Staying Was The Hardest Part (Hardest Part 1) - Rabia Doğan - E-Book
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Rabia Dogan

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Beschreibung

**Ich höre tausend Worte in deiner Stille** Nachdem Evrens Bruder vor fünf Jahren verschwunden ist, verfällt sie nach und nach in ein Schweigen – die Ärzte diagnostizieren ihr Mutismus. Die Stille ertränkt nicht nur ihren Wunsch, Medizin zu studieren, sondern auch die Verbindungen zu allen Menschen, die ihr nahestehen und ihr begegnen. Talhah, der ihr viel zu häufig über den Weg läuft, lässt sich von Evrens Mauern jedoch nicht beirren. Dabei trägt er selbst eine Geschichte von Flucht und Verlust in sich, die ihm jegliche Stabilität hätte nehmen müssen – dennoch ist er der erste sichere Grund, den Evren unter ihren Füßen spürt.  Tiefgründig, herzzerreißend - einfach wunderschön! Persönliche Leseempfehlung der SPIEGEL-Bestsellerautorin Anya Omah: »Evren und Talhah haben mein Herz beim Lesen mehr als nur ein Mal gebrochen. Aber dieses Buch ist jeden Schmerz, jede Träne wert. Weil es so unglaublich wichtig ist.« //Dies ist der erste Band der zutiefst bewegenden »Hardest Part«-Trilogie. Alle Romane der romantischen Own-Voice-Reihe:  -- Band 1: Staying Was The Hardest Part -- Band 2: Trusting Was The Hardest Part -- Band 3: Leaving Was The Hardest Part (erscheint im Herbst 2024)//

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ImpressDie Macht der Gefühle

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Rabia Doğan

Staying Was The Hardest Part

Ich höre tausend Worte in deiner Stille.

Nachdem Evrens Bruder vor fünf Jahren verschwunden ist, verfällt sie nach und nach in undurchdringliches Schweigen – die Ärzte diagnostizieren ihr Mutismus. Die Stille ertränkt nicht nur ihren Wunsch, an der Berliner Charité Medizin zu studieren, sondern auch die Verbindungen zu allen Menschen, die ihr nahestehen und begegnen. Talhah, der ihr viel zu häufig über den Weg läuft, lässt sich von Evrens Mauern jedoch nicht beirren. Er versteht sie, trotz ungesagter Worte. Dabei trägt er selbst eine Geschichte von Flucht und Verlust in sich, die ihm jegliche Stabilität hätte nehmen müssen. Dennoch ist er der erste sichere Grund, den Evren unter ihren Füßen spürt.

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Buch lesen

Vita

Triggerwarnung

© privat

Rabia Doğan ist als knappes Maikind im Jahre 1998 auf die Welt gekommen und schreibt, seit sie realisiert hat, dass sie viel zu erzählen hat. Ohne einen Kaffee oder Matcha Latte auf dem Tisch und ihren Kater neben sich passiert das selten. Wenn ihr das Studium zu viel wird, backt sie Unmengen an Kuchen, um am Ende keinen davon zu essen. Sonst findet man sie beim Stricken oder Bingen einer Comedy-Serie.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Rabia und das Carlsen-Team

Für Semra Ertan, die sich öffentlich selbst verbrannte als Protest gegen den deutschen Rassismus. Für alle Menschen, die auf dem Mittelmeer ertrunken sind, weil die lebensgefährliche Flucht weniger beängstigend war als die kriegszerrüttete Heimat.Möge der Ort, an dem ihr jetzt seid, gnädiger, zuvorkommender und liebevoller zu euch sein.

EINS | BİR

Evren

Hätte man mich mit fünfzehn gefragt, wo ich mich mit einundzwanzig sehe, dann hätte ich wahrscheinlich gesagt: auf meinen eigenen Konzerten, vielleicht in einem Vorlesungssaal mit Menschen, die mir einst fremd waren, oder auf dem Weg zu meinem Wunschberuf. Ich hätte mir naiv alles Mögliche ausgemalt, außer einen Sackgassenjob, den ich nicht verlassen kann.

»Evren, kannst du die Bücher einordnen?« Melli ist mit ihren knappen ein Meter fünfzig fast schon zu übersehen, aber ihre Locken und die helle Stimme ziehen jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Der mit gestapelten Lehrbüchern überfüllte Bücherwagen reicht ihr bis unter die Brust. Die Klausuren dieses Semesters stehen an, und wie immer leihen Studierende auf die Schnelle Bücher aus, um sie häufig ein paar Tage später ungebraucht zurückzubringen. Wir hatten Fälle, da mussten wir ihnen hinterhertelefonieren. Nicht ich, jedoch die anderen.

Das Metall des Lenkers ist kühl, und die Räder lassen sich erst nach einem Ruck bewegen. Sportlich bin ich noch nie gewesen. Besonders daran erinnert werde ich, wenn ich den Wagen ausräumen und dazu mit ihm durch die halbe Bibliothek wandern muss. Warum sind akademische Bücher auch so schwer?

Als ich die ersten Wälzer in die Abteilung für Philosophie einräume, flucht jemand hinter mir laut genug, dass ich mich umdrehe. Viel zu laut für eine Bibliothek, in der Menschen in Ruhe lernen möchten. Mit zusammengezogenen Brauen werfe ich der Person einen tödlichen Blick zu. Der reicht meistens.

Vor einem Haufen Unterlagen sitzend tippt der junge Mann auf seinem Laptop herum, als würde jede einzelne Taste klemmen, und schüttelt aufgebracht den Kopf. Er merkt, dass ich ihn anstarre, woraufhin ich meine Arme vor der Brust kreuze. Seine Augen werden groß, und er zieht den Kopf ein, bevor er leise weitertippt.

Manchmal muss man nichts sagen – zusammengezogene Augenbrauen und eine wütende Miene reichen aus. Das ist das Schöne am Menschsein. Wir haben gelernt, Gesichter zu interpretieren, haben die Grundbausteine dafür in die Wiege gelegt bekommen.

Meine Armbanduhr verrät mir, dass ich in wenigen Minuten Schluss habe. Eigentlich sollte ich nach Hause gehen und etwas kochen, aber dort ist es oft stiller als in der Bibliothek. Mit quietschenden Rädern verschwinde ich in Richtung Rezeption, um den Wagen dort abzustellen. Die Universitätsleitung hat uns spätestens Ende dieses Semesters neue versprochen, doch bis jetzt ist nichts passiert, und es sind nur noch wenige Wochen vom Halbjahr übrig. Es ist wie immer ein Spiel der Geduld.

»Waren das alle Philosophiebücher, die abgegeben wurden?« Melli rümpft die Nase und nimmt den Wagen an sich.

Ich nicke halbherzig. Es sind jedes Mal die gleichen Studiengänge, die innerhalb kurzer Zeit viel lesen müssen. Andere Besucher sehen die Bibliothek als ästhetischen Fotohintergrund, was ich ihnen nicht verübeln kann. Die Philologische Bibliothek ist mit ihren langen, abgerundeten Etagen futuristisch genug für aufmerksamkeitserregende Bilder in den sozialen Medien. Jeder Lernbereich ist mit einer eigenen Lampe und Steckdose ausgestattet und bietet einen ordentlichen Arbeitsplatz, an dem man sich weniger leicht ablenken lässt als im eigenen Zimmer.

»Bleibst du noch hier, oder fährst du schon nach Hause?« Mit Melda, die alle Melli nennen, arbeite ich schon seit einem Jahr zusammen. Sie ist eine der wenigen, die versuchen, sich mit mir anzufreunden. Dass es etwas einseitig verläuft, ist meine Schuld. Es gibt nicht viele Jobs, die mein Schweigen akzeptieren. Wenn man in einem Café bedient, muss man mit Kunden sprechen. An der Kasse muss man den Preis nennen und Menschen einen schönen Tag wünschen. Als Lehrerin, Psychotherapeutin, Ingenieurin muss man sprechen. Es ist schwer, Geld zu verdienen, wenn man nicht redet – egal wie sehr man es braucht. Aber Melli stellt keine Erwartungen an mich.

Ich hebe meinen Zeigefinger, und sie versteht sofort, dass ich auf der höchsten Etage am letzten Tisch sitzen möchte, um ein Buch zu lesen. Ihr Lächeln gräbt sich in mein Herz, und mit meinem Finger sinkt auch meine Laune. In diesen Momenten würde ich alles lieber tun, als zu schweigen. Die Wörter rollen mir aber nicht von der Zunge. Sie bleiben zwischen meinen verwirrenden Gedanken und meinem verklebten Rachen stecken.

Onur hätte mich dafür gescholten. Er hätte mich in Meldas Richtung geschubst und mich gezwungen, etwas zu sagen. Seine Offenheit hat mich geprägt, dafür gesorgt, dass ich nie allein war und meine Ängste überwunden habe. Mit ihm ist mein Mut verschwunden. Verblasst wie seine Stimme, an die mich nur seine letzte Sprachnachricht erinnert.

Ich kann nicht mehr, Evren. Ich habe genug, und ich weiß nicht einmal mehr, ob es mir überhaupt leidtut, dich allein zu lassen. Küss Azra von mir. Seni seviyorum.

Meine Tasche lasse ich im Pausenraum und nehme nur mein Buch mit nach oben. Die Treppen sind mit grauem Teppich belegt und dämpfen die Geräusche meiner Stiefel. Die meisten der Studierenden verteilen sich auf den unteren Ebenen, sodass mich Leere willkommen heißt. Wie so oft.

