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In ferner Zukunft: Zwei Weltkatastrophen haben drastische Folgen für die Menschheit. Es gibt wenig Überlebende. Der Meeresspiegel stieg 150 Meter. Aufgabe der Gesellschaft ist Gesundheit und Ernährung zu sichern. Aaron lebt fast 5000 Jahre nach den Katastrophen in der Hafenstadt Elbtal. Intelligent, ideenreich und kooperativ, absolviert er im Kreise seiner Bruderschaft eine Ausbildung zum Forscher. Er ist neugierig auf die Einsätze und voller Hoffnung auf ferne Regionen und Abenteuer. Es gilt, Aufgaben zu erfüllen und Erfahrungen zu sammeln. Lehrreich, aber nicht immer einfach gestaltet sich das Leben im Forscherzentrum rund um Tierhaltung und Agrarwirtschaft. Gemeinschaft und Freundschaft aber werden unter dem Nachwuchs großgeschrieben. Und die Liebe kommt nicht zu kurz.
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0785-0
ISBN e-book: 978-3-7116-0786-7
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
1
Die Brüder
„Mach schneller, Strähne, du verschlechterst unsere Zeit bei der Wochenprüfung“, schreit Kater, vor Wut ganz rot im Gesicht. Er ist der Ungeduldigste in unserem Brüderkreis. Dabei kontrolliere ich nur, ob wir auch die optimale Strecke durch das Dickicht der Bäume und Sträucher nehmen und nicht ständig die falsche Route zum wiederholten Male laufen. Aber dafür ist Kater zu stur. „Nur vorwärtsstürmen und dann lange Hindernisse beiseiteräumen kostet uns zu viel Zeit“, sage ich und bleibe stehen. Locke, unser Geselle, gibt mir recht. Er schaut auf die Skizze, die wir vor der Geländewanderung erhielten. „Wir sollten einen anderen Weg nehmen. Wir müssen durch den Fluss, sonst kommen wir nicht auf den anderen Abschnitt der Route. Das wird der außergewöhnliche Teil der Prüfung sein. Das Wasser ist warm und nicht besonders tief. Wozu haben wir sonst die ganze Ausrüstung mitgeschleppt?“ Das passt Kater überhaupt nicht, seinen Spitznamen hat er nicht umsonst bekommen. Er scheut das Wasser wie die Katzen. Nase geht am Ufer voran, er ist der Größte und der Stärkste der Gruppe. Mit seinen 1,65 Metern überragt er uns alle um fast 20 Zentimeter. Er bringt das Seil sicher durch das schnell dahinfließende, brusttiefe Gewässer zum anderen Ufer. Wir ziehen uns teils schwimmend, teils gehend mit unserer Ausrüstung hinüber, dabei das Gezeter vom Kater lächelnd erduldend. Geduld und Denken sind nicht seine Stärke, doch leider folgen einige Brüder ihm oft kommentarlos, nur aus Furcht vor seinen hinterhältigen Angriffen. Denken und Kombinieren sind nicht seine Stärke, deshalb ist auch er nicht der Geselle unseres Brüderkreises, sondern Locke.
In meinem Brüderkreis werde ich Strähne genannt, weil ich schon immer eine helle Strähne in meinem sonst dunklen Haar habe. Meine Namensnummer ist die B 621.3.4. B für Bruderschaft, 621 für das Jahr des Bestehens des Zentrums, 3 für das Viertel im Geburtsjahr und 4 die Nummer in der Bruderschaft. Jeder Brüderkreis besteht meist aus zehn bis zwölf Kameraden, es gibt vier Brüderkreise pro Jahrgang. Pro Jahr gibt es vier Viertel, Spring, Summer, Herfst und Winter.
Jeder Saal hat bis zu 15 Brüder, die zwischen dem ersten und zweiten Geburtstag ins Brüderzentrum kommen und bis zum Beginn des 18. Lebensjahres alle Aufgaben und Probleme miteinander teilen. Nach der Abschlussprüfung startet jeder in sein Berufsleben. Die Brüder bleiben danach die meiste Zeit ihres Lebens in einer Wohngemeinschaft verbunden.
Locke ist am Ende des Prüfungstages sauer, er ist der Klügste unter den Brüdern und mit dem Ergebnis der Abschlusstests aus körperlichen und geistigen Aufgaben nicht zufrieden. Die vermeintliche Stärke bei den körperlichen Aufgaben unserer Gruppe hat sich nicht bewahrheitet. Kater hat mit seiner Dickköpfigkeit für Zeit- und Teamstrafen gesorgt und bei den geistigen Aufgaben, wie erwartet, total versagt. Im Grunde ist es ihm egal, er möchte nach der allgemeinen Ausbildung in der Bruderschaft zu den Beschützern, bei denen der Intellekt nicht das Wichtigste ist.
Locke hingegen möchte zu den Wissenschaftlern. Nach der geringen Punktzahl der Bruderschaft muss er dafür in eine Extraprüfung.
Meine Stärke ist die Kombinationsgabe, ich bin neugierig und überlege gründlich, bis ich mich zu einer Aktion entschließe.
Ausbildung und Sport füllten die Tage und Jahre. Die Freizeit war knapp, jeder sollte sie jedoch nach seinen Interessen möglichst sinnvoll verbringen. Meine Wege führten mich oft in die Bücherei, die nur an wenigen Tagen in der Woche für mich zugänglich war. Es gibt nicht mehr viele Bücher, aus denen ich erfahren habe, was in der Vergangenheit auf der Erde passierte und wie es zu dem jetzigen Zustand und Leben kam. Diese Informationen führten zum Wunsch, eine Ausbildung zum Forscher zu machen. Die Ausbildung dauert zwar fast so lange wie bei den Wissenschaftlern, jedoch darf man die Stadt regelmäßig verlassen und lernt gelegentlich ferne Regionen und Städte kennen.
Wir leben im Jahr 1729 nach der letzten Weltkatastrophe in der Stadtregion Elbland, die sich von den Sandsteinfelsen im Süden bis zur Küste des Wattenmeeres im Norden erstreckt. Die zentrale Stadt mit nur wenigen sehr alten Gebäuderesten liegt im Tal des Flusses Elbe unter einer gigantischen Glocke aus Glasfasern, die uns vor Sturm, Regen und Hitze schützt. Die meisten Menschen leben unter der Erde in Tausenden Hohlräumen, die mit Wohnkammern versehen sind. Rund 2500 Individuen der Bruderschaften, Erzieher, Mediziner, Trainer und Ausbilder, wohnen bis zum Ende der Ausbildungszeit in einem unterirdischen Komplex mit Schulräumen, Sportzentren und Schlafsälen. Neben der Bruderschaft existieren die Schwestern, diese werden ebenso erzogen und ausgebildet wie die Brüder. Unter der Kuppel leben und wohnen rund 150.000 Menschen. Es ist das Technologiezentrum des nördlichen Europas und besitzt einen wichtigen Hafen für den Wirtschafts- und Personenverkehr.
2
Die erste Katastrophe
Vor rund 2500 Jahren explodierten nach einem gewaltigen Erdbeben an der Westküste Amerikas etliche scheinbar ruhende Vulkane.
Das Erdbeben und die folgenden Tsunamis verursachten enorme Zerstörungen, die Explosionen der Vulkane machten das Ausmaß der Katastrophe jedoch noch gewaltiger. Die Aschewolken dehnten sich über Tausende Kilometer aus. Ein paar Wochen nach den Ausbrüchen waren fast ganz Süd- und Nordamerika dick von Asche bedeckt. Das Stromnetz brach zusammen, die Wasserversorgung fiel aus, Plünderungen und Gewalt sorgten für Chaos, Millionen von Menschen starben durch die Aschewolken, verdursteten oder verloren ihr Leben durch Chaos und Gewalt.
Überlebende berichteten, dass die Menschen versuchten nach Norden, in die weniger betroffenen Gebiete Kanadas und Alaskas, zu fliehen. Rettung gab es für wenige Hunderttausende, die es bis dahin schafften, oder Glückliche, die auf Schiffen schnell das offene Meer erreichten und sich nach Europa oder Asien retten konnten.
Die Ausbrüche traten im Jahr 2481 nach der alten Zeitrechnung auf, in einer hochtechnisierten, friedlichen, von künstlicher Intelligenz und Robotern abhängigen, vernetzten Welt mit 5 Milliarden Menschen. Es gab Satellitensysteme, die die Menschheit weltweit mit Informationen versorgten. In Stützpunkten auf dem Mond und Mars lebten Tausende Menschen. Die Kontakte zu den Satelliten und Stützpunkten brachen wenige Stunden nach den Ausbrüchen komplett zusammen. Die Mondstationen konnten noch Informationen an den Mars senden, bevor sie sich auf die Erde zurückbegaben. Was aus den Marsstützpunkten geworden ist, blieb unbekannt. Durch den Ausfall von Satelliten war die weltweite Kommunikation gestört und Informationen über die fernen Ereignisse in kurzer Zeit nicht mehr zugänglich. Durch den Verlust unendlich vieler Daten brach die Technisierung in fast allen Lebensbereichen zusammen, und die einfachsten Sachen in privaten Bereichen und in zahlreichen zum Teil lebensnotwendigen Dingen konnten nicht mehr realisiert werden.
