Leben unter Menschen - Gerhard Rüter - E-Book

Leben unter Menschen E-Book

Gerhard Rüter

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Beschreibung

Unforgettable, eine Whippet-Dame aus dem Hause Powerfight mit weizenblondem Fell, dunkelbraunen Augen und einem Faible für italienische Amarettini, taugt nicht für die Rennbahn – sie ist einfach zu groß. Als Allroundtalent findet sie aber ihren Weg und genießt ihr Leben mit ihrem Herrchen Georg. Doch am Dellenbacher Ochsenweg geschehen merkwürdige Dinge. Und das beschauliche Leben als Bewegungstherapeutin, Seelentrösterin und Langzeitkameradin beginnt zu wanken, als die Tierärztin Dr. Roth in ihr Leben tritt. Als ihr Mensch nämlich aus persönlichen Gründen länger ins Ausland muss, zeigt diese ihr wahres Gesicht und eine abenteuerliche Reise nimmt ihren Lauf. Dass Unforgettable alias Mücke alias Beauty in allen Lebenslagen eine wahre Akrobatin ist, zeigt sich, als sie auf Josita trifft …

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-949263-91-0

ISBN e-book: 978-3-949263-92-7

Lektorat: Dr. Angelika Moser

Umschlagfoto: Irmgard Muhr

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

Innenabbildungen: Irmgard Muhr

www.vindobonaverlag.com

Erstes Kapitel: Wie alles seinen Anfang nahm

Das Meer war nach einem Unwetter tags zuvor noch nicht wieder zur Ruhe gekommen. Es schien, als wollte mich die gesamte Costa Blanca mit tosendem Applaus als neuen Erdenbürger begrüßen.

Wir Welpen hatten schon seit Tagen mit Ungeduld darauf gewartet, endlich ins Freie zu gelangen. Sie machen sich ja kein Bild davon, lieber Leser, wie eng es im Innern eines Whippets zugeht. Das hat zweifellos mit der windschnittigen Körperbeschaffenheit meiner Rasse zu tun: Lang gestreckte Gliedmaßen, enger Rumpf und daher kaum ein Plätzchen, wo man es sich mal hätte gemütlich machen können im Bauch unserer Mutter. Ständig saßen einem die Geschwister im Nacken. Ich meine diese andauernden Knuffe und Stöße durch irgendwelche Pranken.

Dann endlich nach neun Wochen Tragzeit machte es unerwartet Plopp, und ein paar Schrecksekunden später landete ich in der Wurfkiste, weich gepolstert und mit jeder Menge Platz.

Noch blind wie ein Maulwurf, dafür aber schon mit einem vorzüglichen Geruchssinn ausgestattet, robbte ich auf dem kürzesten Weg in Richtung Milchbar. Dort suchte ich mir die beste Zitze aus und saugte mich fest. Ich hatte Glück, denn als erstgeborener Welpe hatte ich noch die freie Auswahl.

Im Abstand von zehn bis zwanzig Minuten folgten dann fünf weitere Geschwister.

Rosie, unsere Züchterin, war meiner Mutter während der letzten Stunden nicht mehr von der Seite gewichen. Sie half Jane beim Abnabeln und unterzog uns einer ersten knappen Begutachtung. Farbe, Geschlecht und solche Sachen eben, die für Menschen offenbar wichtig sind. Vorsorglich hatte Rosie bereits eine Hühnerbrühe aufgesetzt. Aus langjähriger Erfahrung wusste unsere Züchterin, dass Jane nach den Strapazen des Werfens dringend eine Stärkung brauchen würde.

Nach dem sechsten Welpen legte unsere Mutter eine Pause ein. Rosie war nicht sicher, ob noch Welpen nachfolgen würden. Jedenfalls wollte sie die Pause nutzen und nach der Hühnerbrühe sehen. Währenddessen sollte Sam, Rosies Gatte, die Aufsicht über das Geschehen in der Wurfkiste übernehmen.

Nach etwa zwanzig Minuten kehrte Rosie zurück. Sie entdeckte den leblosen Körper sofort. Er lag zu Sams Füßen und steckte noch halb in der weißbläulich schimmernden Geburtshülle. Sam hatte den Unglücksraben vorsorglich zur Seite gelegt.

„Es gab noch einen Nachzügler“, grummelte Sam. „Aber leider hat der Kleine es nicht mehr lebend geschafft.“

Rosie stutzte. Eine Totgeburt? Das war in all den Jahren ja noch nie vorgekommen.

„Der Welpe hat plötzlich bewegungslos dagelegen“, rechtfertigte ihr Gatte sich. Ratlos blickte er auf den leblosen Welpen. Aber Rosie kannte ihren Gatten, wenn Sam in seine Zeitung vertieft war und über seinen Kölner Fußballclub daheim in Deutschland las, dann vergaß er Ort und Zeit. Vielmehr machte sie sich nun Vorwürfe, dass sie Sam überhaupt mit der Aufgabe allein gelassen hatte.

Sie hob den Welpen vom Boden auf und nahm ihn in beide Hände.

„De Jung war mausetot, als er kam“, rief Sam. Auf keinen Fall wollte er sich jetzt zum Sündenbock abstempeln lassen.

Statt etwas zu erwidern, streifte Rosie die Geburtshülle vollends von dem Nachzügler ab, öffnete das Mäulchen und befreite es von Schleim. Es traf Rosie mitten ins Herz, als das Köpfchen des Hündchens kraftlos von ihrer Hand herunterbaumelte. Intuitiv begann sie den kleinen Körper abzurubbeln. Wahrscheinlich tat sie dies aus reiner Gewohnheit. Rosie hatte schon mehr als ein Dutzend Niederkünfte ihrer Hunde miterlebt und war sehr erfahren im Umgang mit Neugeborenen.

Sie betrachtete den Unglücksraben jetzt genauer, währenddessen massierte sie das Bäuchlein und den Rücken des Welpen weiter. „Et wär e lecker Mädche jeworde“, stellte sie betrübt fest.

Nach einer Weile hatte Rosie jedoch das vage Gefühl, als ob der kleine Körper sich leicht zu straffen begann. Hatte sie sich getäuscht oder war da tatsächlich ein kurzes Zucken in ihrer Hand zu spüren gewesen? Anscheinend ging die Fantasie schon mit ihr durch, denn tatsächlich wünschte Rosie sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass das Leben in den winzigen Körper zurückkehrte.

Sam verfolgte argwöhnisch, wie Rosie sich mit dem Hündchen abmühte. Schließlich hielt sie den Neugeborenen dicht an ihr Ohr und lauschte. Pochte da nicht ein winziges Herz? Plötzlich hatte Rosie den Eindruck, als ob der Welpe atmen wollte. Beherzt öffnete sie erneut das Mäulchen, damit Luft eintrat. „Dranbleiben, meine Kleine“, flehte Rosie im Stillen, obgleich sie kaum an das Wunder glauben mochte. „Dranbleiben, du bist ein echtes Powermädel, du kannst es schaffen.“

Und plötzlich durchfuhr ein erstes Zucken den schlaffen Körper in ihrer Hand. Rosie triumphierte. Nein, das war keine Einbildung, da meldete sich tatsächlichLebenin dem Winzling. „Weiter so, weiter so“, flüsterte sie dem kleinen Wesen zu und es klang wie eine Beschwörung.

Schließlich hob sich das Köpfchen des Welpen, wenn auch zitternd und nur für einen kurzen Moment. Anschließend kam der erlösende Augenblick, wo ein eigentümlicher Grunzer zu hören war. Der Welpe atmete, er hatte sich tatsächlich ins Leben zurückgekämpft.

Sam blickte von seiner Zeitung auf. „Wie zum Henker hast du das geschafft?“, fragte er ungläubig. Er sah, wie der Welpe sich vorsichtig zu regen begann. „Kannst du neuerdings Tote auferwecken?“

Rosie lächelte. „Tote nicht, aber Totgeglaubte. Im Übrigen hätte ich etwas mehr Begeisterung von dir erwartet. Unsere Kleine hat soeben das Match ihres Lebens gewonnen.“

Vergessen der Groll darüber, dass Sam den Welpen voreilig zur Seite gelegt und sich nicht mehr um ihn gekümmert hatte. Sam hatte die Situation schlicht falscheingeschätzt.

Besagte Ereignisse habe ich logischerweise nicht mitverfolgen können, damals. Aber erzählen ließ ich mir die Geschichte viele Male, denn natürlich war der Vorfall nicht unbemerkt geblieben von meiner Meute und hatte große Wellen geschlagen.

Unterdessen fühlte ich mich wie im siebten Hundehimmel. In unserer Wurfkiste war es kuschelig warm, ich brauchte bloß das Maul aufzusperren, schon floss die Milch in Strömen. Frei nach der Devise: All you can drink. Gerade auf die Welt gekommen, bestand unser junges Leben einzig aus Trinken, Schlafen und Verdauen, denn natürlich musste die Milch irgendwie ja auch wieder heraus.

Für die nächsten Wochen wurden die Milchquellen unserer Mutter zum Dreh- und Angelpunkt meines kleinen Universums. Wären da nicht die Geschwister gewesen, es hätte auf ewig so weitergehen können, wenn Sie mich fragen. Aber die Sache war so: Kaum hatte mich das Schicksal ins Leben katapultiert, entbrannte auch schon ein erbitterter Streit um die besten Plätze am Buffett.

