Leaving Was The Hardest Part (Hardest Part 3) - Rabia Doğan - E-Book

Leaving Was The Hardest Part (Hardest Part 3) E-Book

Rabia Dogan

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Beschreibung

Mit dem Modedesign-Studium im fremden Berlin geht Nehirs größter Wunsch in Erfüllung. Doch mit einem Haken: Sie muss zu ihrem herrischen Vater ziehen, den sie nicht wirklich kennt. Einzig in einem Töpfershop findet sie Ruhe – bis sie dort auf Atlas trifft, den Jurastudenten, der sein Leben perfekt unter Kontrolle hat. Und den Nehir überhaupt nicht leiden kann. Aber unter seinem penibel aufgebauten Image versteckt sich eine Last, die ihn zu erdrücken droht. Zwischen Streitereien und ungewollten Treffen merken die beiden, wie viel sie verbindet. So viel, dass es sie auseinanderreißen könnte. Eine hoch romantische Slow Burn Romance mit einem unwiderstehlichen Lesesog, dem sich niemand entziehen kann. »Nehir und Atlas sind die Vermenschlichung der japanischen Praxis Kintsugi, und wir dürfen ihnen dabei zusehen, wie sie ihre Risse mit Gold füllen. Rabia Doğan zeigt uns nicht nur, was wir sehen wollen, sondern sagt auch, was gesagt werden muss, und das macht jede ihrer Geschichten großartig.« (Bloggerin @esraustabooks auf TikTok) //Dies ist der dritte Band der zutiefst bewegenden »Hardest Part«-Trilogie. Alle Romane der berührenden Own-Voice-Reihe:  -- Band 1: Staying Was The Hardest Part -- Band 2: Trusting Was The Hardest Part -- Band 3: Leaving Was The Hardest Part//

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rabia Doğan

Leaving Was The Hardest Part

»Vielleicht ist das auch das Schönste an der Liebe. Nicht die Was-Wenns oder die Zukunft. Sondern der Moment, in dem man sich leichter fühlt als sonst – sicher, gewollt, gesehen.«

Mit dem Modedesign-Studium im fremden Berlin geht Nehirs größter Wunsch in Erfüllung. Doch mit einem Haken: Sie muss zu ihrem herrischen Vater ziehen, den sie nicht wirklich kennt. Einzig in einem Töpfershop findet sie Ruhe – bis sie dort auf Atlas trifft, den Jurastudenten, der sein Leben perfekt unter Kontrolle hat. Und den Nehir überhaupt nicht leiden kann. Aber unter seinem penibel aufgebauten Image versteckt sich eine Last, die ihn zu erdrücken droht. Zwischen Streitereien und ungewollten Treffen merken die beiden, wie viel sie verbindet. So viel, dass es sie auseinanderreißen könnte.

WOHIN SOLL ES GEHEN?

Buch lesen

Vita

Triggerwarnung

© privat

Rabia Doğan ist als knappes Maikind im Jahre 1998 auf die Welt gekommen und schreibt, seit sie realisiert hat, dass sie viel zu erzählen hat. Ohne einen Kaffee oder Matcha Latte auf dem Tisch und ihren Kater neben sich passiert das selten. Wenn ihr das Studium zu viel wird, backt sie Unmengen an Kuchen, um am Ende keinen davon zu essen. Sonst findet man sie beim Stricken oder Bingen einer Comedy-Serie.

VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freunde oder suche dir professionelle Hilfe.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Rabia und das Carlsen-Team

Für meinen Baba

Ich weiß, wie hart das Leben mit dir gewesen ist, und ich bin jeden Tag dankbar, dass ich wegen dir an einem Punkt bin, wo ich meine Träume und vor allem das Leben unbeschwert leben kann.

EINS | BİR

Nehir

Dass mein ganzes Leben in wenige Koffer passt, komplett von einem Ort an einen anderen getragen werden kann und ich trotzdem die teure Stoffschere bei meiner Mutter vergessen habe, sollte mich nicht überraschen. Obwohl ich mir bestimmt auf zwanzig unterschiedliche Notizzettel geschrieben habe, dass ich sie noch einpacken muss, liegt sie wahrscheinlich irgendwo zwischen den Stoffresten in meinem Zimmer zu Hause.

»Brauchst du noch Hilfe?«, fragt mein Vater, nachdem er außer Atem die letzte Box auf dem Boden abstellt.

»Nein, alles gut.«

»Falls du was benötigst, ich bin unten.«

Er schnappt nach Luft und presst die Lippen zu einem aufgezwungenen Lächeln zusammen, als wäre ich eine freundliche Nachbarin, der er spontan geholfen hat. Wahrscheinlich bin ich sogar unbekannter als die Nachbarin, die er jeden Morgen grüßt, wenn er zur Arbeit geht. Eine Fremde statt ein Teil seiner Familie. Zuletzt hat er mich besucht, da war ich acht. Es war komisch, weil meine Mutter ihn konsequent ignoriert hat und er nichts mit mir anzufangen wusste. Also saßen wir auf dem engen Balkon und haben uns angeschwiegen, während die gekaufte Benjamin-Blümchen-Torte zwischen uns vor sich hin geschmolzen ist. Er hat vergessen, dass Gelatine darin verarbeitet worden war. Ich kann mich nicht erinnern, ob er sich entschuldigt hat. So, wie ich ihn kenne, wahrscheinlich nicht.

»Mach ich, danke.« Ich zwinge mir ein ähnliches Lächeln auf die Lippen und bin froh, als er wirklich verschwindet und mich allein lässt.

Der Raum ist mindestens doppelt so groß wie mein altes Zimmer, trotzdem ist er mit etlichen Umzugsboxen vollgestellt und engt mich ein. Ich habe versucht, nur das Wichtigste mitzunehmen, aber am Ende waren es ein paar mehr Dinge, von denen ich mich nicht lösen konnte. Vor allem das Nähzeug hatte einen derartigen Umfang angenommen, dass ich meinem Vater nur einen entschuldigenden Blick zuwerfen konnte, während er die Nähmaschine das eine Stockwerk hochgetragen hat. Eine alte mit gusseisernem Gestell, bei der immer wieder das Garn reißt. Aber anne hat mir das Nähen darauf beigebracht, weswegen ich sie nicht austauschen möchte. Außerdem habe ich das Gefühl, bei den neuen Modellen muss man eine ganze Jahresmiete bezahlen, wenn man verhindern möchte, dass die Maschine nach ein paar Jahren ersetzt werden muss.

Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre die weiße Decke an. Zu Hause hatte ich einen Wandteppich von Nirvana über meinem Kopf hängen. Kleine Leuchtsterne haben die Wände bedeckt, weil ich nie gut darin war, in völliger Dunkelheit zu schlafen. Hier ist alles kahl – ein unbenutztes Zimmer in einem riesigen Haus. Sogar mit eigenem Bad und Balkon.

Und das in Berlin, aber das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass mein Vater leitender Oberstaatsanwalt hier ist. Diese Stadt habe ich zuletzt während der Klassenfahrt in der neunten Klasse besucht und mich zu Tode gelangweilt. Das Brandenburger Tor und ein Club, den wir ab vierzehn besuchen durften, waren damals das höchste der Gefühle. Jetzt fange ich an der Universität der Künste an Modedesign zu studieren. Das Portfolio für die Bewerbung zu erstellen, hat mich den letzten Nerv gekostet. Ich war kurz vor der Abgabe der festen Überzeugung, dass ich nichts kann. Dass ich mich umsonst bewerbe. Dass sie lachen werden, wenn sie die Mappe öffnen. Der wenige Schlaf die Wochen davor hatte mich so sehr aus der Bahn geworfen, dass ich vor Freude geweint habe, als ich sie endlich abschicken konnte – nicht, weil ich überzeugt von meinem Können war.

