Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch - Barbara E Stalder - E-Book

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch E-Book

Barbara E Stalder

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Die Auflösung des Lehrvertrags birgt für Jugendliche die Gefahr, ohne Berufsabschluss zu bleiben. In einer Laufbahnstudie wurde untersucht, unter welchen Bedingungen es den Jugendlichen gelingt, ihre Ausbildung nach der Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschliessen. Die 1300 Jugendlichen wurden über 10 Jahre beobachtet, und auch ihre ehemaligen Berufsbildenden kommen zu Wort. Zudem illustrieren Porträts der Jugendlichen, wie sie die Zeit vor und nach der Vertragsauflösung erlebt haben.

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Seitenzahl: 343

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Barbara E. Stalder, Evi Schmid

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg – kein Widerspruch

Wege und Umwege zum Berufsabschluss

Mit Porträts betroffener Lernender, erstellt von Fabienne Lüthi

ISBN Print: 978-3-0355-0150-6

ISBN E-Book: 978-3-0355-0398-2

Umschlagbild: Sebastian Kobel, www.verschlusszeit.ch

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Vorwort

Der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg ins Berufsleben. Lehrvertragsauflösungen bergen das Risiko, dass Jugendliche erst mit erheblicher Verzögerung einen zertifizierenden Abschluss erwerben oder langfristig ohne Berufsabschluss bleiben. Dies hat nicht nur für die direkt betroffenen Personen, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft gravierende Konsequenzen. Bund, Organisationen der Arbeitswelt und Dachverbände der Lehrerschaft haben sich entsprechend zum Ziel gesetzt, die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II auf 95 % zu erhöhen. In Anbetracht der großen Zahl vorzeitiger Vertragsauflösungen steht vor allem die Prävention im Vordergrund und die Frage, mit welchen Maßnahmen vorzeitige Vertragsauflösungen vermieden werden können. Das vorliegende Buch knüpft an diese Diskussion an, geht aber einen Schritt weiter. Lehrvertragsauflösungen, so eine Kernaussage, bieten die Gelegenheit, die ursprüngliche Entscheidung für einen Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überdenken und die Ausbildungslaufbahn in neue Bahnen zu lenken. In diesem Sinn können Lehrvertragsauflösungen langfristig auch positiv betrachtet werden – dann nämlich, wenn es Lernenden gelingt, ihre Ausbildung nach der Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen. Ins Zentrum rückt damit die Frage nach dem Wiedereinstieg und nach den Gelingensbedingungen für den erfolgreichen Abschluss einer zertifizierenden Sekundarstufe-II-Ausbildung. Mit der vorliegenden Arbeit steht erstmals eine Längsschnittstudie zur Verfügung, die sich dieser Frage annimmt und die langfristigen Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen untersucht. Das Buch richtet sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern auch an Fachpersonen und Interessierte aus Politik und Praxis. Es bildet eine Grundlage für Maßnahmen, welche von Betroffenen und Beteiligten an Schulen und in Betrieben ergriffen werden können, um Jugendliche nach einer Lehrvertragsauflösung zu unterstützen, einen Abschluss auf der Sekundarstufe II zu erlangen.

An dieser Stelle danken wir allen Personen herzlich, die in den letzten zehn Jahren zum Gelingen des Projekts LEVA und zu dieser Publikation beigetragen haben. Ein großer Dank geht an Theo Ninck, Vorsteher des Mittelschul- und Berufsbildungsamts der Erziehungsdirektion des Kantons Bern. Er hat es uns ermöglicht, mehr als tausend Lernende und Berufsbildende nach der Vertragsauflösung zu befragen und den weiteren Bildungsverlauf der Jugendlichen gestützt auf bildungsstatistische Daten zu rekonstruieren. Unseren Kolleginnen und Kollegen an der Abteilung Bildungsplanung und Evaluation der Erziehungsdirektion, dem Institut für Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Neuchâtel und dem Institut Sekundarstufe II der PHBern danken wir für den wertvollen fachlichen und methodischen Austausch. Ein besonderer Dank gilt den Lehrpersonen, die uns unterstützt haben, Jugendliche für die Porträts zu finden, und Fabienne Lüthi, die die ehemaligen Lernenden interviewt und porträtiert hat. Barbara Coca Calderón danken wir für das Korrekturlesen und die kritischen Rückmeldungen zum Manuskript. Ganz besonders danken wir den inzwischen jungen Erwachsenen, die sich an der Studie und den Interviews beteiligt haben. Sie haben über eine Zeit in ihrem Leben berichtet, die für sie nicht einfach gewesen ist. Umso mehr hat uns gefreut, dass die meisten davon erzählt haben, dass es trotz – oder wegen? – einer Lehrvertragsauflösung möglich ist, in Ausbildung und Beruf erfolgreich zu sein.

