Lehrbuch Kognitive Seelsorge II - Hans-Arved Willberg - E-Book

Lehrbuch Kognitive Seelsorge II E-Book

Hans-Arved Willberg

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Beschreibung

Die Bände 6 und 7 der ISA-Lehrbuchreihe sind das theoretische Unterrichtsmaterial für die beiden Zentralkurse I und II bei ISA (Institut für Seelsorgeausbildung, Ettlingen bei Karlsruhe, www.isa-institut.de) in „Kognitiver Seelsorge & Verhaltenstherapie“. Teil I in Band 6 enthält Begründung , Einführung und Anleitung zur Praxis der Kognitiven Seelsorge; Teil II in Band 7 erweitert den Lernstoff durch grundlegende Gesichtspunkte der Neuropsychologie, Entstehungsmodelle seelischer Störungen (Ätiologie) und kognitiv-verhaltenstherapeutische Diagnostik und Therapieplanung. Die Ausbildung in Kognitiver Seelsorge ist das Alleinstellungsmerkmal von ISA. Während insbesondere in den USA kognitive Ansätze schon seit Jahrzehnten ein zentraler Bestandteil der Seelsorge sind und umgekehrt die säkularen Kognitiven Therapien wertvolle Handreichungen für die Verwendung bei glaubenden Menschen entwickelt haben, hat sie sich in Mitteleuropa noch kaum durchsetzen können. Das ist erstaunlich, weil die Kompatibilität ihrer Prinzipien mit den biblischen Aussagen über die Veränderung des Denkens außerordentlich hoch ist. ISA ist das einzige Ausbildungsinstitut in Mitteleuropa, das eine überkonfessionelle Seelsorgeschulung anbietet, in der die Kognitive Seelsorge Achse und Aushängeschild des Gesamtprogramms ist. Die beiden Zentralkurse sind überdies eine „Ausbildung in der Ausbildung“, indem sie dadurch, dass sie miteinander den Schwerpunkt auf Kognitive Verhaltenstherapie legen, auch ein ansehnliches Vorbereitungsprogramm auf die staatliche Prüfung zum Heilpraktiker für Psychotherapie bilden. Diese beiden Bände sind aber alles andere als Insiderliteratur für Kursteilnehmer. Teil 1 in Band 6 bietet eine prägnante, didaktisch eingängige Einführung zum Eigenstudium für alle, die auf wirklich gutem Niveau einen klar strukturierten Zugang zur Rational-Emotiven Verhaltenstherapie erhalten wollen. Die spirituellen Aspekte, die aus der REVT Kognitive Seelsorge machen, werden den interessierten Leser sehr wahrscheinlich ebenfalls bereichern, auch wenn er selbst den christlichen Glauben des Verfassers nicht teilt.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Denken wir nur, dass wir denken?

Kognitive Seelsorge im Licht der Neuropsychologie

Die Neuropsychologie der Beliefs

1.

Motivationale Schemata

1.1. Bahnungen

1.2. Ein hierarchisches System

1.3. Die Cognitive-Experiential-Self-Theory

1.4. Die Relativität des Unbewussten

1.5. Die Emotion als Weg zum Unbewussten

Testfragen

Wer sitzt im Chefbüro: Ich oder mein Gehirn?

2.