Mit der Liebe unter Geschwistern ist das nämlich so eine Sache. Denn jeder von uns trachtete nach den besten Startbedingungen ins Leben. Jeder wollte die ergiebigste Zitze mit der leckersten Milch ergattern. Familiäre Nestwärme war da nur bedingt angesagt.

Zum Glück gab es acht Zapfstellen an Mutters Brust, doch nicht jede Zitze schmeckte gleich gut. Ich persönlich neigte zu Milch, die noch nicht allzu abgestanden war. Deshalb drängelte ich jeden Rivalen mitleidlos beiseite, um an meiner Lieblingszitze zu nuckeln. Dabei galt das Recht des Stärkeren. Zweifellos ein genetisches Überbleibsel unserer wölfischen Vorfahren. (So viel zur geschwisterlichen Nähe.)

In Wahrheit schlummerte ganz tief in uns drinnen das Raubtier aus grauen Vorzeiten mit all seinen wilden Instinkten und Reflexen.

Was ich sagen will: Mit dem Tag unserer Geburt war das ersteund alles entscheidende Rennen bereits eingeläutet. Der Lebenswettkampf, den wir Geschwister gegeneinander führten, war längst voll entbrannt. Für sensible Gemüter eine traumatische Erfahrung, das kann ich Ihnen sagen. Aber dies gehört vermutlich zu den gängigen Untiefen eines jeden Hundelebens. Ich fürchte, da müssen wir Fellnasen wohl durch.

Wer beim Säugen zu spät kam oder herumtrödelte, hatte das Nachsehen. Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man diesen beinharten Wettbewerb alsSurvival of the Fittestbezeichnen würde. Die Gesetze der Natur kennen keine Kompromisse. Gutmütigkeit und Mitleid sind gefühlige Erfindungen des Menschen.

Tatsächlich hatte ich binnen kürzester Zeit gelernt, den Platz an meiner Lieblingszitze zu verteidigen. Eine derartige ständige Abwehr konnte einem sensiblen Geschöpf wie mir allerdings ganz schön aufs Gemüt schlagen. Doch das nur nebenbei.

Unter der aufmerksamen Fürsorge unserer Mutter Jane mauserten wir uns in den nächsten Wochen zu putzigen kleinen Raufern. Sam und Rosie, unsere Zuchteltern, standen unserer Mutter helfend zur Seite. Fürs Erste, das heißt bis zu unserem Verkauf, würden sie unser Herrchen und unser Frauchen sein und uns einiges von dem beibringen, was man im Umgang mit Menschen wissen musste. Als Hund unter Menschen zu leben, ist nämlich eine Kunst für sich.

Ach, dabei fällt mir ein, dass ich Eines noch gar nicht ausreichend dargelegt habe, nämlich die Sache mit meiner Rassezugehörigkeit. Deshalb eine knappe Anmerkung dazu.

Wie nur beiläufig erwähnt, entstamme ich dem Geschlecht der Whippets. Hierbei handelt es sich um eine englische Windhundrasse, die, so wage ich zu behaupten, jede andere Hunderasse in den Schatten stellt, was Sportlichkeit und Scharfsinn anbelangt. (So viel Eigenlob musste jetzt sein.)

Aber auch rein äußerlich sind wir durch unser feengleiches Erscheinungsbild etwas ganz Besonderes. Daher ist es kein Wunder, dass wir Whippets aufgrund unserer unverkennbaren Noblesse von den allermeisten Menschen gemocht werden.

Im Normalfall liegt unsere Bestimmung darin, dem elektrischen Hasen auf der Rennbahn nachzujagen. Diese Leidenschaft fürs Rennen wurde uns schließlich über Generationen angezüchtet.

Allerdings treffen wir hier und da, das will ich nicht verhehlen, auch schon mal auf gewisse Vorbehalte. Wegen unseres windschnittigen Äußeren vermute ich mal. Aber geschenkt! sag ich nur. Sollen jene Ignoranten ihre Abneigung gegen uns ruhig weiterkultivieren, ihnen fehlt schlicht der Blick für unsere Klasse. Wahre Hundekenner lieben die Whippets natürlich.

Doch jetzt schweife ich ab. Wo war ich denn gerade? Ach ja, richtig, bei meiner Kinderstube. In diesem Zusammenhang will ich nicht unerwähnt lassen, dass die meisten Hunde sich keine Gedanken machen über den Verlauf ihres Lebens, weder als Welpe noch später als Erwachsener. Sie folgen einfach ihrem Instinkt. Der Rest ergibt sich dann schon von allein, denken sie.

Aber schauen wir doch einmal, wie es uns Fellnasen in der Regel ergeht: Zuerst wird man ungefragt in die Welt gesetzt, mit etwas Glück als Rassehund. Ansonsten eben als struppiges Zufallsprodukt – in lauer Sommernacht irgendwo in aller Eile hinterm Dickicht gezeugt. Dann wächst man auf, mehr oder weniger komfortabel. Währenddessen muss der Welpe ein enormes Lernprogramm absolvieren, um die Welt mit all ihren Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Spätestens nach neun Wochen wird man dann hinauskomplementiert und an Leute weitergereicht, die man sich nicht aussuchen kann. Und zum guten Schluss verdingt man sich als Wachhund, Hütehund, Begleithund, Blinden- oder Schoßhund und versucht, dem neuen Besitzer zu gefallen, so gut es eben geht. Nach so viel Zufälligkeiten muss unsereins schon froh sein, wenn die äußeren Umstände wenigstens den Mindeststandard eines hundegerechten Lebens erfüllen.

Ich denke, mit diesem Statement spreche ich Millionen Hunden aus dem Herzen.

Deshalb bin ich auch der Meinung, dass es das verbürgte Recht von uns Vierbeinern ist, nicht über Sinn und Zukunft unseres Lebens nachdenken zu müssen. Es würde sowieso nichts ändern. Also leben wir im Hier und Jetzt und nehmen den Tag, wie er kommt.

Nach diesem gedanklichen Abstecher kehre ich nun aber flugs zu meiner Geschichte zurück.

Von den Erinnerungen, die mich beim ThemaKindheitbewegen, ist mir ein Ereignis ganz besonders im Gedächtnis haften geblieben. Konkreter gesagt war es der Tag, an dem Rosie mich und meine Wurfgeschwister erstmalig nach streng rassetechnischen Aspekten begutachten wollte.

Mit ungewohnt ernster Miene tauchte unsere Züchterin an jenem Morgen vor unserer Wurfkiste auf. Ein gehöriger Schock für mich, denn auf die Art hatte Rosie mich noch nie angeschaut. Am liebsten hätte ich mich aus dem Staub gemacht. Aber zu spät, denn zu allem Unglück hatte Rosie ausgerechnet mich als Erstes beim Wickel. Mein Herz raste vor Panik.

Nach beharrlichem Zureden ließ ich es am Ende zu, dass Rosie ihr Maßband an verschiedenen Stellen meines zitternden Körpers anlegte. Die Züchterin seufzte leise auf, als sie meine Schulterhöhe ermittelte. „Dä, da ham mer de Rän“, sagte sie. Was so viel hieß, wie: „Jetzt haben wir ein Problem.“ Dazu muss man wissen, dass wir unter Rosies Obhut dreisprachig aufwuchsen, nämlich mit Deutsch, Spanisch und Kölsch. Das ging bei Rosie problemlos zusammen. In die kölsche Mundart verfiel unsere Züchterin übrigens immer dann, wenn sie sich über etwas grämte.

Zweifelnd schüttelte Rosie den Kopf. „Die wird sicher zu groß!“, sagte sie mit einem Seitenblick auf Sam. Doch ihr Gatte zog es vor, weiter in seiner Zeitung zu lesen.

Die Nachricht über den Aufstieg seines Fußballclubs in die erste Liga hatte absoluten Vorrang.

Wir waren immer gute Freunde gewesen, Rosie und ich. Deshalb wollte ich alles daransetzen, dass meine Züchterin ihr ungutes Urteil noch einmal überdachte. Ich versuchte es mit freundlichem Schwanzwedeln, mit Händelecken und mit leisem Winseln, ich zog alle Register. Und wirklich, am Ende schien sich mein Einsatz tatsächlich auszuzahlen. Doch statt Maßband nahm Rosie diesmal die Messlatte zu Hilfe, um mich ein zweites Mal zu vermessen. Ich verspürte bereits aufkommenden Optimismus. Mit etwas gutem Willen musste es doch klappen, dachte ich noch. Immerhin zeigte ich mich ja hinreichend kooperativ, jedenfalls für Whippetverhältnisse.

Aber was soll ich Ihnen sagen, der niederschmetternde Befund blieb bestehen: Ich war für mein Alter zu groß! Ich wusste zwar nicht, fürwenoderwasich zu groß war, aber das vernichtende Urteil unserer Züchterin schien wie in Stein gemeißelt. Ich war eine Fehlkonstruktion.

Ende der Fleischbeschau.

Was für ein Augenblick. Ich war am Boden zerstört. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Und glauben Sie mir, auch Hunde verspüren ein schlechtes Gewissen, wenn sie Mist gebaut haben.