Wenige Wochen nach den Eruptionen machten sich direkte Auswirkungen in aller Welt bemerkbar. Die Sonne zeigte sich nur noch selten. Die Aschewolken verteilten sich über die Erde. Es kam für einige Jahrzehnte zu einer starken Abkühlung der Temperaturen in allen Ländern, mit drastischen Folgen auch für die Landwirtschaft.
Da kein Luftverkehr mehr möglich war, starteten einige Jahre nach der Katastrophe Expeditionsschiffe in Richtung Amerika. Sie fuhren von Europa und Asien die Küsten des Kontinents von Kanada bis nach Argentinien und Chile ab, um diese zu erkunden. In vielen Teilen Nord- und Mittelamerikas trafen sie keine Menschen mehr an. Nach ihrer Rückkehr berichteten die Schiffsbesatzungen von Geisterstädten, die meterhoch von Asche und Gestein bedeckt waren. Nur im äußersten Norden Amerikas und im Osten Südamerikas fanden sie Überlebende der Naturgewalt.
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Die zweite Katastrophe
Durch die Abkühlung wuchsen die Eismassen an den Polen und die Gletscher. Die Meere kühlten sich ab, was zusätzlich zu global starken Belastungen führte. Schwierige Jahre, mit weltweiten Missernten, sorgten für Hungersnöte, Aufstände gegen Regierungen und Fluchten in Regionen oder Länder mit scheinbar besseren Lebensbedingungen.
Es dauerte über vierhundert Jahre, bis sich die Situation allmählich stabilisierte und Regierungen mit geschlossenen Grenzen und Militäraktionen für Sicherheit in ihren Ländern sorgten. Vor allem in Ländern, in denen sich die Landwirtschaft besser und schneller an die Abkühlung anpassen konnte. Die Länder Mittel- und Südeuropas konnten dank fortschrittlicher Agrarwirtschaft die stark reduzierte Bevölkerung relativ stabil versorgen. Flüchtlinge aus Afrika und Asien wurden mit Gewalt am Eindringen in diese Zone gehindert.
Diese Informationen waren Teil unseres Unterrichts, sie führten jedoch nicht zu dem Leben und der Realität, in der wir jetzt leben. Das, was wir vor allem erzählt und gelehrt bekamen, passierte rund 800 Jahre nach den Vulkanausbrüchen in Süd- und Nordamerika.
Zwischen Asien und Australien entlang der indonesischen Inselkette brachen am Meeresboden eine Reihe von Vulkanen aus, die sich in den folgenden Jahrhunderten über den Wasserspiegel erhoben und Asien und Australien mit einer Landbrücke verbanden. Wurden die einzelnen Ausbrüche anfangs noch als recht harmlos registriert, sorgten die Zunahme der Ausbrüche und das Aufsteigen der Vulkane im Meer für Panik und weltweite Massenfluchten aus den Ländern der Küstenregionen. Länder und Städte wurden evakuiert und umgesiedelt. Höherliegende Staaten öffneten ihre Grenzen und versuchten Nachbarn und die eigene Bevölkerung unterzubringen. Am Ende der Ausbrüche war der Meeresspiegel fast 120 Meter höher als zu Beginn der Ausbrüche. So ist der aktuelle Stand seit über 1000 Jahren.
Das alte Europa liegt heute fast komplett unter Wasser. Ganze Regionen sind entvölkert, Städte und Dörfer wurden aufgegeben. England und Irland sind kleine Inseln mit geringer Bevölkerung und ebenso wie Skandinavien bergige Inseln im Ozean. Das Mittelmeer ist Teil des Atlantiks, dieser bedeckt große Landflächen Europas und Asiens bis ins ehemals Schwarze Meer. Ebenso sind weite Gebiete Afrikas vom Wasser überschwemmt. Der Pazifik ist durch die Landbrücke zwischen Asien und Australien vom Indischen Ozean getrennt und hat Japan, Neuseeland und Australien sowie die Küstenländer weit überflutet. Aus diesem Teil der Erde gibt es nur wenige Informationen, Warenaustausch über das Meer existiert kaum noch.
Große Metropolen und Länder verschwanden unter dem steigenden Wasserspiegel, Binnenstädte wurden zu Häfen für den Schiffsverkehr. Von diesen wird heute der überregionale Waren- und Personenverkehr gesichert. Der Hafen von Elbland ist somit ein wichtiges Zentrum für den Kontakt mit an Flüssen gelegenen Städten im Erzland oder im Energiebezirk an der Elster. Der Warenaustausch mit den nordischen Inseln Scan und Britannia sowie zu den östlichen slawischen Küsten erfolgt über den Hafen.
Bei Ebbe zieht sich das Wasser aus dem ehemaligen fruchtbaren Ackerland zurück und wird zum sächsischen Wattenmeer. Nur bewaldete Bergrücken erheben sich als grüne, spärlich besiedelte Inseln im flachen Meer.
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Mein Name ist Aaron
Zum Start eines neuen Jahres, das am Springvollmond, rund drei Monde nach der Wintersonnenwende beginnt, dürfen alle Brüder, welche im kommenden Jahr 18 werden, sich selbst einen Namen geben. Zusammen mit dem Geburtsjahr 621 haben wir dann unseren individuellen Rufnamen. Jeder bekommt die Möglichkeit, seinen Namen zu finden, er sucht sich diesen nach einem Vorbild aus oder einen, den er als wohlklingend empfindet. Kater findet Alexandros toll. Locke, unser Geselle, will in der Zukunft als Wissenschaftler arbeiten, Aksel ist seine Wahl. Als Forscher werde ich auf Erkundungen gehen und andere Regionen kennenlernen. „Mein Name ist Aaron“, verkündete ich vor unserer Bruderschaft bei der Namenszeremonie.
Nach der Zeremonie lernen wir unsere Ausbilder, Professoren, Meister und Teams kennen. Kater wird sogleich in seinem Trupp lautstark begrüßt. Die Beschützer sind militärisch organisiert, und ihnen obliegt die Aufgabe, das Zentrum und die Verkehrswege vor Wetterunbilden und technischen Ausfällen zu sichern.
Alle, die eine Ausbildung in den verschiedenen Wissenschaftszweigen absolvieren möchten, müssen sich in den nächsten Wochen verschiedensten Tests und Prüfungen stellen. Erst danach wird entschieden, in welche Richtung die Ausbildung geht. Zur Auswahl stehen Medizin, Erziehung, Forschung oder Konstruktion.
Ein großer Teil der Brüder sammelt sich bei den Handwerkern, Seeleuten und Pflegern, sie werden Monteure, Lebensmitteltechniker, Fischer, Matrosen, Kinder-, Kranken- oder Altenpfleger.
Eine kleine Gruppe formiert sich unter dem Banner „Forscher“. Ein Junge aus meiner Bruderschaft und vier weitere Brüder wollen ebenso Forscher werden. Ein älterer, muskulöser Mann stellt sich uns vor. „Ich bin für die nächsten fünf Jahre euer Meister. Mein Name ist Antes 599. Ihr werdet in den nächsten Jahren je einem erfahrenen Forscher zugeteilt, dieser wird euer Mentor sein. Ihr werdet ihn heute Abend ebenso im Forscherzentrum kennenlernen wie die Schwestern, die mit euch die Ausbildung beginnen“, überrascht er uns mit einer Neuigkeit. Bisher hatten wir noch nie Kontakt mit Schwestern jedweden Alters. Die ersten Monate unseres Lebens, in denen wir mit unseren Müttern lebten, sind nicht in unserer Erinnerung haften geblieben.
5
Im Forscherzentrum
Zu zweit gingen wir zu unserer Wohnkammer zurück, um uns umzuziehen und Schreibsachen für die Einweisung am Abend zu packen. „Ich bin so aufgeregt! Zum einen, weil wir Mentoren bekommen, und zum andern, weil wir Schwestern kennenlernen werden“, spreche ich Eric an, der mit mir in einer Kammer wohnt. Er wird eine Ausbildung als Erzieher beginnen. „Wir haben unsere Mentoren und Schwestern schon begrüßen dürfen. Wir sind vier Brüder und zehn Schwestern, die ab morgen früh für einen Monat in ein Camp ziehen“, erläutert er. „Zum ersten Mal nicht in der Bruderschaft schlafen. Du bist bestimmt sehr aufgeregt! Ich hoffe, du wirst dich nicht allzu einsam fühlen!“, freue ich mich für ihn.
