaus einige Freiheiten. Ben verzichtete allerdings auf allzu Farbiges. Eine sandfarbene Hose mit passendem Hemd behielt er gleich an. Das glatte Leinen lag angenehm kühl auf seiner Haut. Schließlich beendete er den Einkauf mit einem Besuch in dem Schuhgeschäft, das ihm der Verkäufer empfohlen hatte.
Er verstaute gerade die zahlreichen Tüten im Kofferraum, als sein Handy klingelte.
Lila teilte ihm mit, ihr Termin habe sie hungrig gemacht. Ben wusste, was von ihm erwartet wurde, und schlug vor, gemeinsam essen zu gehen. Die Franzosen, das hatte er bereits als Kind gelernt, nahmen ihre Mahlzeiten sehr ernst.
»Ich habe eine Idee. Es wird dir gefallen«, sagte sie und nannte ihm die Adresse.
Sie erreichten die Rue Félicien David beinahe gleichzeitig, und er folgte Lila eine schmale Gasse entlang bis zu dem unauffälligen Hausdurchgang, der sie in den Hinterhof führte. »Hier willst du essen?« Verwundert sah er sich um.
»Wart’s ab«, sagte sie und steuerte auf eine Tür zu.
Sie betraten tatsächlich ein Restaurant, das jedoch, wie in dieser Umgebung zu erwarten, alles andere als spektakulär war. Ein Dutzend weiß gedeckte Tische und schmucklose, grob verputzte Wände. Doch der ausgetretene Holzfußboden und die aus gebrannten Ziegeln gemauerte Bar gaben dem Raum ein behagliches Ambiente. Zudem war der Duft, der ihm nun in die Nase zog, außerordentlich vielversprechend.
Ein älterer Mann eilte ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Gut, dass Sie angerufen haben, Lila. Ich habe Ihnen einen schönen Tisch ans Fenster gestellt.« Er begrüßte sie wie eine verloren geglaubte Tochter und drückte sie überschwänglich. »Es tut mir so leid …«
Erstaunt bemerkte Ben die Tränen in seinen Augen, als er ihm die Hand gab. »Herzlich willkommen, Monsieur.«
Irgendetwas Trauriges musste geschehen sein. Das würde auch die melancholische Aura erklären, die er gestern bei Lila gespürt hatte. Doch jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um sich danach zu erkundigen.
Ben sah sich um. Sie waren die einzigen Gäste, und er wunderte sich, warum man reservieren musste. Kaum hatten sie sich jedoch gesetzt, da ertönte ein Glöckchen, und drei Männer in Arbeitskleidung kamen herein. Während der Gastgeber davoneilte, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, brachte eine fröhliche junge Frau ein Körbchen mit mehreren Sorten Brot und je eine Karaffe mit Wasser und Wein. »Ça va, Lila?«, grüßte sie freundlich und nickte ihm zu, bevor sie wieder davonwirbelte.
»Das ist Julie, die Nichte«, sagte Lila, als sie fort war, und griff nach ihrem Glas. »Ihre Mutter arbeitet bei uns in der Küche, der Vater ist – war Verwalter in Vauclain.« Sie machte eine Geste, als wollte sie die Erinnerung verscheuchen. »Irgendwas ist ja immer.«
Das Glöckchen an der Tür stand nun nicht mehr still, und im Nu waren alle Plätze besetzt. Arbeiter mit staubigen Schuhen, Herren im Anzug aus den Büros der Umgebung und Frauen im strengen Business-Kostüm oder in bunten Sommerkleidern hatten sich eingefunden. Erwartungsvoll sahen sie dem Wirt entgegen, der eine große Tafel hereinschleppte und an die Wand hängte. Mit sauberer Handschrift war darauf das heutige Menü notiert, und das konnte sich sehen lassen.
Es gab Gazpacho von Zucchini mit einem Tupfen Ziegenkäse zum Appetit anregen, wie der Wirt ihnen augenzwinkernd mitteilte, als er den Aperitif servierte. Danach folgte ein Risotto. Der Wein war ein Côte-du-Rhône und passte perfekt zu den rosigen Scheiben vom Lamm, die mit jungen grünen Bohnen, einer köstlichen dunklen Soße und Rosmarinkartoffeln angerichtet waren.