Derweil gingen mir hundert Gedanken durch den Kopf: Für Rattenlöcher und Kaninchenbauten war ich definitiv zu groß. Okay. Aber waren derart niedere Aufgaben für meinesgleichen denn überhaupt angemessen? Schließlich gehörte ich als reinrassiger Windhund doch eher zurgehobenenKlasse. Jedenfalls wurde das in unserer Meute immer so kommuniziert.

Ich überlegte weiter: Welche Bestimmungen oder Aufgaben konnte es für einen wie mich denn sonst noch geben? Was erwarteten die Menschen von mir? Nach meinem Empfinden hätte ebenso gut ein Meteorit schuld sein können an meiner Misere, weil er halt genau in dem Augenblick auf die Erde traf, als ich geboren wurde. Wäre dies etwameinVergehen gewesen?

Kurz und gut: Erstmals machte ich nun auch Erfahrung mit denSchattenseitender Menschen, wenn man als Hund unter ihnen lebte.

„Ist es die Blonde?“, fragte Sam nach der Vermessungsprozedur, und tatsächlich legte er seine Zeitung für einen Augenblick zur Seite.

„Na klar, wer sonst!?“, erwiderte Rosie zerknirscht. „Aber ich habe es längst geahnt. So wie die beim Fressen zulangt!“

Sam zog ein mürrisches Gesicht. „Vielleicht könntest du sie beim Füttern demnächst ja ein bisschen drosseln.“

Hunger zu schieben, das klang in meinen Ohren stark nachEntbehrung. Irgendwie drohte die Sache gerade schlecht für mich zu laufen. Ich sah mich bereits als wandelndes Gerippe umherschleichen – irgendwo am Rande des Existenzminimums.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. In Rosies tiefstem Innern tat sich plötzlich ein Zwiespalt auf. Etwas in ihr sperrte sich gegen den Gedanken, mich in Zukunft darben zu lassen, nur, um mein Wachstum zu bremsen.

„Fange ich jetzt noch mit F.d.H. an, um unsere Große auszubremsen?“ schnaufte sie. „Hat bei mir schon nichts genutzt.“

Damit spielte sie auf ihre ausladenden Hüften an, mit denen Sam sie manchmal aufzog, wenn er sie scherzhaft Madame Pompadour nannte.

Willkommen im Klub, dachte ich erleichtert. Noch jemand, der nicht im Maß geblieben war. Dabei liebte ich Rosie über alles, ich wendete meine Augen keine Sekunde von meiner Züchterin ab.

Doch um die Geschichte weiterzuerzählen: Nach jenem Schreckensmorgen vermaß Rosie uns noch einige Male. Dabei führte sie stets Protokoll und notierte sämtliche Daten sorgfältig auf einem Block. Für mich war es aber jedes Mal eine Zitterpartie, weil mir nach der Prozedur immer dasselbe unheilvolle Resultat drohte. Sie ahnen es schon: Ich war zu groß! An diesem niederschmetternden Befund wollte sich einfach nichts ändern.

Kein Wunder, dass ich in jenen Tagen mein Bild über die Menschen kritisch überdachte. Warum hegten die Zweibeiner bloß solche Schwäche für derartig abstruse Dinge wie Zentimeter und Kilogramm? Die komplizierte Psyche der Menschen würde ich wohl nie verstehen. So weiß ich beispielsweise, dass es unzählige Menschen gibt, die sich freiwillig dem Diktat des sogenanntenBody-Mass-Indexunterwerfen (dem Verhältnis von Körpergröße und Gewicht also). Aber muss das auch für uns Vierbeiner gelten? Eine echte Belastung für jede Hund-Mensch-Beziehung, finde ich.

Eigentlich wäre mir der Schönheitswahn der Menschen ja egal gewesen, doch besagter Fimmel würde noch weitreichende Folgen für mich haben.

Tatsächlich schien mit jedem Millimeter, den ich zulegte, auch Rosies Verdruss zuzunehmen, jedenfalls empfand ich es so. Ich belauerte Rosie bei jeder Gelegenheit, alles, was sie mit mir tat – und mehr noch, was sienichtmit mir tat. Nach meiner Wahrnehmung herzte sie die Brüder Urdin, Ugur und Union’s Pride immer einen Moment länger und inniger als mich. Ich hielt jedes Mal die Luft an, wenn sie wieder einen von den Geschwistern auf dem Arm trug und mit ihm kuschelte. Mit linkischem Eifer versuchten die Jungs dann, unserer Züchterin zu gefallen, indem sie, possierlich auf dem Rücken liegend, mit allen Vieren in der Luft herumstrampelten und unschuldig dreinschauten wie ein Plüschtier. (Den Blick konnten sie damals schon auf Kommando anknipsen.)

Dabei wünschte ich mir doch nichts sehnlicher, als meiner Züchterin ebenso zu gefallen wie die leidige Konkurrenz. Falls Rosie es von mir verlangt hätte, wäre ich ihr zuliebe auch geschrumpft, wenn es nur irgendwie machbar gewesen wäre. Ich mochte Rosie wirklich gern. Doch leider lagen die Dinge etwas komplizierter.

Am Ende lastete der Frust über mein allzu eifriges Wachstum wie eine schlimme Krankheit auf mir, die immer stärker Besitz von mir ergriff. Mit schmachtenden Blicken hing ich an meiner Züchterin, tanzte um sie herum und wartete auf ein Lob, auf eine kleine Anerkennung, wenn ich glaubte, etwas richtig gut gemacht zu haben. Aber meine Züchter hatten offenbar nur Augen für die Geschwister. Mittlerweile war ich zumProblemhundgeworden. Ja, den Ausdruck verwendete Sam immer öfter, wenn er von mir sprach: Unser Problemhund! Dieses ungute Wort war längst zum Unwort für mich geworden und sollte sich tief in mein Gedächtnis eingraben.

Je mehr Zeit aber verstrich, desto nachhaltiger stellte sich mir die Frage, was eigentlich so schlimm daran war, dass ich schneller wuchs als meine Wurfgeschwister. War es unter Hunden nicht eher ein natürlicher Vorteil, wenn man seinem Gegenüber an Kraft und Größe überlegen war? Ein Geniestreich der Natur, solllte man meinen. Aber denkste! Der Moralkodex der Menschen wurde immer unergründlicher für mich.

Aus Bemerkungen, die Rosie und Sam in nächster Zeit austauschten, ging mir dann jedoch irgendwann ein Licht auf und ich begriff endlich, was meine Züchter umtrieb. Sie sorgten sich um meine Eignung für die Rennbahn. Im Klartext: Durch eineÜbergrößewürde mir die Zulassung für die Rennbahn versagt bleiben. Ich war für den Rennsport schlicht wertlos, wenn ich nicht im vorgeschriebenen Größenmaß der Zuchtverordnung blieb. Und dort waren maximal siebenundvierzig Zentimeter Schulterhöhe für eine Whippethündin vorgesehen. Das war die magische Grenze zwischenTopoderFlop.Ein Zentimeter darüber, und das Leben konnte in der Vorhölle enden für einen Abweichler wie mich. Offenbar waren die Menschen ganz besessen von ihren Statuten und Rassesatzungen.

Leider war es aber auch wie verhext: Je verzweifelter ich mich fühlte, desto mehr fraß ich. Und je mehr ich in mich hineinschlang, desto ungebremster beschleunigte sich mein Wachstum. Hier biss sich die Katze in den … iiiih gäääääh!!! Nein, diese Spezies wollen wir doch lieber unerwähnt lassen. Ich versuche es noch einmal: Hier biss sich der Hundin den Schwanz!

Umso inniger beneidete ich jetzt meine Wurfgeschwister, diemakellosgewachsenund im vorgeschriebenenRassestandard geblieben waren.

Längst nannten mich meine Züchter nur nochdie Große.Dies erinnerte mich einmal mehr an mein Ungemach und quälte mich zusätzlich. Eigentlich war mein amtlich eingetragener NameUnforgettable. Aber die Menschen neigen nun mal dazu, sich auf Dinge zu versteifen, die sich ihrer Meinung nach irgendwie von der Norm abheben.

Tatsächlich hatte ich die Geschwister bereits um Kopfeslänge überrundet, mein Handicap ließ sich nicht länger leugnen.

Inzwischen fraßen wir feste Nahrung. Es gab trockene Pellets am Morgen, zu Mittag und nochmals am Abend. Irgendwie schien Rosie auf diese ominösen kleinen Dinger zu schwören. Leider schmeckten sie nach nichts und boten keinerlei Genuss. Als wählerischer Feinschmecker ahnte ich aber schon damals, dass es noch etwas Besseres geben musste auf dieser Welt.

Leider war die Milchbar unserer Mutter inzwischen nur noch selten für uns Welpen geöffnet. Tendenz fallend. Jane geizte zunehmend mit ihrer Milch.

Weil mich aber stets der Hunger umtrieb, hatte ich unlängst ein paarmal versucht, mich an unsere Mutter heranzuschleichen, so als käme ich in harmloser Absicht gerade zufällig vorbei. Doch Jane kannte alle Tricks. Bevor ich auch nur in die Nähe ihrer Milchhähne gelangt war, hagelte es bereits eine saftige Abfuhr. Entsetzt suchte ich das Weite. Was folgte, waren bittere Stunden der Dürre.