Zusammen mit Bruder Haruki machen wir uns auf den Weg ins Forscherzentrum, es ist früh am Nachmittag, und die Sonne scheint durch die Kuppel. Es verspricht ein warmer Abend zu werden. Unterwegs reden wir aufgeregt darüber, was auf uns zukommt. Im Groben wissen wir zwar, was uns erwartet, aber wie schon die Überraschung mit den Schwestern, nicht im Detail.
Am Eingang erwartet uns schon Antes. „Folgt den Schildern mit der Aufschrift ‚Saal‘. Ich warte noch auf die anderen Schüler“, begrüßt er uns. Der teilweise unterirdisch befindliche Komplex liegt unscheinbar am Rand der Stadt. An einem Steilhang hängen Seile, und in einem Wasserbecken sind verschiedene Schwimmkörper, Boote und Balken befestigt. Die werden bestimmt für die Ausbildung benötigt. Wir folgen den Schildern und erreichen einen Saal, in dem einige Erwachsene und ein Mädchen in einem Kreis sitzen, in der Mitte ein Tisch mit einer alten Weltkarte. 21 Stühle zähle ich, von denen zehn schon durch Männer und Frauen besetzt sind. Jeweils ein Platz zwischen ihnen freibleibend. Wir stehen unschlüssig am Rand und warten ab, was auf uns zukommt. Zwei weitere Mädchen kommen in den Saal und stellen sich zu den anderen wartenden Mädchen. Kurz darauf kommt Antes in den Raum, gefolgt von einem Mädchen und vier weiteren Jungs.
„Guten Abend, Ausbilder, Mentoren und Schüler. Die Mentoren rufen einen Namen auf, und diese Person setzt sich links neben ihren Mentor. Danach starten wir eine Frage- und Gesprächsrunde. Ich bin Antes, ein Meister“, spricht er und geht zügig zu einem der freien Plätze. Kurz nachdem er seinen Platz erreicht hat, kommt eine Frau mit grauen Haaren in den Saal. Sie verbeugt sich zur Begrüßung und nimmt neben Antes Platz. „Mein Name ist Robinia, ich bin die Meisterin“, stellt sie sich kurz vor.
„Wie ihr bereits seit eurer Schulzeit wisst, ist die Hauptaufgabe unserer Ländergemeinschaft, die Gesundheit und die Versorgung der Menschen, die auf der Erde leben, zu sichern. Dazu gibt es vielfältige Kontakte mit den verschiedenen Regionen und Ländern, die sich miteinander verständigen, um optimale sichere Lebensbedingungen zu schaffen. Es sind vielfältige Entscheidungen durch Fachgremien, Hochschulen, Fachleute verschiedenster Gebiete von Landwirtschaft, Medizin, Technik und weitere Gremien notwendig, die sich treffen, um die Ziele Gesundheit und Ernährung überall zu verbessern“, erklärt Robinia.
Danach steht eine Frau auf, sagt: „Ich bin Agnes. Schüler Noah, komm bitte zu mir.“ So geht es weiter. Ein Mentor steht auf, stellt sich vor und nennt einen Namen. Ich komme zu Arved.
„Ich stelle Fragen, und Noah startet mit den Antworten. Möglichst kurz. Warum gibt es Forscher?“, fährt Antes fort. „Forscher haben in den Jahren nach den Katastrophen Nahrungsquellen und Rohstoffe gesucht und gesammelt, damit die Bevölkerung der Zentren Arbeit und Nahrung hatte. Heute pflegen, erneuern und suchen sie Kontakte und Ressourcen zu anderen Regionen und Ländern“, antwortet Noah. Arla soll die Rohstoffe benennen, die besonders gefragt waren. „Vor allem Metalle wurden aus den zerstörten Regionen und Städten geborgen und für die Verarbeitungszentren gesichert. Im Erzland befindet sich das Zentrum der metallischen Produktion unseres Technologiestandortes“, antwortet Arla auf die Frage. Melvin stellt die Energielieferanten vor: „Wasserkraft und Wasserstoff sind die Hauptquellen. Mit der Wasserkraft aus sechs Talsperren des Energiebezirks wird Strom gewonnen. Diese stehen an der Stelle oder neben Brücken, die Flüsse und Bäche bis zu 150 Meter hoch anstauen und mit gewaltigen Turbinen Energie erzeugen. Mit dieser Energie wird Wasserstoff gewonnen. Mit Wasserstoff werden Fluggleiter, Schiffe und die Technik in der Landwirtschaft angetrieben.“ „Sehr gut“, lobt Antes.
„Haruki, du kannst gleich was zum Thema Landwirtschaft beantworten. Was sind die Hauptnahrungsmittel?“, stellt Antes die nächste Frage. „Kartoffeln, Gemüse und andere Agrarfrüchte sowie Fleisch aus den benachbarten Regionen. Viele Gemüse meist aus den östlichen Ländern, Obst aus den südlichen. Es gibt Meeresfrüchte und Algen, die im Atlantik und im Leipziger Wattenmeer gefangen oder aufgezogen werden.“ „Aaron, du kannst gleich die Frage zu den Ländern beantworten, die sich auf der Erde befinden“, stellt Antes die nächste Frage an mich. „Länder bilden Regionen, die nicht überflutet sind. Wir leben in Germania. Es gibt in unserer Nachbarschaft Scan und Britannia im Norden, Slawien im Osten und Südosten, Mediterran im Süden bis Südwesten. Über den Atlantik die nördlichen und südlichen Inseln Grünland und Patagonia. African südlich des Atlantiks, jenseits von Mediterran. Und im Osten Slawiens schließt sich Asia an, das größte Land. Im Ozean im Osten von Asia gibt es noch große bewohnte Inseln, zu denen wir keinen Kontakt haben“, antworte ich. „Nach den Ländern zählt Rahul die Sprachen auf, die gesprochen werden“, wendet Antes sich an den nächsten. „Wir, Scan und Britannia, sprechen Baltic und haben in der Schule ein wenig Slawisch gelernt. In Slawien wird Slawisch gesprochen, in Mediterran Latin, in Grünland Franco und in Patagonia Latino, eine ähnliche Sprache wie in Mediterran. In African sprechen sie Africans, nördlich und südlich mit leichter Verschiedenheit. In Asia werden zwei Sprachen gesprochen, das östliche und westliche Asians“, antwortet er. „Richtig. Mila, welche Transportmittel stehen uns zur Verfügung?“, fragt er weiter. „In den Städten gibt es Roller für die individuelle Fortbewegung. Diese werden zum Teil mit Muskelkraft angetrieben. Für größere Lasten elektrisch angetriebene Roller und Wagen, die auf Gleitschienen fahren. Zwischen den großen Städten wie Prag und Elbland gleiten elektrisch betriebene Magnetschweber sowie kleine Gondeln für den Personentransport auf Hängeschienen, meist neben oder über den Flüssen. Für die Handelswege über Flüsse und das Meer gibt es Motor- und Segelboote, die auch mit Wasserstoff angetrieben werden. Mit Wasserstoff werden sowohl Fracht- und Personengondeln betrieben, die nicht an die Hängeschienen gebunden sind, als auch die Technik in der Landwirtschaft sowie Transportfahrzeuge für die länderübergreifende Versorgung“, so ihre Antwort. „Ricke, was weißt du über die Kontakte unseres Zentrums zu den anderen Städten und Ländern?“ „Elbland ist das technologische Zentrum von Germania, Scan und Britannia. Elbland ist über die Elbe und die Moldau durch den Moldau-Donau-Kanal mit den südlichen Ländern, die Mediterran bilden, verbunden. Mediterran liefert vor allem Lebensmittel, Scan metallische Rohstoffe, Britannia Fische und Waren aus Grünland. Aus Slawien erhalten wir Rohstoffe und Lebensmittel. Zu African und Asia gibt es wenig direkte Kontakte. Wir liefern Maschinen aller Art, Medikamente, chemische Produkte und Energie. Das südliche Germanien liefert viele tierische und pflanzliche Lebensmittel und alle Arten von Fahrzeugen“, zählt Ricke auf.
„Das war es fast. Sofia, was kannst du uns über unsere direkte Umwelt erzählen?“, schaut Antes die Schwester fragend an. „Bis auf große Flächen für die Landwirtschaft sind dichte Wälder dominierend, sie liefern unter anderem den Rohstoff für die chemische Produktion. Bekleidung und Medikamente werden daraus hergestellt. Flachs, Hanf und Jute werden für die Herstellung von Bekleidung angebaut. Das Meer liefert einen Teil unserer Lebensmittel“, äußert sie kurz.
