Lebenserinnerungen - Rudolf Eucken - E-Book

Lebenserinnerungen E-Book

Rudolf Eucken

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Beschreibung

Eucken lehrt, unter dem Einfluss besonders von Plato und Fichte, einen objektiven Idealismus als Weltanschauung, der aber nicht intellektualistisch ist, sondern auf selbständige, aktive Gestaltung des Lebens gerichtet ist (Aktivismus). Es ist ihm überall um eine Erhöhung des Lebens zu tun, um Gewinnung eines festen Standpunktes, von dem aus das Leben Sinn und Wert erhält, indem es als in einem universalen Geistesleben verankert erscheint, zu dein es sich aktiv im Kampfe gegen alles bloß Naturhafte und Hemmende zu erheben hat. Dies ist seine Autobiographie.

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Lebenserinnerungen

Rudolf Eucken

Inhalt:

Rudolf Eucken – Biografie und Bibliografie

Lebenserinnerungen

Vorwort.

Erster Teil.

Land und Leute.

Aurich

Meine Eltern

Erste Kinderjahre

Nachbarstädte

Inselreisen

Häusliches Leben

Das Auricher Gymnasium

Weitere Entwicklung

Schluß der Gymnasialzeit

Die Universitätsjahre

Berlin.

Husum

Zweiter Aufenthalt in Berlin

Frankfurt (1869–1871)

Basel (1871–1874)

Zweiter Teil

Die Weiterentwicklung meines Lebens und Strebens

Jena

Geistige und philosophische Lage des damaligen Deutschlands

Das Mühen um eine Hauptrichtung.

1881–1890

Die Grundlegung einer selbständigen Gedankenwelt und die Begründung eines eignen Hauses

Die Durchbildung meiner Überzeugungen

Weiterer Ausbau.

Erweiterung meines Wirkens über Deutschland hinaus

Der Nobelpreis

England

Amerika

Neue Aufgaben und weitere Pläne.

Der Weltkrieg

Erwägungen.

Ausklang.

Schluß

Lebenserinnerungen, Rudolf Eucken

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849612160

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Rudolf Eucken – Biografie und Bibliografie

Deutscher Philosoph und Träger des Literatur-Nobelpreises, geb. am 5. Januar 1846 in Aurich, verstorben am 15. September 1926 in Jena.

E. lehrt, unter dem Einfluss besonders von Plato und Fichte, einen objektiven Idealismus als Weltanschauung, der aber nicht intellektualistisch ist, sondern auf selbständige, aktive Gestaltung des Lebens gerichtet ist (Aktivismus). Es ist ihm überall um eine Erhöhung des Lebens zu tun, um Gewinnung eines festen Standpunktes, von dem aus das Leben Sinn und Wert erhält, indem es als in einem universalen Geistesleben verankert erscheint, zu dein es sich aktiv im Kampfe gegen alles bloß Naturhafte und Hemmende zu erheben hat. E. geht nicht von der Psyche des Einzelnen, nicht psychologisch vor, sondern »noologisch«, vom geistigen Lebensprozess und großen geistigen Zusammenhängen aus. Das »Geistesleben«, umspannt Gott und Welt, Subjekt und Objekt in einer selbständigen, übergeordneten Einheit. – Die einheitlichen Zusammenhänge von Lebensanschauungen und Lebenstendenzen nennt E. »Lebenssysteme« oder »Syntagmen«. Die Einseitigkeiten derselben, des Naturalismus, Intellektualismus, Ästhetizismus, werden von E. scharf beleuchtet. Die wahre geistige Kultur muss dem Menschen eine selbständige Stellung in der Natur geben, eine neue Art des Seins, eine Erhöhung seines Wesens, eine Innerlichkeit und Kraft, die über Natur und Intellekt hinausführt in das Reich des Geistes und seiner Werte. Dass Geistesleben muss in uns immer voller und reiner zum Durchbruch kommen, unser Leben sinnvoll erfüllen, uns erhöhen und vom Drucke des Daseins, des Ichs befreien.