Irgendwie war die Welt aus den Fugen geraten. Keiner liebte mich mehr, nicht einmal meine eigene Mutter. In meiner Niedergeschlagenheit begann ich schon an der ach so vielbeschworenen Mutterliebe zu zweifeln. Aus Frust nahm ich Zuflucht bei meiner Schnuckeldecke und begann an ihr zu lutschen. Den faden Geschmack des Eselsohrs noch auf der Zunge, rollte ich mich schließlich zusammen, zog einen Flunsch und reckte meine Nase unter die Pupe. Auf die Weise ließ sich am besten über die Ungerechtigkeiten dieser Welt nachdenken.

Hin und wieder schaute Rosie nach mir. Sie strich mir über den Kopf und sah mich mitleidig an. „Was sollen wir bloß mit ihr machen?“, hörte ich sie bekümmert fragen. „Die reißt ja glatt noch die Fünfzig. So schnell wächst doch kein Pony!“

Nach Sams Einschätzung gab es nur schlechte Optionen für mich. Insgeheim hatte er auch schon einen Plan. Das hatte ich in seinen Gedanken lesen können. Doch die verheimlichte er vor Rosie, vermutlich, weil er sie nicht beunruhigen wollte.

„Hm, wird sich zeigen, was aus ihr wird“, entgegnete er nur ausweichend, wenn Rosie sich wieder mal Sorgen um mich machte. „Vielleicht können wir sie eines Tages ja als Greyhound verscherbeln.“

Statt auf Sams bitteren Scherz einzugehen, dachte Rosie immer öfter darüber nach, welche Lösung es für mich in Zukunft geben konnte. Einen derartigen Fall von Gigantismus hatte es in ihrem Zuchtstall bisher noch nie gegeben. Für einen Whippet war ich zu groß, doch als Grey durchzugehen, war ebenso unmöglich. Rosie hätte heulen können.

Von der spanischen Züchtergemeinde wusste sie, dass man bei gravierenden Abweichungen vom Rassestandard nicht lange fackelte. Aber bisher erschien unserer Züchterin jeder Gedanke an ein solch krudes Ende völlig abwegig. Trotzdem war sie nicht sicher, wie lange sie ihre schützende Hand noch über mich halten konnte. Mit Sorge hatte sie registriert, dass Sam allmählich die Geduld ausging. Er erwartete eine baldige Erledigung des Problems. Was Rosie dabei am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass Sam manchmal zu eigenmächtigen Entscheidungen neigte, völlig überraschend und ohne jede Vorwarnung.

Damit hatte sich ein Problem angebahnt, dessen Klärung nicht mehr ausschließlich in Rosies Händen lag. Sie würde in naher Zukunft eine Lösung finden und über mein Schicksal entscheiden müssen, bevor Sam es tat. Und der Gedanke machte ihr Angst.

Mehrere Wochen waren verstrichen. Irgendwie hatte ich mich durchgewurschtelt an der Costa Blanca, doch fragen Sie bitte nicht wie.

Gleichwohl fiel mir auf, dass Rosie in den Verkaufsgesprächen, die sie mittlerweile per Skype nach Deutschland führte, mich mit keinem Wort erwähnte. Sie fürchtete wohl, dass sie dem Geschäft eher schadete, wenn sie mich ebenfalls anbot. Ich fand schlicht nicht statt.

Wenngleich meine Zukunft somit ziemlich düster ausschaute und jede Hoffnung eher unrealistisch schien, irgendwann würde sich schon ein Mensch finden, der zu mir passte und bei dem ich Unterschlupf fand, so meine Hoffnung. Es musste ein besonderer Hundefreund sein, der die Kosten-Nutzenfrage nicht stellte und der mich so nahm, wie ich war. Ein Mensch, der den richtigen Blickfür meine fraglos vorhandene Klasse besaß. Eines Tages würde dieses Wunder geschehen. Whippets sind von Natur aus Optimisten, müssen Sie wissen.

Im Haus führte Rosie derweil ein straffes Regiment. Haben Sie schon mal versucht, mit sieben jungen Tigern in einem Käfig zu überleben? Ich kann Ihnen nur dringend davon abraten.

Unser Drang nach Spiel und Bewegung entsprach denn auch kaum den Benimmvorstellungen unserer Züchterin und stellte ihre Geduld auf manch harte Probe.

Aber auch für uns Welpen war es nicht einfach, das Einmaleins des Zusammenlebens mit den Menschen zu erlernen. Das Leben unter Menschen besteht nämlich aus einer endlosen Anhäufung von Regeln und Prinzipien, da kann so manche Vorschrift schon mal zum Stolperstein werden.

Grundsätzlich muss man dazu wissen, dass die Menschen die Welt schlechterdings inErlaubtesundUnerlaubtesaufteilen. Und natürlich sind die schönsten und aufregendsten Dinge leider verboten für uns Hunde.

Wie Sie sich das vorzustellen haben, fragen Sie? Okay. Hier ein Crashkurs über die Grundregeln von Benimm im Zusammenleben mit unseren Züchtern.

Beginnen wir mit den Dingen, die erlaubt waren, denn die sind deutlich in der Minderzahl: So durften wir beispielsweise Fremde anbellen, wenn sie sich unserer Finca näherten, damit waren Sam und Rosie vor ihnen gewarnt. Ebenso durften wir die verlausten, einheimischen Streuner verjagen, wenn sie zwischen unseren Mülltonnen nach Fressbarem suchten. Weit mehr Spannung versprach hingegen die Jagd auf Katzen. Am liebsten kamen sie in der Dämmerung, weil sie es darauf anlegten, ein Ei in Rosies Blumenkästen zu legen. Das taten sie aus reiner Niedertracht, behaupte ich mal.

Das ThemaKatzeist, nebenbei bemerkt, ein dunkles Kapitel in unserer Meute. Deshalb will ich mich dazu auch nicht näher äußern. Man soll sich nicht unnötig Feinde machen, heißt es doch. Allerdings ging in unserer Meute das Gerücht um, dass unter den steinbedeckten Erdhügeln im hinteren Teil unseres Gartens nicht nur unsere Ahnen begraben lagen, wenn Sie verstehen. Aber vielleicht war das ja auch bloß Jägerlatein. Leroy, unser Vater, gab sich schon mal gerne etwas großmäulig.

Nun gut, fahren wir fort und richten wir jetzt den Fokus auf die Dinge, die unsverbotenwaren und die wie ein Damoklesschwert permanent über unseren Köpfen schwebten. So war das Fressen von Kronkorken, Zigarettenkippen und Ohrenstäbchen streng untersagt, auch wenn diese Dinge nun mal direkt vor unserer Nase lagen.

Außerdem mussten wir Welpen lernen, dass Telefon, Radio, Dunstabzugshaube sowie die Musik, die aus dem Radio erklang, ungefährlich waren und nicht angebellt werden durften. Gleiches galt für die fauchende Kaffeemaschine.

Besonders bedauerte ich aber, dass Bett und Sofa tabu für uns waren. Nur selten gelang es mir mal während eines unbeobachteten Augenblicks eine Mütze Schlaf auf Rosies Kopfkissen zu nehmen. Ich liebte den Duft unserer Züchterin. Deshalb war es der Himmel auf Erden, wenn ich mal heimlich in ihrem Bett liegen konnte. Ebenso streng wurden das Betteln bei Tisch sowie das Toben im Haus geahndet.

Als unfein galt es außerdem, wenn man einen vom Stapel ließ. Schließlich waren unsere Vorfahren einst in Schlössern und Herrenhäusern zu Hause gewesen, so Rosies Begründung. Und Adel verpflichte nun mal zu feinem Benimm, behauptete sie.

Dennoch will ich nicht verhehlen, dass ausgerechnet Sam meine zufällige Gegenwart mehr als einmal dazu nutzte, um von seiner eigenen Verfehlung abzulenken, indem er mich scheinheilig ausschimpfte. Aber der Umgang mit der Wahrheit ist bei den Menschen so eine Sache.

Ferner waren größere Ausgrabungen in Rosies Blumenkästen untersagt, auch wenn es irre Spaß machte, in der weichen Humuserde herumzuwühlen. Und auch wässern durften wir ihre Blümchen nicht. Die leuchtenden Geranien waren Rosie absolut heilig. Also machten wir möglichst einen weiten Bogen um ihre Pflänzchen.

Heilig,das gibt mir geradewegs das Stichwort zu einer besonders bizarren Geschichte, die mir aus jener frühen Zeit noch in besonderer Erinnerung geblieben ist. Ein Ereignis, das damals mächtig Staub aufgewirbelt hat.

Alles begann damit, dass Rosie eines Tages das komplette Haus auf den Kopf stellte. Kein Möbelstück verblieb an seinem Platz, alles wurde umgeräumt, entstaubt und aufpoliert. Bei so viel Sauberkeit konnte einem schon beinahe übel werden, sage ich Ihnen. Alles in unserer Finca roch am Ende nach Putzmitteln (mit viel Zitronenaroma) und Seife, ein Albtraum. Aber die Menschen haben nun mal eigene Vorstellungen von Gemütlichkeit.