Für die Autorinnen, Bern im Frühling 2016Prof. Dr. Barbara E. Stalder

Inhalt

Vorwort

1

Einleitung

 

1.1

Berufsbildung und Lehrvertragsauflösungen in der Schweiz

 

1.2

Lehrvertragsauflösung und Lehrabbruch: Begriffsklärung

 

1.3

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg: Das Projekt LEVA

2

Passung, Sozialisation und Fluktuation

 

2.1

Passung

 

 

2.1.1

Ebenen von Passung

 

 

2.1.2

Wirkung von Passung im Vergleich

 

 

2.1.3

Stabilität und Veränderung von Passung

 

2.2

Organisationale Sozialisation

 

 

2.2.1

Proximale und distale Ergebnisse der organisationalen Sozialisation

 

 

2.2.2

Determinanten von Sozialisationsergebnissen

 

 

2.2.3

Fluktuation als Ergebnis misslungener Sozialisation

3

Lehrvertragsauflösung: Von fehlender Passung zum Ausbildungserfolg

 

3.1

Besonderheiten der beruflichen Grundbildung

 

3.2

Gründe für Lehrvertragsauflösungen

 

3.3

Lehrvertragsauflösung und Wiedereinstieg

4

Fragestellung und Daten

 

4.1

Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und Fragestellungen

 

4.2

Projekthintergrund

 

4.3

Erhebungsdesign und Inhalte der Befragungen

 

4.4

Stichproben und Rücklauf

5

Ergebnisse

 

5.1

Entstehungsbedingungen für Lehrvertragsauflösungen

 

 

5.1.1

Gründe für die Lehrvertragsauflösung

 

 

5.1.2

Berufsorientierung, Selektion und Passung

 

 

5.1.3

Ausbildungsbedingungen und Ausbildungsqualität vor der Vertragsauflösung

 

 

5.1.4

Wichtige Ergebnisse

 

5.2

Entscheidung und Suche nach Anschlusslösung

 

 

5.2.1

Maßnahmen zur Vermeidung der Auflösung

 

 

5.2.2

Entscheidung für die Auflösung des Lehrvertrags

 

 

5.2.3

Unterstützung bei der Suche nach einer Anschlusslösung

 

 

5.2.4

Wichtige Ergebnisse

 

5.3

Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung

 

 

5.3.1

Deskriptive Ergebnisse zum Wiedereinstieg

 

 

5.3.2

Tätigkeiten nach der Lehrvertragsauflösung

 

 

5.3.3

Determinanten des Wiedereinstiegs

 

 

5.3.4

Wichtige Ergebnisse

 

5.4

Ausbildungserfolg

 

 

5.4.1

Deskriptive Ergebnisse zum Abschluss einer Sekundarstufe-II-Ausbildung

 

 

5.4.2

Determinanten des erfolgreichen Abschlusses

 

 

5.4.3

Ausbildungsbedingungen, Arbeitsbedingungen und Zufriedenheit

 

 

5.4.4

Wichtige Ergebnisse

6

Zusammenfassung und Diskussion

 

6.1

Lehrvertragsauflösung und unzureichende Passung vor Lehrantritt

 

6.2

Lehrvertragsauflösung und unzureichende Passung nach Lehrantritt

 

6.3

Wiederanpassung und Ausbildungserfolg

 

6.4

Folgerungen für die Praxis

Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Porträts

Daniel, 17-jährig

«Ich will jetzt einfach glücklich sein»

Simon, 19-jährig

«Ich bin immer tiefer gesunken, physisch wie psychisch»