Der neurobiologische Determinismus

2.1. Das Bereitschaftspotenzial

2.2. Ich bin nicht mein Selbst

2.3. Das Geist-Seele-Leib-Problem

2.4. Eccles’ Lösungsversuch

2.5. Das Problem des kausalen Nexus

2.6. Ross und Reiter

2.7. Der neurobiologische Anti-Dualismus

2.8. Veto-Funktion und Kreativität

2.9. Zwei philosophische Ansätze Testfragen

Verwendete Literatur

Die Neuropsychologie der Beliefs

1. Motivationale Schemata

Unsere Persönlichkeit entwickelt sich durch das Wechselspiel zwischen unseren grundlegenden Bedürfnissen und den Herausforderungen, mit denen wir auf dem Weg zu ihrer Befriedigung konfrontiert werden. Der Wille zur Bedürfniserfüllung ist unsere Antriebskraft. Darauf sind wir festgelegt und in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von Tieren oder Pflanzen. Wir können nicht anders als den jeweils unserer Wahrnehmung nach bestmöglichen Weg zur Bedürfniserfüllung einzuschlagen. Auch alles Schuldigwerden und alle Psychopathologie dient diesem Ziel. So wie Pflanzen im Überlebenskampf die „verrücktesten“ Wege suchen, um genügend Wasser, Luft und Licht zu bekommen, sind auch alle destruktiven und kranken Verhaltensweisen des Menschen Versuche, die wahre Bedürfniserfüllung und damit das Gelingen des Lebens (dazu sagt man „Glück“) zu erzwingen, wenn auch auf den skurrilsten und verzweifeltsten Umwegen. Immer ist es der Wille zum Leben, der sich Bahn macht. Wir bahnen unseren Weg. Indem wir das tun, bildet sich unsere Persönlichkeit.

1.1. Bahnungen

Dem Neurobiologen Gerald Hüther zufolge lassen sich die „Triebimpulse“ des Menschen

„als Manifestationen bereits stattgefundener Bahnungsprozesse auf der Ebene neuronaler Verschaltungen verstehen. Demnach wären Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnisse, aggressive und narzißtische Bedürfnisse als erfolgreiche Bewältigungsstrategien des Kindes zu werten, deren zugrundeliegende Verschaltungsmuster durch wiederholte, kontrollierbare Stressreaktionen bereits tief im kindlichen Gehirn verankert worden sind. Die Triebfeder für die sequentielle Aneignung dieser Strategien im Denken, Fühlen und Handeln eines Kindes wäre die von ihm erlebte Angst und das daraus resultierende Grundbedürfnis nach Überwindung dieser Angst, also nach Sicherheit. Die zur Unterdrückung dieser Angst eingeschlagenen Strategien sind vom jeweiligen Entwicklungsstadium des Kindes abhängig.“1

Dem neuropsychologischen Forschungsbefund nach veranlasst das Vorhandensein apriorischer2 Grundbedürfnisse unser Gehirn zur Ausbildung entsprechender neuronaler Erregungsmuster, die als motivationale Schemata bezeichnet werden.3 Diese haben entweder annähernden oder vermeidenden Charakter, je nachdem, ob der Mensch in einem Umfeld heranwächst, das seine Bedürfnisbefriedigung fördert oder das ihr ablehnend gegenübersteht.4 Weil solche neuronalen Erregungsmuster sich mit Wegen vergleichen lassen, die vom Gehirn auf das Oberziel der Bedürfniserfüllung hin angelegt werden, nennt man sie auch Bahnungen.5

„Es entstehen im Zuge zunehmender Erfahrungen immer mehr Unterziele und Mittel (Fähigkeiten) zur Realisierung des Oberziels. Je differenzierter die hierarchische Struktur eines Schemas wird, um so mehr Möglichkeiten hat das Individuum, das hinter dem motivationalen Schema stehende Bedürfnis zu befriedigen.“6

Natürlich verlaufen die Bahnungsprozesse, die immer dadurch motiviert sind, dass die von den seelischen Grundbedürfnissen diktierten Sollwerte der Oberziele erreicht werden,7 nicht konfliktfrei, da sie ständig auf neue Herausforderungen stoßen, die sie entweder zu erhöhtem Energieaufwand nötigen, um das Hindernis zu integrieren, oder die sie sogar scheitern lassen.8 Hüther zufolge äußert sich der Integrationsprozess als eine kontrollierte Stressreaktion:

„Zu einer […] kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn zwar Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) Strategien zur Vermeidung oder Beseitigung des Stressors verfügbar sind, die Effizienz dieser Mechanismen jedoch (noch) nicht ausreicht, um die aufgetretene Anforderung durch eine zur Routine gewordene Reaktion zu bewältigen und die Aktivierung einer Streßreaktion zu verhindern.“9

Der Stress lege sich, wenn die Integration gelungen sei.10 Wenn aber „eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, […] so kommt es zu einer sogenannten ‘unkontrollierbaren Streßreaktion’“.11 Der Sinn einer solchen bestehe darin, zugunsten der Oberziele Bahnungen, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen, aufzulösen und neuen, passenderen Raum zu schaffen,12 so wie im Straßenbau veränderter infrastruktureller Bedingungen wegen mancher Weg eingeebnet werden muss, um einen neuen, besseren, zu ermöglichen.

„Unkontrollierbarer Streß kann veraltete, für neuartige Anforderungen unbrauchbare Bewertungs- und Bewältigungsmuster durch überwiegend degenerative Veränderung der ihnen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen destabilisieren und auslöschen.“13

Solche Erfahrungen seien schmerzlich und zudem riskant, weil die sinnvolle Neubahnung auch ausbleiben könne, insbesondere dort, wo die unkontrollierte Stressreaktion zu viel Schaden anrichte: Es könne

„die Destabilisierung neuronaler Verschaltungen bei lang anhaltenden unkontrollierbaren Belastungen tiefer reichen und mehr auflösen, als eigentlich erforderlich wäre. Die mit Verzweiflung und Ratlosigkeit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion ist die Voraussetzung dafür, daß wir einen neuen, geeigneteren Weg zur Bewältigung der Angst finden. Dauert sie zu lange an, so werden die immer wieder anflutenden Streßhormonwellen zu einer wachsenden Gefahr für unsere geistige, emotionale und körperliche Integrität.“14

Destabiliserungen seien trotz dieses Risikos aber notwendig, um „eine Neuorganisation [der] inneren Ordnung“ zu ermöglichen.15 Wenn sie nicht stattfänden, würde sich die Entwicklung der Persönlichkeit nur durch immer fortschreitende neuronale Anpassungsprozesse vollziehen, denn „[d]ie zunehmende Spezialisierung eines Systems auf die Beseitigung ganz bestimmter Störungen schränkt zwangsläufig seine Fähigkeit ein, adäquat auf andere, bisher seltener aufgetretene Veränderungen seiner Außenwelt zu reagieren.“16 Dadurch würden tief greifende Veränderungen unmöglich und der Mensch bliebe unfrei: „Frei können wir in unseren Entscheidungen eigentlich immer erst dann werden, wenn es so wie bisher nicht mehr weitergeht, wenn alle bisher bewährten Strategien unsres Denkens, Fühlens und Handelns sich als ungeeignet oder undurchführbar erweisen.“17

Somit trügen sowohl die kontrollierte als auch die unkontrollierte Stressreaktion zum Persönlichkeitswachstum bei:

„Herausforderungen stimulieren die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabilisierung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern.“18

Hüther behauptet dementsprechend, dass die Stressreaktion „der große Modellierer“ sei, der „im Lauf unseres Lebens immer wieder dafür sorgt, daß zunächst zwar richtige, sich später aber als Sackgassen erweisende Verschaltungen aufgelöst und neue Wege eingeschlagen werden können.“19

1.2. Ein hierarchisches System

Die Theorie der motivationalen Schemata ist durch Klaus Grawe (1943–2005) publik geworden. Sie geht auf die in den 70ern veröffentlichte Kontrolltheorie von William Powers zurück. Demnach wird das Denken, Empfinden und Verhalten des Menschen durch eine hierarchisch gegliederte Abfolge neuronaler Schaltkreise bestimmt.20