Das stört mich nicht – ich lasse mich auf meinen üblichen Platz fallen und lehne mich gegen die Wand neben mir. Das ist das Gute an den letzten Tischen auf beiden Seiten. Ich hole das dünne Buch hervor, das ich vor ein paar Tagen angefangen habe zu lesen, und blättere auf die richtige Seite. Es geht um intersektionalen Feminismus und welche Rolle Schwarze Frauen darin gespielt haben, ihn voranzutreiben. Das Ende ist nicht mehr weit. Umso nerviger ist es, dass ich meine Textmarker vergessen habe. Wichtige Informationen muss ich jetzt also mit Eselsohren markieren.

»Darf ich mich setzen?«

Ich schaue nicht auf, bis sich jemand auf den Stuhl neben mir niederlässt und einen durchsichtigen Bibliothekskorb auf den Tisch knallt. Die Deckenlampen beleuchten die lange Reihe der Tische hinter dem Typen, die unbesetzt ist. Warum muss er mir auf die Pelle rücken, wenn genug Stühle frei sind?

»Keine Antwort nehme ich als ein Ja.« Das Lächeln auf seinen Lippen ist selbstgefällig und breitet sich auf dem gesamten Gesicht aus. Der leichte Akzent in seinen Worten macht mich hellhörig. »Ich war zwar noch nie in der Philologischen Bibliothek, aber alle sagen, wie hübsch sie ist. Da musste ich ihr endlich einen Besuch abstatten, bevor ich fertig mit dem Studium bin.«

Seine Augen sind stechend grün und beobachten mich unnachgiebig. Der Wimpernkranz ist umrandet von schwarzer Farbe, die leicht verlaufen ist, und ein silberner Nasenring schmückt seinen rechten Nasenflügel. Er sieht nicht viel älter aus als ich. Vielleicht wenige Jahre.

Er wartet auf eine Antwort, als ich mich von ihm wegdrehe. Eine Antwort, die er nie bekommen wird.

Warum redet er überhaupt mit mir, als wären wir Freunde?

Ein paar gedruckte Blätter gleiten auf den Tisch und dann auf den Boden, nachdem er seinen Laptop aus dem Korb zieht. Ich mache mir nicht die Mühe, sie für ihn aufzuheben. Er hat mich in meinem Lesefluss gestört.

»Du bist nicht wirklich gesprächig, oder?« Ihn scheint meine Apathie nicht sonderlich zu stören. Er grinst noch breiter. Dadurch gräbt sich ein tiefes Grübchen in seine linke Wange, das mich stocken lässt. Unwillkürlich greife ich nach meinem Handy, dessen Powerknopf ich drücke. Der Schweiß in meinem Nacken ist eiskalt, und mein Herz rast, bis mein Hintergrundbild mich beleuchtet. Onur. Mein Bruder. Er hatte auch Grübchen. Nicht unter dem Wangenknochen, sondern weit oben auf den Wangen. Meine Mutter hat immer gesagt, dass sie ihn besonders machen.

»Okay, du willst nicht reden. Bin ich so abschreckend?«

Verwirrt blinzle ich. Der junge Mann drängt sich in mein Bewusstsein, nimmt mein gesamtes Blickfeld ein. Sein Grübchen ist verschwunden. Und damit auch mein Bruder. In der steilen Falte zwischen seinen Augenbrauen ist Sorge erkennbar, der ich wenig Beachtung schenken kann.

Abrupt stehe ich auf, weshalb der Stuhl unter mir auf den Boden kracht. Bis ich ihn zurück an seinen Platz gerückt habe, lasse ich mein Buch zweimal fallen. Das Papiercover reißt an der oberen Ecke ein. Ich presse es gegen meine Brust und stolpere die Treppen hinunter. Mein Herzschlag pocht so laut in meiner Schläfe, dass ich nicht einmal mitbekomme, was mich Melli fragt, als ich meine Sachen zusammenklaube und meine Jacke über meine Schultern ziehe. Der Schal landet irgendwo in meinem Rucksack. Ich verlasse fluchtartig die Bibliothek.

Es ist schon fünf Jahre her. Warum schaffe ich es nicht, damit klarzukommen?

ZWEI | İKİ

Evren

Die U-Bahn ist um die Zeit völlig leer gefegt. Nur wenige Studierende verteilen sich auf den verschiedenen Sitzen und unterhalten sich. Ihre Worte prallen an meinem Trommelfell ab, zerfallen in eine mir unbekannte Sprache. Eine Sprache, die mich ächtet, die sich über meinen aufgelösten Zustand lustig macht. Ich verdiene es auch – es ist extrem viel Zeit vergangen, und ich lasse mich noch immer von meinen Emotionen leiten. Warum kann ich nicht damit umgehen? Es akzeptieren oder noch besser … vergessen.

Mit zittrigen Fingern fahre ich über mein Gesicht, das von nassen Schlieren bedeckt ist. Das Winterwetter wird von den Türen zurückgehalten und erreicht meinen Körper nicht, trotzdem rauscht eine unbarmherzige Kälte durch mein Inneres.

Der Klingelton meines Handys tönt aus meiner Jackentasche, was ich ignoriere. Ich möchte es nicht herausholen, möchte nicht mein Hintergrundbild sehen, möchte nicht die gebrochene Stimme meiner Mutter hören, die sich seit dem Verschwinden meines Bruders nicht erholt hat. Die noch immer bricht, egal was sie sagt.

Warum tue ich mir das an? Ich hätte das Bild längst ändern können. Was hält mich auf? Habe ich eine masochistische Ader?

Endlich stoppt das Klingeln, wiederholt sich immer und immer wieder in meinen Ohren. Klagend. Als wäre ich schuld an meinen Gefühlen, wenn es doch Onur ist, der mich zurückgelassen hat mit all dem Kummer, den Ängsten und Aufgaben. Einer Mutter, die nicht mehr in ihrem eigenen Bett schlafen kann, sondern Ruhe nur in seinem findet, obwohl sein Geruch verflogen ist. Entflohen durch die undichten Holzfenster, die längst ausgetauscht werden müssten.

Er hat mir das alles angetan. Absichtlich. Und trotzdem leide ich darunter. Muss die Folgen seiner Taten, seines Verschwindens ausbaden. Als wäre es nicht schon schwer genug, ich zu sein. Mich und meine Trauer zu ertragen.

»Die Sitze sind zum Sitzen da, nicht für Taschen, junge Dame«, zischt ein hagerer Mann, der seine Hände um die Haltestange geschlungen hat. Ich ziehe meinen Rucksack auf meinen Schoß, während die Tränen noch immer brennen und meine Lungen sich schmerzend zusammenziehen.

»Ich weiß ja nicht, wie das in Ihrer Kultur ist, aber hier weiß man sich zu benehmen.« Es ist ein unheilvolles Raunen, das ich in einer ähnlichen Form oft genug gehört habe. Die Worte des Mannes sind zwar träge, trotzdem sitzen die Stiche tief, als hätte er das nächstbeste Küchenmesser genommen und es mir in Lichtgeschwindigkeit in den Magen gerammt.

Eigentlich müsste ich es gewohnt sein, eigentlich müsste ich es kennen. Solche Worte werden mir schließlich nicht das erste Mal an den Kopf geworfen. Meine Englischlehrerin hat mich mal vor der Klasse gefragt, ob meine Eltern nicht an Sprechtagen teilnehmen, weil sie kein Deutsch können. In Deutschland zeuge man Kinder nicht nur, um sie zu kriegen, man kümmere sich auch um sie. Ich konnte ihr nicht sagen, dass es daran lag, dass sie von morgens bis abends die Arbeit erledigten, für die sich jeder andere zu fein war.

Mein Bruder hat danach wichtige Termine wahrgenommen. Als ich in der siebten Klasse war, ist er mit siebzehn beim Elternsprechtag erschienen und hat mit jedem einzelnen Lehrenden gesprochen. Auf sein Verschwinden wütend zu sein, ist in manchen Momenten herzzerreißend.

Ich blinzle mehrmals, um den Tränen keinen Austritt mehr zu gewähren. Schwäche neben solch einem Menschen zu zeigen, wäre fatal. Es würde ihm gefallen, und das ist das Letzte, was ich mir wünsche. Diese Worte sollten ihm wehtun – vielleicht nicht jetzt, aber später. Die Genugtuung, dass sie bei mir so angekommen sind, wie er sie gemeint hat, will ich ihm nicht geben.

Ich schaue aus dem Fenster und versuche, die Hitze auszublenden, die der Mann neben mir ausstrahlt. Der Kloß in meinem Rachen löst sich langsam.

Die dreißig Minuten nach Hause gleichen Stunden. Als endlich meine Station angekündigt wird, atme ich erleichtert auf. Ich quetsche mich an dem Mann vorbei, der nichts als böse Blicke für mich übrig hat. Nachdem ich ausgestiegen bin, hallen die Schritte der Berliner auf den grauen Fliesen der U-Bahn-Station und in meinen Ohren wider. Draußen auf dem Leopoldplatz herrscht Leben, das mich mit frischer Luft empfängt. So frisch, wie eine Dreimillionenstadt sie zu bieten hat. Menschen tummeln sich auf den Gehwegen, kaufen in den kleinen, alten Supermärkten ein, holen sich eine Packung baklava, um den Abend ausklingen zu lassen, oder eilen nach einem langen Arbeitstag nach Hause. Dass ich zur letzten Gruppe gehöre, lassen mich die Blasen an meinen Hacken spüren. Ich hätte heute nicht meine neuen Schuhe anziehen sollen.