Später beobachtete ich Rosie beim Plätzchenbacken. Nun gehörten Backen und Kochen zwar nicht zu meinen primären Leidenschaften, dennoch empfand ich den Duft von Vanille und Nüssen als recht angenehm, es roch wie in einer Backstube.

Und dann erfolgte etwas völlig Unerwartetes: Sam kam mit einer gefällten Kiefer heim und setzte sie mitten im Wohnzimmer ab. „Da können wir uns den Weg nach draußen ja gleich sparen“, hörte ich die Jungs schon unken.

Sam schnitt das untere Ende der Kiefer spitz zu und stellte sie in einen mit Wasser gefüllten Behälter. Danach wurde der Baum mit roten Kugeln, Lametta und elektrischen Kerzen geschmückt. Als Höhepunkt des Ganzen setzte er einen Engel mit Goldhaar auf die Baumkrone. Zufrieden betrachtete er sein Kunstwerk.

Sie ahnen es schon: Weihnachten stand vor der Tür. Und Sam und Rosie wollten sich die deutsche Weihnacht ins Haus holen. In der Fremde hatte dies offenbar eine besondere Bedeutung für sie.

Zum Schluss holte Sam noch eine Krippe aus dem Geräteschuppen hervor, ein geschnitzter hölzerner Viehstall mit tiefgezogenem Dach. Davor platzierte er mehrere Figuren. Eine Familie mit einem Neugeborenen. Der Säugling lag in einem Viehtrog, begafft von einem Ochsen, einem Esel und ein paar ahnungslosen Schafen.

Während Sam mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen war, hatte ich schon mehrmals versucht, mich näher an die weihnachtliche Szenerie heranzupirschen. Whippets sind nun mal äußerst neugierig. Und außerdem war es ja nicht unsere Schuld, dass der Weihnachtsbaum so anziehend roch. Aber Sam behielt uns im Auge, da war kein Rankommen.

Wie der Gummihase von meinem Bruder Ugur allerdings seinen Weg unter die Kiefer gefunden hatte, ist nicht überliefert. Ausgerechnet der Gummihase, er war Ugurs liebstes Spielzeug. Und damit nahm das Unglück noch vor der eigentlichen Weihnachtsbescherung bereits seinen Lauf. Denn irgendwann vermisste der Bruder seinen geliebten Hasen und begann zu suchen. Reine Ehrensache, dass wir ihm dabei halfen. Wir schnüffelten und forschten in allen Ecken und Winkeln, durchforsteten sämtliche Räume unserer Finca. Schließlich entdeckte Ugur seinen Mümmelmann unmittelbar unter dem Weihnachtsbaum. Blitzschnell schoss er auf sein Karnickel zu. Und vermutlich sah er sich schon als Sieger, denn natürlich war ihm nicht entgangen, dass auch die Konkurrenz auf der Jagd nach seinem Langohr war. Dummerweise hatte Ugur nicht mit der Tücke des grünen Elektrokabels gerechnet. Grüngestrüpp war schließlich noch nie ein Hindernis für uns gewesen. Doch kaum hatte Ugur sich ins Untergehölz gestürzt, als der Weihnachtsbaum auch schon bedrohlich ins Wanken geriet. Das Wasser in dem Baumständer begann hin- und herzuschwappen, mehrere Kugeln gingen klirrend zu Bruch. Der Engel mit dem Goldhaar kippte vornüber und blieb irgendwo im Geäst an einer Locke hängen.

Rosies markerschütternder Schrei ließ nicht lange auf sich warten. Doch der Lauf der Dinge ließ sich nicht mehr aufhalten, unser Jagdtrieb war geweckt. Mit wildem Kriegsgeheul nahmen wir die Verfolgung auf. Jeder von uns trachtete danach, Ugur den Hasen abzujagen. Es herrschte das reinste Chaos in Rosies beschaulicher Weihnachtsstube.

Einschränkend muss ich jedoch bekennen, dass es mir schon damals nicht sonderlich lag, mich länger für eine aussichtslose Sache herzugeben. Nüchtern betrachtet waren einfach zu viele Jäger unterwegs. Deshalb kam mir eine viel bessere Idee. Ich wusste, abgelenkt durch das Getümmel um Ugurs Mümmelmann würde niemand mehr auf die Krippenfiguren achten. Erst neulich war mir doch einer dieser wohlschmeckenden Nikoläuse in die Fänge geraten, außen Stanniolpapier, innen leckere Schokolade. Ein Festschmaus, sage ich Ihnen. Sowas vergisst kein Hund. Bestimmt schmeckten die Krippenfiguren ebenso fantastisch wie der Nikolaus im Stanniolgewand.

Also schlich ich mich zur Krippe, schnappte wahllos zu und verschwand mit meiner Beute ins Bad. Es war der heilige Joseph, wie sich später herausstellte. In Null-Komma-Nix hatte ich mein Opfer geköpft. Voller Heißhunger begann ich zu fressen. Aber oje, der angebliche Leckerbissen schmeckte nach nix. Die Diebesbeute zerfiel in lauter ungenießbare Lehmkrümel. Meine Beute entpuppte sich als Flop. Enttäuscht spuckte ich die fad schmeckenden Brocken wieder aus.

Was lehrt uns das? Nicht alle Heiligen schmecken so himmlisch wie die Nikoläuse. Von den Josephs lässt man wohl besser die Finger.

Den verschmähten Rest meiner Beute versteckte ich übrigens unter der Klomatte. Danach schlich ich mich zurück ins Wohnzimmer, wo Rosie der Meute gerade eine ordentliche Standpauke hielt. Sie war immer noch außer sich vor Ärger.

Sam versuchte Rosie zu beruhigen. „Es hätte auch schlimmer kommen können“, meinte er. Es seien sowieso zu viele Kugeln am Baum gewesen.

An diesem Heiligabend musste die Muttergottes wohl oder übel ohne ihren Gatten auskommen und alleine Wache schieben bei ihrem Neugeborenen. Aber nur ich kannte den Grund dafür.

Von diesem thematischen Gedankenausflug zurück zu meiner Geschichte:

In unserem Garten, der das Haus weitläufig umgab, galten zum Glück andere, sprich großzügigere Verhaltensregeln als drinnen im Haus. Wobei der BegriffGartenvielleicht etwas übertrieben ist, denn es handelte sich eher um einen Wildpark, der von Bäumen und Sträuchern bewachsen war.

Für uns Welpen erwies sich der Garten jedenfalls als fantastischer Abenteuerspielplatz. Dort durften wir ungezwungen spielen und nach Herzenslust toben. Inzwischen hatte uns die Pubertät voll im Griff, wir standen ständig unter Strom. Jeder wollte der Konkurrenz beweisen, was für ein toller Hecht man war. Es machte mich stolz, wenn ich im Tiefflug auf mein Gegenüber zurauschte und Sekunden später meine nadelspitzen Zähne in seine Flanke versenkte, kurz bevor ich meinen Gegner schließlich zu Boden brachte. Ein Kunstgriff, den ich inzwischen perfekt beherrschte. Tatsächlich verwandelte sich das Missgeschick meiner Übergröße auch mal in messbaren Erfolg.

Zur Landseite schützte ein Wall aus Bruchsteinen und wehrhaften Kakteen unseren Garten. Er bildete die Grenze zur Außenwelt. Allerdings hatte ich beobachtet, wie die Großen aus meiner Meute täglich zu unserer Außengrenze pilgerten, um dort das Bein zu heben. Ihre Markierungen waren eine eindeutige Botschaftan alle Artgenossen außerhalb unseres Reviers: Wenn euch euer Leben lieb ist, bleibt besser draußen, sonst werdet ihr es bitter bereuen!

Andererseits interessierte ich mich mit zunehmendem Alter immer stärker für das, was jenseitsunserer Reviergrenze lag. Ohne flankierenden Schutz der Meute durften wir Fellnasen das Revier aber nicht verlassen, unsere Züchter achteten streng darauf.

Darum war es jedes Mal ein besonderes Erlebnis, wenn wir unter Rosies Führung unser vertrautes Zuhause verließen und zu einem Streifzug ans Meer aufbrachen.

An unseren letzten Ausflug erinnere ich mich noch besonders gut und das hat seinen Grund.

Eigentlich hatte ich mich schon auf einen stinknormalen Tag eingestellt. Der Himmel war tiefblau wie immer und versprach einen weiteren heißen Tag.

Gerade hatte ich meine täglichen Stretch- und Dehnübungen absolviert, als Rosies Pfiff erklang. Und spätestens, als sie jedem Vierbeiner ein Halsband anlegte, wusste ich, dass sie einen Ausflug zum nahe gelegenen Strand unternehmen wollte, und wir durften sie dabei begleiten.

Für uns Jungspunde war der Strand jedes Mal ein Ort unbeschreiblicher Abenteuer. Dort warteten all die Schätze auf uns, die das Meer zuvor freigegeben hatte.

Rosie kannte sich gut aus in der Gegend. Sie liebte es barfüßig zu laufen und den warmen Sand unter ihren Füßen zu spüren. Derweil konnte es uns Jungspunden gar nicht schnell genug gehen, bis wir das Meer endlich erreichten. Immer wieder preschten wir vor, um dann aufgeregt zur Gruppe zurückzukehren und die Truppe zu mehr Eile zu drängen. Die Älteren aus der Meute schonten jedoch lieber ihre Kräfte. Gemessenen Schrittes folgten sie der Gruppe nach. Ich sah, wie ihnen schon die Zunge aus dem Maul hing, denn obwohl erst Ende März war, brannte die Sonne bereits ungebremst auf uns herab.