Kevin, 19-jährig

«Ich habe mich zurückgezogen, wurde stiller, aggressiver, war mit mir selbst im Clinch»

Sergio, 21-jährig

«Es ist schon so, ich bin ein Versager»

Remo, 17-jährig

«Ich wollte doch nicht Koch werden, um immer nur Sandwiches zuzubereiten»

Sandra, 20-jährig

«Sie hat mich wie eine kopflose Niete behandelt. Ich kam mir vor wie ihre Sklavin»

Hanna, 31-jährig

«Ich war damals irgendwie selber total von der Rolle»

Antonia, 28-jährig

«Es war jedes Mal wieder eine so große Belastung und Enttäuschung, dass ich fast kaputtging»

Matthias, 27-jährig

«Ahnungslosigkeit oder Alternativlosigkeit»

1 Einleitung

In der Schweiz und in Deutschland werden zwischen 20 und 25 % aller Lehrverträge vorzeitig aufgelöst (Stalder & Schmid, 2006a, 2006b; Uhly, 2015). In einigen Lehrberufen wird jedes dritte oder sogar jedes zweite Lehrverhältnis vorzeitig beendet. Berücksichtigt man zudem, dass manche Lernende eine Klasse wiederholen oder die Abschlussprüfung nicht bestehen, ist der Anteil der Lernenden mit nichtlinearem Ausbildungsverlauf beträchtlich: In der Schweiz durchlaufen nur rund 70 % der Lernenden ihre berufliche Grundbildung gradlinig bis zum erfolgreichen Abschluss, d. h. ohne Unterbrechung, Klassenrepetition, Wechsel oder Misserfolg bei der Lehrabschlussprüfung (Stalder, 2012a).

Die vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags ist für die betroffenen Lernenden häufig ein belastendes Ereignis (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schmid, 2010; Schmidt & Tippelt, 2011). Sie gehört nicht zu jeder Ausbildungsbiografie, ist weder von Lernenden noch von Berufsbildenden eingeplant und institutionell auch nicht vorgesehen (Neuenschwander, Gerber, Frank & Rottermann, 2012; Stamm, 2012). Für Betriebe ist die vorzeitige Vertragsauflösung mit personellen und finanziellen Einbußen verbunden, da getätigte Ausbildungsleistungen verloren gehen und neue Lernende gesucht und eingearbeitet werden müssen (Wenzelmann & Lemmermann, 2012). Lernende sind mit einem «Bruch» in ihrer Bildungslaufbahn konfrontiert und herausgefordert, sich neu zu orientieren (Hecker, 2000; Schöngen, 2003b). Die Hürden, die bei einem Wechsel von Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überwinden sind, sind hoch und vor Lehreintritt getroffene berufliche Vorentscheidungen nicht einfach revidierbar (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schöngen, 2003b). Lernende, die das Berufsfeld wechseln möchten, müssen bis zum darauf folgenden Schuljahresbeginn warten und wieder im ersten Lehrjahr beginnen. Zudem zögern viele Betriebe, Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung eine Lehrstelle anzubieten (Höötmann, 2001; Stalder, 2000).

Vorzeitige Vertragsauflösungen sind auch in der Bildungspolitik seit Langem ein Thema. Sie werfen ein kritisches Licht auf die Funktionsfähigkeit und die Effizienz des Berufsbildungssystems und verweisen auf Probleme an der Schnittstelle zwischen der Volksschule und der beruflichen Grundbildung (Deuer, 2006; Galliker, 2011; SKBF, 2010). In diesem Kontext stellen sich Fragen zur Berufsorientierung und zur Anpassung der Lernenden an die schulischen und betrieblichen Anforderungen der beruflichen Grundbildung – aber auch zur Qualität der Volksschule und der Ausbildung in den Lehrbetrieben und Berufsfachschulen (Deuer, 2015; Stalder & Carigiet Reinhard, 2014; Uhly, 2015). In Anbetracht der Bedeutung vorzeitiger Lehrvertragsauflösungen und nichtlinearer Ausbildungsverläufe haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Übertritt in die Sekundarstufe II frühzeitig zu erfassen und Maßnahmen zu verstärken, um Ausbildungswechsel, Abbrüche und Wartejahre zu vermeiden (EDK, 2006; EDK et al., 2015; Schweizerische Eidgenossenschaft & EDK, 2011). Die politische Diskussion von Lehrvertragsauflösungen wird unter zwei Gesichtspunkten geführt: Erstens wird nach Gründen und Erklärungen für Lehrvertragsauflösungen gesucht und es werden Präventionsmaßnahmen gefordert, um die Auflösungsquote zur verringern (EDK et al., 2015). Zweitens richtet sich das Augenmerk auf die Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen und den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Jugendlichen. Es wird befürchtet, dass ein Teil der Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung keine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II findet, ohne Berufsabschluss bleibt und damit Gefahr läuft, sich langfristig nicht erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (Bertschy, Böni & Meyer, 2007; Häfeli & Schellenberg, 2009; Schmid, 2013). Jugendliche sollen entsprechend besser unterstützt und befähigt werden, ihre (berufliche) Ausbildung nach einer Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen (Schmid, 2010).

