Leb wohl, Mister Chips - James Hilton - E-Book

Leb wohl, Mister Chips E-Book

James Hilton

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Beschreibung

Als Mr Chipping, von seinen Schülern liebevoll »Chips« genannt, in den 1930er-Jahren in Rente geht, zieht er nur auf die gegenüberliegende Straßenseite. Brookfield ist ein durchschnittliches englisches Internat für Jungen, nicht mehr und nicht weniger, aber für den Latein- und Griechischlehrer Mr Chipping war Brookfield sein Leben. Wenn er bei der Hausherrin Mrs Wickett am Kamin sitzt, kommen ihm so viele Erinnerungen, dass er manchmal überlegt, ein Buch zu schreiben. Aber muss all das anderen nicht gewöhnlich erscheinen? Mr Chipping erinnert sich an Zeiten, als es noch keine Elektrizität an der Schule gab und ein »Lampenjunge« zur Belegschaft zählte, und an die ersten Fahrräder. Tausende Gesichter ziehen vor seinem inneren Auge vorbei. Viele seiner Schüler hat er überlebt, sie sind im Krieg gefallen. Als junger Mann war Mr Chipping an einer Schule wegen mangelnder Disziplin gescheitert, fortan versuchte er, sich mit einer Aura der Strenge zu umgeben - bis er die lebensfrohe Katherine kennenlernte, die seine milde, humorvolle Seite zum Vorschein brachte. Trotz ihres Tods nach nur vier Jahren Ehe hat er sich ihren warmherzigen Blick auf die Welt bewahrt. Dass er keine eigenen Kinder hat, bedauert Mr Chipping nicht - Generationen liebten ihn. Wie viel mehr kann man bewirken, was sonst sich vom Leben wünschen?

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Seitenzahl: 89

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James Hilton

Leb wohl, Mister Chips

Roman

Aus dem Englischen von Manfred Allié

Kampa

1

Wenn man in die Jahre kommt (aber nicht krank ist, das nicht), ist einem bisweilen sehr schläfrig zumute, und die Stunden scheinen dahinzuziehen wie träge Kühe durch eine Landschaft. So war es für Chips, als das Herbsttrimester seinen Gang nahm und die Tage kürzer wurden, bis man tatsächlich zum abendlichen Appell schon das Gas anzünden musste. Denn Chips, wie ein alter Käpt’n auf See, maß seine Zeit noch nach den altbekannten Begriffen, und das nahm nicht wunder, denn seine Wohnung bei Mrs Wickett lag gleich gegenüber der Schule. Schon seit gut zehn Jahren lebte er dort, seit er seine Stelle als Master endgültig aufgegeben hatte; und statt der Greenwich- hielten er und seine Wirtin sich eher an die Brookfield-Zeit. »Mrs Wickett«, rief er etwa, mit seiner hohen, schnarrenden Stimme, die immer noch ziemlich rüstig klang, »Sie könnten mir vor dem Silentium ein Tässchen Tee bringen, seien Sie so nett.«

Wenn man in die Jahre kommt, sitzt man gern am Kaminfeuer und trinkt ein Tässchen Tee und lauscht der Schulglocke, wie sie zu Abendessen, Appell, Silentium und zum Schlafengehen läutet. Nach diesem letzten Glockenschlag zog Chips stets die Uhr auf; dann stellte er das Gitter vor den Kamin, drehte das Gaslicht aus und ging mit einem Kriminalroman zu Bett. Selten las er mehr als eine Seite, so schnell und friedlich kam der Schlaf, eher wie bei einem Mystiker, der in einen höheren Bewusstseinszustand übergeht, als durch spürbaren Wechsel in eine andere Welt. Denn seine Tage waren wie seine Nächte von Träumen erfüllt.

Er war nicht mehr der Jüngste (aber nicht krank, das nicht); ja, Doktor Merivale sagte, im Grunde fehlte ihm gar nichts. »Mein lieber Freund«, pflegte Merivale, wenn er ungefähr alle vierzehn Tage vorbeischaute, bei seinem Glas Sherry zu sagen, »Sie sind besser dran als ich. Über das Alter, in dem die Leute all diese schrecklichen Krankheiten bekommen, sind Sie hinaus; Sie werden einer der wenigen Glücklichen sein, die tatsächlich eines natürlichen Todes sterben. So Sie denn überhaupt sterben. Sie sind ein solches Prachtexemplar, da weiß man nie.« Aber wenn Chips eine Erkältung hatte oder der Ostwind über die Fens fegte, nahm Merivale manchmal Mrs Wickett im Hausflur beiseite und flüsterte: »Passen Sie gut auf ihn auf, meine Liebe. Seine Bronchien … das ist eine Belastung fürs Herz. Eigentlich ist es nichts – nur Anno Domini, aber am Ende ist das die tödlichste Krankheit von allen …«