„Sehr gut. Jetzt sind wir fast fertig und gehen von den Fragen zu den Gesprächen über. Ich möchte euch noch einen Rat für euren weiteren Weg geben: Ihr werdet zahlreiche Erlebnisse im privaten und im Berufsleben haben. Diese in einem Tagebuch niederzuschreiben, kann euch für euer Leben sehr nützlich sein, deshalb beginnt so zeitig wie möglich damit. Die Tischordnung wird jetzt aufgelöst, und ihr könnt euch mit den Schülern und Ausbildern unterhalten“, weist Antes in den Raum.
Auf einem Tisch stehen Wasser, Tee und kleine leckere Speisen. Ich schaue erst mal unsicher in die Runde. Als ich nach einem Becher greife, fasst im selben Moment eine Schwester nach diesem, wir zucken beide zurück und wissen nicht, was wir tun sollen. Sie ist genauso groß wie ich, hat lange braune Haare und ein offenes Lächeln im Gesicht. „Ich heiße Aaron“, stelle ich mich vor. „Ich bin Mila“, erwidert sie.
6
Die Einführung
Am nächsten Morgen müssen wir zeitiger als üblich aus unseren Kammern, um zur Ausbildungsstätte zu kommen. Zuvor waschen, mit den Brüdern essen und ausgiebig sowie lautstark die Erlebnisse des vergangenen Tages an die anderen Brüder weitergeben. Dass ich mit einer Schwester gesprochen habe, wird besonders nachgefragt. „Sie heißt Mila und hat lange dunkle Haare. Sie hat mich gefragt, warum ich Forscher werden will. Mehr haben wir aber nicht gesprochen“, breche ich die Fragerunde ab und starte ins Forscherzentrum.
Dort erwartet uns Robinia und führt uns in einen Raum mit vielen Büchern und Karten. „Setzt euch. Ich werde euch jetzt über euren Ausbildungsplan und die Themen berichten. Die Grundausbildung dauert drei Jahre. Danach seid ihr Anwärter und löst ein weiteres Jahr, begleitet von einem erfahrenen Forscher, Aufgaben, die an euch gestellt werden und die euch erwarten.
Ihr werdet jeweils fünf Monate in einem Fachgebiet ausgebildet, und im sechsten Monat erfolgen Wiederholungen der vorangegangenen Themen.
Der Tagesablauf beginnt wie heute neun Uhr. Bis zum gemeinsamen Essen gibt es je nach Fach Vorlesungen, technische Exkursionen, Aktivitäten in der Natur, körperliche Ausbildungen, Gesprächsrunden oder Teamarbeit. Alle Fächer werden in den Sprachen Slawisch, Latin und natürlich Baltic unterrichtet. Deshalb fangen wir im ersten halben Jahr mit den Sprachen an. Weitere Fächer sind Sprachen, Geschichte, Energie und Technik, Gesundheit und Lebensmittel, Länder mit Wetterkunde, Medizin, Natur und Landwirtschaft, Fahrzeugtechnik und Führung in den letzten Monaten. Ihr werdet Wassergleiter, Boote sowie Fahrzeuge steuern und reparieren. Sie sind für die Verbindung zu kleineren Regionen, die nicht an das Gleitschienensystem angeschlossen sind, notwendig.
Regelmäßiger Sport in der Gruppe sowie individuell je nach Neigung sind Teil der Ausbildung. Wir haben sowohl Mannschaftssportarten als auch Kampfsport, Klettern, Schwimmen und Ausdauerlaufen.
Nach dem Essen ist eine Stunde Ruhepause. Danach geht es weiter mit weiteren drei Stunden Ausbildung. Bis zum gemeinsamen Abendmahl sind Gruppenarbeiten die Regel. Diese können sowohl Wiederholungen der Tagesarbeit sein als auch frei gewählt werden. Sie dienen der Teambildung.
Das Essen um neunzehn Uhr nehmen alle Forscher, die aktuell im Zentrum oder in der Stadtregion sind, zusammen ein. Danach folgt ein gemeinsamer Austausch zum Kennenlernen bzw. zum Pflegen von Freundschaften innerhalb der Forscher.
Jetzt habe ich genug geredet. Gibt es Fragen?“, beendet sie die Vorstellung unserer nahen und fernen Zukunft.
Stille, keiner möchte seine Unsicherheit oder Neugier vor den anderen zeigen.
„Aus schüchternen und zurückhaltenden Schülern werden keine Forscher“, fordert sie uns zu mehr Aktivität auf. Haruki ergreift das Wort: „Werden wir Uniformen tragen, oder was für Bekleidung sollen wir in unserem Bruderkomplex anfordern?“, möchte er wissen.
Wir sollen kurze und lange robuste Hosen, dünne und dicke Shirts sowie regendichte Sommer- und Winterjacken bestellen. „Bestellt ausdrücklich für Forscher“, gibt sie uns einen Tipp. Die Farben und Muster können wir selber wählen.
„Bleibt es wie in der vergangenen Ausbildung, drei Tage gemeinsam lernen, einen Tag frei und dann wieder drei Tage Ausbildung?“, möchte Mila wissen. „Ja, im Prinzip. Da ihr von möglichst vielen Forschern Erfahrungen, Wissen und Praktika erhalten sollt, kann es passieren, dass ein Forscher mit besonderen Fähigkeiten sich kurz im Zentrum aufhält. Dann wird es so sein, dass ihr an mehreren Tagen mit ihm arbeiten und lernen dürft. Da fallen dann die freien Tage aus“, erklärt sie.
Die Mentoren, die uns aufgerufen haben, sind unsere direkten Ansprechpartner bei Problemen, unterrichten aber auch in verschiedenen Fächern. Es sind Forscher, die älter sind oder aufgrund von körperlichen Problemen nicht mehr oder nur für kurze Zeit auf Exkursionen außerhalb unseres Zentrums gehen. Als nach einer Reihe von Fragen wieder Ruhe eintritt, verlässt Robinia den Raum und kehrt mit einer jungen Schwester und einem älteren Bruder wieder in die Runde zurück.
7
Ein heikles Thema
„Das ist Andrey, er ist ein erfahrener Schlichter, und Schwester Pia, sie ist Ärztin im Medizinischen Zentrum“, stellt sie uns die Gäste vor. „Ihr habt in eurer bisherigen Ausbildung die biologischen Fragen unserer Fortpflanzung erfahren. Bis gestern waren Brüder und Schwestern getrennt. Mit der Ausbildung lernt ihr euch kennen, schätzen und auch lieben. Es entstehen Probleme und bisher unbekannte Situationen. Andrey und Pia werden euch einiges erklären und Fragen beantworten“, gibt sie das Wort weiter.
„In der Vergangenheit waren Frauen und Männer meist in häuslichen Gemeinschaften verbunden. Diese Zweckgemeinschaft nannte sich Ehe. In dieser Gemeinschaft wurden Kinder gezeugt, erzogen, versorgt und geliebt. Diese gingen später aus dem Haus und oft den gleichen Weg weiter. Nach den Katastrophen hat sich dies als uneffektiv erwiesen. Es wurden im Zentrum die euch bekannten Gemeinschaften und Regeln geschaffen. Schwestern und Brüder können erst nach Ende der Ausbildung sexuelle körperliche Verbindungen eingehen, aus denen ein Kind hervorgeht, meist im Alter von 22 oder 23 Jahren. Medizinisch wird geregelt, dass Beziehungen, die davor eingegangen werden, folgenlos bleiben, was Kinder betrifft. Sie dienen dazu, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, Sympathien und Zuneigung zu entwickeln sowie körperlich und geistig reifer zu werden“, spricht die junge Ärztin über ein Thema, das bisher voller Rätsel war.
Andrey fährt fort: „Es werden neue, enge, intensive und körperliche Kontakte und Beziehungen auch zwischen euch entstehen“, zeigt er auf uns. Wobei nicht nur mir, sondern auch den anderen Schwestern und Brüdern die Situation sichtlich unwohl wird. „Dabei haben meist die Schwestern eher ersten intimen Kontakt mit älteren Brüdern anderer Jahrgänge. Für Probleme, die aus Zuneigung, Distanz und Trennung entstehen, bin ich zuständig“, schildert er, was passieren kann und wird.
Uns wird immer unwohler. Alle schauen verstohlen in die Runde und begutachten die potenziellen Partner aus dem Augenwinkel.