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg ist, so die Grundthese des vorliegenden Buches, kein Widerspruch. Lehrvertragsauflösungen sind nicht immer negativ zu bewerten. Sie bedeuten nicht immer, dass die Lernenden – oder die Betriebe – gescheitert sind (Hecker, 2000; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Uhly, 2013). Eine Vertragsauflösung bietet den betroffenen Lernenden die Chance, Ausbildungsproblemen wirkungsvoll zu begegnen und die berufliche Laufbahn unter Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten neu zu gestalten (Bohlinger, 2002b; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015). Gelingt es den Jugendlichen, eine Anschlusslösung zu finden und einen Berufsabschluss zu erlangen, kann eine Lehrvertragsauflösung zumindest langfristig als positiv beurteilt werden (Boockmann, Dengler, Nielen, Seidel & Verbeek, 2014).

1.1 Berufsbildung und Lehrvertragsauflösungen in der Schweiz

Das Thema «Lehrvertragsauflösung» findet in der Schweiz auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil die (duale) Berufsbildung hierzulande stark verwurzelt ist und trotz zeitweiliger Kritik sowohl im Inland wie auch im Ausland als Erfolgsmodell gelobt wird (OECD, 2008; Schellenbauer, Walser, Lepori, Hotz-Hart & Gonon, 2011). Rund zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz durchlaufen eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2015). Der Einstieg erfolgt mehrheitlich direkt nach der Volksschule oder einem Brückenangebot. Nur wenige Jugendliche treten nach Abschluss einer allgemeinbildenden Ausbildung (gymnasiale Maturitätsschule, Fachmittelschule) in eine berufliche Grundbildung ein (vgl. SKBF, 2014). Im Jahr 2012 traten 46 % der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schule direkt in eine berufliche Grundbildung ein. 17 % der Schulaustretenden besuchten ein Brückenangebot, das auf den Eintritt in eine berufliche Grundbildung vorbereitet, d. h. ein Berufsvorbereitendes Schuljahr/oder eine Vorlehre (SBFI, 2015). 14 % nahmen an einer anderen Zwischenlösung teil (z. B. Praktikum, Sprachaufenthalt, Motivationssemester) oder waren nicht in Ausbildung. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nach der Volksschule eine allgemeinbildende Ausbildung besuchten, ist mit 27 % im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gering.

Berufliche Grundbildungen dauern zwei bis vier Jahre und werden in rund 240 Lehrberufen mit unterschiedlichen intellektuellen Anforderungen angeboten (Stalder, 2011b). Drei- und vierjährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch stärkere Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Ergänzend kann ein Berufsmaturitätsabschluss erworben werden, der einen prüfungsfreien Zugang zu Fachhochschulen gewährt. Zweijährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch schwächere, vorwiegend praktisch begabte Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Berufsattest (EBA). Die zweijährige berufliche Grundbildung löst die Anlehre ab, die wenig standardisiert war und bei Jugendlichen wie Eltern nur wenig Akzeptanz fand (Kammermann, Stalder & Hättich, 2011).