Anno Domini … das konnte man wahrlich sagen. 1848 geboren, fast noch als Krabbelkind mit auf die Weltausstellung genommen – nur wenige Lebende konnten das von sich behaupten. Ja, Chips erinnerte sich sogar, wie Brookfield zu Wetherbys Zeiten gewesen war. Es war ein Phänomen. Wetherby war damals ein alter Mann gewesen – 1870, leicht zu merken wegen des Deutsch-Französischen Krieges. Chips hatte sich auf die Stelle in Brookfield nach einem Jahr in Melbury beworben, wo es ihm nicht gefallen hatte, denn die Schüler hatten ihm viele Streiche gespielt. Brookfield hingegen hatte ihm gefallen, praktisch vom ersten Augenblick an. Er erinnerte sich an das Vorstellungsgespräch – ein sonniger Tag im Juni, die Luft erfüllt vom Duft der Blumen und vom Plick-Plock auf dem Cricketplatz. Brookfield spielte gegen Barnhurst, und ein Junge aus Barnhurst, ein rundlicher kleiner Bursche, hatte mit einem erstklassigen Hundert geglänzt. Seltsam, dass einem gerade so etwas so deutlich im Gedächtnis blieb. Wetherby selbst war ein sehr väterlicher, höflicher Mensch gewesen; er musste damals schon krank gewesen sein, der arme Mann, denn er starb noch in den Sommerferien, bevor Chips sein erstes Trimester begann. Aber die beiden waren sich begegnet, sie hatten miteinander gesprochen.

Oft überlegte Chips, wenn er bei Mrs Wickett am Kamin saß: Wahrscheinlich bin ich der letzte Mensch auf Erden, der sich noch lebhaft an den alten Wetherby erinnert … Ja, lebhaft; das Bild kam ihm häufig in den Sinn, jener Sommertag, an dem die Staubkörnchen in Wetherbys Studierstube getanzt hatten. »Sie sind ein junger Mann, Mr Chipping, und Brookfield ist ein altehrwürdiges Haus. Jugend und Alter verstehen einander oft gut. Legen Sie sich für Brookfield ins Zeug, und Brookfield wird sich dafür revanchieren. Und lassen Sie nicht zu, dass jemand seinen Schabernack mit Ihnen treibt. Wenn ich – ähm – recht verstehe, war Disziplin nicht unbedingt Ihre Stärke in Melbury?«

»So könnte man es sagen, Sir.«

»Machen Sie sich nichts draus. Sie sind noch so jung; hauptsächlich ist es eine Frage der Erfahrung. Hier bekommen Sie eine zweite Chance. Zeigen Sie Stärke, von Anfang an – das ist das ganze Geheimnis.«

Vielleicht war es das. Er erinnerte sich noch genau an die Qual, als er zum ersten Mal das Silentium beaufsichtigte; Sonnenuntergang im September, über ein halbes Jahrhundert her; ein ganzer Saal voller vorwitziger Barbaren, die sich gleich auf ihn stürzen würden, ihre legitime Beute. Seine Jugend, sein frisches Gesicht, der hohe Kragen, der Backenbart (seltsame Moden, die die Leute damals hatten), ausgeliefert fünfhundert unbändigen Raufbolden, für die ihre Hetzjagd auf den Neuen eine hohe Kunst war, ein aufregender Sport und auch eine Art Tradition. Jeder für sich genommen ein anständiger kleiner Kerl, aber zusammen, in der Meute, gnadenlos, durch nichts zu beschwichtigen. Die plötzliche Stille, als er seinen Platz auf dem Podest einnahm, die finstere Miene, die er aufsetzte, um seine innere Unruhe zu verbergen; die große Standuhr, die hinter ihm tickte, und der Geruch von Tinte und Bohnerwachs; die letzten blutroten Sonnenstrahlen, schräge Streifen durch die Buntglasfenster. Einer ließ einen Pultdeckel knallen – rasch, jetzt musste er sie alle überrumpeln; er musste ihnen zeigen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. »Sie da in der fünften Reihe – Sie mit dem roten Haar – wie heißen Sie?«

»Colley, Sir.«

»Sehr schön, Colley, Sie schreiben mir hundert Zeilen.«

Danach keinerlei Ärger mehr. Die erste Runde hatte er gewonnen.

Und Jahre später, als Colley Ratsherr in London war und Baronet und noch allerlei mehr, schickte er seinen Sohn (ebenfalls rothaarig) nach Brookfield, und Chips sagte zu ihm: »Colley, Ihr Vater war der erste Schüler, der von mir eine Strafe bekam, vor fünfundzwanzig Jahren, als ich hier anfing. Er verdiente es damals, und Sie verdienen es jetzt.« Was hatten sie da alle gelacht, und was lachte Sir Richard, als sein Sohn ihm die Geschichte im nächsten Sonntagsbrief schrieb!

Und wiederum Jahre später, viele Jahre danach, war der Scherz gar noch größer. Denn ein weiterer Colley hatte sich eingestellt – Sohn des Colley, der der Sohn des ersten Colley gewesen war. Und Chips sagte, seine Worte stets unterbrochen von den »Hmph«- und »Hmn«-Lauten, die ihm mittlerweile zur Gewohnheit geworden waren: »Colley, Sie sind – hmn – ein hervor- ragendes Beispiel dafür, wie sich – hmn – Traditionen vererben. Ich erinnere mich an Ihren Großvater – hmn –, der hat den Ablativus absolutus nie begriffen. Ein Dummkopf, Ihr Großvater. Und Ihr Vater auch – hmn –, an den erinnere ich mich ebenfalls – saß immer an dem Pult dort hinten an der Wand –, der war auch nicht viel besser. Aber ich glaube tatsächlich – mein lieber Colley –, dass Sie – hmn – von allen dreien der größte Dummkopf sind!« Brüllendes Gelächter.