Mein Handy vibriert neben mir. Meine Mama hat mir eine Nachricht geschrieben. Für sie war der Abschied am schmerzhaftesten. Sie wollte mich gar nicht loslassen und hat mit den Tränen gekämpft, als ich ins Auto gestiegen bin.

Anne: Wie läuft es? Bist du gut angekommen? Sobald du Zeit hast, ruf mich an.

Ich antworte ihr eilig und nehme mir vor, heute Abend ganz in Ruhe mit ihr zu telefonieren. Mich so kurz nach meinem Japan-Aufenthalt wieder gehen zu lassen, tat ihr besonders weh.

»Hey.«

Ich schrecke bei der Stimme auf. Es ist die neue Frau meines Vaters. Was heißt neu? Sie sind seit zehn Jahren zusammen, ich habe sie nur nie kennengelernt, weil er sich entschieden hatte, komplett aus unserem Leben, also dem von mir und meiner Mutter, zu verschwinden. Ich war nicht einmal auf ihre Hochzeit eingeladen und habe davon nebenbei in einem dreiminütigen Telefonat erfahren.

»Hallo«, presse ich hervor. Ich weiß nicht, wie ich mich zu verhalten habe.

Ihr Lächeln ist ehrlich, während sie sich braune Strähnen aus dem Gesicht streicht. »Falls du etwas brauchst, dann sag Bescheid. Dein Vater und ich haben mantı gekocht, weil er meinte, dass das dein Lieblingsessen sei. Hast du Hunger?«

»Ich lebe vegan«, antworte ich monoton, was ihr Lächeln in sich zusammenfallen lässt. Mantı habe ich als Kind gern gegessen, die kleinen Knödel, gefüllt mit Fleisch, waren mein Highlight, weil sie so viel Arbeit und Mühe brauchten. Dadurch gab es sie selten.

»Oh«, nuschelt sie und nickt langsam, als würden meine Worte verzögert bei ihr einsickern. »Das … das wusste ich nicht.«

»Wie denn auch?«, frage ich und spiele mit dem Ende meines Hijabs, der durch die lange Fahrt nicht mehr richtig sitzt. »Zuletzt habe ich Papa vor zwölf Jahren gesehen. Und vegan ernähre ich mich erst seit sieben.«

Ich bin gemein. Das ist mir bewusst. Ich fahre sie an, obwohl sie es nett mit mir meint. Es ist nur schwer, nicht voller Wut zu sein, was meinen Vater und sein Leben angeht. Ein Leben, in dem ich erst Platz gefunden habe, als ihn die Schuldgefühle unter sich zu begraben drohten. Nicht meinetwillen oder unseretwillen, sondern lediglich seinetwillen.

Esma zwingt sich erneut einen freudigen Blick auf. »Nun gut, dann überlegen wir uns was anderes. Falls du einen Wunsch hast, sag Bescheid.«

Ich nicke, weil ich mich nicht mehr dazu bringen kann, mit ihr zu reden. Oder mit irgendjemandem. Die sechsstündige Fahrt von meinem Heimatdorf nach Berlin war genug Zeit mit anderen Menschen. Zeit, die ich lieber allein verbracht hätte. Konstante Fragerei, wie mein Leben so laufe, was ich für Leistungsfächer im Abitur hätte, ob ich traurig sei, Freunde und Freundinnen zurückzulassen – und wie mein Gap-Year in Japan war. Es war nicht wirklich ein Gap-Year, weil ich als Englischlehrerin arbeiten musste, um mir den Aufenthalt zu bezahlen, aber das habe ich vor meinem Vater nicht erwähnt. Es hätte auch nichts gebracht, ihm die Situation zu erklären. Er würde sich vielleicht schlecht fühlen, und sein Mitleid ist das Letzte, was ich will. Bis jetzt habe ich auch ganz gut ohne funktioniert. Dass ich seine Hilfe angenommen habe, um mir meinen Traum zu erfüllen, ist nicht der Güte meines Herzens entsprungen oder weil ich an einer Beziehung mit ihm interessiert wäre, sondern simplem Eigeninteresse. Ich hätte es mir ohne ihn nicht leisten können.

*  *  *

Ich mag Neuanfänge nicht und Großstädte noch weniger. Es ist laut hier und voll. Und an manchen Ecken stinkt es: Berlin riecht nach einer Mischung aus Depression und Urin. Die Verzweiflungsnote kommt vor allem in den vollgestopften U-Bahnen zur Geltung, in denen sich Menschen wie in einer Sardinenbüchse aneinanderquetschen, um keine fünf Minuten auf die nächste Bahn warten zu müssen. Viele Leute hier sehen miserabel aus, während sie lesen oder ihr Handy anstarren. Als würde die Stadt jeglichen Lebenswillen aus ihnen saugen. Etwas, das auch ich tue, um zu entziffern, wo mein erster Kurs stattfinden wird. Die Orientierungswoche, in der sich alle Erstsemester kennenlernen, bevor die Kurse starten, habe ich wegen meines Umzugs verpasst. Gruppen haben sich bestimmt schon gebildet, und ich werde mich reinquetschen und auf die Gnade einer Clique hoffen müssen, die mich in sich aufnimmt. Vielversprechend.

Als meine Station angekündigt wird, atme ich erleichtert auf. Auch wenn der Frühling an die Tür klopft, tut die kalte Luft gut, nachdem ich den stickigen Waggon verlassen habe. Die Universität der Künste liegt unweit von mir und ist, gehüllt in einen charmanten Altbau, wunderschön. Ich habe wohl als Erstes Gestaltungslehre mit einem Dutzend anderer Studierender, die ich kennenlernen muss. Wird es eine Vorstellungsrunde geben? Vor diesem Gedanken drücke ich mich schon eine Weile. Was ist, wenn ich mich verhasple? Wenn ich nicht so interessant bin wie die anderen?

Die Uni ist groß, zu viele Menschen irren ähnlich wie ich durch die Gänge und suchen nach den richtigen Veranstaltungsräumen.

Wo ist Raum 214? Wahrscheinlich in der zweiten Etage, oder?

Bis ich die Treppen gefunden habe, vergehen weitere fünf Minuten, sodass ich den Flur hochrennen muss, um pünktlich anzukommen. Zu meinem Pech sind alle schon auf ihren Plätzen, als ich hineinhechte. Sofort wird es leise, sodass ich nur mein schweres Ein- und Ausatmen wahrnehme.

»Frau Nehir Kaya?«, fragt die Dozentin mit gehobenen Augenbrauen.