In einer kleinen Mulde ließen wir uns nieder. Der Ort war von niedrigem Gestrüpp umgeben und schützte vor neugierigen Blicken. Wenig später breitete Rosie eine Decke aus und ließ sich auf dem weichen Untergrund nieder.

Jane, Alma, Fiona und die anderen Grauschnauzen aus der Meute gesellten sich zu unserer Züchterin. Währenddessen behielt Leroy die Umgebung im Auge.

Die Jüngeren unter uns begannen neugierig in der Nähe herumzustöbern. Wer wollte die Zeit schon mit Schlafen vertrödeln? Jeder Gegenstand, den das Meer angeschwemmt hatte, trieb uns an. Fand einer etwas Neues, versuchte er seinen Schatz vor den anderen in Sicherheit zu bringen, wer wollte seinen Fund schon mit der Konkurrenz teilen?

Als wir so ziemlich alles ausprobiert hatten, packte mich unerwartet ein heimliches Verlangen, dem ich einfach nicht widerstehen konnte. Sogleich ging ein alarmierender Ruck durch die Mannschaft. Von meinem inneren Erregungszustand angesteckt, erhob sich schließlich die komplette Meute. Alle begannen sich schnaufend und unter aufgeregtem Schwanzwedeln zu umkreisen. Und dann, wie auf ein geheimes Kommando, stürzten wir los. Das Wettrennen hatte begonnen.

Ich fasste mir ein Herz und drängte an die Spitze, führte die Meute an. Die Sippe nahm sogleich die Verfolgung auf und heftete sich an meine Fersen.

Möwen flogen erschrocken auf und flohen übers Wasser, als sie die wilde Horde auf sich zustürzen sahen. Vor mir erstreckte sich der Strand in seiner ganzen Weite.

Ich hielt mich dicht am Meeressaum, denn dort trug der Grund am besten. Der Lichtschein der Sonne tanzte wie kleine Lichter auf den anlandenden Wellen. In langen Sätzen schoss ich dahin. Sandfontänen stoben durch die Luft. Meine Augen kniffen sich zu engen Schlitzen zusammen, während die Beine in rasendem Tempo über den feuchten Boden trommelten. Mit offener Schnauze preschte ich voran. Doch wo blieben meine Verfolger? Noch wagte ich es nicht, Ausschau nach ihnen zu halten.

Das Gelände stieg jetzt leicht an. Und plötzlich musste ich würgen. Sand hatte sich in das Innere meines Rachens verirrt. Ich spürte, wie meine Gliedmaßen auf einmal erlahmten, meine Hinterbeine kamen nicht mehr nach. Whippets sind schließlich keine Marathonläufer.

Ich verlangsamte das Tempo und fiel in lockeren Trab. Dann blickte ich mich um und ich begriff kaum, was soeben passiert war: Ich hatte meine Verfolger abgehängt. Sie hatten aufgegeben und waren zu Rosie zurückgekehrt.

Eine Welle des Triumphes überkam mich. Ich hatte den Gruppensieg davongetragen. Das war ein magisches Gefühl.

Aber zum ersten Mal in meinem Leben befand ich mich auch ganz allein auf weiter Flur – ohne den Schutz des Rudels.

In der Ferne entdeckte ich Saltera, weiße Haustupfer unter roten Dächern, versammelt um eine kleine Kirche aus hellem Bruchstein.

Abseits vom historischen Stadtkern erkannte ich mehrere Hochhäuser, die wie Türme in den Himmel ragten. Sie gehörten zur Neustadt von Saltera, ein kürzlich errichteter Wohnpark. Sam schätzte die dortige Flaniermeile nicht besonders, ihm waren die vielen halbnackten Menschen ein Gräuel. Seiner Meinung nach zogen sich sowieso immer nur diefalschenLeute aus.

Wie Sam allerdings dierichtigenLeute von denfalschenunterschied, das entzog sich meiner Kenntnis. Vielleicht bewertete er sie ja nach ihrem Geruch, überlegte ich. Für einen Hund war dies jedenfalls naheliegend.

Rosie hatte allerdings ihre eigene Meinung dazu. Sie meinte, dass die Halbnackten vermutlich nicht genug zum Anziehen hätten und deshalb so spärlich bekleidet herumliefen. Das lasse ich jetzt mal unkommentiert.

Aber auch mein Familienclan machte lieber einen weiten Bogen um die Neustadt von Saltera. Dort hatte nämlich ein Haufen verschlagener Strandköter das Sagen. Sie lebten hauptsächlich von Abfällen, die sie aus den Mülltonnen und Deponien der Umgebung stibitzten. Oder sie lungerten vor den Restaurants herum und bettelten die Touristen an. Auch wenn es sich bloß um einen locker zusammengewürfelten Haufen verlauster Hungerleider handelte, mit den Burschen war nicht zu spaßen. Plötzlich tauchten sie irgendwo auf, entweder in der Stadt oder am Strand. Man war nie sicher vor der Bande.

Kaum war mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, als ich vier bis fünf schwarze Punkte von Weitem auf mich zukommen sah. (Wenn man vom Teufel spricht.) Durch den aufstiebenden Sand konnte ich zwar noch nichts Genaues erkennen, aber ich ahnte, wer sie waren. Ich war starr vor Schreck. Ob sie mich bereits entdeckt hatten? Wenn ich ganz still sitzen blieb, in der gleißenden Sonne würden sie mich vielleicht übersehen. Aber die Rotte steuerte direkt auf mich zu. Und bevor ich überhaupt an Flucht denken konnte, hatten sie mir bereits den Rückweg abgeschnitten und mich umzingelt.

Ich ahnte, das war kein Spiel. Ich begann vor Angst zu zittern. Der Anführer der Gruppe, ein furchteinflößender, brauner Boxermischling mit einem riesigen Sabbermaul, baute sich vor mir auf und beschnupperte mich als Erster. Ich machte mich schon auf das Schlimmste gefasst. Doch letztlich ließ der Muskelprotz mich in Ruhe. Schlimmer waren die beiden Genossinnen aus der Gruppe. Ihr Fell stank bestialisch, sodass einem ganz übel werden konnte.

„Oh, sieh mal an, eine echte Rassetöle“, stänkerte die mit der Rattenvisage. „Bestimmt ist sie von edelstem Geblüt, die Süße. Und mit ellenlangem Stammbaum.“ Voller Abscheu beschnupperte sie mein Hinterteil.

Von ihrer klapperdürren Kumpanin, die mindestens ebenso heruntergekommen wirkte, erhielt sie umgehend Schützenhilfe. „Ob die Süße uns wohl die Leckerbissen aus den Abfallkörben streitig machen will?“, spottete sie mit feindseliger Miene.

„Ich fürchte, unser Leckermäulchen strebt nach Feinerem“, meinte die andere lakonisch.

Danach brachen sie in höhnisches Gelächter aus. Aber dann begannen die zwei nach mir zu schnappen. Fiepend und mit angelegten Ohren versuchte ich ihren Attacken auszuweichen. Doch die beiden kannten keine Gnade. Unter dem Beifall der Horde traktierten sie mich immer heftiger, schließlich versuchten sie mich zu packen, um sich irgendwo in mir festzubeißen.

Plötzlich flogen ihre Köpfe hoch und unerwartet verschwand das siegesgewisse Grinsen aus ihren Gesichtern. Ihre Blicke richteten sich auf etwas, das von ferne auf uns zuhielt. Dort mussten sie etwas entdeckt haben, das sie beunruhigte. Zähneknirschend ließen die Angreiferinnen von mir ab. Ich folgte ihren Blicken und erspähte eine riesige Sandwolke, sie bewegte sich rasch auf uns zu. Aufgewühlt durch mindestens vierzig anrückende Pfoten. Es war Rettung in letzter Sekunde.

Vorneweg erkannte ich schließlich Leroy, wie er die Truppe anführte. Dahinter folgten meine Mutter Jane, Fiona, Isidor, Union’s Best und der Rest der Sippe in vollem Sprint. Beim Anblick meiner Meute hüpfte mir das Herz vor Freude.

Später erfolgte eine Massenbegrüßung, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Die Runde erhob ein Siegesgeheul, als ob ich eben ein internationales Rennen der Champions League gewonnen hätte. Ich platzte vor Stolz.

Und was war aus meinen Angreifern geworden? Angesichts der nahenden Meute hatten sie kalte Füße bekommen und lieber das Weite gesucht, bevor sie noch derbe Prügel von uns bezogen.

Ein dünner Pfiff durchschnitt die Luft. Es war Rosies Zeichen. In der Ferne entdeckte ich ihre Silhouette. Mit der Rechten schützte sie ihre Augen gegen die Sonne. In der Linken trug sie ihre Badetasche und das Strandtuch.

Ich wusste, einfach auf- und davonzulaufen, das entsprach nicht unserer Verabredung. Deshalb beobachtete ich unsere Züchterin jetzt genauer. Rosies Körpersprache verriet jedoch Entspannung. Sie kannte die Eigenarten der Whippets, darum verübelte sie mir meinen Alleingang nicht.