Ganz oben ist die Systemebene, von der die Prinzipienebene als zweitoberste bestimmt sei (Abbildung 1).21 Die Systemebene sei die Ebene der seelischen Grundbedürfnisse, nach Kontrolle, Lust, Bindung und Selbstwerterhöhung (Abbildung 2).22 Die Prinzipienebene enthalte die individuellen Grundsätze nach denen der Einzelne versuche, die Bedürfniserfüllung optimal zu gewährleisten. Diese Grundsätze werden motivationale Schemata genannt: „Die motivationalen Schemata sind die Mittel, die das Individuum im Laufe seines Lebens entwickelt, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen und sie vor Verletzung zu schützen.“23 Miteinander würden die motivationalen Schema ein „zusammenfassendes“ Selbstschema bilden, „das die psychische Aktivität des Individuums massgeblich bestimmt.“24 Physiologisch betrachtet bestünden die motivationalen Schemata und ihre Derivate in „neuronalen Erregungsbereitschaften […]. Sie sind in cell assemblies oder neuronalen Gruppen organisiert.“25 Aus der Prinzipienebene würden sich die Sollwerte der Programmebene ableiten, auf der unser Alltagsbewusstsein angesiedelt sei.26 Aus welchen Grundüberzeugungen die Alltagsentscheidungen jeweils resultieren, ist uns normalerweise nicht bewusst, weil es sich um automatisierte Vorgänge handelt. Neuropsychologisch gesehen ist Automatisierung Bahnung stabiler neuronaler Verschaltungen.

Abbildung 1: Die motivationalen Schemata nach Grawe

Abbildung 2: Die vier seelischen Grundbedürfnisse nach Grawe

Man kann dieses hierarchische Grundmuster unseres Gehirns mit der Metapher eines Geschäftshochhauses veranschaulichen: Im Erdgeschoss werden die fertigen Produkte ausgeliefert, umgekehrt gehen hier Lieferungen zud Bestellungen ein. Das ist die sensorisch-leibliche Ebene, über die wir im Kontakt zur Außenwelt stehen, empfangend und gebend. Entsprechend verlaufen die Umsetzungsprozesse der motivationalen Ebenen sowohl von unten herauf (bottom up) als auch von oben herunter (top down). Nach oben spitzt sich die Hierarchie zu: Im „Oberstübchen“ ist das Chefbüro. Hier werden die ökonomischen Hauptziele der Firma vorgegeben und kontrolliert; wenn die Bilanz stimmt, wird bestätigt und ermutigt, wenn nicht, werden Korrekturmaßnahmen ergriffen. Normalerweise werden nicht ganze Abteilungen in den Keller gesperrt, wie im klassisch psychoanalytischen Modell, nur weil sie dem Soll nicht genügen - dies wäre merkwürdig unproduktiv. Man müsste sich wirklich fragen, wie ein Mensch dann überhaupt funktionieren könnte.27 Was nicht heißt, dass nicht doch manch Unangehmes dort verschwindet, sofern es eben mit dem auf der System- und Prinzipienebene definierten Design durchaus nicht in Einklang zu bringen ist. Dann trifft zu, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

1.3. Die Cognitive-Experiential Self-Theory

Grawe verbindet die Kontrolltheorie von Powers mit der Cognitive-Experiential Self-Theory (CEST) von Seymour Epstein,28 die mit der Motivationshierarchie nach Powers übereinstimmt, diese aber um das Konstrukt der vier seelischen Grundbedürfnisse bereichert. „Die Grundbedürfnisse haben […] eine zentrale Stellung in Epsteins Persönlichkeitstheorie. Sie sind gewissermaßen die Standards, an denen sich die gesamte psychische Aktivität ausrichtet.“29 Epstein behauptet:

Abbildung 3: Seelische Grundbedürfnisse und Grundüberzeugungen nach S. Epstein

„According to CEST, everyone develops an implicit theory of reality that contains subdivisions of a self-theory, a world theory, and propositions connecting the two. A personal theory of reality is a hierarchically organized set of ‘schemas’ and networks of schemas. The most basic schemas are referred to as ‘postulates’.“30