Mein Nachname erschreckt mich wie ein neues Haus, dessen Knarzen und Knarren noch ungewohnt sind, aber dazugehören, wenn man umzieht. Es ist nicht lange her, dass ich den Mädchennamen meiner Mutter angenommen habe. Dass ich deswegen den Namen meines Vaters abgelegt habe, weiß er noch nicht. Mir graut vor dem Moment, in dem er es erfährt. Ich erahne jetzt schon, was für einen Streit das auslösen wird …

»Ja. Ja, das bin ich«, murmle ich. »Hab ich mich verspätet?«

Das kann nicht sein, ich bin extra früher losgegangen. Mein Vater wollte mich fahren, aber ich habe abgelehnt. Lieber sitze ich in den überfüllten Bahnen als in der Stille neben ihm im Auto. Wir schweigen uns an, es ist unangenehm, und bei jedem seiner Versuche, mit mir zu reden, erschaudere ich, weil es so dermaßen erzwungen klingt. Und hast du alles in deine Tasche gepackt? Bist du dir sicher, dass du kein Frühstück brauchst? Als wäre es der erste Schultag … von denen er genug verpasst hat.

Ihr Ausdruck wird lockerer. »Nein, nein, wir haben noch ein paar Minuten. Setzen Sie sich auf einen freien Platz.«

Von denen gibt es nicht mehr viele, weswegen ich den erstbesten neben einer jungen Frau nehme, die komplett in Schwarz gekleidet ist und deren Eyeliner fast über ihre ganze Schläfe reicht. Exzentrisch.

»Hi«, nuschelt sie. »Ich bin Amani.«

»Nehir«, flüstere ich und lächle sie an. Ich muss nett und einladend wirken, wenn ich Freunde finden möchte.

Ich habe mir die Universität immer viel größer vorgestellt, größer und so anonym, dass man maximal die eigene Matrikelnummer kennt. Die Veranstaltungen vollgepackt und ausschließlich Frontalunterricht … Dass das bei kreativen Studiengängen so nicht funktioniert, weil nur wenige Menschen zugelassen werden, hätte ich ahnen müssen. Wir sind ein Dutzend Studierende in einem Seminarraum, der nicht größer als ein typisches Klassenzimmer ist.

»Da wir alle schon so früh da sind, können wir ja direkt starten.« Die Dozentin klatscht in ihre Hände. Ihre Finger sind unter den Dutzenden Ringen nicht mehr sichtbar. »Dafür dürfen Sie natürlich früher gehen.«

Ich weiß nicht, was ich mir unter dem Modedesignstudium vorgestellt habe. Ob ich dachte, dass ich direkt die ersten Skizzen aufs Papier bringen darf. Oder wie zu Hause die Kopfhörer aufsetzen und in Ruhe schneidern kann. Egal, was es war, so kommt es nicht. Das Seminar ist ein Überfluss an Informationen, die mir im Groben bekannt waren, aber in ihrer Menge viel zu viel sind. Ich weiß, wie ich Figuren zu zeichnen habe, habe mir aber nie Gedanken darüber gemacht, wie ich Stoffe unterscheiden kann. Welches Schnittmuster besser mit welchem Stoff aussieht. Das habe ich nicht gebraucht, weil ich wusste, was ich benutzen möchte. Jetzt entwerfen wir jedoch nicht mehr allein für uns, sondern für andere, die die Kleider verstehen und nachnähen können müssen. Es ist keine One-Man-Show, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es juckt mir in den Fingern, endlich durchzustarten, keine Frage, zugleich habe ich aber eine Menge Respekt davor.

Als sie die Vorlesung beendet, raucht mir der Kopf, und meine Fingerspitzen tun vom Mittippen weh. Was ich aufgeschrieben habe, ist beinahe wieder vergessen, als ich meine Sachen zusammenpacke. Ich muss das alles dringend nachholen und verinnerlichen. Genug Menschen saßen mit mir im Kurs, die alle Ahnung hatten und die Fragen der Dozentin ohne Probleme beantworten konnten. Ich stand konstant auf dem Schlauch. Vielleicht schaue ich in der Bibliothek vorbei und leihe mir Bücher aus, um mich in die Geschichte der Mode einzulesen …

Wie ich vermutet habe, haben sich bereits Gruppen gebildet, und ich stehe quasi allein da. Nur Amani hat sich bereit erklärt, mit mir in die Mensa zu gehen und was zu essen. Die nächste Veranstaltung soll praxisbezogener sein, sodass ich wenigstens diesmal ein wenig Ahnung habe, was von mir erwartet wird.

»Bist du von hier?«, fragt sie und spielt mit einer der vielen Ketten, die sie um den Hals trägt. Ein Kettenglied bleibt im durchlöcherten Wollpullover hängen, und sie löst es zischend.

»Nein«, sage ich. »Bin hergezogen.«

Amani drückt das Tablett gegen ihre Brust, holt Gabeln und Messer für uns aus den Besteckbehältern und reicht mir welche.

»Ich auch. Vor einem Semester, bin also quasi Urberlinerin. Habe davor was anderes studiert. An der Freien Uni.«

»Oh«, murmle ich und drücke ähnlich wie sie das Tablett an mich. »Woher kommst du eigentlich?«

Sie seufzt theatralisch laut, ungeachtet dessen, dass sich Menschen zu ihr drehen. »Bin mit meinem Bruder aus München hergezogen. Spießige Stadt mit zu vielen Menschen, die einen Stock im Arsch haben. Ich habe es gehasstund würde es nicht mal meinem schlimmsten Feind empfehlen.«

In Bayern war ich noch nie. Generell habe ich meine kleine Blase in der Nähe von Bochum selten verlassen. Japan war ein riesiger Sprung für mich – den habe ich auch nur gewagt, weil ich mir eingeredet hatte, dass ich vor meinem zwanzigsten Geburtstag irgendetwas erleben müsste. Die Idee ist einer Sinnkrise in meinem Kinderzimmer entsprungen, die mit gebuchten Flügen geendet ist. Etwas, das ich heute nicht mehr tun würde. »Das hört sich … unschön an.«

Sie schnalzt mit der Zunge. »Deswegen war Berlin mein Ziel. So weit weg wie möglich von Bayern.«

Berlin war nie meine erste Wahl und sicher keine Stadt, die ich je in Erwägung gezogen hätte. Ich hätte schon Bochum als viel zu groß empfunden. Die Enge, die dreckige Luft und das Unpersönliche einer Großstadt finde ich zum Kotzen. Aber mein Vater hat mir nur die Chance auf das Studium in Berlin gegeben, überall anders hätte er es nicht bezahlt, also war ich gezwungen.

»Verständlich«, murmle ich wieder, auch wenn ich es nicht meine. Ich will die potenziell einzige Freundin hier nicht vertreiben. Alleinsein fällt mir die meiste Zeit nicht schwer, weil ich die Ruhe genieße. Aber in einer neuen Stadt? Da möchte ich nicht völlig vereinsamen – oder nur vereinsamen, wenn ich es mir wünsche. »Was hast du letztes Semester gemacht?«

»Ich habe Geschichte und Kunstgeschichte an der Freien Universität studiert, bis ich realisiert habe, dass es spannender ist, Farbe beim Trocknen zuzuschauen.«

Geschichte wäre tatsächlich auch eines der wenigen Dinge, die mich überhaupt nicht begeistern könnten. »Hat es dir nicht gefallen?«

»Nein«, sagt sie kopfschüttelnd. »Mein Zwillingsbruder hat mit Tiermedizin angefangen, und ich bin ihm quasi hinterhergerannt, weil ich kein Semester allein mit unseren Eltern zu Hause hocken wollte. Habe das Erstbeste gewählt und sofort bereut. Und du? Warum hast du dieses Modezeug hier gewählt?«

Uns trennt nicht mehr viel von der Theke, und ich merke allmählich meinen Hunger. »Berlin ist der perfekte Hotspot für Kreative, oder?«

Das ist natürlich einer der Gründe, aber auch, dass mein Vater unbedingt unsere Beziehung kitten wollte, was seiner Meinung nach nur in Berlin möglich ist. Sonst hätte ich wahrscheinlich kein Geld bekommen. Also habe ich mich ihm gebeugt. Dass Berlin der perfekte Ort für dieses Studium ist, war für ihn jedenfalls zweitrangig und für mich ein Glücksgriff.