Sprachlos sitzen wir da und erwarten die nächste schwer verdauliche Information. Sie folgt auch in der umfangreichen Ansprache von Pia: „Ihr fragt euch, wie das organisiert und kontrolliert wird. Es ist einfachste Biologie. Den Brüdern wurden, ohne ihr Wissen, in der Vergangenheit Substanzen ins Essen gegeben, die verhindern, dass es zu Konflikten kommt, und welche die diversen körperlichen Prozesse gehemmt haben. Diese wurden jetzt abgesetzt. Die Brüder werden in Zukunft kräftiger und leider manche auch aggressiv. Für die Schwestern ist es ein ganzes Stück anders. In einer gewissen Regelmäßigkeit können Schwestern Kinder empfangen. Dies wird bis zur Bereitschaft einer Geburt in Abstimmung mit den medizinischen Zentren hormonell geregelt. Schwestern in den meisten Teilen Europas, vor allem in den Städten, wird es mit entsprechendem Alter und Erfolg gestattet, Kinder zu bekommen. Sie suchen den Vater ihres Kindes aus, wozu sie beraten werden. So wird verhindert, dass dieser mit ihr verwandt ist. Sollten die Wahl und der Kontakt erfolgreich gewesen sein, zieht sie ins Mütterhaus. Dort erfolgt eine intensive Kontrolle bis zur Geburt des gesunden Kindes. In den ersten sechs bis acht Quartalen nach der Geburt bleiben die Mütter mit den Kindern im Mütterhaus, danach ziehen sie wieder zu ihren Schwestern“, erläutert sie. Die Schwestern sind unruhiger geworden und wollen mehr wissen.
„Wir kennen ja unsere Eltern nicht. Sind hier in der Gruppe Geschwister oder andere Verwandte dabei? Treffen wir Elternteile bei den Forschern?“, fragt Arla.
Robinia antwortet: „Nein. Es gibt keine Verwandtschaften in diesem Jahrgang und keine Eltern bei den Forschern. Bei den älteren Schülern gibt es Geschwister.“
Ricke möchte wissen, wie oft sich eine Schwester einen Vater sucht. „Das kommt auf den Erfolg und die Gesundheit des ersten Kindes an. Sollte es stark, klug und gesund sein, dann wird die Schwester informiert, und sie darf wieder einen Vater wählen“, erklärt die Ärztin. „Und dies bis zu ihrem 35. Lebensjahr.“
Ich möchte wissen: „Was heißt Erfolg bei den Schwestern, welche Rolle spielen die Brüder oder Väter?“ Andrey lächelt und erläutert: „Wenn du freundlich, erfolgreich und klug bist, wirst du als Vater eventuell ausgewählt. Es gibt nicht nur Forscherinnen, die dich auswählen können. Ihr habt in der Zukunft zahlreiche Kontakte zu den vielen Berufen, die ihr auch in der Ausbildung kennenlernt, ob Medizinerinnen, Technikerinnen, Erzieherinnen, Landwirtinnen und vieles mehr. Ihr habt dieselbe Chance auf Kontakte wie eure Schwestern, und ihr seid begehrt. Seid nett, höflich, fröhlich, seid besonders. Da ihr äußerlich wenige Unterschiede habt, müsst ihr intuitiv oder durch Beobachtungen erkennen, was die Schwestern mögen. Die Frauen bestimmen, wen sie auswählen, und das oft sehr deutlich. Ich habe vier Kinder, von drei Frauen.“ Man sieht ihm den Stolz an.
Pia schließt ab: „Es kommt auf die zu erwartende Gesundheit und Gene des Kindes an. Kräftig, gesund, klein sind unsere Merkmale, diese gilt es zu festigen.
Einschränkungen gibt es trotzdem, die Zahl der Individuen in den Zentren sollte nicht steigen, deshalb sind die Geburten abgestimmt mit der Zahl der Schwestern und Brüder, die uns im vergangenen Jahr verlassen haben. Entweder, weil sie gestorben oder aus dem Zentrum an andere Orte gewechselt sind.“
Mila fragt die Ärztin, ob sie ein Kind geboren hat. „Ich wurde bisher einmal durch die Gesundheitskommission ausgewählt. Aber der Bruder, welcher der Vater werden sollte, war zu jener Zeit nicht im Zentrum. Es klappt bestimmt in den nächsten acht Jahren noch mal. Dann vielleicht mit einem anderen Partner“, flüstert sie.
Robinia ergreift wieder das Wort: „Es ist Zeit zum Lunch. Nach der Rruhepause werden wir drei Runden bilden, zwei mit drei und eine mit vier Schülern“, informiert sie uns. „Wer bildet sie?“, fragt Noah. Wir sollen es als Gruppe entscheiden, erhalten wir zur Antwort.
8
Alles neu
Melvin hat die Idee: „Es sind weniger Schwestern als Brüder. Sollen sie wählen oder Lose ziehen.“ Alle stimmen ihm zu. Carlos und Melvin werden von Arla und Ricke gewählt. Haruki und Rahul von Mila, und ich mit Noah gehe zu Sofia.
Zum Essen führt uns Robinia in einen großen Saal, in dem junge und ältere Schwestern und Brüder bunt durcheinander sitzen, stehen, essen, trinken und reden. „Sucht euch einen Tisch, und stellt euch an der Essenausgabe an.“
Wir finden keinen großen Tisch und teilen uns auf. Ich gehe mit Sofia und Carlos zur Ausgabe. „Bin mal gespannt, was es hier zu essen gibt“, kommentiert Carlos, nachdem er Teller und Besteck an sich genommen hat. „Als Vorspeise ein Mus aus Algen, Kräutern und Nüssen. Hauptgericht Fisch oder Geflügel mit Algenbratlingen, zum Nachtisch einen Obstteller mit Rosinen“, erklärt uns die Schwester auf der anderen Seite des Ausgabefensters. Ich wähle Geflügel ebenso wie Carlos, Sofia nimmt Fisch. Das Essen ist wohlschmeckend, obwohl Sofia mäkelt, es wäre zu wenig gewürzt. „Während der Schwesternausbildung haben wir auch einen Kräutergarten gepflegt. Die Kräuter haben wir für unsere Speisen verwenden dürfen“, erklärt sie. Mir und Carlos schmeckt es, egal welche Gewürze am Essen sind oder nicht.
Wir warten ab, um zu erfahren, wo und wie wir die Ruhepause verbringen dürfen. In einem großen verglasten Saal sehen wir Liegen, Sessel und Hängesessel, die zum Ruhen einladen. In einigen liegen schon junge und ältere Forscher. Sie schauen kurz auf, um zu sehen, wer noch dazukommt. Am Eingang stand ein Schild, an dem mitgeteilt wurde, dass nach dem Gong keine Gespräche mehr geführt werden dürfen und für eine Stunde Ruhe herrschen muss. Unsere Gruppe sucht sich am Rande des Saales einige Liegen und Sessel. Ich nehme mir einen Hängesessel und beobachte die Forscher, die im Saal schlafen und meist dösen oder lesen. Es sind fast sechzig Schwestern und Brüder, die sich einzeln zur Ruhe begeben haben. Die meisten sind noch relativ jung und unter dreißig Jahre alt, maximal zehn sind älter als sechzig Jahre alt. Dabei halten sich deutlich mehr Männer als Frauen im Raum auf. Nach dem Gong schließt sich die Tür, und es ist total still, nur das gelegentliche Geräusch, wenn jemand seine Position ändert oder ein Blatt Papier gewendet wird, ist zu hören. Ein kräftiger Schnarcher kommt von einem älteren Forscher aus der Mitte des Raumes. Mich trifft der Blick von Mila, und wir müssen beide über das Geräusch lächeln. Da der Tag und die heutigen Informationen nicht leicht zu verarbeiten sind, döse ich ein wenig und schlafe augenscheinlich ein, bis mich der Gong und das einsetzende Gemurmel im Saal wecken. Wir sammeln uns vor der Tür und albern herum.
„Ich war gerade beim Einschlafen, als das laute Geräusch mich munter machte. Danach war ich wieder hellwach. Hat es dich auch geweckt?“, spricht mich Mila an. Ich verneine und erkläre, dass ich noch die Forscher im Saal beobachtet und mir Gedanken über die Infos vom Vormittag gemacht habe, weil diese mich sehr beschäftigt haben. „Wir Brüder haben uns bisher wenig Gedanken darum gemacht, woher wir kommen und wie es dazu kam“, erkläre ich. Mila bekommt ein rotes Gesicht und erklärt: „Das wurde uns schon relativ früh erklärt. Aber wie und wann Schwestern und Brüder sich finden und wählen, nicht.“
Optisch ähneln wir Brüder uns sehr, ebenso sind sich die Schwestern äußerlich sehr gleich. Die Größe ist fast identisch, die Schwestern haben längere Haare, und die Haarfarbe variiert ähnlich wie bei den Brüden nur um wenige Nuancen. Es gibt kaum welche mit schwarzen oder blonden Haaren, bei den älteren Brüdern habe ich einen Rothaarigen gesehen. „Nach dem Äußeren wird man den richtigen Partner wohl nicht finden. Er muss schon besonders sein“, träumt Mila vor sich hin. „Dazu haben wir aber noch einige Jahre Zeit“, antworte ich, während wir wieder in den Schulungsraum gehen.
Robinia und Georg begrüßen uns nach der Pause und fragen, ob das Essen geschmeckt hat und ob wir ausgeruht in den Nachmittag starten können.