Um meinen Schnitzer wieder wettzumachen, lief ich ihr entgegen. Rosie beugte sich zu mir herunter und ihre Augen strahlten geradezu. „Na, meine Große, da hast du ja ordentlich Gas gegeben. In dir steckt eben doch eine echte Powerfight. Schade nur, dass du ein Mädel bist.“

Währenddessen streichelte sie mir liebevoll über den Kopf. Ich lachte ihr mit wedelndem Schwanz ins Gesicht und schenkte ihr einen feuchtfröhlichen Nasenstuber. In diesem Moment war ich mir sicher, dass mir unter Rosies Fürsorge niemals etwas zustoßen würde.

Nachdem sich die Aufregung einigermaßen gelegt hatte, machten wir uns auf den Heimweg. Abgekämpft, aber überglücklich folgte ich der Meute nach Hause.

Beim Erreichen der Finca erwartete uns eine Überraschung. Sam hatte damit begonnen, diverse Koffer, Kartons und anderes Gerät auf die Terrasse zu stellen.

Jane schien zu wissen, was das Szenario zu bedeuten hatte. Ich sah ihren bekümmerten Gesichtsausdruck und wie sie sich schließlich abwandte und schnurstracks in Richtung Garten verschwand.

Ihr sonderbares Verhalten musste einen Grund haben. Deshalb galt mein nächster Blick unserem Vater. Doch zu meiner Überraschung warf Leroy seinen Kopf in den Nacken und tänzelte freudig um Sam herum. Und plötzlich lag Aufbruchstimmung in der Luft. Sams Gefährt parkte bereits betankt und fahrbereit in der Einfahrt. Ich begriff: Unsere Züchter wollten zurück nach Deutschland, um den Sommer im Rheinland zu verbringen, denn dort hatten sie ihren eigentlichen Lebensmittelpunkt.

Trotz der Abwechslung, die unsere Reise gewiss bieten würde, wollte sich keine rechte Freude bei mir einstellen. Ich war hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen.

Vielleicht, weil ich mir endgültige Klärung versprach, beschloss ich, meine Mutter aufzusuchen.

Jane wusste um ein geheimes Versteck, welches sie immer dann aufsuchte, wenn sie Ruhe vor uns haben wollte. Es lag in einem entlegenen Winkel unseres Gartens. Von hier vernahm man das Rauschen des Meeres wie fernes Donnergrollen, untermalt vom Zirpen der Grillen und all den anderen nächtlichen Geräuschen der Costa Blanca.

Auch wenn Jane die Augen geschlossen hielt, sie hatte mich längst bemerkt. Gefasst wartete ich auf ein Zeichen, ob sie mich in ihrer Nähe duldete oder ob sie mich abwies.

Dazu sollte der Leser freilich wissen, dass erwachsene Whippets ohnehin nicht sehr gesprächig sind. Und schon gar nicht, wenn sie sich gerade im Ruhemodus befinden.

Zum Zeichen des Einverständnisses, dass sie meine Gegenwart jedoch billigte, ließ Jane ein kurzes Schnaufen verlauten. Es war ein leises, fast liebvolles Schnauben. Um mir Platz zu machen, legte sie sich auf die Seite und streckte alle Viere von sich. Ich ließ mich an Janes Seite nieder und rückte ganz nahe an sie heran. Sicher ahnte sie, was mich zu ihr trieb. Aber zu meiner Enttäuschung hüllte meine Mutter sich in Schweigen. Sie ließ sich kein einziges Wort entlocken.

Dem musste ich mich notgedrungen fügen. Das verlangte der Respekt vor den Erwachsenen.

Zweites Kapitel:Neue Entwicklungen kündigen sich an

Ich ruhte an Janes Seite und lauschte dem nächtlichen Konzert. Es waren die wohlvertrauten Laute der Costa Blanca, die nun letztmalig an mein Ohr drangen.

Hin und wieder seufzte Jane leise auf, als könnte sie sich nur schwerlich damit abfinden, wie die Dinge gerade liefen. Aus dem Haus waren ferne Schritte zu hören. Ich vernahm das Klappern von Türen und gedämpfte Stimmen. Rosie packte gerade letzte Dinge zusammen. Aber warum nahmen meine Züchter die lange Tour überhaupt auf sich, überlegte ich voller Argwohn.

Wollte man etwas über die Absichten der Menschen erfahren, was sie umtrieb und wie sie dachten, dann musste man ihnen nur konzentriertzuhören. Der beste Platz zum Lauschen war unter dem Esstisch. Meinen Kopf auf Rosies Füße gebettet, hatte ich bereits bemerkenswerte Einblicke in die Welt der Zweibeiner gewonnen. Man könnte dabei durchaus auch von einer gewissenAllgemeinbildungsprechen.

So wusste ich beispielsweise schon, dass es im RheinlandfünfJahreszeiten gab statt der gewöhnlichen vier. Zu Frühling, Sommer, Herbst und Winter gesellte sich dort noch der Karneval als fünfte Jahreszeit hinzu. Immer wieder sprachen meine Züchter voller Zuneigung davon. Es war die närrische Zeit, in der die Menschen in seltsame Kostüme schlüpften und äußerst gesellig waren.

Außerdem wusste ich, dass für Sam ein frisch gezapftes Kölsch das Allergrößte war. Vermutlich wäre er Kilometer gelaufen, um es zu beschaffen.

Darüber hinaus wusste ich aber auch über Dinge Bescheid, die fernab der Costa Blanca passiert waren. Zum Beispiel, dass der Papst emigriert ist, weil er keine Lust mehr auf seinen Job im Vatikan hatte. Und dass Hollywood in die britische Königsfamilie eingeheiratet hat. (War aber offenbar ein Missgriff.) Und dass Menschen massenweise auf dem frostklirrenden Himalaja herumstanden und ihr Leben riskierten. Und zu guter Letzt, dass Spanien demnächst einen außergewöhnlich heißen Sommer erleben würde, so wie letztes Jahr. Reicht Ihnen das fürs Erste als Kostprobe meiner fundamentalen Sachkenntnisse? Sie müssen zugeben, dass mein Wissen eine gewisse Intellektualität verströmt. Für einen Windhund, der seine bisherige Kindheit ausschließlich in der spanischen Einöde verbracht hatte, schleppte ich bereits einen respektablen Wissensschatz mit mir herum.

Absolut bizarr waren aber die Dinge, die ich überDeutschlandzu hören bekam, dem Herkunftsland meiner Züchter. Sam hatte diesbezüglich von verschneiten Straßen und eingefrorenen Autos gesprochen. Begriffe, die einer völlig fremden Welt entstammten.

Aber es kommt noch schlimmer. Einmal behauptete Sam sogar, übers Wasser gegangen zu sein. Bei genügend Kälte sollte das Wasser in Deutschland nämlich steinhart werden. Dann sprach man von Eis. Natürlich war mir der BegriffEisnicht fremd, so dumm war ich nun auch wieder nicht. Salvaggio, der Eisdielenbesitzer in Saltera, verkaufte es portionsweise an seine Kundschaft. Die kleinen bunten Eiskugeln schmeckten köstlich. Demnach musste dieses Deutschland eine Art Schlaraffenland sein, wo das Eis einfach so auf der Straße herumlag. Meine Fantasie reichte kaum aus, um mir solche absonderlichen Dinge vorzustellen.

Mitternacht musste längst verstrichen sein, als das Grübeln in meinem Kopf allmählich nachließ. Am Ende fühlte ich mich ganz erschöpft vom vielen Nachdenken.

Jane war zu diesem Zeitpunkt längst in den Schlaf gefallen und tat von Zeit zu Zeit einen Seufzer. Lebhaften Träumen hingegeben, zitterten ihre Augenlider sekundenlang wie wild. Dann wiederum scharrte sie energisch mit den Pfoten, um im nächsten Augenblick in eine Art Koma zu versinken. Ich bettete meinen Kopf dicht an ihre Seite und spürte ihren Herzschlag. Die Nähe der Mutter beruhigte mich. Über das monotone Zirpen der Zikaden in den Bäumen muss ich irgendwann eingenickt sein. Aber es war ein unruhiger, oberflächlicher Schlaf, in den ich fiel.

Kaum hatte die Morgendämmerung eingesetzt, als Sam entschlossenen Schrittes aus dem Haus stapfte, begleitet von Leroy. Erwartungsvoll und bestgelaunt umtänzelte er Sam auf dem kurzen Weg zum Wohnmobil. Dazu muss man wissen: Leroy war Frühaufsteher, genau wie Sam. Sie waren morgens immer als Erste auf den Beinen.

Einen Augenblick später erschien Rosie in der Tür. Mit einer Hand hielt sie sich den Rücken, mit der anderen strich sie ihr kastanienbraunes, noch ungeordnetes Haar zur Seite. „Kommt, meine Mäuse. Kommt, kommt, kommt. Mutti gibt euch!“, rief sie uns zu.

Natürlich gab es immer ein paar Übereifrige in der Meute, die gar nicht schnell genug zur Stelle sein konnten, wenn Rosie nach uns rief. Offenbar aus Sorge, dass sie nicht genug abkriegten vom kalten Buffet.