Der bei sich selbst befindliche Lebensprozess ist Geist. Dieser »erzeugt aus seinem Schaffen eine neue Wirklichkeit und will die vorgefundene Lage damit umwandeln«. Im schaffenden Geistesleben erfolgt ein »Aufsteigen der Wirklichkeit zu einer inneren Einheit und zu voller Selbständigkeit«. Durch Kampf und Selbsttätigkeit muss die geistige Welt immer neu erobert werden; das Geistige ist aktive Selbstentwicklung. In der Geschichte eröffnet sich uns das – an sich selbständige – Geistesleben durch die Arbeit der Gesamtheit. Das Geistesleben ist eine an sich bestehende, selbständige Wirklichkeit, aber für unser Bewusstsein und unsere Tätigkeit ist es erst zu gewinnen und anzueignen, nur damit kann es eine deutliche Gestalt und einen bestimmten Inhalt gewinnen. Die Geschichte der Menschheit ist nur dadurch möglich, dass hier »eine Eröffnung des Geisteslebens als einer neuen Stufe der Wirklichkeit in Fluss kommt und vordringt«. Ein Gesamtgeschehen trägt alles Einzelne, treibt alles einem gemeinsamen Ziele zu. Die Natur ist Vorstufe des Geistes, ein Trieb zum Geistigen wirkt schon in ihr. Die Wirklichkeit ist nichts Abgeschlossenes, daher auch nicht rein begrifflich erschöpfbar. Unser seelisches Leben wird von der (transzendenten und zugleich immanenten) Einheit der göttlichen All-Person getragen und zu einem »personalen Lebenssystem« verknüpft. Von vornherein gehören die Einzelwegen einem universalen Personalleben an. Die Entfaltung eines wahrhaft personalen (einheitlich-aktiven) Geisteslebens ist eine unendliche Aufgabe, die einerseits durch unsere Selbsttätigkeit, anderseits durch das uns tragende, in unser Leben hineinreichende Wirken der geistigen Überwelt ermöglicht wird. Daher ist die (universale) Religion eine wahre Lebensmacht. Es gehört zu ihr, dass sie »der nächsten unmittelbar vorhandenen Welt eine andere Art des Seins, eine neue überlegene Ordnung der Dinge entgegenhält«.

Von E. beeinflusst sind O. Siebert, J. Goldstein, O. Braun, M. Scheler, H. Leser, E. Fuchs, O. Trübe, O. Kästner u. a.

SCHRIFTEN: Geschichte der philos. Terminologie, 1879. – Beiträge zur Geschichte 4. neueren Philosophie, 1886; 2. A. 1906. – Geschichten Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, 1878; 4. A, 1909 (Geistige Strömungen der Gegenwart). – Prolegomena zu Forschungen über d. Einheit d. Geisteslebens, 1885. – Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit, 1888. – Die Lebensanschauungen der großen Denker, 1890; 8. A. 1909. – Der Kampf um e. geistigen Lebensinhalt, 1896; 2. A. 1907. – Das Wesen der Religion, 1901. – Der Wahrheitsgehalt der Religion, 1901. 2. A. 1905. – Thomas von Aquino u. Kant, 1901; 2. A. 1910. – Gesammelte Aufsätze, 1903. – Hauptprobl. d. Religionsphilos., 3. A. 1909. – Grundlin. e. neuen Lebensansch., 1907. – Der Sinn u. Wert des Lebens, 1908; 2. A. 1910. – Einfuhr, in eine Philos. des Geisteslebens, 1908, u. a. – Vgl. O. SIEBERT, R. E.s Welt- und Lebensanschauung, 1904.

Lebenserinnerungen

Ein Stück deutschen Lebens

Vorwort.

Es häufen sich jetzt die "Lebenserinnerungen". Die ungeheure politische und geistige Erschütterung, welche durch die Gegenwart geht, treibt zwingend zu einer Selbstbesinnung und zu einer Selbstschau. Aber die Frage mußte sich aufdrängen, ob auch die hier gebotenen Lebenserinnerungen etwas enthalten, was weiten Kreisen bemerkenswert sein kann, oder ob sie sich nicht besser nur an den engeren Kreis der persönlichen Bekannten gewendet hätten. Wenn ich jene Frage bejahen zu dürfen glaubte, so geschah es aus folgender Erwägung.