Diesem Weg folge ich jeden einzelnen Tag, manchmal sogar samstags. Jedes Mal blicken mir schrille Reklametafeln verschiedener Läden entgegen, und ich lerne Wörter aus Sprachen, die ich immer höre, aber nie entziffern kann. Doch die Farbenfreudigkeit Weddings verschwimmt zu einem undurchdringlichen Grau, wenn ich die Wohnungstür im siebten Stock aufschließe, zu dem kein Aufzug führt.

Außer Atem lasse ich die alte Holztür zurück ins Schloss fallen und schließe sie wie gewohnt ab. Letzten Monat ist jemand im zweiten Stockwerk eingebrochen, und seitdem lässt meine Mutter Vorsicht walten. Als hätten wir hier Wertvolles, das es sich zu stehlen lohnt.

»Du bist aber früh da.«

Ich zucke zusammen, bevor ich mich zu meiner Schwester drehe, die mich mit einem Strahlen grüßt.

»Hast du mir das Pädagogiklehrbuch mitgebracht?«

Es läuft mir kalt den Rücken hinunter, als ich realisiere, dass sie mich heute Morgen im Halbschlaf nach dem Buch gefragt hat. Sie braucht es für eine Klausur, die bald auf sie zukommt.

»Dein Blick sagt alles«, jammert sie und fährt sich durch ihr langes dunkelbraunes Haar, das in der Sonne rötlich schimmert. Letzte Woche hat es unsere Mutter mit Henna gefärbt, und wir mussten mehrere Stunden das Wohnzimmer lüften, um den Geruch aus der Wohnung zu bekommen. Von anne ist nichts zu sehen.

Ich beiße mir auf die Lippe und gehe auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen. Für wenige Sekunden wehrt sie sich, bis sich ihre Hände auf meinem Rücken treffen.

»Morgen bringst du es mir bitte mit, tamam mı?«

Ich nicke schnell.

»Ich habe auch noch eine Linguistikklausur nächsten Freitag«, sagt sie seufzend. Der Stress zeichnet sich auf ihren filigranen Zügen ab.

Azra trennt sich von mir und verschwindet wieder in unserem Zimmer. Wenige Sekunden später ertönt gedämpft Bach – sie sitzt am Schreibtisch und lernt. Ich habe mich längst an die klassische Musik gewöhnt, da sie diese auch während ihres Abiturs gehört hat. Seit einem Semester ist sie an der Freien Universität eingeschrieben und studiert Sonderpädagogik und Deutsch auf Lehramt.

Ich bin anscheinend die Einzige in der Familie, die ein Problem mit Sprachen hat. Oder dem Sprechen. Wie man es nimmt.

Der Flur ist dunkel, und der Putz bröckelt um den Stromzähler herum ab. Er entblößt eine pissgelbe Wandfarbe, die älter sein muss als ich. Meine Stiefel stelle ich in den kleinen Schrank neben die Schuhe meiner Schwester, die die Wohnung seit ihrer letzten Vorlesung im Januar nicht mehr verlassen hat. Ihre erste Klausurenphase an der Uni spannt sie sehr stark ein.

Meine Jacke hänge ich an den leeren Holzhaken. Wenn meine Eltern später von der Arbeit zurückkehren, werden die restlichen Haken auch beladen sein. Außer der dritte, der seit dem Verschwinden meines Bruders frei bleibt. Niemand traut sich, etwas an seinem aufzuhängen. Während der mahagonifarbene Lack an allen anderen abblättert und ein helleres, billiges Holz zum Vorschein bringt, wirkt seiner wie neu.

Die Erinnerungen heute gleichen kleinen Elektroschocks, die sich in statisches Knistern umwandeln und in den Ohren rauschen. Ich brauche nicht noch mehr Beton an meinen Beinen, der mich in den Abgrund meiner Vergangenheit zieht. Für heute habe ich genug.

Um an nichts denken zu müssen, gehe ich in die Küche, die keinen Raum für mehr als zwei Personen bietet. Ich stelle das kleine Fenster auf Kipp und öffne danach den Kühlschrank. Wie so oft bin ich dran mit dem Kochen. Meine Mutter steht zwölf Stunden auf den Beinen und putzt ein Krankenzimmer nach dem anderen. Kochen nach einem anstrengenden Arbeitstag hat sie nicht verdient, vor allem nicht nach ihrem Bandscheibenvorfall im letzten Jahr. Vielleicht bringt mein Vater etwas aus dem Imbiss mit, den er seit Jahren leitet. Er rentiert sich gerade noch, um ihn offen zu halten, aber nicht genug, um die nicht verschließbaren Türen der Hängeschränke über meinem Kopf auszutauschen.

»Meinst du, ich kann mit Freunden weg?«, fragt Azra, während ich die Zwiebel für die Bolognese schneide. »Ich habe schon ein Brot gegessen, ich würde nur etwas trinken. Wäre das okay?« Ihre Stimme ist leise, und sie beißt sich auf die Unterlippe.

Meine Eltern waren gut darin, sie von unseren Sorgen fernzuhalten. Auch als Onur verschwunden ist, hat Azra wenig von den unbezahlten Rechnungen und den gelben Briefen auf dem Esstisch mitbekommen. Ich selbst wurde erst danach eingeweiht und trage seitdem eine Verantwortung, die schwer auf meinen Schultern lastet.

Ich nicke mit zaghaft gehobenen Mundwinkeln.

Azra macht einen kleinen Sprung und klatscht kurz in die Hände, bevor sie mich in ihre Arme nimmt. »Ich habe heute zwar mein Geld bekommen, dennoch gehe ich nicht ohne Limit aus.«

Liebevoll drücke ich sie von mir weg und lege meinen Kopf schief, um sie genauer zu betrachten. Sie ist in den letzten fünf Jahren schnell gewachsen. Von der schüchternen Vierzehnjährigen zu einer Studierenden. An den Abend, an dem sie mir erzählt hat, dass sie ihr Abitur machen möchte, kann ich mich noch klar erinnern. Das Bild ist bunt und grell in meinen Gedanken. Nicht wie die Erinnerungen an meinen Bruder, die unaufhaltsam verblassen.

Ich male ein Herz unter ihr Schlüsselbein, so wie ich es seit jeher tue.

»Ich liebe dich auch.« Sie drückt mich ein letztes Mal fest, und der Kokosnussgeruch ihres Shampoos steigt mir in die Nase. »Ich werde auch früh zurück sein und mich wieder an den Schreibtisch setzen. Die Klausuren werden gut laufen.«

Sie hat sich einen Ausgehabend mit ihren Freunden verdient, die sie schon länger nicht gesehen hat. Das ständige Lernen laugt sie aus.

Es dauert wenige Minuten, bis die Tür lautstark hinter Azra zufällt und ich das Messer wieder in die Hand nehme. Das Öl in der zerkratzten Pfanne auf dem Herd glänzt verräterisch, weswegen ich die klein geschnittene Zwiebel hineinfallen lasse.

Das letzte Mal, dass ich ausgegangen bin, ist Jahre her. Freunde wenden sich ab, wenn man nur noch von tiefer Trauer berichten kann. Das Zuhören und das Erzählen nehmen ein Ende. Freundlichkeiten werden weniger, die Versuche, Kontakt aufrechtzuerhalten, sporadischer. Es gibt nichts mehr, was die Verbindung stärkt. Sie knackt wie eine Telefonleitung, bevor sie vollkommen in sich zusammenbricht und das Piepen an das erinnert, was einmal war. Die Freundschaft ist tot.

Verübeln kann ich es weder Defne noch Cansu oder Feyza, denn ich habe es ihnen nicht leicht gemacht. Nachdem mein Bruder verschwunden ist, habe ich mich zurückgezogen und meine Stimme verloren. Reden hat keinen Sinn mehr ergeben. Warum auch? Es hat meine Probleme nicht gelöst. Die ersten Nächte haben wir noch nach ihm gesucht, nach ihm geschrien, bis unsere Münder nichts als ein raues Kratzen verlassen hat. Ich habe meine Stimme nicht mehr gebraucht, sie hat mir nichts mehr genützt.

DREI | ÜÇ

Evren

Der eingerissene Buchdeckel ist mir ein Dorn im Auge, auch nachdem ich versucht habe, ihn notdürftig zusammenzutackern. Die Enden des Metallclips stechen beim Umblättern unangenehm in meine Haut. Im anderen Arm war noch vor Sekunden eine Kanüle.

»So …« Die Krankenschwester klebt das Pflaster auf die Einstichstelle. »Warten Sie zehn Minuten und trinken Sie was, dann dürfen Sie gehen.«

Ich nicke, was sie als Zeichen sieht aufzustehen.

»Haben Sie was dabei? Ich kann Ihnen gerne Saft oder einen Apfel anbieten.«

Ihre Freundlichkeit ist neu. Ich habe schon häufig an der Charité Blut gespendet und ausschließlich distanziertes Personal erlebt.