„Stellt euch vor, ihr kommt aus Scan, Britannia, Mediterran oder Slavia in unsere Stadtregion. Was fällt euch auf, was gefällt und was gefällt nicht? Was ist besonders? Tauscht euch darüber in der Gruppe aus. Versucht das in der jeweiligen Sprache, so gut es geht. Nach vier Stunden erklärt ihr das euren Freunden zu Hause. Also hier natürlich den anderen Gruppen“, erläutert uns Georg die Aufgabe der nächsten Stunden. „Wo lösen wir die Aufgabe? Hier oder in der Stadt?“, fragt Haruki. Robinia und Georg beraten sich kurz und teilen uns mit, dass wir drei Stunden in der Stadt Eindrücke sammeln können und danach eine Stunde Zeit haben, diese aufzuarbeiten und präsentierbar zu machen. Wir machen uns alle auf den Weg in die Stadt, unser Zentrum liegt etwas über zwei Kilometer außerhalb flussaufwärts rechtsseitig. Wir Brüder laufen an unserer Unterkunft vorbei und treffen Kater aus unserem Kreis. Er macht kein glückliches Gesicht. „Ich bin nur zwei Minuten zu spät gekommen. Dafür wurde ich vom gemeinsamen Diner ausgeschlossen und musste mir etwas aus dem Wohnkomplex besorgen. Hier ist aber keiner. Ich habe nur ein wenig zu essen in meinem Quartier gefunden“, beklagt er sich.
Wir müssen weiter und trennen uns von den anderen Gruppen an der ersten Brücke. In der Nähe der Brücke befindet sich eine Schleusenanlage, welche wie viele andere zum Schutz vor Hochwasser aus den Bergen im Süden bzw. vor der Flut aus dem Norden die Elbe reguliert.
Nach der Brücke erstreckt sich eine große weite Fläche mit Sportplätzen und Obstbäumen. „Die haben wir in der Schulzeit genutzt und sind auf die Bäume geklettert“, erklärt Noah. Sofia staunt, auch die Schwestern waren auf der Wiese. „Augenscheinlich haben die Erzieher es genau so geregelt, dass wir uns nicht treffen konnten“, schlussfolgere ich. Wir laufen weiter den Fluss entlang. Große Steinbrocken aus Sandstein zeugen von vergangenen mächtigen Gebäuden. „Ich habe gelesen, dass hier die Altstadt begann, es waren Gebäude, die zum Schutz der Stadt errichtet wurden. Nicht vor dem Wetter, sondern vor feindlichen Mitmenschen“, gebe ich mein Wissen an in die beiden Mitstreiter weiter. Sofia erklärt uns, dass es noch Reste von großen Kirchen und prachtvollen Schlössern gibt, in denen vor über 3000 Jahren Fürsten und Könige lebten. Nur Steine und ein Brückenfragment sind noch erhalten. „Doch es gibt noch Kunstwerke aus dieser Zeit. Auf Bildern und in Büchern gibt es Zeugnisse. Die Originale sind wohl in einem Salzbergwerk im Süden Germanias gesichert aufbewahrt und werden nur selten öffentlich gezeigt“, weiß Noah. Ansonsten sind viele flache Gebäude zu entdecken, in denen zahllose Menschen ihrer Arbeit nachgehen, und es kreuzen verschiedenste automatisch gesteuerte Fahrzeuge unseren Weg, die abbremsen, wenn wir ihre Route stören.
„Lasst uns drei Roller nehmen. Damit kommen wir schneller voran und auch wieder zurück“, schlage ich vor. Die elektrisch betriebenen Roller sind nicht weit an einer Ladestation geparkt. Wir fahren, bis wir an eine Brücke kommen, die einen langsam dahinfließenden Fluss überquert. „Hier in der Nähe haben wir unsere letzte Teamprüfung mit der Bruderschaft absolviert. Dabei mussten wir mit Hilfsmitteln das Gewässer überqueren“, erkläre ich den beiden. Sofia erzählt, dass sie einige Tage mit ihren Schwestern klettern waren. Noah hat mit seinen Brüdern ein Floß gebaut und ist auf dem Fluss bis ans Meer gefahren.
Wir erreichen dank der Roller über eine weitere Brücke schnell das Forscherzentrum. Robinia und Georg empfangen uns und teilen uns mit, in welcher Sprache wir jeweils unseren Ausflug präsentieren sollen. Meine kleine Gruppe soll in Slawisch ihre Eindrücke schildern. Wir haben für die Vorbereitung jeweils eine Stunde Zeit.
„Slawisch – auch das noch, damit kann ich nichts anfangen! Mit Latin wäre es leichter“, klagt Noah.
„Da habe ich überhaupt keine Probleme. Die Sprache ist mir immer leichtgefallen“, beruhige ich ihn.
Wir sammeln unsere Eindrücke und versuchen uns in einen Gast hineinzuversetzen. „Einen positiven Eindruck hinterlassen die Sportanlage und die Obstgärten, aber insgesamt gibt es zu wenig Natur im Zentrum. Auch die alten Anlagen aus Sandstein könnten besser präsentiert und erklärt werden. Die Geschichte der Stadt würde uns ebenfalls interessieren“, schließen wir unser Resümee zusammen. Die Brücken und Wasseranlagen werden wir auch erwähnen, beschließen wir. Nach der Vorbereitungszeit gehen wir in die Halle zur Präsentation. Hier erwarten uns überraschenderweise nicht nur Robinia und Georg, sondern auch eine große Anzahl von Brüdern und Schwestern. Robinia erläutert: „Es sind Forscher und Zuhörer aus anderen Fachgebieten, die neugierig sind auf eure Erkenntnisse zum Zentrum.“ Ich entdecke Pia, die Ärztin, unter den Gästen.
Die erste Gruppe hat sich weiter bis zur nächsten Brücke bewegt. Sie präsentieren Eindrücke, die sie bemerkenswert fanden. Vor allem die Stauwerke und die Kuppel, die das Flusstal schützen, waren Teil ihres Vortrages in der Sprache von Mediterran. Wir waren als Nächstes an der Reihe. Noah und Sofia übertrugen mir das Präsentieren. Die wichtigste Aussage unserer Beobachtung wird die sein, dass es zu wenig Grünflächen in der Stadtregion gibt. Blumen und Insekten sind kaum anzutreffen. Bienenstöcke und Blühpflanzen könnten die Lebensqualität in der Region steigern. Honig wäre ein sehr willkommenes Nebenprodukt. Ebenso fänden wir Hinweise zu den Ruinen am anderen Ufer für Besucher hilfreich, um zur Stadtgeschichte zu informieren.
Die letzte Gruppe hat vor allem aus Sicht der Gäste aus Britannia die Wohnquartiere und den Fluss im Blick. Sie haben andere Lebensbedingungen und finden unsere durchaus interessant, aber nicht lebenswert. Auch die Luftqualität ist mangelhaft. Die Ein- und Ausläufe des Flusses sollten vergrößert und öfter voll geöffnet werden.
Die zuhörenden Forscher haben sich nach den Vorträgen zu einer Beratung zurückgezogen.
„Interessant, wie die anderen Gruppen die Aufgabe gelöst haben. Gibt es eine Beurteilung und wird die Gruppe überhaupt bewertet?“, fragt Noah, bevor es an die Diskussion geht.
„Jetzt wollen wir über die Ansichten der Gäste diskutieren“, eröffnet Robinia die Runde nach der Beratung der anwesenden Forscher. „Natürlich sind wir an Verbesserungsvorschlägen aus eurer Sicht besonders interessiert. Ideen, wie es besser gehen könnte, sind dabei hilfreich. Ihr seid die Zukunft des Zentrums und könnt es ändern. Oder wir gehen Änderungen jetzt gemeinsam an“, begrüßt uns Georg zur Diskussionsrunde, an der alle Zuhörer teilnehmen können. „Da die erste Gruppe keine Kritikpunkte erwähnt hat, fange ich mit einer Frage für Gruppe zwei an. Ihr möchtet mehr Grünpflanzen unter der Kuppel. Wie sollen diese bewässert werden?“, fragt Josefa. Wir beraten uns kurz, und Noah antwortet: „Die Obstbäume nahe der Spielwiese werden über ein Bewässerungssystem versorgt. Die Wege entlang des Flusses könnten bepflanzt und ebenso leicht aus dem Fluss bewässert werden. Mit Blumen, Kräutern und Blühsträuchern, aber auch Nutzbäumen werden Insekten angezogen und die Luftqualität unter der Kuppel verbessert sich“, sind wir sicher. Pia fragt überraschenderweise auf Slawisch: „Wie stellt ihr euch die Informationen zu den Gebäuderesten vor? In verschiedenen Sprachen?“ Ich antworte ebenso auf Slawisch: „Ich habe in den Medien Bilder über das Aussehen vor den Zerstörungen gesehen. Es waren beeindruckende riesige Gebäude. Die Bilder könnten mit Erläuterungen in verschiedenen Sprachen gezeigt werden“, antworte ich.