Ich kann nicht von großen Taten berichten, auch war ich nicht an bedeutenden politischen Wendungen beteiligt; aber ich konnte den inneren Lauf des Lebens verfolgen und darüber hinaus für notwendige Forderungen wirken. Ich erlebte die großen inneren Wandlungen der deutschen Verhältnisse: meine Jugendzeit hatte weit einfachere und ruhigere Zustände, als sie uns später umfingen, das Leben verlief in engeren Bahnen, noch fehlte der riesenhafte Aufschwung von Industrie und Technik, es fehlten die Großstädte mit ihrer Anhäufung der Massen, es fehlte die Beherrschung des Lebens durch die Fabrik, es verschlang noch nicht eine fieberhafte Arbeitskultur das ganze Leben. Namentlich seit den siebziger Jahren hat sich diese Veränderung mehr und mehr gesteigert. Wer einen andersartigen Stand der Dinge erlebt hat, dem müssen, auch bei voller Anerkennung der Leistungen, die Schranken und die Gefahren dieser Wendung gegenwärtig sein. Dann aber muß er nach bestem Vermögen diesen Gefahren entgegenwirken und für einen Selbstwert des Lebens eintreten. In dieser Richtung zu wirken, das war meinem Leben als Aufgabe vorgezeichnet. Meine Lebenserinnerungen haben namentlich von dem Kampf gegen die Veräußerlichung des Lebens zu berichten. Diese Veräußerlichung ist nicht eine Schranke und eine Schuld eines einzelnen Volkes, sondern diese trifft die ganze Menschheit und fordert auch von dieser eine gründliche Wendung. Die hieraus erwachsenden Probleme bilden mit ihrer persönlichen Färbung den Hintergrund meines Lebens, von hier aus mag auch dasjenige einige Bedeutung erlangen, was ohne diesen Zusammenhang gleichgültig erscheinen kann. Wer die Überzeugung von der Notwendigkeit einer geistigen Reformation teilt, der wird daher auch die bescheidenen Bemühungen mit freundlicher Teilnahme begleiten, von denen meine Lebenserinnerungen berichten. Sie sind nicht bloß Eindrücke des einzelnen Individuums, sie enthalten Erlebnisse und Aufgaben sowohl des deutschen Volkes als der gesamten Menschheit. Daß ich diese Erlebnisse von einem ruhigen Punkt aus beobachten konnte, das mag ihrem Eindruck günstig sein.

Jena, im Oktober 1920. Rudolf Eucken.

Erster Teil.

Land und Leute.