Diesmal fiel das Frühstück jedoch ziemlich bescheiden aus. Jeder Vierbeiner erhielt etwas Trockenfutter und eine eingerollte Scheibe Wurst, die Rosie persönlich an uns verfütterte. Dabei achtete sie mit Sorgfalt darauf, dass wir auch alles auffraßen. Tatsächlich hatte sie dem Futter heimlich ein Schlafmittel beigemischt. Ein Trick unserer Züchterin, denn auf die Weise würden Sam und Rosie während der Fahrt eine Weile Ruhe haben vor uns Plagegeistern.

Einer nach dem anderen sprangen wir dann ins Wohnmobil und ließen uns nieder, wo gerade Platz war.

Die Märzsonne hatte sich soeben über das Meer erhoben, als ich einen letzten Blick darauf warf. Ein orangefarbener Ball über tief schimmerndem Blau. Aber niemanden aus der Meute interessierte das noch, so aufgeregt waren wir.

Eine Großtante namens Alma stimmte den Chor an, woraufhin die gesamte Schar in Almas schaurig schönes Heulkonzert einfiel. Erst als wir die erste Mautstation der Autobahn erreicht und unser Revier schon weit hinter uns gelassen hatten, beruhigten wir uns allmählich.

Zuerst durchquerten wir eine baumlose, hügelige Landschaft mit kleinen aschgrau wirkenden Dörfern. Ich blickte aufmerksam nach draußen und erinnere mich noch an schmucklose Häuserzeilen, die an uns vorüberflogen. An unzählige Antennen und das Kabelgewirr auf den Dächern und an die Wasserboiler, die neben den Kaminen thronten.

Ich versuchte, mir die eingeschlagene Route genau einzuprägen für den Fall, dass ich eines Tages wieder zur Finca zurückfinden musste. Man wusste ja nie.

Jane hatte sich auf der gepolsterten Eckbank im Küchentrakt niedergelassen. Der Platz war strategisch günstig gewählt, weil er unserer Mutter einen sicheren Blick über das Geschehen im Wohnmobil ermöglichte. Hin und wieder hoben sich ihre schweren Augenlider, um mit müdem Blick nach uns zu schauen, in dem sicheren Wissen, dass jeder von uns Jungspunden bald seinen eigenen Weg gehen würde.

Tatsächlich versetzten Rosies Schlaftabletten uns schon bald in angenehme Müdigkeit. Kein Wunder, dass mir vom weiteren Verlauf unserer mehrtägigen Reise nur noch bruchstückhafte Erinnerungen geblieben sind.

Ich weiß aber noch, dass wir irgendwann eine schneebedeckte Gegend durchquert haben. Oh ja, Schnee, es gab ihn tatsächlich, diesen wundersamen Schnee. Sam hatte nicht übertrieben. Meine Fantasie schlug bereits Purzelbäume. Doch leider hielt Sam nirgends an. Offenbar hatte er es eilig, aus dem Schneegebiet wieder herauszukommen.

Ebenso überraschend war der schnelle Wechsel zwischen einsamen Waldregionen und den belebten Straßenfluchten großer Städte. Im nächsten Augenblick kamen wir wiederum an Wiesen und Feldern vorüber, die grüner und größer waren als alles, was ich bisher an der Costa Blanca zu Gesicht bekommen hatte.

Nach geraumer Zeit verschwammen alle diese Eindrücke jedoch miteinander. Es waren zu viele Bilder, die meine Sinne überfluteten. Darum bitte ich um Verständnis, wenn ich von der Reise nur besondere Vorkommnisse schildere, zum Beispiel die Sache mit dem Zug.

Jedenfalls werde ich nie vergessen, wie wir mit einem Mal, ich glaube, es war am zweiten Tag unserer Reise, äußerst unsanft aus unserer Lethargie gerissen wurden. Während die Meute nichts ahnend vor sich hindöste, näherte sich uns von vorne unbemerkt ein Zug. Die Gleise verliefen direkt neben der Autobahn. Bei der dann erfolgenden Begegnung hat es einen gewaltigen Rums gegeben. Der geballte Luftdruck der Eisenbahnwaggons drängte Sams Wohnmobil mit einem Ruck beiseite, so dass wir um Haaresbreite in ein anderes Fahrzeug gekracht wären, das sich gerade neben uns befand. Sam hatte allergrößte Mühe die Kontrolle über sein Wohnmobil zu behalten. Gebannt beobachtete ich, wie er das Steuerrad umklammert hielt. Währenddessen begann er wild zu fluchen. Auf Spanisch übrigens. (Obgleich seine Sprachkenntnisse, was Spanisch anging, eher rudimentär gewesen sein dürften und über einHola! kaum hinausgingen.) Für mehrere Sekunden erzitterte das Innenleben unseres Wagens wie bei einem Erdbeben. Während die Meute erschrocken die Luft anhielt, verfolgte ich, wie Rosie seelenruhig ihre Salzbrezel weiterverzehrte. Von Panik keine Spur.

Weniger glimpflich verlief hingegen die Sache mit dem Verkehrsunfall etwa auf der Höhe von Marseille. Sam würde später zwar behaupten, dass die Bremslichter des Wagens vor ihm nicht aufgeleuchtet hätten, aber genau weiß das niemand mehr.

Gerade beobachtete ich, wie unser Nesthäkchen Undine sich aus Langeweile über einen Pappkarton hermachte und ihn in winzige Teile zerlegte, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Scheppern über uns hereinbrach. In der nächsten Sekunde wurden wir mit Wucht von unseren Plätzen geschleudert. Schranktüren öffneten sich, Porzellan und andere Gegenstände sausten wie Geschoße über unsere Köpfe hinweg. Überall verteilte sich Müll auf dem Boden. Als ich wieder nach Undine schaute, war sie wie vom Erdboden verschluckt.

Kurzum: Sam hatte den Rückstau übersehen und war auf das Stauende aufgefahren.

Für eine Sekunde herrschte gespenstische Stille im Wagen. Sam rührte sich schließlich als Erster und stieg aus. Beim Anblick der Karambolage seufzte er auf: „So eine verdammte Scheiße.“

Das war wohl das Ehrlichste, was man in der Situation dazu sagen konnte.

Auf einmal vernahm ich ein leises Wimmern von irgendwoher. Rosie blickte suchend um sich und zog Undine schließlich aus der Versenkung hervor, sie war im Fußraum gelandet. Die Schwester stand völlig unter Schock. In dem Moment sah ich, dass unsere Züchterin am Kopf blutete.

Ansonsten war aber niemand verletzt, auch Undine nicht. Auf Anraten der Polizei suchten meine Leute das nächstgelegene Krankenhaus auf. Glücklicherweise konnten wir aus eigener Kraft dort hinfahren, obgleich Sams Wohnmobil durch den Aufprall einen ordentlichen Stoß abgekriegt hatte und die Motorhaube weit offenstand.

Bis zum Abend hatte Sam eine Unterkunft für uns gefunden in einem Dorf namens Deux Eglises. Es war eine ziemlich heruntergekommene Kaschemme, in die wir Unterschlupf gefunden hatten. Aber Sam war froh, dass er von Gaston, dem Chef der einzigen Bar-Tabac im Ort, den Tipp überhaupt erhalten hatte, denn niemand im Dorf wollte zwei Fremde aufnehmen, die zudem noch eine Horde wilder Whippets mit sich führten.

Zum Glück gab es eine Autowerkstatt in Deux Eglises. Nach längerem Palaver war der Maître de Garage bereit, sich um Sams lädiertes Auto zu kümmern. Für die Beschaffung der Ersatzteile sowie die Reparatur würde man aber mindestens drei Tage brauchen, so wurde Sam mitgeteilt.

Sam fürchtete, dass Rosie außer sich sein würde über den Zwangsaufenthalt in Deux Eglises. Er wusste, die Sportsfreunde vom Rennclub daheim in Köln erwarteten Rosie schon mit Ungeduld. Um jede Zeitverzögerung zu vermeiden, stellte Sam sein Gefährt noch am selben Abend vor der Werkstatt ab.

Auf dem Rückweg machte er einen Zwischenstopp im Supermarkt des Dorfes, um für den Abend einzukaufen. Vermutlich quälte ihn noch das schlechte Gewissen wegen des Unfalls. Sam wollte etwas besonders Leckeres für Rosie kochen: Spaghetti Bolognese. Für uns Vierbeiner besorgte Sam mehrere Konservendosen mit Nassfutter. Eigentlich entgegen seiner Überzeugung, denn seiner Meinung nach befand sich in dem Konservenfraß viel zu viel Wasser, das er zwangsläufig teuer mitbezahlen musste. So war Sam nun mal.

Tatsächlich schmeckte die Konservenkost um einiges besser als die öden Trockenpellets, die mir bekannterweise ja schon zum Halse heraushingen. Das Dosenfutter war sogar so gut, dass ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe unbemerkt in die Küche stahl, um mir noch einen Nachschlag zu genehmigen.

Schnell hatte ich die Dose ausfindig gemacht. Zum Glück stand der Deckel einen Spalt weit offen. Als ich meine Zunge aber wieder aus der Blechbüchse herausziehen wollte, hatte der Dosendeckel sich auf so unglückliche Weise darin verheddert, dass ich feststeckte. Es gab kein Vor und kein Zurück mehr.