Alex wendet sich der Gruppe um Mila zu: „Was gefällt euch nicht an den Wohn- und Arbeitsräumen unter der Erde?“ Haruki antwortet: „Es war in der Vergangenheit notwendig, eine Möglichkeit zu finden, möglichst vielen Menschen Schutz vor dem Wetter zu bieten. Die Tunnel und Wohnkammern waren dabei eine aufwendige, aber langfristig gute Lösung. Mit dem Bau der Kuppel vor über 80 Jahren sind die Gefahren jedoch geringer geworden und die Lebensqualität hat sich deutlich verbessert.“
Mila ergänzt, wenn die Tore am Fluss für größere Schiffe geöffnet werden, spüre jeder sofort die bessere Luftqualität unter der Kuppel. Viele genießen die Zeit und erholen sich am Fluss.
„Danke für die Fragen und Antworten. Sehr interessante Ansätze, die morgen im Unterricht bei Antes weiter diskutiert werden und für die nach Lösungen gesucht wird“, beendet Robinia die Diskussion.
Anschließend lösen sich die Gruppen auf, und alle bereiten sich auf den gemeinsamen Lunch vor. Pia kommt auf mich zu. „Du sprichst sehr gut Slawisch. Hast du die Sprache gerne gelernt in der Schule?“, fragt sie.
„Mir ist das Lernen sehr leichtgefallen. Manches habe ich mir einfach durch einmaliges Hören merken können“, erkläre ich. „Dann hat mir unser Lehrer ein Buch besorgt. Das Lesen fiel mir sehr leicht. Und du?“, frage ich zurück. Pia erklärt mir, dass sie einen Teil ihres Medizinstudiums in Prag absolvierte. Prag als größte Stadt Europas hat eine sehr große Universität, wo viele Schwestern und Brüder ihre Ausbildung bekommen. Prag ist das wichtigste Handels- und Informationszentrum in Europa. Hier treffen sich die Händler, Forscher und Wissenschaftler aus Asien, Europa und Afrika zum Erfahrungsaustausch. „Es ist interessant, dass du so gut Slawisch sprichst“, sagt sie und schaut mich lächelnd an. Dann verabschiedet sie sich mit einem „Bis bald!“.
9
Erste Lektionen
Nach dem Essen halten wir uns noch einige Zeit im Zentrum auf, um gemeinsam den vergangenen Tag zu reflektieren.
„Wir kennen das Leben und seine Facetten in Elbland ja schon einige Zeit, aber bewusst mit fremden Augen die Stadt wahrzunehmen, war schon eine Herausforderung“, stellt Haruki fest. Wir stimmen ihm zu und sind gespannt, was uns die nächsten Tage erwartet. Jeweils nach dem Lunch in unserem Heim steuern wir das Zentrum an. Durch die Mentoren werden wir meist aufgeteilt und bekommen Aufgaben gestellt. Zum einen erhalten wir Information über Länder, Regionen oder Produktionsstätten, und es müssen Referate dazu ausgearbeitet werden. Zum anderen erfolgen auch körperliche Tests, neben Langstreckenwanderungen an der Küste und einer Wegsuche durch Wälder und Buschwerk zurück, haben wir Felsklettern in der Nähe des Ausbildungskomplexes erlernt. Dazu gehörte Knoten- und Technikkunde, welche uns Alex beibrachte. Mit Agnes zeigte er uns die Sicherung beim Klettern, die wir dann unter Anleitung mehrere Tage übten, bis wir selbstständig unter Aufsicht am Felsen klettern durften. Da das Wetter zum Anfang von Spring noch stürmisch und regnerisch war, sind wir ins Zentrum geflüchtet. Entweder an die sogenannten Kraftapparate, oder wir erhalten Material zum Studieren. An manchen Tagen lernen wir auch Forscher kennen, die uns ihre Aufgaben und Erlebnisse der vergangenen Jahre schildern. Meist sind es Fahrten nach Scan oder Britannia, die sich um die Beschaffung oder Nachforschung von Lebensmitteln oder Rohstoffen drehen, aber auch fernere Exkursionen nach Slawien oder Asia, welche über einige Jahre dauerten, wurden unternommen. Eine der Forscherinnen lebte eine Zeit lang in Asia in einer dörflichen Siedlung, in der die verschiedensten Tiere gezüchtet wurden. Ihr Ziel war es, einen Handelskontakt herzustellen, damit die Tiere als Nahrungsmittel nach Europa transportiert werden können. Durch ihre ersten Kontakte konnten Liefervereinbarungen getroffen werden, sodass Europa Landtechnik liefert und Asia über Flüsse die Tiere nach Mediterran transportiert.
Ein besonderes Erlebnis hatte ein Forscher, der in Britannia unterwegs war. Ein großes Schiff, das Maschinen nach Grünland bringen sollte, nahm ihn mit auf die Reise. Dafür sollte er in der Küche der Köchin helfen, was für ihn kein Problem und der Besatzung eine Freude war, da er während seiner Ausbildung und auch in seiner Zeit als Forscher oft kochen musste. Nach zwei Wochen Fahrt kamen sie in Grünland an. Während das Schiff be- und entladen wurde, nutzte er die Zeit, die Region zu erkunden und Kontakte herzustellen. Dabei erfuhr er, dass es in den südlichen Regionen des Kontinents, die lange von Asche bedeckt waren, durch die Länge der Zeit und starke Regenfälle zu einer Urbanisierung gekommen ist. Anfänglich nur durch Samen, die von Vögeln und Wind eingebracht wurden, aber zunehmend auch durch eine Neubesiedlung. So sind kleine Siedlungen und Flächen entstanden, wo Nahrungsmittel angebaut werden und es Bedarf an Landtechnik gibt. Er hat deshalb die Informationen nach seinem Aufenthalt genutzt, um für Britannia und Germania neue Ressourcen für die Ernährung zu erschließen. Durch diese Berichte wurden wir nur noch neugieriger auf unsere Ausbildung und zukünftigen Einsätze.
10
Bootsfahrt
Nach drei Wochen im Zentrum erfahren wir von Antes, dass wir im nächsten halben Jahr, aufgrund der zu erwartenden Wetterprognosen im kommenden Jahr – es sollte in Spring und Summer weniger stürmisch und nass werden –, neben den Sprachen Natur und Landwirtschaft (N/L) auf dem Lehrplan haben werden. Das werden wir für die Ausbildung unter freiem Himmel nutzen. Anschließend in Herfst und Winter folgt die Ausbildung in Energie und Technik, wobei wir wahrscheinlich schon im Wald und in der Landwirtschaft damit Kontakt haben werden.
Antes teilt uns in zwei Gruppen ein. Jeweils drei Brüder und zwei Schwestern bilden für das kommende halbe Jahr eine Gemeinschaft. Ich freue mich, dass Mila zu meiner Gruppe gehört. Georg wird unser Mentor sein, der uns begleitet. Josefa betreut die andere Gruppe.
„Die Gruppe von Georg geht zuerst in die Wälder und Berge südlich des Zentrums, die Gruppe um Josefa wird den Betrieb in der Landwirtschaft zwischen dem Zentrum und den Agrarflächen an der Mulde kennenlernen. Das jeweils für rund acht Wochen. Danach kommt ihr zurück und tauscht euch über das Erlebte aus. Für zwei Wochen bleibt ihr im Zentrum, könnt eure Bekleidung erneuern lassen, erholt euch und trefft Freunde. Dann wird gewechselt“, informiert uns Antes. Bis zum Lunch erhalten wir weitere Informationen, was wir für die Exkursionen benötigen. Wir bekommen Ausrüstungsgegenstände wie Lampen, Kompass, Taschenmesser und einen Rucksack. Unsere Gruppe wird am nächsten Tag mit einem Schiff bis kurz vor Slawien fahren. Dort wird uns dann ein Waldhüter abholen. Die Gruppe von Josefa steigt am Hafen auf ein Boot und wird bis zur Mündung der Mulde in das nördliche Meer am Ufer entlangsegeln und dann mit Landfahrzeugen abgeholt.
Es klingt alles sehr spannend, und wir schwatzen zur Pause durcheinander, sind alle aufgeregt und gespannt auf das Abenteuer, welches in den nächsten Wochen auf uns wartet.