Ostfriesland, meine Heimat, ist von kleinem Umfange, aber es hat eigentümliche Züge, und es hat dem deutschen Leben manches geleistet. Zwischen der Nordsee, Holland, dem Herzogtum Arenberg mit seinen streng katholischen Einwohnern, und Oldenburg gelegen, ist es vorwiegend auf sich selbst angewiesen. Die ganzen Jahrhunderte hatten einen harten Kampf gegen das wilde Meer zu führen, und zerstörende Sturmfluten leben dauernd in der Erinnerung der Bevölkerung fort. Der Boden ist verschiedener Art, und er stellt den Einwohnern manche Aufgaben. Der Rand, die Marschen, ist am fruchtbarsten, er besonders hat den Reichtum des Landes begründet, dann kommt die Geest mit ihren auslangenden wirtschaftlichen Verhältnissen, endlich das Moor, auf dem man ein hartes Leben zu führen hat. So bilden Landwirtschaft, auch die hier sehr blühende Pferdezucht, sodann die Seefahrt und der Handel die Quellen des wirtschaftlichen Wohlstandes. – Eigentümlich ist auch die nationale Lage. Ostfriesland steht zwischen Holland und Deutschland; mannigfache Kulturbeziehungen weisen nach beiden Seiten; es hängt eng mit jener Stellung zusammen, daß die Reformation hier schon 1520 Eingang fand und sich eigentümlich entwickelte. Ein Teil des Landes wurde lutherisch, der andere reformiert; das Luthertum kam vom Osten, während im Westen die holländischen Beziehungen voranstanden. Noch zu meiner Jugendzeit überwog bei den Reformierten die holländische Kirchensprache. – Die ältere Geschichte des Landes ist mannigfach mit Sagen verwoben und hat noch jetzt manche ungeklärte Fragen. Die politischen Verhältnisse haben sich eigenartig gestaltet, so daß Ostfriesland eine besondere Stellung in Deutschland besaß. Im späteren Mittelalter herrschten einzelne Häupter der Familien, durchgängig aber bestand eine volle Gemeindefreiheit, so daß hier das Lehnswesen keinen Eingang fand. Nach ungeheuren Zerrüttungen und wilden Kämpfen hob sich schließlich das Haus Zirksena zur Würde eines Reichsgrafen 1454 empor. Aber der Graf und spätere Fürst war mehr der erste unter anderen als ein souveräner Herr. Die fürstliche Macht wurde durch die Landstände sehr beschränkt, welche sich nach alter Art in Adel, Städte und Bauernschaft teilten, so daß auch die Bauernschaft am politischen Leben selbständig teilnahm. Einzelne Fürsten, vor allem Edzard der Große (1491-1528), haben Bedeutendes geleistet. Aber durchgängig war das Leben ein unablässiger Kampf zwischen den Fürsten und den Ständen, welche gelegentlich eigene Heere aufstellten und auch eigene Gerichtshöfe besaßen. Das fürstliche Haus hat aber dazu gewirkt, die Selbständigkeit Ostfrieslands gegen Holland zur wahren. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts lag es sehr nahe, daß das Land mit Burgund vereinigt wurde und damit die Schicksale Hollands geteilt hätte. Immerhin blieb dauernd bis zum Aussterben des Fürstenhauses ein nicht geringer Einfluß von Holland. Bis dahin hatte Emden, die weitaus größte und reichste Stadt des Landes, eine holländische Garnison. 1744 kam Ostfriesland an Preußen. Friedrich der Große hat das Land besucht und viel Interesse für den Aufschwung des Handels erwiesen, einzelne Anekdoten von ihm leben noch jetzt im Volksmunde. 1807 fiel Ostfriesland an Holland, dann an Frankreich (Napoleon), 1815 wurde es Hannover einverleibt. Den Ostfriesen war dies wenig genehm. Sie erwarteten von der größeren Macht Preußens mehr Förderung für Handel und Schiffahrt, sie hatten sich dort überhaupt wohl gefühlt. Ganze Jahrzehnte hindurch wurde der Geburtstag Friedrich Wilhelms III. in kleineren Kreisen gefeiert; es ist charakteristisch, daß auch mein Vater in seinem bis 1851 reichenden Notizbuch gewissenhaft den jemaligen Geburtstag Friedrich Wilhelms III. noch lange nach dessen Tode eingetragen hat. – Kaum ein einzelnes deutsches Land hat eine so entwickelte geschichtliche Forschung, wie Ostfriesland. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts sind bedeutende Werke darüber erschienen und haben Liebe zur friesischen Heimat wie das Bewußtsein einer Eigenartigkeit gestärkt. Merkwürdig ist es, daß die friesische Sprache, die in der Mitte des Mittelalters vollauf herrschte, schon im 16. Jahrhundert mehr und mehr zurückgedrängt wurde und nur in den Dörfern eine feste Wurzel hatte. Das 17. Jahrhundert brachte dem Niederdeutschen die volle Herrschaft. Manche Bezeichnungen aber haben sich in friesischer Form treu gehalten, und eine Fülle von eigentümlichen friesischen Eigennamen sind jetzt noch im Gange und Schwange.

Wenden wir uns näher zu den Einwohnern des Landes, unter denen ich aufwuchs. Eigentümlich ist ihnen Ernst und Festigkeit, Tüchtigkeit der Arbeit, eine große Widerstandskraft gegenüber Gefahren, aber auch eine gewisse Ruhe und Zurückhaltung, ja Schwerfälligkeit des Ausdrucks. Das Volk ist mehr gediegen und leistungsfähig als nach außen hin glänzend.

Von Anfang hatten die Friesen harte Kämpfe zu führen, einen Kampf gegen das wilde Meer, das ihre Fluren verheerte, einen Kampf gegen anliegende Fürsten, welche ihre Unabhängigkeit bedrohten, einen Kampf auch zur Erhaltung ihrer besonderen Art, welche sie auch zähe gegen kirchliche Satzungen wahrten. So haben sie eine große Selbständigkeit in Verfassung, Sitte und Denkweise erwiesen und sich einen eigentümlichen Lebensstil ausgebildet. Schon von altersher trugen sie die Bezeichnung "freie Friesen". Sie haben ein ausgesprochenes Rechtsbewußtsein, und nichts ist ihnen so unerträglich als eine Schmälerung ihres guten Rechts; es ist kein Zufall, daß eine besonders verbreitete Schrift des großen ostfriesischen Juristen Ihering den Titel trägt "Der Kampf ums Recht".