Ich schüttle den Kopf. Die Äpfel hier sind immer eingedrückt und der Saft eher eine Zuckerwassermischung, deswegen nehme ich meinen eigenen Vorrat mit. Sie geht zur nächsten Person neben mir, stellt ihr dieselben Fragen und verschwindet, um ihr ein paar Minuten später Obst und Wasser zu bringen.

Seit meinem achtzehnten Geburtstag komme ich alle drei Monate vorbei und spende Blut. Damals ist es die Neugier gewesen, meine Blutgruppe zu erfahren und in der medizinischen Fachbibliothek in der Nähe abzutauchen. Jedes Mal habe ich mir eine neue Krankheit ausgesucht, über die ich mich belesen habe. Es ist ein Ritual geworden – und die zwanzig Euro Entlohnung waren auch ein guter Anreiz.

Heute erinnert mich die schwere Tasche mit Anatomiebüchern daran, dass ich wieder in die Bibliothek muss – nicht meine eigene Wissbegierde, die zwischen dem Job und zu Hause auf halber Strecke liegen geblieben ist. Ein Erstsemester der Medizin hat Melli an der Rezeption angefleht, ihm die Bücher abzunehmen, weil er nicht mehr zur Fachbibliothek kommt, und sie hat eingelenkt. Da ich sowieso auf dem Weg zur Arbeit an der Bibliothek vorbeifahre, hat sie mich beauftragt, sie vorbeizubringen.

Lautlos schlage ich mein Buch zu und stopfe es in meine Jackentasche. Die zehn Minuten sind schneller vergangen als erhofft. Bewaffnet mit meiner Tasche verlasse ich das Gebäude und mache mich auf den Weg zur Zentralbibliothek der Charité, die mit ihren unscheinbaren Putzwänden und der kleinen Aufschrift an der Tür leicht zu übersehen ist. Wie immer begrüßt mich kühle Luft und blaue Innenausstattung. Saskia, der Melli Bescheid gesagt hat, dass ich mit abzugebenden Büchern noch einen Abstecher hierher machen werde, erwartet mich an der Abgabe.

»Hey, Evren, lange nicht mehr gesehen.« Ihr Gesichtsausdruck ist ähnlich warm wie der der Krankenschwester. Heute ist anscheinend ein guter Tag, nur ich habe das Memo mit der super Laune verpasst.

»Wie geht es dir?«

Ich zucke mit den Schultern. Die Studierenden, die die Lernplätze füllen und bleischwere Bücher vor sich liegen haben, hinterlassen eine Beklemmnis in mir, die mir leider bekannt ist. Mein Herz ist zum Zerreißen gespannt, und ich weiß, dass ich hier nicht mehr herkommen sollte. Eigentlich. Die hohen Decken sind einengend und die Stille ohrenbetäubend laut. Früher wollte ich von der Medizin umgeben sein, heute ist mir all das viel zu nah. Nicht nur mein Zuhause und die Arbeit haben mich davon abgehalten, sondern mein versuchter Selbstschutz. Jede Bewegung zwischen den Regalen erinnert mich daran, was ich nicht haben kann. Egal wie sehr ich möchte. Zu meinem sechsten Geburtstag hatten meine Eltern mir einen Ärztekoffer gekauft. Einen von denen, die schrill und bunt sind, alles in Übergröße, damit Kinderhände besser damit umgehen können. Ich war begeistert, habe meine Mitschüler und Mitschülerinnen, Lehrenden und Familienmitglieder untersuchen wollen. Das Plastikstethoskop habe ich laut meiner Mathelehrerin nur von meinem Hals genommen, wenn ich auf die Toilette musste. Es liegt bis heute in meinem Zimmer.

»Bei euch ist bestimmt auch viel los?« Saskia rümpft die Nase und liest dabei die Barcodes der Bücher ein. »Die Studierenden können einem echt leidtun.«

Ich presse die Lippen zusammen und reiche ihr das letzte Buch. Sowohl der Stress als auch der Druck, der einen über zwölf Semester Medizinstudium auf Trab hält, müssen groß sein.

»Gut, ich habe alles.« Sie schenkt mir einen freundlichen Blick und streicht über meinen Arm. »Vielleicht sehen wir uns wieder öfter. Magst du dich nicht noch umschauen?«

Ich versuche, ihren Gesichtsausdruck nachzumachen, aber jede Muskelbewegung ist falsch … verzerrt. Saskia arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren hier. Wir haben uns, bevor ich den Job in der Philologischen Bibliothek angenommen habe, häufig gesehen. Mindestens jeden Freitag. An meinen Blutabnahmeterminen habe ich mich in die hinterste Ecke gesetzt und die verschiedensten medizinischen Themen gepaukt. Nicht, weil ich musste, sondern weil es mich wirklich interessiert hat. All das ist heute weit weg.

Trotzdem drehe ich mich zu den Lernplätzen mir gegenüber. Vielleicht kann ich mich zwischen zwei große Regale setzen, mir vorstellen, wie es wäre, hier ständig zu lernen. Nur für einen kurzen Moment. Wie es wäre, keine finanzielle Last auf meinen Schultern zu tragen.

Ich gehe an mehreren Gruppen vorbei, die es sich nicht erlauben können, die Köpfe zu heben. Zwischen den Büchern sind vereinzelte Plätze fürs Lernen. Das eine Paar Augen, das sich neugierig auf mich richtet, erkenne ich sofort. Ich kann das Augenrollen nicht unterdrücken.

»Schweigsames Mädchen aus der Philologischen?« Der Typ, der sich ein paar Tage zuvor ungefragt neben mir auf den Stuhl hat fallen lassen, setzt sich auf und verfolgt jede meiner Bewegungen, sodass ich gezwungen bin anzuhalten.

»Was machst du hier?«, flüstert er.

Ich zucke mit den Schultern.

»Was treibt dich in die Weite? Bis zur Charité?« Mit schief gelegtem Kopf und einem Schmunzeln beobachtet er mich. »Warst du auf der Suche nach mir? Oder –«

Ich gehe auf ihn zu, nehme seinen Stift, der neben dem Laptop liegt, und kritzle auf seinen Block. Alles, damit er aufhört, mit mir zu reden.

Mit Schnelligkeit überfliegt er die Wörter. Seine Mundwinkel zucken auffällig, und er nimmt den Stift aus meiner Hand, um etwas in eiligen Zügen niederzuschreiben.

SO WAS IN DER ART … WAS FÜHRT DICH HIERHER?

Ich nehme den Stift wieder an mich und möchte etwas antworten, doch mein Handy klingelt. Vor Schreck lasse ich den Kugelschreiber fallen und greife in meine Tasche.

»Hey, Evren!« Melli ist außer Atem. »Ich wollte fragen, wann du kommst? Leider kann ich mir keinen dritten Arm wachsen lassen. Ich brauche dich hier.«

Wenn es nicht dringend wäre, hätte sie mich nicht angerufen. Ich tippe eine Antwort, und sie verabschiedet sich, bevor ich auflege.

Der Typ starrt mich neugierig an. Ich möchte ihm sagen, dass das Kajal um seinen Wimpernkranz verschmiert ist. Als würde er ahnen, dass mir etwas auf der Zunge liegt, schiebt er den Stift in meine Richtung und beugt sich ein wenig zu mir. Eine Strähne löst sich aus seinen nach hinten gekämmten Haaren. Sie verirrt sich auf seine Nasenwurzel, aber das scheint ihn nicht zu stören.

Die Arbeit ruft, schreibe ich schnell auf den Block. Sein Blick huscht von dem Blatt zu mir und verharrt für meinen Geschmack eine Sekunde zu lang auf meinem Gesicht.

»Ich bin die letzte Person, die dich aufhält.« Er winkt und schenkt mir ein halbes Lächeln, das sein Grübchen aufblitzen lässt.

Als ich die Zentralbibliothek der Charité verlasse, rauscht das Blut in meinen Adern. Ich sollte die Medizin nicht konfrontieren, wenn ich weiß, dass das Studium außerhalb des Möglichen liegt. Wenn ich weiß, dass ich mich nicht einschreiben kann, egal wie viele Bücher ich mir anschaue und wie häufig ich in der Fachbibliothek sitze. Weil ich es mir einfach nicht leisten kann.

Ich habe zwar mein Abitur in der Abendschule nachgeholt, ein Medizinstudium schaffe ich neben einem Vollzeitjob jedoch bestimmt nicht. Niemals. Da ich meine Familie finanziell nicht im Stich lassen und sonst niemand aushelfen kann, bleibt es bei einem Traum. Das einzusehen, liegt mir schwer im Magen.

Auch wenn ich studieren könnte … Ärzte reden mit ihren Patienten und Kollegen. Ich kann nicht einmal mit meiner Familie sprechen. Zu Anfang wollte ich. Das Verschwinden meines Bruders schnürte mir den Hals zu. Jede Silbe fiel gurgelnd in sich zusammen.

Heute weiß ich nicht einmal, ob ich es kann. Die Fähigkeit, verbal zu kommunizieren, und der Mut, es tatsächlich zu tun, verschwimmen zu einem. Die Kraft, mich damit auseinanderzusetzen, habe ich längst verloren. Sie ist verschwunden, nachdem die Polizei uns gesagt hat, dass sie meinen Bruder nicht suchen könne, da er neunzehn sei. Vielleicht sei er in Drogengeschäfte verwickelt gewesen. Bis heute bin ich mir sicher, dass diese Möglichkeit in ihren Köpfen existiert hat, weil mein Bruder einem Stereotyp entsprach. Dass er in Wedding gelebt hat, hat seinen Teil dazu beigetragen.