Berufliche Grundbildungen sind mehrheitlich dual organisiert, wobei die Ausbildung im Kleinbetrieb mit weniger als 50 Beschäftigten die häufigste Form ist (SBFI, 2015; Wettstein, Schmid & Gonon, 2014). Die Ausbildung ist auf drei Lernorte verteilt: den Betrieb, die Berufsfachschule und die Ausbildungszentren, in denen die überbetrieblichen Kurse stattfinden. Gemessen an der Ausbildungszeit liegt der Ausbildungsschwerpunkt im Lehrbetrieb. Lernende verbringen in der Regel drei bis vier Tage in der Woche im Betrieb und besuchen ein bis zwei Tage in der Woche die Berufsfachschule. Die überbetrieblichen Kurse werden von den Organisationen der Arbeitswelt durchgeführt und dauern zwei Wochen bis drei Monate verteilt auf die gesamte Lehrdauer. Wie andere duale Systeme ist das Schweizer Berufsbildungssystem eng mit dem Beschäftigungssystem verknüpft (Gonon, 2002; Stalder & Nägele, 2011; Stolz & Gonon, 2008). Die Bildungspläne und Qualifikationsverfahren1 sind berufsspezifisch ausformuliert und der Weg von der Berufsausbildung ins Erwerbsleben ist stark vorstrukturiert (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Die Organisationen der Arbeitswelt (Berufsverbände, Sozialpartner, Unternehmen) sind neben Bund und Kantonen zentrale Akteure in der Berufsbildung. Sie bestimmen über die Ausbildungsinhalte, die zu erreichenden Kompetenzen bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung sowie die Qualifikationsverfahren (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Betriebe, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Lernenden erfüllen, entscheiden frei, ob sie sich an der Ausbildung beteiligen. Die Berufsbildenden wählen zudem aufgrund eigener Selektionskriterien, wen sie ausbilden möchten und wen nicht (Imdorf, 2014; Stalder, 2000).

Rechte und Pflichten von Lehrbetrieb und Lernenden werden in einem Lehrvertrag festgehalten, der vor Lehrantritt von den Berufsbildenden und den Lernenden bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung unterschrieben wird. Der Lehrvertrag ist eine besondere Art von Arbeitsvertrag, bei dem die Ausbildung der lernenden Person im Zentrum steht. Er richtet sich nach den Bestimmungen des schweizerischen Obligationenrechts über den Lehrvertrag (OR, 1911, Art. 344–346a). Gemäß Artikel 344a regelt der Lehrvertrag die Art und die Dauer der beruflichen Grundbildung, die Probezeit, die Arbeitszeit, die Ferien und den Lohn der Lernenden. Durch den Lehrvertrag verpflichten sich die Arbeitgebenden, die Lernenden für eine bestimmte Berufstätigkeit fachgemäß zu bilden und sie bei der Ausbildung zu unterstützen. Die Lernenden erklären sich damit einverstanden, im Rahmen dieser Ausbildung Arbeit im Dienst des Arbeitgebers zu leisten. Damit richtet sich das Augenmerk auf die besondere Rolle von Lernenden und Berufsbildenden. Lernende sind nicht nur Auszubildende, sondern Mitarbeitende mit besonderem Status (Lamamra & Masdonati, 2008a; Lohaus & Habermann, 2015). Sie sind in reale Arbeitsprozesse eingebunden (Wettstein et al., 2014) und müssen sich in eine Gruppe erwachsener Kolleginnen und Kollegen integrieren (Nägele & Neuenschwander, 2014). Sie leisten produktive Arbeit und erzielen in vielen Branchen Erträge, die die Ausbildungskosten übertreffen (Strupler & Wolter, 2012). Insbesondere in Kleinbetrieben übernehmen Lernende häufig Aufgaben, die sonst von an- oder ausgelernten Angestellten ausgeführt werden müssten (Stalder, 1999). Berufsbildende sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit besonderem Status, die primär den betrieblichen Erfolg sicherstellen müssen. Zusätzlich sollen sie für eine ausreichende Qualität der beruflichen Grundbildung am betrieblichen Lernort sorgen und sind dafür verantwortlich, dass Lernen bei der Arbeit möglich ist (Nägele, 2013). Gemäß Berufsbildungsverordnung verfügen Berufsbildende über ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis und zwei Jahre Berufspraxis im Lehrgebiet sowie über eine berufspädagogische Qualifikation im Umfang von 100 Lernstunden oder 40 Kursstunden (BBV, Art. 44).