Der Friese hängt sehr an der Religion, aber er ist von großer Duldsamkeit für Andersgläubige. Bemerkenswert ist auch, daß schon seit der Reformation im größten Teil von Ostfriesland das volle Recht der Gemeinde bestand, den Geistlichen zu wählen, und daß auch die Frauen, sofern sie Hausbesitzer waren, das volle Wahlrecht hatten. Was die geistige Bewegung betrifft, so hatte Ostfriesland schon vor der Reformation manche Schulen, auch Dorfschulen, ja es ist wohl an keiner Stelle ein Schulzwang früher erstrebt als in Ostfriesland. Freilich ist dieser Schulzwang nicht energisch ausgeführt. Das literarische Leben bewegt sich entsprechend der abgeschlossenen Lage des Landes namentlich um ostfriesische Fragen und Aufgaben. Die Ostfriesen haben ihre geistige Kraft vor allem der eigenen Heimat gewidmet, aber es sei nicht vergessen, daß das kleine Land dem deutschen Leben manche hervorragende Forscher auf verschiedenen Gebieten gegeben hat. Vor allem sind zwei ausgezeichnete Juristen aus Ostfriesland hervorgegangen. Hermann Conring (1606 bis 1681), ein universaler Gelehrter, der von ganz Europa gefeiert wurde; er hat das besondere Verdienst, die deutsche Rechtsgeschichte begründet zu haben. Der andere Jurist von erstem Rang ist allen bekannt: Rudolf Ihering. Dann hat Ostfriesland in den beiden Fabricius bedeutende Astronomen gehabt. David Fabricius korrespondierte eifrig mit Kepler, seine Beobachtungen haben dazu beigetragen, das gewaltige Werk Keplers über den Planeten Mars zu fördern; der Sohn, Johannes Fabricius, aber ist der Entdecker der Sonnenflecke. In der Medizin hat Ostfriesland ebenfalls zwei berühmte Männer hervorgebracht. Reil († 1813) hat als ein hervorragender Mediziner in den Freiheitskriegen die Lazarette geleitet und vorher mehrere bedeutende wissenschaftliche Werke geschaffen. Sodann ragt unter den Medizinern Frerichs hervor, den wir nicht näher zu schildern brauchen. So dürfen wir nicht denken, es sei Ostfriesland im geistigen Leben zurückgeblieben.

Aurich

Meine engere Heimat ist Aurich, die Hauptstadt des Landes. Sie verdankt ihre Bedeutung der zentralen Lage, alle anderen ostfriesischen Städte liegen am Rande des Landes. So war Aurich der gegebene Mittelpunkt. Die Stadt hatte so gut wie keine Fabriken; sie war als der Sitz aller Behörden überwiegend Beamtenstadt. Die Beamten selbst stammten zum guten Teil aus Hannover. Charakteristisch für die friesische und niedersächsische Art war dabei, daß die richterlichen Behörden in der Schätzung des Volkes entschieden vor den Verwaltungsbehörden standen. Die stille Stadt erhielt zu gewissen Zeiten eine eigentümliche wirtschaftliche Bedeutung durch ihre Jahrmärkte, namentlich durch die Pferdemärkte, die einen gewissen Wechselverkehr der verschiedenen Orte bewirkten, weit über Ostfriesland hinaus. An den Haupttagen dieser Jahrmärkte waren zu meiner Zeit die Schulen geschlossen, alles bewegte sich um diesen Mittelpunkt.

Die Stadt hatte eine besondere geistige Atmosphäre, die wohl als eine glückliche gelten durfte. Ruhe und Friede, welche durch keine Eisenbahn gestört wurden, herrschten überall, jeder konnte seinen Liebhabereien nachgehen, geistige Arbeit wurde geschätzt, die sozialen Fragen schlummerten noch, nur ab und zu schlug eine Welle aus dem großen Leben des Landes hierher. Dazu kam eine anspruchslose, aber anmutige Natur. Die Stadt ist umgeben von Wäldern und kleinen Gehölzen, die den Spaziergängern volle Erholung bieten. Die Häuser waren klein, aber behaglich und oft mit Gärten versehen. Von alters her umschloß ein Stadtgraben die Stadt. Das Naturbild des Ganzen wurde namentlich durch einige sehr stattliche Windmühlen belebt. Leider wurde die schöne Frühlingszeit oft durch das Moorbrennen gestört, das die Gegend zeitweilig mit trübem Rauch erfüllte.