Amani lacht kurz auf. »Ja, du hast vollkommen recht. Entschuldige, ich versuche nur verzweifelt, eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Du bist nicht sonderlich gesprächig, oder? Magst du es generell nicht oder eher mich nicht?« Ihre Augen werden groß. »’tschuldige, so meinte ich das nicht. Fuck, okay! Sorry.«

Oh. Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die nicht so recht weiß, wohin mit sich. Deswegen lächle ich und stelle mein Tablett vor der Mensa-Angestellten ab, damit sie mir Tofueintopf und Kartoffelpüree aufschaufeln kann.

»Ist okay … sorry …«, stottere ich kopfschüttelnd. »Ich bin ein wenig aufgeregt, schätze ich. Das alles ist eine große Veränderung für mich, und ich war noch nie gut darin, schnell Fuß zu fassen.«

Peinlicherweise bin ich der größte Gewohnheitsmensch, der diesen Planeten bewohnen darf. Da bin ich mir sicher. Denn ich hasse nichts mehr, als aus meiner Routine gerissen zu werden, keine To-do-Listen mehr abarbeiten zu können und mich umstellen zu müssen. Dementsprechend war und ist Berlin die Hölle für mich. Oder generell umziehen und ein neues Leben anfangen.

Zusammen gehen wir zu den Kassen, bevor sie antwortet: »Große Veränderungen können auch große Chancen bedeuten. Vielleicht kannst du es so sehen?«

Schon … irgendwie. Aber ich mag keine Veränderung.

ZWEI | İKİ

Atlas

Ich würde der Idee der Abschaffung des Privateigentums jeden Tag zustimmen, aber manchmal bin ich der Überzeugung, dass ich meinen Schwanz viel zu kommunal behandle.

»Willst du nicht bleiben?«, fragt Kilian und fährt sich übermüdet durchs Haar. »Ich könnte uns einen Kaffee machen.«

Ich verlasse das Bett und greife nach meiner Jogginghose. »Sorry, heute ist viel los.« Wir haben erst sechs Uhr morgens, aber mein Tag beginnt früh. Der Sport lässt nicht auf sich warten und die juristischen Fälle noch weniger. Außerdem würde ich lieber jede einzelne meiner Wimpern mit einer Pinzette rausreißen, als nach dem Sex irgendwo zu bleiben. Es ist scheißkomisch, unangenehm und unnötig. Uns beiden ist klar, dass das niemand genießt, sondern jeder nur das Eine will. Keiner ist an einer richtigen Beziehung interessiert – ich weiß nicht mal, wie Kilian mit Nachnamen heißt, nur dass er eines meiner Erstsemestertutorien angeleitet hat. Grundrechte, glaube ich.

»Bist du dir sicher?«, fragt er schmollend, weswegen ich alles daransetzen muss, um nicht mit den Augen zu rollen. Er will das genauso wenig wie ich. Noch gestern hat er mir den Mund zugehalten, als ich versucht habe, Small Talk zu betreiben, bevor er mein Gesicht zwischen seine Beine gedrückt hat.

Ich ziehe mein Shirt über die Arme. »Du musst keine Show machen. Ich bin nicht verletzt, versprochen.«

»Puh, okay«, meint er, atmet erleichtert aus und lässt sich zurück ins Bett fallen. »Zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.«

Warte mal … nicht mal ein nettes Tschüss? Oder Gestern Nacht war gut, ciao? Ich will weder einen Kaffee von ihm noch einen Heiratsantrag. Aber sind Komplimente eine Rarität oder bin ich einfach verfickt schlecht im Bett geworden? Die Zeit wird knapper, und ich bin mit dem Kopf häufiger bei irgendwelchen Gesetzesänderungen, die ich noch in den Habersack einheften muss. Aber das heißt nicht, dass ich nicht bei der Sache bin. Das ist meine einzige Auszeit, in der ich mich auf etwas anderes konzentriere und runterkommen kann. Peinlich, wenn es andere nicht so sehen. Hätte ich die Zeit, würde ich das ausdiskutieren, aber leider fehlt mir genau die.

»Okay, also …« Ich fahre mir durchs Haar und klopfe meine Hosentasche nach Hausschlüssel und Portemonnaie ab. »Ich … ich gehe dann.«

Kilian öffnet nicht mal die Augen, sondern macht es sich noch gemütlicher. »Mhm … bis dann!«

Was zur Hölle? Er will nicht zurückrudern? Nicht mal ein verdammtes Danke? Das hier war definitiv das erste und letzte Mal mit ihm. Ich hätte mich auch nicht überreden lassen, mit einem Tutor zu schlafen, wäre die Juraparty nicht so ausgeartet wie gestern. Speed wurde wie Bonbons verteilt, während der Alkohol in Unmengen floss. Ich war so betrunken, dass ich mit zu Kilian gegangen bin. Nie wieder. Nie wieder.

Ich atme tief ein und gehe. Verlasse das enge Zimmer, die kleine Wohnung, laufe die vier Stockwerke runter, weil er in einem Altbau lebt und Scheißaufzüge dort nicht existent sind. Es ist mir egal, was er denkt. Am Ende habe ich das bekommen, was ich wollte – Ruhe im Kopf und einen Körper, der mich über Nacht warm gehalten hat. Mehr wollte ich nicht, will ich nicht, werde ich nie wollen. Für mehr habe ich auch keine Zeit. Das passt nicht in meinen durchstrukturierten Alltag.

Draußen ist es noch dunkel, als ich mich auf den Weg zur nächsten U-Bahn mache. Wo war die noch mal? Ich weiß nicht, wie ich gestern überhaupt hierhergefunden habe. Sind wir zusammen gelaufen? Ein Auto hatten wir nicht … glaube ich. Waren wir so drauf? Ich habe keinen blassen Schimmer.

Fuck.

Mit Google Maps finde ich zu meinem Glück die Station und muss zweimal umsteigen, um am Leopoldplatz anzukommen. Wir haben kurz vor sieben, als ich endlich die Wohnungstür aufschließe. Ich bin schon spät dran. Eigentlich wäre ich vor einer Stunde zum Sport gefahren, würde jetzt frühstücken, um in dreißig Minuten am Schreibtisch sitzen und lernen zu können. Den morgendlichen Sport kann ich mir abschminken. Ich hole das heute Abend nach. Davor brauche ich erst mal eine verdammte Schmerztablette und einen Proteinshake.

Die Wohnung ist dunkel, außer dem gedimmten Licht, das aus der Küche kommt. Ist einer von den Jungs wach? Zel ist es im Leben nicht – die schläft bis elf, wenn sie kann. Vielleicht hat Talhah Frühschicht …

Tatsächlich werde ich überrascht, nachdem ich die Tür quietschend geöffnet habe. Zel sitzt mit angezogenen Beinen am Esstisch und tippt an ihrem Laptop herum.