Der Lehrvertrag ist zeitlich befristet und erstreckt sich über die gesamte Dauer der beruflichen Grundbildung. Das Lehrverhältnis endet nach Ablauf der festgelegten Ausbildungszeit. Als Vertrag mit fester Laufzeit kann ein Lehrvertrag während der Probezeit mit einer Frist von sieben Tagen aufgelöst werden. Danach ist er grundsätzlich nicht kündbar, es sei denn, es liegen wichtige Gründe vor (OR, 1911, Art. 346). Eine Kündigung ist dann zulässig, wenn den Berufsbildenden die zur Bildung der lernenden Person nötigen beruflichen Fähigkeiten oder persönlichen Eigenschaften fehlen. Sie kann aber auch dann vorgenommen werden, wenn die Lernenden nicht über die für die berufliche Grundbildung nötigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen verfügen oder wenn sie gesundheitlich oder sittlich gefährdet sind. Eine Vertragsauflösung ist zudem zulässig, wenn die berufliche Grundbildung nicht oder nur durch wesentliche Veränderungen beendet werden kann. Die Entscheidung für die Auflösung des Lehrverhältnisses kann vom Lehrbetrieb und den Lernenden in beidseitigem Einverständnis oder einseitig getroffen werden.

Lehrverträge – neue Abschlüsse und auch vorzeitige Auflösungen – werden in den Statistiken der kantonalen Ämter für Berufsbildung registriert. Im Falle einer Entscheidung vonseiten der Lehrvertragsparteien muss der Lehrbetrieb das zuständige kantonale Amt für Berufsbildung informieren (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 4). Dieses bestätigt die Auflösung beiden Parteien schriftlich. Die kantonale Aufsichtsbehörde kann dem Berufsbildungsgesetz unterstehende Lehrverhältnisse aber auch von sich aus auflösen (BBG, 2002, Art. 24, Abs. 5 Bst. b), wenn gesetzliche Vorschriften nicht eingehalten werden oder der Erfolg der beruflichen Grundbildung infrage gestellt ist. Dies kommt allerdings nur in Ausnahmefällen vor. In Bezug auf das weitere Vorgehen nach einer Lehrvertragsauflösung gibt es kaum gesetzliche Vorgaben. Einzig für den Fall einer Betriebsschließung schreibt das Berufsbildungsgesetz den Behörden vor, dafür zu sorgen, dass die Lernenden die berufliche Grundbildung ordnungsgemäß beenden können (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 5).

1.2 Lehrvertragsauflösung und Lehrabbruch: Begriffsklärung

Im öffentlichen Diskurs werden die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Ausbildungsabbruch» bzw. «Lehrabbruch» häufig synonym verwendet. Oft wird auch dann von Lehrabbruch gesprochen, wenn es eigentlich um eine Lehrvertragsauflösung geht, was wohl auf die Medienpopularität des Begriffs zurückzuführen sein dürfte (Bohlinger, 2002b). Mit Schlagzeilen wie «Lehrlinge im Stress – Tausende brechen ab» (Schweizer Fernsehen, 4. November 2015)2 oder «Lehrabbruch: Ein Schritt ins Leere» (Beobachter, 17. Januar 2007)3 wird unmissverständlich deutlich gemacht, wer die Auflösung verschuldet hat und welche gravierenden Konsequenzen mit diesem ‹Fehltritt› verbunden sind. Tatsächlich geben solche Medienberichte das Phänomen von Lehrvertragsauflösungen nur unzutreffend wieder. Die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Lehrabbruch» bedeuten nicht dasselbe. Die synonyme Begriffsverwendung ist unangebracht und führt vor allem im Zusammenhang mit der quantitativen Bewertung des Phänomens zu Missverständnissen und Unklarheiten (vgl. dazu auch Bohlinger, 2002b; Uhly, 2015).