Meine Eltern

Ich wurde geboren am 5. Januar 1846 als erstes Kind nach zehnjähriger Ehe. Mein Geburtshaus steht an der Ecke der Osterstraße und der Neustadt. Mein Vater kam aus dem friesischen Jeverland. Er stammte aus einem alten, ursprünglich wohlhabenden Bauerngeschlecht, aber die Familie verlor durch die furchtbare Sturmflut 1825 ihr Besitztum. Das trieb meinen Vater dazu, die Beamtenlaufbahn beim Postwesen einzuschlagen. Er war zuerst Postverwalter in Wittmund, dann aber Vorstand des Hauptpostamtes in Aurich. Er hatte die beste Aussicht eine größere Stellung im Hannoverschen zu erlangen, aber er fühlte sich viel zu sehr als guter Ostfriese, um von der Heimat zu scheiden. Ich war fünfeinhalb Jahr alt, als er starb, aber ich habe einen deutlichen Eindruck von seiner Persönlichkeit. Er hing mit großer Liebe an mir und pflegte mich täglich von der kleinen Spielschule abzuholen, auch trug er gewissenhaft jedes Monatsdatum meines Alters in seine Notizen ein. Merkwürdig ist es, daß ich von ihm eine Begabung für das Kopfrechnen und ein großes Interesse für Statistik und Handelsverhältnisse ererbt habe, während meine Angehörigen mütterlicherseits dafür wenig Interesse hatten. Dieses Interesse für Statistik usw. hing in keiner Weise mit meiner geistigen Hauptrichtung zusammen. Aber es hat mich treu begleitet, und meine Bremer Bekannten haben mich oft damit geneckt, wie genau ich über die Handelsbeziehungen, über die Schiffahrt usw. orientiert war. Wahrscheinlich hätte mein Vater stärker auf mich wirken können, wenn er uns nicht so früh genommen wäre.