»Hey«, sage ich verwirrt. Ich habe sie noch nie so früh wach gesehen.

Sie hört nur auf zu tippen, um an ihrem Kaffee zu schlürfen. »Hi«, murmelt sie, ohne aufzublicken.

»Was machst du?« Ich gehe zum Schrank, der über der Spüle hängt, und hole eine Tasse hervor, in die ich mir etwas von der dunklen Brühe aus der Kaffeekanne schütte. Wo haben wir die Schmerztabletten noch mal liegen? Talhah hat für die WG vor Jahren eine Hausapotheke angelegt, aus der ich mir immer für den Kater etwas klaue.

»Masterarbeit«, murmelt sie.

Noch ist es draußen dunkel, sodass lediglich der Bildschirm ihres Laptops den engen Raum beleuchtet. »Wie läuft’s?«

»Gut«, sie nimmt einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee und dreht sich zu mir, »ich will den Teil für heute schon früh fertig bekommen, weil ich mich gleich mit Levi treffe.«

Das ist eine Situation, zu der ich mich nicht äußern werde. Wenn ich es tue, verstricke ich mich in ein Streitgespräch, weswegen ich gelernt habe, konsequent die Fresse zu halten. »Viel Spaß«, sage ich gezwungen und nippe an meiner Tasse.

Zel rollt die Augen. »Hör auf, so scheiße zu sein. Wir arbeiten uns … durch die Sache, und er gibt sich Mühe.«

Mit einem dumpfen Geräusch stelle ich den Kaffee ab und kreuze die Arme vor der Brust. »Ich habe nichts gesagt. Du kannst, was du willst und mit wem du willst, machen. Das geht mich alles einen Scheißdreck an.«

»Ich weiß, dass du ihn nicht magst, und das stört mich«, gibt sie seufzend zu und fährt sich durch das Haar, das durchzogen ist von pinken Strähnen. »Levi macht die nötige Arbeit, Atlas. Er hat sogar angefangen, Kurdisch zu lernen, damit ich mich nicht allein da durchquälen muss … Ist das nichts wert?«

»Keine Ahnung. Ich habe nicht die Verbindung, die du zu ihm hast«, kontere ich schulterzuckend. »Mich vögelt er nicht. Vielleicht ist sein Schwanz ja magisch, und du vergisst, dass du wochenlang geheult hast. Jeden Morgen und jeden Abend haben wir in der WG nur über ihn geredet. Ich kenne ihn mittlerweile besser als mich selbst. Einfach weil du deine Gedanken allein nicht ausgehalten hast.«

»Atlas …«

»Aber wer bin ich schon, dass ich dazu ’ne Einstellung haben darf.« Ich muss mich zwingen, den Mund zu halten, und führe vorsichtshalber die Tasse an meine Lippen.

Dieses gottverdammte Thema nimmt seit Monaten kein Ende. Am Anfang war es mir egal, was Levi angestellt hatte, denn Zel wollte nicht darüber reden. Ich musste es auch nicht wissen, um zu sehen, wie miserabel es ihr ging. Sie hat quasi in ihrer Jogginghose und in Hoodies gelebt. Bei jedem Wort, jeder unbedachten Berührung hat sie zu heulen begonnen. Sie war die Vermenschlichung eines Auffahrunfalls, an dem man auf der Autobahn vorbeifährt und bei dem man nicht wegschauen kann. Nachdem sie mit der Sprache rausgerückt ist, war Levi für mich unten durch. So ein Arschloch.

Sie seufzt und wendet sich wieder ihrem Laptop zu. »Ich habe keinen Bock, meine Entscheidungen zu begründen.«

»Musst du auch nicht«, murmle ich und streiche das Frühstück für heute. Mir ist der Appetit vergangen. »Genauso wenig, wie ich ihn mögen muss.«

Das Ding ist, ich mochte Levi. Sogar sehr. Seine Arbeit, alles, was er für die Linke Liste als Partei an der Uni geleistet hat. Er war ein Vorbild. Aber sein grässliches Verhalten hat ihn für mich verdorben.

Egal.

Scheißegal.

Er oder Zel sind nicht mein verdammtes Problem. Mein Studium ist es. Das Examen, das immer näher rückt. Meine Klausuren und Hausarbeiten, denen ich nicht entkommen kann. Das Repetitorium, durch das ich mich noch quälen muss. Alles, nur nicht die zwei, die sich um ihre eigenen Probleme kümmern können.

Ich gehe aus der Küche in mein Zimmer, das eiskalt ist, weil ich gestern Nacht das Fenster offen gelassen habe. Wenn es kalt ist, bin ich gezwungen, mich zu konzentrieren. Es wird erst geschlossen, wenn ich fertig mit dem Lernen bin. Als Antrieb ziehe ich mir den Hoodie aus, sodass ich nur noch im Shirt dasitze. Morgens ist es noch eisig genug, dass das funktioniert. Dass ich mich aufs Lernen fokussiere, damit ich nicht mehr so gottverdammt stark zittern muss.

Die Blätter des Habersacks sind hauchdünn, und ich schlage sie vorsichtig um, damit ich die richtigen Seiten für meine Hausarbeit in Kriminologie, kombiniert mit verschiedenen Spezialbereichen des Strafrechts, finde. Beides scheißschwere Fächer, aber wenn ich später als Pflichtverteidiger in einem Berliner Gericht arbeiten möchte, muss ich die Noten und Kenntnisse einfach erbringen. Sonst lande ich in Buxtehude. Ich muss in dieser gottverdammten Stadt bleiben, wenn ich meine Mutter finden möchte. Etwas, das ich seit knapp drei Jahren versuche, aber nicht hinzukriegen scheine. Jedes Mal, wenn ich glaube, einen Hinweis entdeckt zu haben, verläuft er im Sand, und ich stehe erneut am Anfang. Ich bin wieder elf und will nur, dass sie kommt, damit das Gebrüll meines Vaters aufhört. Damit sie mich mitnehmen kann und ich nie wieder seine brennend heißen Finger auf meiner Wange spüren muss. An einen sicheren Ort, an dem ich geschützt bin und nicht vor Panik und Überforderung heulen muss.

»Konzentrier dich«, zische ich mir zu und wische über meine Wangen, die durch die Kälte rau unter meinen Fingern sind. »Konzentrier dich, verdammt noch mal.«

Trotzdem gehen die verletzenden Worte, das wutverzerrte Gesicht und die erschreckende Lautstärke meines Vaters nicht aus meinem Kopf. Wiederholen sich, als wollten sie mich peinigen, obwohl ich heute so weit weg und so viel älter und so viel größer bin. Plötzlich bin ich wieder in Magdeburg in meinem Kinderzimmer und halte mir die Ohren zu, damit es aufhört. Aber es bringt nichts, er ist unnachgiebig. Sein Gesicht läuft rot an, die Halsschlagader tritt gefährlich hervor und droht zu platzen. Ich wünschte, sie würde es tun. Sie würde den Raum, mich, meine Kuscheltiere, die er so kitschig und weiblich findet, rot färben. Ich wünschte, seine aufgezwungene gerade Haltung würde in sich zusammenbrechen und er zu Boden fallen. Dann wäre endlich, endlich, endlich Ruhe.