Ja, es war schon ein Witz, dieses Altwerden, ein großer Witz – aber auf seine Art auch ein trauriger. Und wenn Chips an seinem Feuer saß und die Herbststürme an den Fenstern rüttelten, überkamen ihn Heiterkeit und Kummer häufig in solchen Wellen, dass die Tränen kullerten, und wenn Mrs Wickett dann mit seiner Tasse Tee hereinkam, wusste sie nicht, ob er gerade gelacht hatte oder geweint. Und Chips selbst wusste es auch nicht.

2

Jenseits der Straße, hinter einem Schutzwall aus uralten Ulmen, lag Brookfield, rostrot in seinem herbstlichen Mantel aus Klettergesträuch. Eine Gruppe von Gebäuden aus dem achtzehnten Jahrhundert rings um einen Innenhof, und dahinter die Sportplätze; dann kam das kleine Dorf, das ganz von der Schule lebte, danach die Weite des Fenlands. Brookfield war, wie Wetherby schon gesagt hatte, ein altehrwürdiges Haus; gegründet unter der Herrschaft von Königin Elisabeth als Lateinschule, hätte es mit ein wenig Glück genauso berühmt werden können wie Harrow. Ein solches Glück hatte es aber nicht gehabt; manchmal ging es mit der Schule aufwärts, dann wieder abwärts, zu einer Zeit war sie so sehr geschrumpft, dass es sie kaum noch gab, zu einer anderen brachte sie es beinahe zu so etwas wie Ruhm. In einer dieser erfolgreichen Zeiten, unter König Georg I., erneuerte man das Hauptgebäude, große neue Bauten kamen hinzu. Später, nach den Napoleonischen Kriegen und bis in die Mitte der viktorianischen Zeit, ging es wieder abwärts mit der Schule, nicht nur was die Zahl der Schüler, auch was das Ansehen betraf. Wetherby, der 1840 kam, stellte ihren Ruf halbwegs wieder her, aber die erste Liga erreichte die Schule nie. Aber sie war immerhin eine gute Schule der zweiten. Etliche angesehene Familien unterstützten sie; sie konnte unter ihren Absolventen eine beträchtliche Zahl von Männern vorweisen, die ihre Zeit geprägt hatten – Richter, Parlamentarier, Kolonialbeamte, ein paar Peers und Bischöfe. Hauptsächlich brachte sie allerdings Kaufleute hervor, Industrielle, Angehörige gehobener Berufsstände, mit einem guten Anteil an Landadeligen und Pfarrern. Es war die Art Schule, bei der Snobs, wenn die Rede darauf kam, bisweilen gestanden, ja, sie hätten den Namen wohl schon einmal gehört.

Aber wäre es nicht diese Art Schule gewesen, hätte sie Chips vermutlich nicht genommen. Denn Chips war im gesellschaftlichen wie im akademischen Sinne zwar ebenso respektabel, aber auch nicht herausragender als Brookfield selbst.

Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ihm das aufgegangen war. Nicht dass er eitel oder prahlerisch gewesen wäre, aber mit Anfang zwanzig war er doch auch nicht weniger ehrgeizig als die meisten Menschen in diesem Alter. Er hatte davon geträumt, es auf lange Sicht bis zur Direktorsstelle zu bringen, oder wenigstens zum Oberlehrer an einer wirklich erstklassigen Schule; erst nach und nach, nach mehreren vergeblichen Anläufen, hatte er eingesehen, dass er dafür einfach nicht gut genug war. Sein Abschluss zum Beispiel war nicht bemerkenswert, und er konnte, auch wenn er sich gut hielt und zusehends besser wurde, nicht unter allen Umständen für Disziplin sorgen. Er besaß kein Vermögen, seine Familie hatte keine nennenswerten Verbindungen. Um das Jahr 1880, als er schon ein Jahrzehnt in Brookfield war, sah er allmählich ein, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass er sich durch einen Wechsel noch würde verbessern können; aber zu ebenjener Zeit hatte es sich auch die Vorstellung, dass er einfach bleiben konnte, wo er war, in seiner Gedankenwelt bequem gemacht. Mit vierzig hatte er sich in seinem Leben eingerichtet, hatte Wurzeln geschlagen und war nicht unglücklich dabei. Mit fünfzig war er im Kollegium schon der Älteste und Weiseste, und mit sechzig, unter einem neuen, jugendlichen Schulleiter, da war er Brookfield – der Ehrengast, wenn die Ehemaligen sich zum Dinner versammelten, Berufungsinstanz bei allem, was mit Tradition und Geschichte von Brookfield zu tun hatte. Und im Jahr 1913