Der beißende Wind am nächsten Morgen kündigt die lange Wartezeit auf den Frühling an. Wir haben zwar erst Ende Februar, aber der Schnee und die Kälte finden kein Ende. Ich mag den Winter. Er ist ruhiger als die anderen Jahreszeiten. Die Menschen werden langsamer und genießen sich gegenseitig, nehmen sich eher wahr.

Die U-Bahn ist wie gewöhnlich voll. Diesmal überfüllen die Studierenden sie, da sie zur Philologischen Bibliothek führt. Meine müden Knochen sind das Omen eines anstrengenden Tages.

Früher, als das Leben noch in Ordnung war, habe ich den Sommer mehr gemocht als den Winter. Ich habe ihn mit Parkkonzerten und warmer Limo gleichgesetzt. Mit Freunden im Gras zu sitzen, während die Sonne untergeht, und einem unbekannten Musiker zuzuhören, war der Gipfel meines Lebens. Ich habe mich nie freier gefühlt, nie besser ein- und ausgeatmet – trotz des Zigarettenrauchs der anderen.

Es hat mir gefallen, mitzusingen. Laut mitzugrölen und meinen Herzschlag im Takt der Musik zu spüren. Ich habe jede erdenkliche Situation dafür genutzt. Sogar auf dem Henna-Abend meiner Cousine, an dem die Braut von ihrem Elternhaus verabschiedet wird, habe ich gesungen. Mit fünfzehn fand ich das so überragend. Ich habe Tage mit ihr und meiner Tante gesprochen, bis sie sich auf ein Lied geeinigt haben.

Wenn die Braut sich von ihrer Mutter verabschiedet, sitzt sie zumeist in der Mitte des Saals, und alles ist in rotes Licht getaucht, dabei läuft im Hintergrund ein Abschiedslied. Die Schwiegermütter schmieren Henna in die Handflächen des Paares als Zeichen des Schutzes vor anderen.

Normalerweise wird das Lied über Lautsprecher abgespielt, aber ich durfte es damals singen, konnte es an die Länge der Zeremonie anpassen und emotional gestalten.

Ganz vorne zu stehen, während Leute neugierig auf meine Cousine und ihren Mann geschaut haben, hat mir erlaubt, zu entspannen, egal wie versteift ich in dem Alter in sozialen Situationen war. Das Singen hat es erleichtert, ich habe mich der Luft nahe gefühlt und konnte die Augen vor der Menschenmenge verschließen. In solchen Situationen hatte meine Angst aus Kindertagen mich nicht im Griff. Ich war eins mit der Musik. Letztendlich ist es auch diese Angst gewesen, die heute meine Stimmbänder zuknotet.

Jetzt stolpert mein Herz, wenn es versucht, im Rhythmus eines Lieds zu schlagen. Zu fremd, zu anders, zu überwältigend. Ich bin davon überzeugt, dass ich kein Taktgefühl mehr habe.

Die Unterhaltungen holen mich aus meinem Gedankenstrudel wieder zurück in die Realität, weswegen ich die Augen schließe und meine Stirn gegen den Haltegriff lehne. Ein Mädchen erzählt von der abgefahrenen Party am Wochenende, und ein anderer Typ prahlt mit seinem »dreistelligen Fickscore«. Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse und rümpfe die Nase. Wären meine Augen nicht geschlossen, hätte ich sie längst gerollt. Ich lasse die überaus detaillierten Beschreibungen seines letzten »Betthäschens« über mich ergehen, bis die mechanische Stimme meine Station ansagt.

Noch nie war ich so froh, aus dem stickigen Wagen zu kommen, wie jetzt. Ich haste regelrecht hinaus und sauge die frische Luft in meine Lungen. Die ersten Schneeflocken des Tages trudeln in einem gemächlichen Tempo auf uns herab. Ihre Kälte begleitet mich bis in die Bibliothek, die im Gegensatz dazu brüht. Ich lege meine Tasche im Pausenraum ab und ziehe die Jacke aus.

Melli ist nicht auffindbar, und ich bin allein mit den anderen Mitarbeiterinnen, die genauso hektisch ihre Mäntel ausziehen, um sich um die Studierenden zu kümmern. In meinen Spind, auf den mein Name notdürftig aufgeklebt wurde, packe ich meine Sachen. Ich klemme meine Haare hinter die Ohren, doch mein wirrer Pony fällt ohne Mitleid wieder auf meine Stirn. Der Spiegel auf der Innenseite wirft kein schönes Bild zurück. Ich hätte mich schminken oder wenigstens die Augenringe abdecken sollen.

»Evren!«

Ich drehe mich in die Richtung der Tür, die mit einem lauten Knarzen aufgeht. Auch die sollte durch einen der Techniker an der Uni geölt werden.

»Erledigst du wieder das Einräumen? Ich habe mit der Ausleihe zu tun«, sagt meine Kollegin. »Der Wagen steht vorne bei der Abgabe. Er ist sehr voll, ist das in Ordnung?«

Ich nicke ein weiteres Mal. Mehr braucht sie nicht, sie macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet hinter die Rezeption, die uns durch halbhohe Wände und Fenster vor Studierenden verbirgt. Sie stehen schon in einer Reihe, um Bücher abzugeben. Meine Kollegin macht es sich auf dem weichen Schreibtischstuhl gemütlich.

Mit einem Seufzen ziehe ich den überquellenden Bücherwagen hinter mir her. Die Glastür öffnet sich nach außen, zum Foyer der Bibliothek hin. Einen Schritt hinein gemacht, und mir wird bewusst, wie viel Schall die dünnen Wände abdämpfen. Die Studierenden unterhalten sich mit eingezogenen Köpfen und vorgehaltenen Händen. Die nassen Jacken und tropfenden Regenschirme unterstreichen die Tatsache, dass sie noch nicht angekommen sind.

Was würde ich alles dafür tun, um auch ein Teil des Studierendenlebens zu sein? Ich wäre nicht hier, aber ich würde trotzdem vollgepackt mit Lehrbüchern und mit zu vielen geöffneten Tabs auf meinem Laptop lernen, studieren … Ärztin werden.

Die Aufzüge verstecken sich hinter den Regalen der Südasienkunde. Dass ich den Wagen durch die engen Gänge manövrieren muss, ist das Nervigste an diesem Job. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich es hinbekomme, ohne einen einzigen Bücherturm zu Fall zu bringen.

Das Innere des Aufzugs ist in bordeauxfarbenen Stoff und zerkratztes Metall gekleidet. Die Türen wollen sich gerade mit einem Ping schließen, als ein Arm dazwischenschießt.

Mein Atem bleibt in meinem Rachen stecken, und ich schließe instinktiv die Augen. Zum Glück höre ich kein Knirschen oder Geschrei, nur Lachen. Ein Lachen, das mir bekannt vorkommt.

»Mir geht es gut.« Die Stimme ist mir unheimlich nahe, weswegen ich meine Augen wieder öffne.

Der Typ von gestern steht neben mir. Sein Blick gleitet von den vielen Büchern auf dem Wagen zu mir. Die Scham setzt sich höhnend in meinen Nacken – nicht, weil er mich neugierig anschaut, sondern weil er meine übertriebene Reaktion mitbekommen hat.

Er hebt seinen Arm an. »Schau … alles okay. Er ist noch dran.«

Als ich nichts sage, kehrt Ernsthaftigkeit in seine Züge ein. »In welches Stockwerk musst du?«

Ich antworte nicht, lehne mich an ihm vorbei zu den Knöpfen und drücke die Zwei – er tätigt keinen. Die Türen schließen sich diesmal gänzlich, und ich konzentriere mich auf den winzigen Spalt zwischen ihnen.

»Mein Name ist Talhah, so nebenbei. Wie heißt du?«

Ich werfe ihm einen kurzen Seitenblick zu, den er sofort bemerkt. Seine Wasserlinie und das Lid sind wieder von schwarzem Kajal umrahmt, und der Nasenring blitzt auffällig unter dem kalten Licht.

»Du bist gestern so schnell verschwunden, da konnten wir uns einander nicht vorstellen.« Er lehnt sich locker gegen den Spiegel hinter uns und grinst breit. Den müsste ich eigentlich auch mal putzen, weil die Studierenden nicht aufhören können, ihn anzufassen.

Die Türen gleiten endlich auf, und ich merke, wie warm mir im Aufzug war. Mein Körper kühlt erst herunter, nachdem ich mit dem Bücherwagen zwischen den vorderen Regalen untertauche. Das erste Germanistikbuch wiegt schwer in meiner Hand. Die meterdicke Staubschicht darauf kitzelt in meiner Nase. Es hätte nach der Abgabe eigentlich abgestaubt werden sollen. Da momentan die Hölle los ist, kommt niemand mehr mit den Aufgaben hinterher.

»Du hast das hier vorgestern fallen lassen.«

Was will dieser Typ von mir? Ist mein Schweigen nicht Antwort genug gewesen? Ich stelle das Buch an den richtigen Platz, ganz unten in Bodennähe. Während ich mich aufrichte, wirble ich Staub auf, der in den Hintergrund rückt, als Talhah mir mein Lesezeichen vor die Nase hält.