»Fuck«, fluche ich und stehe so schnell von meinem Stuhl auf, dass das Pochen in meiner Schläfe schlimmer wird. Als ich ausatme, kann ich den Dampf sehen und die Kälte in meinen Venen spüren.

Ich hasse das.

Ich hasse meinen Vater.

Ich hasse es, dass ich immer noch so reagiere.

Ich hasse es, dass es mir nicht gelingt zu vergessen.

Ich hasse mich.

DREI | ÜÇ

Nehir

Es ist schwer, aus Gewohnheiten auszubrechen und Neues zu probieren, wenn man das Gefühl hat, Altbekanntes existiert nicht mehr. Ich fühle mich wie ein Fisch, der aufs Land geschleudert wurde und von dem erwartet wird, einfach laufen zu lernen.

»Also, wenn das etwas ist, das du unbedingt willst …« Mein Vater beendet den Satz nicht und nimmt ungerührt einen Schluck aus seinem Kaffee.

»Ja, und ich habe schon geschaut, es gibt ein Studio hier in der Nähe, das nicht nur Kurse, sondern freie Zeit anbietet, in der ich dort selbstständig arbeiten kann. Kurse hatte ich genug, das brauche ich nicht mehr.«

Die Wände der offenen Küche kommen gefühlt immer näher, bis ich nur noch schwer einatmen kann und Verschwinden mein einziger Wunsch ist. Aber das geht nicht. Ich lebe jetzt hier. Mit ihm und seiner Frau. Abhauen ist keine Option. Anrufe wegdrücken funktioniert nicht. So tun, als existierte er nicht, ist nicht drin.

»Und mit deinem«, er verzieht das Gesicht, »Studium überschneidet sich da auch nichts?«

Das Augenrollen muss ich unterdrücken. Mein Studium war von Anfang an ein empfindliches Thema, das erst explodieren musste, bevor sich mein Vater besonnen hat. Denn Modedesign konnte er nicht ernst nehmen. »Nein, ich kann einschätzen, was ich schaffe. Außerdem gehe ich davon aus, dass das ein guter Ausgleich wäre.«

Willst du das wirklich studieren? Du hast doch so ein ausgezeichnetes Abitur, da kannst du wie ich Jura machen. Die Humboldt ist eine Exzellenzuniversität. Damit wäre dir ein Job sicher, aber … aber das Kopftuch …

Der Rest bleibt immer in der gedrückten Luft hängen, zerplatzt in ungesagte Silben, die ich nicht hören muss, um sie zu verstehen. Ich weiß ganz genau, was er meint. Aber ich beende seinen Satz nicht, gehe nicht darauf ein, weil uns beiden klar ist, dass es eine Granate ist, die darauf wartet hochzugehen. Die er gern in den Raum wirft, bei der er sich aber nicht erlauben kann, den Splint herauszuziehen.

Er seufzt ergeben. »Na dann. Ich möchte dich nicht davon abhalten, deinen Hobbys nachzugehen. Zahl das mit meiner Karte.«

»Danke.« Ich habe es schon getan, aber das muss er nicht wissen. Denn es ist das einzig Gute an dieser Vater-Tochter-Beziehung: Ich werde für seine Fehler und Schuldgefühle mit Geld entlohnt. Vorher war er sich zu fein, Unterhalt zu zahlen, und anne wollte ihn nicht zwingen, denn kein Geld der Welt war es wert, Kontakt mit ihm zu haben. Jetzt haben ihn die Schuldgefühle so weit aufgefressen, dass er die meiste Zeit Ja und Amen zu meinen Wünschen sagt. So auch zu dem Slot im nahe gelegenen Töpferstudio, das ich auf dem Weg zur Uni gefunden habe. Zu Hause konnte ich nicht häufig töpfern, weil nicht nur das Material, sondern auch die Anmiete des Brennofens und Raumes unglaublich teuer waren. Hier muss ich es nicht zahlen und kann, solange ich möchte, Zeit dort verbringen und abschalten. Dinge tun, die mir altbekannt sind. Die mich in vermeintlicher Sicherheit wiegen, die ich in diesem großen Haus, dieser großen Stadt, dieser gottverdammten Menge an Menschen brauche.

Meine erste Stunde habe ich sogar für heute angesetzt, sodass ich mich gleich umzuziehen und ins Studio gehen kann. Die Besitzerin hat mich darum gebeten, mehr Zeit einzuplanen, damit sie mir alles Wichtige zeigen kann. Am Ende bekomme ich einen eigenen Schlüssel. Sie hat wohl samstags Kurse in einem anderen Studio und vermietet dieses in der Zeit an Interessierte und einen Studenten. Irgendein Typ mit Buchclub sitzt also nachmittags dort, damit die Miete am Ende des Monats nicht so exorbitant hoch ist für die Besitzerin des Ladens.

Zum Glück ist das Studio nur zehn Minuten zu Fuß entfernt. Mich ein weiteres Mal diese Woche in die volle U-Bahn zu quetschen, das hätte ich nicht ausgehalten. Vor allem bei dem wärmer werdenden Wetter zum Nachmittag hin, wo die stickige Luft einen in den engen Waggons nicht durchatmen lässt.

Dafür, dass Berlin eine überfüllte Hauptstadt ist, findet man viele Grünflächen, die das Wohnen wenigstens ein bisschen erträglicher machen. Die meiste Zeit wünsche ich mir ein kleines Häuschen in einem tiefen Wald mitten in Norwegen, wo ich wundervolle und detailreiche Ballkleider schneidern kann, für die genug Menschen anreisen, damit ich über die Runden komme, ohne andere Seelen sehen zu müssen. Vielleicht noch drei Katzen. Das wäre mein perfektes Leben. Aber bis dahin muss ich mich mit dieser Stadt anfreunden, damit das Studieren keine Vollkatastrophe wird.

Das Studio ist unscheinbar und reiht sich zwischen zwei Wohnkomplexen ein. Gegenüber gibt es ein Café, das mit Pflanzenmilch wirbt, für die man nicht draufzahlen muss. Scheint so, als könnte das mein Stammlokal werden. Ich will gar nicht wissen, wie viel ich für Hafermilch ausgegeben habe, wenn ich mir all meine Fünfzig-Cent-Extraausgaben vor Augen führe. Wahrscheinlich eine Anzahlung für ein Einfamilienhaus in irgendeinem türkischen Dorf.

Im Inneren ist es relativ ruhig, als ich eintrete. Nur eine Frau in bunter Kleidung und ohne Schuhe steht vor dem Brennofen. Sie stellt Vasen in unterschiedlichen Größen hinein.

»Hallo?«, sage ich vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, trotzdem zuckt sie so stark zusammen, dass ihre Armbänder und Ketten wegen der abrupten Bewegung klirren.

»Oh«, sagt sie, nachdem sie sich mit leeren Händen zu mir gedreht hat. »Du bist Nehir?«

Sie zieht das i unnatürlich lang und lässt das r im Rachen enden, ohne es rollend an die Zungenspitze zu führen. Ich bin es gewohnt, dass die meisten Menschen meinen Namen nicht wirklich aussprechen können, dennoch sticht es jedes Mal ein klitzekleines bisschen.