Diese als implizite Forderungen wirkenden Basis-Schemata befinden sich auf der Prinzipienebene. Sie bestehen Epstein zufolge aus den „four basic beliefs“:

„[E]veryone has an intuitive belief about (1) the degree to which the world is benign; (2) the degree to which life is meaningful (including predictable, controllable and just); (3) the degree to which people are desireable to relate to; and (4) the degree to which the self is worthy (including capable, good, and lovable).“31

Aus diesen Grunderwartungen und Grundüberzeugungen setzen sich, so Epstein, die individuellen Konzepte zur Erfüllung der Grundbedürfnisse zusammen (Abbildung 3). Die Zielsetzung der Grundüberzeugungen sei die individuelle Balance der Grundbedürfnisse:

„According to CEST, the four motives above are all of central importance, and any one of them can dominate the others, depending on the individual and circumstances. It is assumed that all four motives normally play an equally important role in directing behavior. That is, behavior is viewed as a compromise among the four basic motives.“32

1.4. Die Relativität des Unbewussten

Aus neuropsychologischer Perspektive scheint es zwei Grundformen des Unbewussten zu geben:

Gewohnheiten,

die in stabilen neuronalen Verschaltungen repräsentiert sind.

Verdrängungen.

Hierbei wird Ungewohntes abgespalten, weil es nicht in das binnenpsychische System passt. Der Prozess des Verdrängens ist allerdings wieder ein Gewohnheitsphänomen, indem durch beständiges Nicht-Zulassen des nicht akzeptierten Erfahrungsgegenstandes dieser sozusagen eingemauert wird, bis er völlig verschwunden zu sein scheint.

Insofern kann man die Grundformen des Unbewussten wohl auf Gewohnheiten ohne oder mit Verdrängungsfunktion reduzieren.

Gewohnheiten sind Energie und Zeit sparende Automatisierungen von Gehirnvorgängen, ohne die wir der Komplexität des menschlichen Lebens unmöglich gerecht werden könnten. Nicht nur für Pianisten gilt, dass sie noch nicht wirklich gut spielen, wenn sie noch überlegen müssen, wie die Finger zu setzen sind. Vollendete Kunst hingegen hat die Technik fast völlig verinnerlicht, oder trocken neuropsychologisch ausgedrückt: Durch Üben automatisiert. Der Künstler muss nicht mehr überlegen, wie er zu spielen hat, und erst dadurch wird er ganz frei zur Interpretation des Stücks: Die Technik wird zum Raster, das er mit Leben füllt. Automatisierungen schaffen kreativen Freiraum.

Das Automatisierte wird im Gehirn anders abgespeichert als das Nicht-Automatisierte. Es steht viel schneller zur Verfügung. Es wird intuitiv unmittelbar präsent. Leider betrifft das nicht nur positive und konstruktive Gedächtnisinhalte, sondern auch negative und destruktive.

CEST ist eine integrative Persönlichkeitstheorie, die sowohl den Erkenntnissen von kognitiver Psychologie und Verhaltenspsychologie als auch von Tiefenpsychologie und Neuropsychologie gerecht werden soll.33 Epstein versteht sie als einen Mittelweg zwischen oberflächlichen Persönlichkeitstheorien, die das Unbewusste eliminieren, und solchen, die es überbewerten und verkomplizieren.34 Epsteins Überzeugung nach vollziehen sich die meisten mentalen Ereignisse weder völlig bewusst noch in unzugänglichen Regionen des sogenannten „Unterbewussten“, sondern „at a preconscious level of awareness - a level at which people automatically interpret reality. It is a level that influences our feelings, behavior, and conscious thinking“35 Automatisch laufen diese Vorgänge ab, weil bewusste Interventionen nicht nötig sind und nur stören würden.36