Es ist ein kleiner Magnetclip, der seine besten Tage hinter sich hat. Die Kratzer sind tief, und das Metall ist längst stumpf. Mein Name steht in einer filigranen Schriftart auf der Vorderseite.

»Ich hätte es dir gestern in der Charité gegeben, aber du warst so schnell weg. Schön, dich kennenzulernen, Evren.«

Ich reiße ihm das Lesezeichen aus der Hand und stopfe es in meine Hosentasche. Das war das letzte Geburtstagsgeschenk, das ich von meinem Bruder bekommen habe.

Als ich nicht antworte, bleibt auch Talhah leise. Möchte er meine Stille diesmal nicht kommentieren? Er schmunzelt, bevor er sich umdreht und mit gemächlichen Schritten verschwindet.

»Man sieht sich bestimmt noch mal!« Seine Worte sind viel zu laut für die Bibliothek. Er stört jeden anderen hier, der vor Stress und Panik den Kopf nicht von den Unterlagen heben kann. Was für ein Arschloch. Könnte ich schreien, hätte ich ihn schon längst zur Schnecke gemacht.

Die Wut auf ihn verlässt mich für eine ganze Weile nicht – sie ist leuchtend rot und verblasst nur allmählich zu einem Pastellpink. Was will er von mir? Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen, wenn ihm doch klar ist, dass ich nicht mit ihm rede?

So einen Typen hatte ich schon lange nicht mehr am Hals. Die anderen Studierenden sind sonst nicht wirklich aufdringlich.

Er scheint eine besondere Art zu sein – besonders ätzend.

VIER |

Talhah

Der Putzplan am Kühlschrank ist eigentlich klar. Sonntags ist Yousef dran mit der Küche. Wenn man sich die Spüle anschaut, wird deutlich, dass seit zwei Tagen niemand mehr aufgeräumt hat. Kaffeetassen über Teller über Pfannen stapeln sich aufeinander, und es juckt mir in den Fingern, den Schwamm in die Hand zu nehmen und Ordnung zu schaffen. Letzte Woche ist unsere Spülmaschine kaputtgegangen, und bis sich ein Handwerker die anschauen kann, müssen wir erst zweihundert Euro zusammenlegen und einen Termin vereinbaren, an dem einer von uns lange genug da ist. Beides verdammt schwierig in einer Vierer-Wohngemeinschaft.

»Ich kümmere mich drum.« Yousef streckt sich gähnend.

»Es ist auch deine Aufgabe.« Ich setze mich an den Esstisch und schiebe etliche Prospekte zur Seite, die sich Zelal jeden Sonntagmorgen anschaut. Ich bin in unserem monatlichen WG-Meeting dafür gewesen, keine Werbung mehr zu erlauben, aber sie hat sich vehement dagegen gewehrt. Es helfe ihr beim Relaxen, und sie wisse, wo unter der Woche die Angebote abzugreifen seien. Am Ende stattet sie jedoch nur dem Aldi uns gegenüber einen Besuch ab oder kauft mit ihrem Angestelltenrabatt im Rewe ein. Ein Vorteil, den sie leider nur noch bis Anfang April genießen kann, wenn die Vorlesungen wieder anfangen.

»Wer hat dir denn ins Müsli gepinkelt, Alter?« Yousef umrundet den Tisch und füllt in eine saubere Schüssel Cornflakes und laktosefreie Milch, die wir ihm wegen seiner Intoleranz aufgezwungen haben. Damit haben wir eher uns als ihm einen Gefallen getan.

»Meine Mutter will mich besuchen«, sage ich kleinlaut.

Ein loser weißer Flyer sticht mir zwischen Prospektseiten ins Auge.

»Ist doch gut.« Er schaufelt sich sein Frühstück in den Mund und zieht den Stuhl mir gegenüber quietschend zurück, um sich darauf fallen zu lassen. »Dein Bruder hat dich bestimmt vermisst.«

Bei der Erwähnung von Malik muss ich mit den Augen rollen. »Der kommt nur hierher, damit er in Berlin ist. Ich bin nicht cool genug für ihn.«

»Verübeln kann ich es ihm nicht. Berlin ist super.«

Yousef hat recht. Ich war schließlich auch extrem glücklich, als ich das Stipendium fürs Studium hier bekommen habe.

»Ich freue mich auch«, murmle ich und weiche seinem Blick aus, indem ich meinen auf den Flyer vor mir richte. Er bewirbt einen Kulturflohmarkt auf dem Parkplatz eines Kaufhauses in Wedding, unweit von uns. Vielleicht sollte ich dort vorbeischauen. Der Markt findet nicht zum ersten Mal statt. Wenn ich Glück habe, ist dort wieder die ältere Frau, die syrische Süßspeisen verkauft. Ich hätte echt nichts gegen mabrouma mit Pistazien. Und verdammt viel Zuckersirup.

Als ich noch klein war, hat meine Mutter mabrouma und baklava nur für Besuch vorbereitet. Wenn danach etwas für uns übrig geblieben ist, durften wir davon essen. Aber was sie uns immer überlassen hat, ist der Sirup, den sie nicht auf dem knusprigen Gebäck verteilt hat. Er hat meist den Boden ihres Kupfertopfs bedeckt, und mein Bruder und ich haben unsere Finger oder Brot hineingedippt.

»Ich würde mich echt freuen, würde sie kommen. Sie sagt zwar konstant, dass sie es versuchen werde, dennoch passiert es nicht.« Meine Wörter sollen gleichgültig wirken, doch ich schmecke den bitteren Schmerz auf meiner Zunge. Sie verspricht es mir wieder und wieder. Bis jetzt hat sie es erst einmal geschafft. In ganzen fünf Jahren nur ein Mal. Verübeln darf ich es ihr nicht – sie arbeitet viel, der Weg von Hannover hierher ist lang, und obwohl mein Bruder eigenständig ist, ist er immer noch siebzehn und würde seinen Kopf liegen lassen, wäre er nicht mit seinem Körper verwachsen.

»Wann hat sie denn gesagt, dass sie kommt?«

»Mitte der Woche.«

Ich sollte sie anrufen und nachfragen. Falls sie auftaucht, kann ich zum Kulturmarkt gehen und Süßes holen. Dadurch sollte sie mir keine fehlende Gastfreundlichkeit vorwerfen können. Sonst muss ich den Einkauf in die nächsten Tage quetschen, was nicht günstig ist, da mein Lieblingsladen häufig das, was meine Mutter oder ich mögen, nicht vorrätig hat. Dort muss ich mindestens eine Woche vorher bestellen, und mit mamas Vorgeschichte lohnt sich das meistens nicht.

»Hat Zelal die schon durchgeguckt?« Ich zeige auf den Stapel Prospekte.

»Sie hat sie Atlas regelrecht aus den Händen gerissen«, antwortet Yousef amüsiert.

Atlas ist der Vierte im Bunde und der Jüngste unter uns. Er ist vor zwei Jahren hergezogen, um Jura zu studieren. Deswegen bekommt man ihn nicht oft zu Gesicht – er verschmilzt mit dem Strafgesetzbuch.

Ich nehme den Stapel an mich und schmeiße ihn im Vorbeigehen in den Papiermülleimer, der neben der Tür steht. Falls mama sagt, dass sie nicht kann, dann fahre ich zum Markt und hole mir etwas. Verdient habe ich es nach diesem anstrengenden Semester allemal.

Socke liegt wie immer auf meinem Bett und breitet sich so aus, als würde es alleinig ihm gehören. Die weißen Pfoten lassen seine Krallen hervorblitzen, nachdem er sich streckt und mich mit einem leisen Miauen begrüßt.

»Mach mal Platz«, nuschle ich und lege mich aufs Bett zu ihm. Augenblicklich klettert er auf meine Beine, um es sich darauf gemütlich zu machen. Ich bin mir sicher, dass er mich die letzten Jahre vor einer hoffnungslosen Depression geschützt hat.

Aus dieser Position kann ich die Verfärbung an der Decke sehen. Die Wohnung über uns hatte vor ein paar Jahren einen Wasserschaden, und dieser hat sich auch in meinem Zimmer in Form von riesigen Wasserflecken verewigt. Der Vermieter will sich das erst anschauen, wenn Schimmel ein Problem werden sollte oder der Nachbar über mir in meinen Schoß fällt.

Ich hole mein Handy hervor und öffne die App, mit der ich meine Mutter anrufe. Sie sieht auf dem kleinen Bild neben ihrer Nummer glücklich aus. Richtig glücklich, mit einem breiten Lächeln, in der festen Umarmung meines Vaters. Ich stehe als Grundschüler vor ihnen, und mein Bruder liegt in ihren Armen. Es ist durch das Alter ausgeblichen. An den Ecken ist erkennbar, dass sie es von einem alten Filmfoto abfotografiert hat. Ich muss mehrmals blinzeln, bevor ich auf das Icon für den Videoanruf tippe.

»Talhah, habibi.« Ihr Lächeln schmerzt mich, denn es ist nicht echt. Seit den Sperrkontrollen an den Grenzen von Damaskus. Seit die Soldaten uns unser Haus nur gelassen haben, weil mein Vater Verletzte verarztet hat. Seit Assads letzter Rede, die Hoffnung in uns geschürt hat, dass die Unruhen ein Überbleibsel der Konflikte in den Nachbarländern wären. Dass sich bald die Supermarktregale füllen würden. Dass wir wieder in die Schule gehen dürften. Dass wir wieder ununterbrochen Strom hätten.