Ich zwinge mir ein Lächeln auf. »Ja, die bin ich.«

Ihr Gesicht hellt sich auf, und sie legt die Hände auf ihr Herz. »Wunderbar!«

Wenigstens scheint sie nett zu sein.

»Ich führ dich ein bisschen herum, damit du weißt, wo alles steht, welche Schränke du mit welchem Schlüssel öffnest und wie du es samstags handhabst.«

Das Studio ist von innen größer, als man vermutet. Die bodentiefen Fenster lassen so viel Licht ins Innere, dass der Staub vom getrockneten Ton durch die Luft wirbelt und wie Glitzer aussieht, wenn man die Augen nur einen Spaltbreit schließt. Bunte Tassen, Vasen und Teller reihen sich auf Regalen aneinander. Man kann sie entweder kaufen, oder sie warten auf ihre Besitzer und Besitzerinnen, die die Sachen nach dem Brennen noch nicht abgeholt haben.

Zwei Brennöfen, denen ein leichtes Summen entweicht, stehen nebeneinander. Monique zeigt mir, wo sie frischen Ton verstaut und wie ich das überflüssige Material in den Tonscheider werfen kann, weil das »gut für die Umwelt ist«.

»So spät am Samstagabend bist du dann die letzte Person, die noch hier ist«, sie schenkt mir einen beinahe mitleidigen Blick, »also kannst du einfach hinter dir abschließen.«

»Okay, super«, antworte ich.

Ich hätte am Wochenende eh nichts Besseres zu tun. Partys besuchen, Ausgehen bis in die Morgenstunden und dabei die Kontrolle verlieren – das ist das Letzte, was mich begeistert.

Sie atmet tief durch und schaut mich an, als hätte ich ihr ein Liebesgeständnis gemacht. »Hach, so schön, dich kennenzulernen. Deine Aura ist so wunderbar gelb und pink, das habe ich dir schon direkt am Telefon angehört. Ich glaube, das Studio ist bei dir in guten Händen.«

Ich hätte ahnen müssen, dass so was kommt. Das oder irgendetwas mit Sternen und Planeten – der Merkur ist rückläufig oder so. Damit kann ich wirklich nichts anfangen, also zwinge ich mir erneut ein Lächeln auf und nehme die Schlüssel an. »Davon gehe ich auch aus.«

Sie verzieht das Gesicht. »Lass dich aber von dem Typen vor dir nicht beeinflussen. Weißt du, ich hätte ihm niemals den Raum vermietet, aber meine Tochter hat sich an dem Tag um das Studio gekümmert und ihm das Ja gegeben.« Sie seufzt bedrückt und fährt sich durch das glatte Haar. »Er hat eine schwarze und graue Aura, ganz unangenehm und so wütend. Da stehen einem beim Anblick die Nackenhaare zu Berge.«

Na, auf diesen Typen bin ich gespannt. Wahrscheinlich hat er einmal nicht breit gelächelt, als sie ihn angesprochen hat. »Er wird schon weg sein, wenn ich komme, oder nicht? Zwischen unseren Slots liegen doch gute fünfzehn Minuten.«

Sie nickt wie eine Wackelkopffigur. »Ja, sicher. Ganz sicher. Dann kriegst du nichts von seiner negativen Energie und der geringen Frequenz ab.«

»Ich denke –«

»Falls doch, habe ich noch Salbei zum Räuchern da.«

O Gott, das hier wird ein Heidenspaß.

VIER | DÖRT

Nehir

Der Samstag kann nicht schnell genug kommen. Ich hätte niemals gedacht, dass mir das Studium, auf das ich das letzte Jahr hingefiebert habe, so schwerfallen würde. Ich liebe jede Sekunde, keine Frage. Um die Möglichkeit, Mode studieren zu dürfen, bin ich froh. Aber es ist so viel Theorie, dass meine Nachmittage damit voll sind, alles zu wiederholen. Nur die Wochenenden bleiben mir, um mich auszuruhen und runterzukommen. Währenddessen klammert sich Ami an die Tatsache, dass das Studium über die nächsten Semester praktischer werden soll. Sie kommt mit der reinen Theorie überhaupt nicht klar. Sie will nur schneidern, was ich verstehe. Das ist der spaßige Teil. Aber ich mag das Hintergrundwissen, das ich dazubekomme, auch wenn es anstrengend ist. Beispielsweise haben Kriege schon immer die Mode beeinflusst – auf den Ersten Weltkrieg folgte praktische Kleidung für Frauen, um ihnen die Arbeit in Fabriken zu erleichtern. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass jegliche politische Veränderung unser heutiges Verständnis von Mode prägt. Dass das, was wir anziehen, politisch sein kann, war mir klar, aber wie tief die Einflüsse gehen, nicht. Davon mehr zu erfahren, ist unglaublich wichtig, ich würde mir das Studium nicht anders wünschen. Nur mich. Ich sollte mehr wissen, mehr draufhaben.

Trotzdem bin ich unglaublich erleichtert, in ein paar Minuten im Töpferstudio sitzen und meiner Kreativität freien Lauf lassen zu können. Ich schlendere absichtlich langsam, obwohl ich sonst immer mindestens fünf Minuten vor jedem Termin da bin, um pünktlich zu sein. Heute möchte ich niemandem begegnen, sodass ich dem Typen mit dem Buchclub genug Vorlauf lasse, damit er wirklich verschwunden ist, wenn ich ankomme.

Um kurz nach neunzehn Uhr – genau drei Minuten verspätet – ist das Licht im Inneren des Studios noch immer an. Mehrere Gestalten sitzen in einem buchstäblichen Kreis, während sie mit einem dünnen Buch herumfuchteln und diskutieren.

Sollten sie nicht längst auf dem Weg nach Hause sein?

Ich seufze und krame nach dem Schlüssel, um die Tür aufzuschließen. Nachdem ich ins Innere getreten bin, drehen sich alle Köpfe zu mir. Genau das, was ich nicht wollte. Wenn Monique erfahren würde, dass der Lesekreis überzieht, würde sie bestimmt ausrasten …

»Hi«, murmle ich laut genug, dass sie mich hören. Ihre verwirrten Gesichter irritieren mich. »Ich habe … ich habe hier jetzt meine private Stunde.« So war es ausgemacht. Trotzdem verunsichert mich die Art, wie sich die Leute nicht von der Stelle bewegen. Lediglich der Typ mit den breiten Schultern, ganz in Schwarz gekleidet, kramt sein Handy hervor, um auf die Uhr zu schauen.

»O fuck«, zischt er und dreht sich zu den anderen. »Wir haben überzogen. Nächste Woche reden wir weiter und knüpfen direkt an das nächste Kapitel an, okay?«

Es rumort in dem kleinen Studio, Rucksäcke werden hochgenommen, Stühle an ihre Plätze gerückt, während der Typ, der den Lesekreis leiten muss, auf mich zukommt. Mit einer lässigen Bewegung schiebt er das ausgefranste dünne Taschenbuch in seine Gesäßtasche. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass er riesig ist. Wirklich riesig. Keiner, der auf Dating-Apps seiner Größe ein paar Zentimeter schenkt, um die Chancen bei Frauen zu erhöhen. Vielleicht rundet er sogar ab? Könnte ich ihm echt nicht verübeln. Als er vor mir zum Stehen kommt, muss ich den Kopf in den Nacken legen.