Auch nach dem CEST-Modell gibt es Probleme, die aus unbewussten Konflikten entstehen. Epstein meint aber, dass die Psychoanalyse diese überbewertet habe und dass Verdrängung nichts weiter als eine gelernte Vermeidungsreaktion sei. „There is simply an area of experience that is problematic because it is dissociated, and therefore cannot be assimilated into the broader conceptual system of the individual.“37 Pathologische Probleme entstünden aber weniger aus dieser Tiefenschicht als aus „maladaptive preconsious cognitions.“38

Fallbeispiel: Frau Abe weiß, dass sie in ihrer Jugend schlimme Missbrauchserfahrungen gemacht hat. Das belastet sie stark, veranlasst sie immer wieder zu fruchtlosen Grübeleien und ist ein wesentlicher Faktor für immer wieder auftretende depressive Episoden. Ihre zahlreichen Versuche, durch Gebet Heilung zu erfahren, blieben ergebnislos. In der Beratung zeigt sich, dass sie eine „panische“ Angst davor hat, diese Erfahrungen überhaupt nur anzuschauen. Sie schließt die Augen davor. Die Beraterin führt mit ihr eine ABC-Analyse durch. Frau Abe erkennt die Irrationalität ihrer Angst. Ihr irrational Belief (iB) behauptet, sie könne das auf keinen Fall aushalten. Durch sokratisches Nachfragen wird deutlich, welche Horrofantasien sich unter dem Etikett „Nicht aushalten“ verbergen: Sie müsse verrückt werden, in die Psychiatrie kommen, immer dort bleiben usw. Die Beraterin disputiert den iB mit Frau Abe. Dadurch wird die Angst so weit reduziert, dass Frau Abe sich entschließt, „das Fass aufzumachen“. Nun beginnt endlich der Heilungsprozess.

1.5. Die Emotion als Weg zum Unbewussten

Epstein unterscheidet zwischen zwei Denktypen, „nämlich […] zwischen Erfahrungsdenken und rationalem Denken. Diese werden als zwei fundamental verschiedene Wege der Wissensaufnahme angesehen, der eine beruht auf Gefühlen und Erfahrungen, der andere auf dem Intellekt.“39 Der Erfahrungsverstand beziehe seine Informationen intuitiv aus dem rational nicht unmittelbar zugänglichen Erfahrungsgedächtnis. „Im realen Leben tendiert man dazu, zuerst mit seinem Erfahrungsverstand und dann mit dem rationalen Verstand zu reagieren.“40 Für sozialkompetentes Verhalten komme es aber entscheidend auf den konstruktiven Dialog der beiden Verstandesweisen an.41

Wenn eine Erfahrung „emotiv bewertet wird“, beinhalte das notwendig, „daß die bewertungsthematischen Ereignisse als bedürfnisrelevante empfunden werden“, stellt die Emotionspsychologin Brigitte Scheele fest. Sie spricht in diesem Zusammenhang von „bedürfnisrelevante[n] Wertmaßstäbe[n]“ und meint damit „subjektive Orientierungen, die, hergeleitet aus Subjektiven [sic!] Theorien des Selbstkonzepts, die motivationalen Ist- und Soll-Lagen des Individuums bestimmen“, wobei sie sich auf Epstein bezieht. Ein Bedürfnis sei „als Manifestation einer relativ überdauernden Werthaltung“ zu verstehen, „die die strukturelle Basis für die aktuelle […] Bewertung vorliegender Phänomene […] abgibt“. Wiederum unter Hinweis auf Epstein behauptet sie, es sei möglich, „Emotionen als ‘via regia’ […] des wissenschaftlichen Verstehens persönlichkeitszentraler, werthaltiger Selbstkonzeptionen und ‘subjektiver Leitbilder’ […] zu modellieren.“42 „Der Begriffskern von Emotion ist notwendig und hinreichend bestimmt durch […] kognitiv-bewertende Bewußtseinsinhalte.“43

Epstein betont, dass die Wirklichkeitstheorien der Menschen einen