Unvergleichlich tiefer hat meine Mutter auf mich gewirkt, ja sie hat die Grundzüge ihres Wesens auf mich übertragen. Sie war die Tochter eines sehr angesehenen und geschätzten Geistlichen, der (1776–1848) zu den Führern des ostfriesischen Rationalismus gehörte . Er hat im Geiste einer besonnenen Aufklärung unermüdlich eine gemeinnützige Tätigkeit geübt. Jener Rationalismus verstand das Christentum vornehmlich moralisch; Jesus erschien an erster Stelle als Menschen- und Kinderfreund. Dieser Rationalismus hatte unverkennbar eine gewisse Nüchternheit, und er hat den Stand einer Popularphilosophie nicht überschritten, aber er hatte große Verdienste um die Kulturarbeit, an erster Stelle um den Unterricht. Mein Großvater teilte lebhaft die Bestrebungen des Lehrerstandes, und er hat in seinem Hause eine Privatschule eingerichtet, die über Deutschland hinaus von Holländern, Norwegern usw. besucht wurde. Auch an künstlerischen Antrieben fehlte es ihm nicht. Er hat in seinen jüngeren Jahren Romane geschrieben, und einzelne seiner Gedichte haben auch in weiteren Kreisen Anklang gefunden. Auch hat er eifrig für die Hebung des Gartenwesens gewirkt. Noch jetzt hat das Dorf, in dem er die Hauptzeit seines Lebens wirkte, dank seiner Anregung besonders gut gepflegte Baumpflanzungen. Für seine Stellung zur Philosophie ist die Tatsache bemerkenswert, daß er im Jahre 1801 an der Universität Rinteln mit einer Dissertation promovierte, welche den Titel trug: "Der Mensch ist von Natur entweder sittlich gut oder sittlich böse". Ausdrücklich wird dabei bemerkt "nach Kantischen Prinzipien". Für Ostfriesland selbst war die Erwerbung dieser Doktorwürde mehr eine Hemmung als eine Förderung seiner sozialen Stellung. Als Doktor der Philosophie erschien er leicht als ein vom Volk abgelöster Gelehrter, und ein "Doktor" außerhalb der Medizin galt als etwas Wunderliches. Es ist bemerkenswert, daß dieser tüchtige, rastlos tätige, um das Gemeinwohl unablässig bekümmerte Mann nie eine Wahlstelle erhalten hat. Er konnte an dem Orte seiner Tätigkeit, dem kleinen Eggelingen, ruhig wirken und hatte dabei den Vorteil, zwischen dem größeren Jever und dem kleineren Wittmund lebhafte gesellschaftliche Beziehungen unterhalten zu können. Jedenfalls war das großelterliche Haus voll geistiger und gesellschaftlicher Anregungen. Meine Mutter empfing ihre Bildung und ihren wissenschaftlichen Unterricht von ihrem Vater. Dieser war keineswegs ein Freund von gelehrten Frauen; meine Mutter meinte oft, daß nach dieser Richtung wohl mehr hätte geschehen können. Während mein Großvater geistig und wissenschaftlich schaltete, war die Großmutter überwiegend praktisch gerichtet und hatte vor allem den Ehrgeiz, alles, was nur möglich war, im eigenen Hause zu erzeugen: es wurde gesponnen, gewebt, Bier gebraut usw. Meine Mutter hatte von Hause aus einen frischen und geweckten Sinn, sie galt als klug und liebenswürdig und wurde von allen Freunden sehr geschätzt. Sie verstand es vortrefflich, die Eindrücke von Menschenleben und Natur wiederzugeben. Sie hat im Verlauf ihres Lebens eine große Elastizität und Kraft erwiesen. Von einem jungen talentvollen Emder Maler Camminga besitze ich ein Bild von ihr, welches sie als junge, liebreizende Frau darstellt; mit einem Zug tiefer Innerlichkeit, beinahe Schwermut, schaut sie uns an. Ich hatte später die Freude, daß der berühmte Kunstkenner Jacob Burckhardt voll Anerkennung dieses Bild als ein "feines Bild" bezeichnete. Meine Mutter war von Jugend an voll literarischer Interessen, sie hatte ein ausgezeichnetes Urteil, und so konnte ihr das übliche gesellschaftliche Leben und Treiben um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht voll genügen. Eine innige Freude hatte sie an der Natur, am Wald und am Meer. Sie hat in ihren Tagebüchern dieser Freude wiederholt Ausdruck gegeben.

Erste Kinderjahre

Meine ersten Schicksale waren wenig glücklich. Beinahe wäre ich rasch durch einen Unfall aus dem Leben geschieden. Ich saß, kaum einjährig, auf dem Schoß meiner Mutter, ergriff aus einem Schlüsselkorb blitzartig ein offenes Vorhängeschloß und steckte es in den Mund, um es herunterzuschlucken. Es hing nun alles daran, daß ich nicht erstickte. Meine Mutter bemühte sich mit größter Kraft jenes Schloß zu erfassen und zurückzuziehen. Inzwischen wurde aber der ganze Hals zerrissen. Endlich gelang es ihr das Schloß herauszuziehen, sie wurde dann ohnmächtig. Das ganze Haus lief zusammen. Vier oder fünf Ärzte wurden gerufen, sie alle glaubten, daß ich in einigen Augenblicken sterben müsse. Der Hausarzt meinte: "Lassen Sie das Kind in Ruhe sterben". Trotzdem versuchte die Großmutter mir etwas Haferschleim einzuträufeln, und indem sie die Wirkung dessen sorgfältig beobachtete, gewahrte sie, daß ich einige Tropfen herunterschluckte. Dies gab dem Hausarzt wieder Mut, und ich wurde gerettet. Aber natürlich war ich auf lange Zeit arg geschwächt.

Dieses Unglück war nicht das einzige. Ein Scharlachfieber hatte in seinen Folgen größere Wucherungen auf der Hornhaut meiner Augen hervorgerufen. Ich wurde dabei ärztlich zunächst falsch behandelt, völlig vom Licht abgesperrt und ganze Wochen in ein völliges Dunkel gebracht; alle Mittel, die ziemlich barbarisch waren, halfen nicht das mindeste. Endlich eröffnete der Arzt meinen Eltern, daß ich das Augenlicht verlieren werde. Natürlich wurden nun andere Ärzte zugezogen, der berühmte Augenarzt, Dr. Lange in Emden, hat mich gerettet, der uns befreundete berühmte Professor Frerichs aber sein Urteil bestätigt. Anfänglich waren die Augen noch sehr zart, ich wurde später ihretwegen als dauernd untauglich zum Militärdienst erklärt, sie haben sich aber im Laufe der Zeit immer mehr gekräftigt. Meine durch diese Leiden geschwächte Gesundheit wurde durch den wiederholten Besuch von Seebädern sehr gefördert.