»Mama, wie geht es dir?«

»Gut, habibi. Und dir? Wie läuft das Studium?«, fragt sie auf Arabisch. Früher hätte sie mich dafür gescholten, dass ich sie mit ›mama‹ anspreche. Wir sind von klein auf mit Hocharabisch aufgewachsen. Es heißt ummi, nicht mama, hat sie immer gesagt. Mittlerweile akzeptiert sie auch die Umgangssprache, denn wir sind nicht mehr in Syrien. Ich studiere nicht in Damaskus. Und sie ist keine angesehene Anwältin mehr, deren sozialer Status einst ihre höchste Priorität war, sondern hat nach etlichen Tests und Tausenden Sprachkursen in Deutschland gerade noch eine Position als Rechtsanwaltsgehilfin bekommen. Deutsch spricht sie trotzdem selten mit mir.

»Wie immer …« Ich vergrabe meine Finger in Sockes Fell. »Anstrengend, aber ich komme durch.«

»Du machst das super.« Ihre Augen werden glasig, und die Unterlippe zittert wie eine Hiobsbotschaft, die ich nicht bekommen möchte.

»Mama –«

»Er wäre stolz auf dich«, flüstert sie, obwohl das genau die Worte sind, die ich nicht hören wollte. Die durch mein Trommelfell schießen und mich gedanklich Blut kotzen lassen. Die Worte, die mehr wehtun als eine Stichwunde direkt ins Herz. Die tödlicher sind als eine solche.

»Ich weiß.« Meine Stimme bricht, und der sonst so starke Ton, wenn ich Arabisch spreche, verfällt der Hoffnung eines kleinen Jungen, der vor zehn Jahren jeden Tag seine Mutter gefragt hat, wann sein Vater wiederkommt. Wann er wieder mit ihm Fangen spielt und ihm dabei hilft, ein Pflaster auf das aufgeschürfte Knie zu kleben.

Sie schnieft und fährt sich mit den Fingern unter die Augen. »Ich halte dich nicht länger ab. Arbeitest du weiter an deiner Doktorarbeit?«

Ich nicke schwach.

»Du schickst sie mir, wenn du fertig bist, ja?«

»Mache ich.« Ich muss mehrmals blinzeln, bis die Tränen nicht mehr brennen. »Kommst du am …« Ich halte inne.

Mittwoch. Ich will Mittwoch sagen. Auf Arabisch. Aber meine Lippen bleiben versiegelt. Was war verdammt noch mal Mittwoch auf Arabisch? Warum fällt es mir nicht ein? Mir fehlen doch sonst keine Wörter. Nicht bei stinknormalen Gesprächen.

Mein Hirn sucht jegliche mentalen Sprachkataloge ab. Alles fällt mir ein – Affe, Regal, Sonne, Ofen. Aber an der Stelle, wo Mittwoch stehen sollte, herrscht gähnende Leere.

»Ich weiß noch nicht, ob es klappt«, antwortet meine Mutter, jedoch bin ich Lichtjahre entfernt. Warum fällt mir Mittwoch nicht ein? Verdammt. »Ich habe wieder viel auf der Arbeit zu tun, und Maliks Schule hat auf meine Bitte, ihn für drei Tage abzumelden, nicht reagiert.«

Immer dieselbe Antwort. Ich hätte nichts anderes erwarten sollen. Wütend kann ich trotzdem nicht sein. Sie kann nichts dafür, dass sie das Gefühl hat, sich nicht freinehmen zu können. Hotels in Berlin sind auch nicht billig und schon gar nicht für zwei Personen. Sie will sich wahrscheinlich nicht in mein Zimmer quetschen. Sie sagt immer, dass sie mich nicht einengen und mich von der Uni ablenken wolle. Dabei löst die Enge die Klaustrophobie aus, die sie in einer der vielen Geflüchtetenunterkünfte entwickelt hat. Das erste Geschenk Europas an uns.

»Okay, kein Problem. Sag einfach Bescheid, wenn es klappen sollte.« Ich schenke ihr ein Lächeln, das genauso gefälscht ist wie ihres. »Sonst komme ich irgendwann nach Hause.«

Sie nickt. »Mach das. Wir haben dich sowieso vermisst.«

Ich auch. Wenn Berlin eins bieten kann, dann Ablenkung von all den Trümmern, die ich mit mir herumschleppe, als wären wir zusammengeschweißt. Als würden sie mich am Leben erhalten, während ich eigentlich drohe wie eine Porzellanpuppe unter ihrer Last zu zerbrechen.

»Uhibbuki«, sage ich auf Hocharabisch, um von meinem völligen Unwissen abzulenken. Wenn mama wüsste, dass ich einfache Wörter vergesse, würde es sie unnötig traurig stimmen.

»Ich liebe dich auch, Talhah.«

Sie winkt mir kurz zu, bevor der Bildschirm dunkel wird und wieder auf meinen Startbildschirm springt. Die bunten Apps verblassen vor meinen Augen. Ich setze mich auf, um mich auf den Weg zum Markt zu machen. Wenn ich jetzt liegen bleibe und mich, wie nach jedem Gespräch mit meiner Mutter, in meiner Trauer suhle, dann wird Zelal wieder versuchen, mir eine Therapie aufzuzwingen. Als hätte ich nicht genug Therapiestunden hinter mir, die insgesamt fünf Kinder hätten heilen können.

»Talhah?«, ruft jemand laut aus dem Flur.

»Ja?« Ich stehe auf, sammle meinen Jutebeutel und die Kamera ein und nehme das Portemonnaie an mich, das auf dem Keyboard neben meinem Schreibtisch liegt.

»Gehst du auf den Kulturmarkt?«

Atlas reißt die Zimmertür auf. Er ist adrett gekleidet und schiebt seine runde Brille das Nasenbein hoch.

»Hatte ich vor, ja.« Ich schultere die Tasche und richte meine Haare, bevor ich nach dem Kohlstift greife und meine Augen umrande.

»Kannst du mir künefe mitbringen?«

Ich drehe mich mit einem halben Lächeln zu ihm. »Klar, aber nur, wenn du es auch beim richtigen Namen nennst: knafeh.«

Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Was auch immer. Ist doch eh dasselbe.«

»Willst du es vom Türken?«

»Bitte!«

Die Süßspeise aus dünnen Teigfäden, zwischen denen Käse liegt, beträufelt mit kaltem Zuckersirup, könnte theoretisch die fünfte Mitbewohnerin sein. Ich sollte für die ganze Truppe was mitbringen.

Zelal sagt immer, dass sie knafeh besser zubereiten könne, da das Gekaufte kalt sei. Bis jetzt muss sie das noch unter Beweis stellen. Die Idee, die Zutaten einzukaufen, verwerfe ich, nachdem ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen habe. Sie würde mir den Kopf abreißen und eine Ausrede herbeizaubern, warum sie heute eben nicht kann.

Da ist mir kalter knafeh lieber.

FÜNF | BEŞ

Evren

»Kannst du den Salat durchmischen?« Meine Mutter schaut nicht einmal von ihrem Multigrill auf, ich nicke trotzdem. Sie weiß, dass ich es machen werde. Dafür bin ich schließlich am Morgen um sechs aufgewacht.

Die Kälte heute ist beißend und die Leute auf dem Flohmarkt noch weniger gesprächig als sonst. Normalerweise soll alter Krempel verkauft werden, aber Weddinger haben den wöchentlichen Markt in ein kleines Kulturfest verwandelt. Alle Farben des Stadtteils konzentrieren sich sonntags auf dem großen Parkplatz eines Kaufhauses. Das letzte Mal habe ich mich mit vegetarischen Piroggen vollgestopft. Diesmal haben wir uns vorgenommen, arabische Süßspeisen mitzunehmen, weil mein Vater sich das gewünscht hat.

»Azra hat gesagt, dass sie vielleicht später kommen möchte. Nach dem Lernen.« Während meine Mutter auf Türkisch spricht, verdampfen Atemwolken in der Kälte. Sie hat unter der Woche schon genug gearbeitet, eigentlich sollte sie jetzt auf der Couch die Füße hochlegen. Aber jeder Cent zählt, also stehen wir hier, zwischen Hunderten Ständen, und verkaufen etwas Warmes. Das ist nicht das erste Mal, und wir sind manchmal auch zu dritt hier, wenn mein Vater neben der Arbeit im Imbiss Zeit hat. Man verdient genug, um den Einkauf der nächsten Woche zu finanzieren. Trotzdem sitzt dieser Knoten in meiner Brust, der schmerzt und sich nicht löst, bis wir in unserer Wohnung sind und meine Mutter erleichtert aufseufzen kann.

Als wir jünger waren, hat sie immer davon erzählt, dass es bald vorbei sein werde. Dass wir es schaffen werden. Raus aus unserer Miniaturwohnung. Raus aus Wedding. Ein Haus mit Garten. Zeit fürs Ausatmen.

Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich nicht die Luft angehalten habe. Wir haben das Schwimmen längst verlernt und ertrinken in uns selbst – erstarrt durch Panik.

Unmengen an Menschen wandern durch die Mittelgänge und an weißen Zelten verschiedener Verkäufer und Verkäuferinnen vorbei. Eine betagte Dame uns gegenüber versucht, altes Geschirr loszuwerden. Ihre fragile Figur und das Zittern bewegen mich beinahe dazu, ihren Stand mit dem wenigen Geld zu leeren, das ich bei mir habe.