Die französische Küche in Kanada war keinesfalls schlecht, und Ben hatte überall auf der Welt in erstklassigen Restaurants gegessen. Das brachte der Beruf mit sich. Die besten Abschlüsse, sagte sein Vater immer, werden nach einem guten Essen getätigt. Könnte er die Jury in Paris, die über seinen Wettbewerbsbeitrag zu entscheiden hatte, in dieses Restaurant einladen, erhielte er den Zuschlag sofort. Da war sich Ben fast sicher. Diese Begeisterung hatte allerdings auch etwas mit seiner Begleitung zu tun. Lila aß mit lustvoller Hingabe.
Eine Frau, die gutes Essen zu schätzen weiß, hat auch Spaß im Bett, behauptete sein bester Freund immer. Ben hielt das für eine gewagte These, doch wenn sie stimmen sollte …
Irgendetwas in seinem Blick schien ihn verraten zu haben. Sie hatte gerade zum Glas greifen wollen und hielt nun in der Bewegung inne. Dabei befeuchtete sie die Lippen mit der Zunge und errötete leicht.
Bens Herz schlug schneller, als er ebenfalls sein Glas nahm und ihr zuprostete. »Ich habe lange nicht mehr so gut gegessen«, sagte er mit einem Lächeln, das sie mit offenkundiger Erleichterung erwiderte.
Wenn er herausfinden wollte, ob an der Theorie seines Freundes etwas dran war, musste er behutsam vorgehen. Sie flirtete charmant, was aber nicht heißen musste, dass sie es ihm leicht machen würde, sie zu verführen. Will ich das denn überhaupt?, fragte sich Ben, als das Dessert kam. Die Antwort kannte er bereits.
Zurück im Château wurde Lila sofort von einer Kollegin mit Beschlag belegt. Sie warf ihm ihren Schlüssel zu. »Fürs Haus. Gib ihn einfach an der Rezeption ab, wenn du deine Sachen geholt hast.«
Sein neues Zimmer, erfuhr er, sei bezugsfertig. Ben trug die Einkäufe hinauf in den ersten Stock und legte sie auf dem breiten Bett ab.
Es wäre klug gewesen, gleich noch einen zweiten Koffer zu kaufen, dachte er belustigt. Die Einrichtung war auch hier ganz nach seinem Geschmack, und er fühlte sich sofort wohl. Vom Fenster aus sah man auf die terrassierte Gartenanlage hinunter. Weiter hinten leuchteten zwischen Zypressen und Olivenbäumen die Ziegeldächer einiger Gebäude hervor. Eines davon erkannte er als das Lilas Haus. Es tat ihm ein bisschen leid, dort ausziehen zu müssen. An ein gemeinsames Frühstück wie heute Morgen könnte er sich gewöhnen. Doch ein sexuelles Abenteuer war nicht der Grund für seine Reise. Er zwang sich, nicht zu vergessen, weshalb er hergekommen war.
Da war zum einen die Sache mit seiner Exfreundin. Ihre Mütter hatten vereinbart, sie eines Tages miteinander zu verheiraten. Was vielleicht im Scherz begonnen hatte, führte später zu einer On & Off-Beziehung zwischen ihnen. Sie waren ein hervorragendes Team, wenn es um professionelle Belange ging – im Bett lief es ebenfalls mehr als erfreulich. Zu heiraten wäre die logische Konsequenz. Dafür sprachen auch die Statistiken. Ehen, die sich auf eine solide Partnerschaft gründeten, hielten demnach länger als Liebesverbindungen. Doch sein Herz verweigerte sich diesen Argumenten, und er hatte sich zu Beginn des Jahres von ihr getrennt. Taylor aber wollte sein Nein nicht akzeptieren, und das wurde ihm allmählich zu bunt.
Mindestens ebenso bedeutend war die Frage, ob er sich bereit fühlte, Aubry Architecture Inc. zu übernehmen. Anderenfalls, so hatte sein Vater angedeutet, würde er sie an einen Studienfreund verkaufen, mit dessen Unternehmen er sich in respektvollem Wettbewerb befand.
Heute hatte er aber keine Lust, über solche Dinge nachzudenken.