Alle diese Erlebnisse gaben mir einen großen Ernst und haben mich bald in manches Grübeln gebracht, um so mehr, weil die schweren Verluste meiner Angehörigen hinzu kamen. Zunächst wurde mir mein einziger lieber kleiner Bruder genommen. Noch am Weihnachtstage 1850 hatten wir miteinander vergnügt gespielt und uns über einen gemeinsamen Schlitten gefreut. Am Sylvesterabend wurden wir nach der Kirche gebracht, um die Posaunen zu hören, mit denen nach dortiger Sitte damals der Schluß des Jahres gefeiert wurde. Am 2. Januar aber wurde mein Bruder schwer krank, und schon am 7. erfolgte der Tod. Ich selbst habe die Erlebnisse mit vollem Bewußtsein erlebt, sie sind mir heute noch genau so gegenwärtig wie damals. Tief traf dieser Verlust des blühenden und schönen Kindes meine Eltern. Er hat den unsicheren Gesundheitszustand meines Vaters schwer erschüttert. Zur Erholung sollten wir drei das Seebad Norderney besuchen. Von einem Kinderfest wurde ich dort heimgeholt, und es wurde mir mitgeteilt, daß mein Vater gestorben sei. Die Leiche wurde im Wagen durch das Watt nach Aurich überführt und dort bestattet. So kam es über meine arme Mutter wie eine Sturmflut von Leiden. Aber so tief sie das alles empfand, und so schmerzlich sie ihre Lieben ihr ganzes Leben vermißt hat, so hat sie doch den Mut und die Kraft zum Weiterleben nicht verloren. Auf dringenden Wunsch der hannoverschen Verwandten wurde eine längere Reise dorthin unternommen, die erste Reise, die ich machen durfte. Die Fahrt ging damals zunächst nach Oldenburg, dann zu Schiff nach Brake, von da aus nach Bremen, wo ich die erste Eisenbahn erblickte, die auf mich einen sehr unheimlichen Eindruck machte. Jene Reise hat meine Mutter sehr erquickt, und die herzliche Gesinnung von Freunden und Verwandten hat ihr wohlgetan. Dabei hatte sie ein sie aufrichtendes Erlebnis, das freilich mehr sie als mich berührte. Wir trafen in der Post von Gifhorn nach Celle mit einem würdigen Rabbiner zusammen, der sich mit meiner Mutter unterhielt; dann ergriff er mich, legte seine Hand auf meinen Kopf und segnete mich. Er sagte: "Er wird durch ferne Länder gehen, und er wird Großes im Dienste Gottes leisten". Auf meine tiefgebeugte Mutter hat dieses Ereignis einen dauernden Eindruck gemacht. – In Aurich zogen wir in ein bescheidenes, aber mit einem hübschen Garten versehenes Haus. Meine Großmutter hatte sich dieses als ihren Witwensitz gekauft. Es lag außerhalb der eigentlichen Stadt auf dem sogenannten Zingel; der Stadtgraben trennte diesen Zingel von der eigentlichen Stadt, unmittelbar in der Nähe war eine stattliche Mühle, die uns Wind und Wetter gewissenhaft verkündete. Eine Hauptfreude war für mich der Garten, der unmittelbar an eine große Wiese grenzte. Der Garten war an erster Stelle ein Nutzgarten, er versorgte uns mit Kartoffeln, Bohnen usw., aber er enthielt auch eine Anzahl von Beerensträuchern und Obstbäumen. Ich selbst hatte mir bald gewisse Lieblingsplätze erkoren, sei es in einer Laube, sei es auf einem schräg liegenden Obstbaum. Vor dem Hause war ein kleiner Vorgarten mit Pappeln, und nach der Außenseite war Wein gepflanzt, der meist eine schöne Ernte brachte.

Die Natur von Aurich ist sehr günstig für die aufwachsende Jugend. Die Stadt liegt auf einem breiten Sandstreifen, der sich durch das