Nach der Ruhepause ruft Georg seine Gruppe zusammen: „Da wir morgen Vormittag an der Anlegestelle in der Stadt auf das Schiff steigen werden, müsst ihr heute euer Gepäck packen und bei den Kleiderstuben zusätzliche Wäsche anfordern. Vor allem benötigt ihr Hosen, dünne Oberbekleidung, Unterwäsche, Regenjacken und feste Schuhe. Lasst euch auch Mützen geben, die kann man im Wald immer gut gebrauchen. Bettwäsche, Handtücher und Hygieneartikel bekommt ihr am Ausbildungsort. Sollte später etwas fehlen, finden wir eine Lösung“, ergänzt er. Nach der kurzen Ansprache entlässt er uns mit der Zeit des Treffpunkts. Wir sollen nach dem Lunch mit der kompletten Ausrüstung an der Anlegestelle bereit sein. Unsere Gruppe verabschiedet sich und tritt den Weg in die Zentren an. In den Kleiderstuben bekommen wir unsere Ausrüstung. „Ich wünsch euch trockenes Wetter. Wir hatten schon Gruppen, die verschlammt und erkältet von ihrer ersten Exkursion zurückgekommen sind“, verabschiedet uns der Bruder nach der Ausgabe. In der Unterkunft versuche ich alle Teile in den Rucksack zu bekommen. Rein, raus, rein, raus. Das wird nix. Noah kommt in meine Unterkunft. „Hast du auch Probleme beim Packen? Ich werde morgen mehrere Sachen übereinander anziehen, ansonsten bekomme ich das niemals in den Rucksack“, teilt er mir mit. Nachdem ich fast am Verzweifeln war, werde ich es auch so machen. Als alles verpackt ist, was nicht überzuziehen ist, hat der Rucksack ein erhebliches Gewicht. Und es liegen noch Sachen auf meinem Bett, die ich morgen zusätzlich anziehen werde. Das zweite Paar Schuhe binde ich auf den Rucksack und mache mich fertig für den Schlaf. Es dauert lange, bis ich einschlafe, und ich wünsche mir, dass Eric, mein Bruder aus der Schlafkammer, anwesend wäre, um mit ihm über meine Aufregung reden zu können. Aber er ist als Erzieher auch auf einer Exkursion. Nach einem unruhigen Schlaf werde ich vom Weckton des Brüderquartiers aus dem Schlaf gerissen. Waschen, anziehen, Lunchen und die übrigen Sachen über die übliche Kleidung ziehen, und dann mache mich zu Noah auf den Weg.
„Ich kann kaum laufen mit dem Turm auf meinem Rücken. Ich denke jeden Moment, dass ich umkippe“, erklärt er lachend, und wir machen uns auf den Weg zur Anlegestelle. Kurz davor treffen wir Melvin, der ebenso bepackt ist wie wir. Die Schwestern überraschen uns mit ihrer Lösung. Sie haben ihre Rucksäcke und das weitere Gepäck auf einen Roller gebunden und schieben diesen. „Auf die Idee hätten wir auch kommen können. Aber wir plagen uns lieber mit den Rucksäcken ab. Das habt ihr clever gemacht“, sage ich zu Mila. „Nachdem wir nicht alle Sachen in die Rucksäcke bekommen haben, hatte Sofia die Idee. Sie hat einen Roller geholt, und ich habe für uns noch zwei Taschen organisiert. So haben wir alles verstaut und mussten es auch nicht tragen“, erläutert sie und freut sich augenscheinlich über mein Lob.
Georg kommt, fast ebenso bepackt wie wir, und begrüßt uns freundlich.
„Wie ich sehe, habt ihr euch Gedanken gemacht, wie ihr das Gepäck transportieren könnt. Fein. Jetzt warten wir auf das Boot, das vom Nordmeer über die Elbe, Moldau und Donau bis an die Hungarische See fahren wird. Von Hungar aus fahren dann Schiffe über das Binnenmeer bis an den Atlantik. Im Karpatengebirge gibt es eine lange kurvige Meerenge, die kompliziert zu durchfahren ist. Danach ist man nach 20 Tagen Schifffahrt von Elbland am großen Meer. Von dort kann man Mediterran, Afrika und Ostasien erreichen. Cray ist der größte Hafen, von dem wir auch Waren aus den südlichen Ländern erhalten. Aber heute fahren wir nur wenige Stunden“, macht er uns Hoffnung auf ferne Regionen und Abenteuer.
Parallel zum Fluss verläuft eine Schiene, an der man mit einer Hängegondel vom Meer bis nach Prag fahren kann; bis zu 20 Personen passen in diese Gondel, mit der man schon in zwei Stunden in Prag ist. Sie fährt dreimal am Tag hin und wieder zurück. Nur für dringende Angelegenheiten kann man sie nutzen, erfahren wir von Georg.
Als das drei Etagen hohe und lang gestreckte Boot sich nähert, haben sich zahlreiche Menschen am Ufer versammelt. Den Sprachen nach Slaven, einige aus Mediterran und African. Georg erklärt uns, dass wir reservierte Plätze auf der obersten Etage haben. Das Gepäck bleibt auf der Ebene des Einstiegs. Wir gehen die zwei Etagen nach oben und stehen im Freien. Rund 15 Meter über dem Wasserspiegel bietet sich ein ungewohnter Anblick auf unsere Stadt. Wir finden unsere Plätze am Rand, mit Blick nach unten auf das Wasser und Ufer. Drei Reihen mit je zwei Plätzen sind für uns. Melvin mit Georg sind vorn, dann Mila und Sofia, Noah und ich sitzen hinter den Schwestern. Mit einem kurzen, sehr intensiven Ton beginnt das Boot sich vom Ufer zu lösen und fährt Richtung Schleuse, um aus der Stadt zu fahren. Es nähert sich langsam der Ausfahrt, und dann sind wir plötzlich vor der Glocke. Es ist nicht das erste Mal, dass wir außerhalb sind, aber bisher sind wir immer zu Fuß und nicht weit unterwegs gewesen. Mit einem Boot sind wir noch nie gefahren. Es ist toll. Seit einiger Zeit bestimmt Spring das Klima, und alles wächst und blüht, und es riecht nach Spring. So habe ich das noch nie erlebt. „Bist du auch so aufgeregt und begeistert?“, frage ich Mila, die vor mir sitzt. Sie wendet sich um, und ich sehe in ein glückliches Gesicht mit Tränen in den Augen. „Ich bin so fasziniert, es ist wunderschön“, strahlt sie mich an. Ich bin leicht verlegen und kann gar nicht gleich antworten. Ich bestätige ihr, dass dies auch mein Eindruck ist, und sehe auf die Natur, die langsam und gemächlich vorbeizieht.
„Wir werden in drei Stunden ankommen. Dort wartet der Betreuer und Waldhüter, er bringt uns in den Stützpunkt, wo wir die nächsten Wochen untergebracht werden. Lasst euch überraschen. Ich freue mich sehr darauf“, unterbricht Georg meine Gedanken und lächelt nach seiner Ansprache. An einem kleinen Ort hält das Boot, und es steigen eine Reihe von Fahrgästen aus und auch neue wieder ein. Am Ufer stehen auf Stelzen flache Häuser am Hang. Davor verschiedene Fahrzeuge, die wahrscheinlich der Landwirtschaft dienen. Dies bestätigt auch Georg nach meiner Frage. Es werden in der Nähe Kartoffeln und weitere Bodenfrüchte wie Rüben und Gemüse angebaut. Auch Obstbäume und Beerensträucher gibt es entlang des Tales. Das Tal schützt die Kulturen und Bäume vor Stürmen und Gewittern. Auf der weiteren Fahrt nimmt der Wind zu. Die Haare von Mila wehen mir immer wieder ins Gesicht. Es ist nicht unangenehm, deshalb frage ich sie, ob ich ihre Haare einmal anfassen darf. Etwas verwirrt fragt sie, warum. „Ich kenne nur kurze Haare. Lange Haare haben wir erstmals bei den Schwestern gesehen. Ich finde sie sehr schön und möchte wissen, wie sie sich anfühlen“, antworte ich. „Ja, du kannst sie anfassen, aber nicht ziehen, das tut weh“, gestattet sie mir, es zu tun. Bisher waren nur einzelne Strähnen in meine Richtung geweht, jetzt hat sie ihre kompletten langen Haare über die Sitzlehne gelegt. Ich nehme sie in meine Hände und fahre den Haaren entlang. Weich und glatt fühlen sie sich an, auch riechen sie nach etwas Aromatischem, was ich nicht zuordnen kann. Ich lasse die Haare durch die Finger gleiten und achte darauf, dass ich nicht zu grob daran ziehe.
Nachdem ich die Haare gefühlt habe, möchte ich ihr über den Kopf streicheln. Zuerst traue ich mich nicht, aber nach einigem Zögern mache ich es doch, um zu sehen, was passiert. Mila richtet sich kurz auf, als ich ihr mit der Hand über den Kopf streichele. Sie beschwert sich nicht, also wiederhole ich es noch einige Male. Noah beugt sich nach vorn und flüstert Sofia etwas ins Ohr; sie schüttelt mit dem Kopf, woraufhin sich Noah zurücklehnt und die vorbeiziehende Landschaft beschaut.