»Hi, sorry«, sagt er. »Normalerweise kommt niemand nach uns, wir sind die Letzten.«

Ich zwinge mir ein Lächeln auf. Schließlich sollte ich nicht ganz unfreundlich wirken. »Ich bin auch neu.«

»Ah.« Er nickt verstehend und reicht mir die Hand. »Im Studio oder in der Stadt?«

Die Frage würde mich im Normalfall verwirren, aber in Berlin gehört sie zum Standard. »Beides.«

Er schnaubt. »Ich bin Atlas.«

Ich umgreife seine Hand zögerlich. »Nehir.«

»Schön, dich kennenzulernen, Nehir«, sagt er und tritt einen Schritt zurück.

Sein Blick verlässt nur langsam mein Gesicht und wandert für wenige Sekunden über mich, bevor er mir wieder in die Augen sieht. »Dann wissen wir fürs nächste Mal Bescheid, dass wir nicht mehr überziehen können.«

Okay. Okay, das lief besser als gedacht. Dann begegne ich ihnen halt einmal. Das ist in Ordnung. Nächste Woche wird es schon ganz anders sein, und ich habe das Studio für mich. Außerdem habe ich nichts von der schlechten Energie gespürt, die er versprühen soll. Vielleicht hat die Besitzerin ihn nur an einem schlechten Tag erwischt. Oder ich habe die sonderbare Kraft nicht, um so einen Kram erfühlen zu können.

Die ersten Jungs rauschen an uns vorbei und heben zum Abschied die Hand, bevor sie draußen vor der Tür stehen bleiben, um eine Zigarette zu rauchen. Atlas harrt immer noch vor mir aus, als wartete er auf eine Antwort.

Ich schaue ihn für einen Moment unschlüssig an. Er ist glatt rasiert, hat starke, dunkle Augenbrauen und etwas helleres Haar, das zwar dank einem Mittelscheitel geteilt ist, ihm aber trotzdem in Stirn und Brille hängt. Was will er von mir hören?

Ich gehe an ihm vorbei zum ersten freien Arbeitstisch, auf dem ich meine Tasche abstelle. Meine Zeit wird nur knapper, wenn ich mich mit ihm unterhalte. Außerdem habe ich da keine Lust drauf.

»Bis nächste Woche. Es war schön, dich kennenzulernen, Nehir«, wirft er hinterher, weil ich nicht reagiere.

Als ich wieder aufblicke, hat er die Hände in den Hosentaschen vergraben und schenkt mir ein verschmitztes Grinsen.

Will er eine Antwort provozieren? Fein. Dann kriegt er, was er sich wünscht. »Nächste Woche sehen wir uns hoffentlich nicht mehr«, sage ich. »Weil das Studio bis zu meiner Stunde eigentlich leer sein sollte.«

Atlas’ Augen werden für einen Moment groß, während das Lächeln von seinen Lippen fällt. Eigentlich flüchte ich vor Konfrontationen, sie waren nie meine Stärke. Aber ihn werde ich sowieso nicht wiedersehen.

»Woah«, sagt er mit sarkastischem Unterton und hebt kapitulierend die Hände. »Das ist das erste Mal, dass eine Frau mich so glasklar, schon nach ein paar Minuten abserviert hat. Ich wusste, der neue Haarschnitt ist scheiße.«

»Was …« Hallo? Geht’s ihm noch gut? »Hau einfach ab.« Er soll verschwinden.

Das Grinsen findet wieder zurück auf sein Gesicht, und er dreht sich zur Tür. »Bis nächste Woche!«

Noch bevor ich etwas sagen kann, ist er raus aus dem Studio. Er hat einfach mal zehn meiner neunzig Minuten für sich beansprucht. Draußen gesellt er sich zu den anderen, statt zu gehen. Eine Zigarette zündet er sich nicht an, sondern unterhält sich mit vor der Brust gekreuzten Armen mit den anderen Jungs. Die überragt er auch allesamt um mindestens einen halben Kopf.

Wie kann man so verdammt groß sein? Und allem voran so nervig.

Ich hatte mich auf die Zeit allein gefreut, jetzt jedoch haben die Männer eine Gruppe vor dem Eingang gebildet und wollen nicht verschwinden. Na wunderbar!

Wird das ab jetzt jede Woche so sein? Ich hoffe nicht. Es fühlt sich an wie die Raucherecke der Abiturienten, an der man sich als Siebtklässlerin vorbeidrücken musste. Meine Ruhe sollte mir doch vergönnt sein. Wenigstens an den Wochenenden. In dem Moment lösen sich die ersten Männer aus der Gruppe, als hätten sie gehört, was ich mir gedacht habe. Endlich.

Ich hole die Tonmasse aus den Tüten und wiege mir ein halbes Kilo ab, um zwei kleine Teller zu töpfern. Das ist ein einfacher Einstieg, um zu sehen, wie die Töpferscheibe funktioniert – ob sie zu schnell ist und wie stark der Ton an ihr klebt. Und was das generell für ein Ton ist.

Mit dem Edelstahl-Tonschneider schneide ich ihn auf, um zu schauen, ob sich Luftbläschen darin befinden. Oft genug habe ich genau das nicht getan und am Ende ist mir alles zusammengefallen, weil sich das Werkstück selbst nicht halten konnte. Aber ich habe Glück – die Masse ist dicht, sodass ich sie auf die Scheibe klatsche und mir eine Schüssel Wasser dazuhole.

Beim Töpfern habe ich das Gefühl, dass ich mich nicht so stark konzentrieren muss wie beim Schneidern. Da sollte jede Naht und jeder Schnitt perfekt sitzen, während ich hier den Kopf ausschalten kann und meine Hände machen lasse. Natürlich muss eine Schüssel oder Vase eine gewisse Integrität haben, um am Ende nicht in sich zusammenzufallen, aber bis dahin muss ich meist nur sich wiederholende Bewegungen machen. Drücken, drehen, hochpressen.

Hier kann ich abschalten und vergessen, dass ich in einer neuen Stadt bin. Ganz allein und ohne die Menschen um mich herum, die mich schon mein Leben lang begleitet haben. Als ich in Japan war, war ich zwar allein und hatte sogar eine gewisse Sprachbarriere, aber da wusste ich auch, dass ich zurückkomme. Neun Monate später, und ich bin wieder da. In meinen bekannten vier Wänden, bei meiner Mutter und meinen damaligen Freunden. Jetzt bin ich für mindestens drei Jahre in einer Stadt, die mir völlig fremd ist, lebe in einem Haus und mit einem Vater, bei dem ich nicht sein möchte. Einem Vater, der mich bis dato nicht kennen wollte. Manchmal fühle ich mich so, als würde ich mich ihm aufzwingen. Als wollte nicht er, dass ich komme, damit er sein schlechtes Gewissen loswerden konnte, sondern als hätte ich darauf gepocht.

Vielleicht muss ich auch hierbleiben, um eine Arbeit zu finden. Es ist eine ungewisse Zeit mit ungewissem Ende. Und das macht mich nervös.

»Scheiße«, murmle ich und setze mich auf. Sofort ziehe ich den Fuß von dem Pedal, was die Scheibe zum Stoppen bringt. Der halb fertige Teller ist in der Mitte noch zu dick, und die Ränder sind nicht hoch genug. Aber heute fällt mir das Arbeiten besonders schwer. Wird das irgendwann besser? Oder verflucht mich dieser Ort schon von Anfang an?