»Evren, ich habe nur noch wenig Füllung. Ich glaube, wir sind nicht mehr allzu lang hier. Das ist auch unser letzter Salat.« Meine Mutter betrachtet unsere wenigen verbliebenen Vorräte, die von einem lukrativen Tag erzählen. Wir haben uns die Finger wund gearbeitet, indem wir lahmacun gebacken und verkauft haben. Die türkische Pizza mit einer scharfen Hackfleischfüllung ist auf solchen Veranstaltungen sehr beliebt. Und ich konnte auch gut essen, also sollte ich mich vielleicht nicht beschweren.

Ich nicke, und meine Mutter richtet lächelnd ihr grünes Kopftuch, das etwas nach vorne gerutscht ist. Ich habe es ihr mit meinem ersten Gehalt gekauft, das ich bei der Post verdient habe. Es ist mittlerweile ausgefranst an den Enden, aber sie wehrt sich gegen jegliche Empfehlung, es endlich wegzuschmeißen.

»Wenn du möchtest, kannst du dir auch die Stände anschauen? Den Rest erledige ich.«

Ich schüttle den Kopf und umfasse die Schüssel vor mir, woraufhin sie mit einer wegwerfenden Handbewegung reagiert. »Geh schon, kuzum, dann kannst du auch baklava für uns kaufen. Ich schaffe das. Los.«

Sie ist eine determinierte Frau, ist immer fest überzeugt. Wie ein Felsen – man kann sie nicht wegbewegen. Ich bin mir sicher, dass sie es deswegen hinbekommen hat, uns großzuziehen und dabei nicht vollkommen zu ertrinken. Ihre Stärke wird sichtbar zwischen den Lachfalten, die sich neben ihr trauriges Lächeln graben, zu dem sie sich trotz jedweder Umstände bewegen kann. Wird deutlich durch die Kraft, die sie aufbringt, um jeden Tag aufzustehen und weiterzumachen, obwohl das Schicksal sie schon mehrfach unter sich begraben hat.

»Hadi.« Sie zeigt mit ihrer Zange außerhalb unseres Sonnenschutzes, der heute als Regenschirm dient.

Ich lasse meine Schultern hängen, aber trete trotzdem vor unseren Tisch. Sie wird darauf beharren, also bringt es nichts, sich zu wehren. Vielleicht finde ich auch ein paar Schnäppchen, bevor die meisten ihre Stände abbauen und nach Hause fahren.

Die Unterhaltungen der Menschen um mich gleichen einem Zirpen, sind freudig und verschwimmen zu einem unverständlichen Geräusch – vielleicht verlerne ich nicht nur das Reden, sondern das Verstehen. Meine Welt ist nichts als Watte, in die ich gepackt bin, durch die ich nichts sehen kann. Es gibt keine Gefahr, die zu mir dringt und meine Realität auf den Kopf stellt.

Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als mir klar wurde, dass mein Bruder nicht zur Arbeit gefahren ist. Dass er seit vier Tagen nicht aufzufinden ist. Dass er wirklich verschwunden ist. Spurlos.

»Onurs Mailbox ist voll. Ich komme nicht mehr durch.« Die Stimme meiner Mutter zerbricht wie die Vase auf dem Couchtisch, die mein Vater hilflos zerschlagen hat. Die Glasscherben verteilen sich auf dem Laminatboden, der an manchen Stellen längst aufgeplatzt ist. Ich grabe meine Zehen in den Teppich unter mir. Es pikst. Ich sollte meine Füße wegziehen. Aber bei mir kommt nichts weiter als ein Sausen in den Ohren an. Der Schmerz ist eine Illusion, doch mein Körper kreischt.

Zieh deine Füße weg. Blut. Mailbox. Schmerzen. Glas. Voll. Verwirrung. Onur ist weg. Nicht auffindbar.

Ich dachte immer, Verlust fühlt sich viel eindringlicher an. Viel knalliger. Wie ein riesiges Loch mitten in der Brust. Dabei ist es nichts weiter als Splitter in den Fußsohlen.

Einschneidend, kraftraubend und so verdammt schwer herauszubekommen.

»Sie haben gesagt, dass der Blitz manchmal nicht funktioniert. Können Sie nichts am Preis machen?«

Die Stimme reißt mich aus meiner Trance, und ich befinde mich wieder mitten in Berlin auf dem Flohmarkt. Das Rauschen um mich verwandelt sich in laute Stimmen, und das Klirren verschiedener Gegenstände dringt an meine Ohren.

»Ich kann mit dem Preis nicht noch weiter runtergehen. Das geht echt nicht.« Der entrüstete Verkäufer kreuzt die Arme.

»Warum nicht?« Talhahs Stimme fühlt sich wie ein Eimer eiskaltes Wasser an, der über meinen Rücken gekippt wird. Er steht unweit von mir vor dem Stand und hält sowohl eine Tüte von einem syrischen Süßspeisenstand als auch die Kamera in den Fingern, um die er feilscht. Sein Kopf ist schief gelegt, und die Belustigung auf seinen Lippen ist unübersehbar. Natürlich macht es ihm Spaß, die größte Nervensäge zu sein. Sogar auf den Berliner Straßen. Er kann nicht aus dieser Stadt sein, sonst wüsste er, dass man für so eine Albernheit schnell eins aufs Maul bekommt.

»Junge, ich habe dir schon den niedrigsten Preis gegeben. Falls es dir nicht passt, kannst du gerne woanders einkaufen!« Der Mann lehnt sich vor und greift nach der Kamera, aber Talhah macht einen schnellen Schritt nach hinten und schnalzt mit der Zunge.

»Ich bin mir sicher, dass wir uns auf einen Preis einigen können.« Er dreht die Kamera in seinen Händen. Es interessiert ihn gar nicht, dass die Leute ihn anstarren, während sie an ihm vorbeigehen. Wie ist ihm so etwas nicht unangenehm? Ich schäme mich für ihn.

Vielleicht sollte ich verschwinden. Er soll mich nicht sehen. Er wird versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln, und das ist das Letzte, was ich heute will: eine Unterhaltung, in der ich kein einziges Mal den Mund öffnen werde.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und knalle mit voller Wucht in ein älteres Ehepaar. Die Schulter des Mannes landet in meinem Gesicht, sofort zieht sich ein schriller Schmerz von meiner Nase über mein Stirnbein. Mein Kopf pocht blitzartig, und meine Hände fliegen vor mein Gesicht – viel zu spät, um es vor Schaden zu bewahren.

»Pass doch auf!« Die Frau kreischt mir direkt ins Ohr, und ich weiß nicht, was schlimmer zu ertragen ist. Ihr Geschrei oder meine Nase.

Ich möchte mich entschuldigen, sagen, dass es nicht beabsichtigt war und dass ich doch nur vor einem Jungen abhaue, der hartnäckiger als die Kaffeeflecken auf meiner weißen Jeans ist. Aber ich kann nicht. Wie so oft kann ich einfach nicht.

Die Frau guckt mich mit wutverzerrter Miene an, und der Mann, der mich um einen Kopf überragt, massiert seine Schulter. Ich setze einen entschuldigenden Gesichtsausdruck auf, bevor ich mich zwischen ihnen durchquetsche und verschwinde.

Ich fliehe.

Wie immer.

SECHS | ALTI

Evren

Seitdem ich nicht mehr spreche, vermisse ich das Singen. Ich habe so viele Songs geschrieben. Über meine Schwester, die mir meine Kleidung gestohlen hat, weil sie auch trendy sein wollte. Über meinen Bruder, der nicht mehr da ist und eine trauernde Familie hinterlassen hat. Über meine erste Liebe, die mich nur komisch angestarrt hat, obwohl ich ihm voller Mut meine Gefühle gestanden habe. Ich habe mit Musik verarbeitet. Es hat mir geholfen, mit meinem Leben umzugehen, bis es nicht mehr … funktioniert hat. Nicht einmal das Komponieren hat sich zwischen meinen Fingern angenehm angefühlt. Irgendwann habe ich mich gefragt, wofür ich noch weiter Lieder schreibe, wenn ich sie nicht singen kann.

»Was zeichnest du da?«

Ich rücke mit dem Stuhl vom Schreibtisch weg, damit Azra einen Blick auf das Blatt werfen kann. Ich bin lange nicht so gut im Malen, aber es ersetzt das Singen bis zu einem gewissen Grad.

Ein verzerrtes Portrait aus groben und klobigen Linien starrt mit aufgerissenem Mund und schmerzerfüllten Augen in den Himmel. Die Kohle in meiner Hand färbt meine Fingerspitzen längst schwarz.

»Nichts gegen dich, aber ich werde immer depressiv, wenn ich mir deine Kunst anschaue.«

Mit zusammengezogenen Brauen schaue ich hoch zu meiner Schwester, die sich über meine Schulter beugt und ihre Capri-Sun schlürft.

Als sie meine zusammengepressten Lippen bemerkt, zuckt sie unschuldig mit den Schultern. »Ich meine ja nur.« Ihre Wärme verschwindet aus meinem Rücken, und sie geht auf ihr Bett zu, in das sie sich fallen lässt. Dabei vergräbt sie ihre Prinzessin-Lillifee-Bettwäsche unter sich. Jene, die sie von mir hat und mit neunzehn noch immer nicht loslassen kann.