Aus juristischer Sicht bezeichnet der Begriff «Lehrvertragsauflösung» die vorzeitige Auflösung, das heißt Kündigung des Lehrvertrags seitens einer der beiden Vertragsparteien oder im gegenseitigen Einvernehmen (OR, 1911, Art. 346). Von «Lehrvertragsauflösung» wird dann gesprochen, wenn ein Lehrverhältnis vor Ablauf der im Lehrvertrag festgehaltenen Ausbildungszeit beendet wird – unabhängig davon, aus welchen Gründen dies geschehen ist und wer die Entscheidung getroffen hat. Der Begriff «Lehrvertragsauflösung» lässt auch keinerlei Rückschlüsse auf den weiteren Ausbildungsverlauf der Jugendlichen zu. Ein Lehrvertrag wird auch dann aufgelöst, wenn unmittelbar danach ein neuer Lehrvertrag ausgestellt wird und Lernende die Ausbildung fortsetzen.

Auch in wissenschaftlichen Arbeiten werden «Lehrvertragsauflösung» und «Abbruch» zuweilen synonym verwendet (Baumeler, Ertelt & Frey, 2012; Faßmann, 1998; Fess, 1995). Faßmann (1998) präzisiert zwar, dass vor allem «Abbrüche nach unten» (ersatzloser Ausstieg aus der beruflichen Qualifizierung) problematisch sind, während «Abbrüche nach oben» (weiterführende Ausbildung außerhalb des dualen Systems) und «horizontale Abbrüche» (berufliche Umorientierung im dualen System oder Rückkehr in ein Brückenangebot) in vielen Fällen zu begrüßen seien. Trotzdem ist die Begriffsverwendung unangemessen, da jegliche Vertragsauflösung als «Abbruch» bezeichnet wird. In der Regel wird der Begriff «Abbruch» enger gefasst. Damit soll ausgedrückt werden, dass Vertragsauflösungen nicht immer dazu führen, dass Jugendliche die berufliche Grundbildung gänzlich abbrechen und ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II bleiben (Mischler, 2014; Uhly, 2015). Neuenschwander (1999) sowie Süss, Neuenschwander und Dumont (1996) definieren «Lehrabbruch» als denjenigen Typ von Lehrvertragsauflösung, nach dem Lernende gar keine neue Ausbildung beginnen oder eine nicht-zertifizierende Ausbildung aufnehmen. Noch enger ist die Definition von Ernst und Spevacek (2012), die nur Lehrvertragsauflösungen, die zu Arbeitslosigkeit führen, als «echte Abbrüche» bezeichnen. Uhly (2015) fasst den Begriff «Abbruch» hingegen breiter und beschreibt damit diejenigen Lernenden, die eine Ausbildung im dualen System beginnen, aber keinen Berufsbildungsabschluss erwerben. Dies ist auch möglich, wenn keine vorzeitige Vertragsauflösung vorliegt, zum Beispiel wenn Lernende die Lehrabschlussprüfung nicht bestehen oder nicht zur Prüfung antreten. Auf europäischer Ebene wird der Begriff des Ausbildungsabbruchs nur noch zurückhaltend verwendet. Stattdessen wird von frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgängerinnen und -abgängern gesprochen. Damit werden Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bezeichnet, die höchstens einen Abschluss der Sekundarstufe I erreicht haben und nicht in Aus- oder Weiterbildung sind (vgl. z. B. Glossar Eurostat, 2015)4. Dazu gehören auch Jugendliche, die nie eine berufliche Grundbildung begonnen haben.

In verschiedenen Studien werden Abbrüche von Wechseln unterschieden. Nach Bernath, Wirthensohn und Löhrer (1989) findet ein Wechsel dann statt, wenn Jugendliche eine neue Ausbildung ergreifen, unabhängig davon, ob diese nahtlos an die vorzeitig beendete anschließt oder nicht. Um einen Ausbildungswechsel handelt es sich auch dann, wenn das ursprüngliche Ausbildungsziel an einem neuen Ort weiterverfolgt wird (Betriebswechsel). Süss et al. (1996) fassen unter dem Begriff «Wechsel» nur Vertragsauflösungen mit nahtloser Fortsetzung in einer «gleichwertigen» Ausbildung. Mischler (2014) berücksichtigt nicht nur realisierte, sondern auch geplante Wechsel. Er unterscheidet zwischen Vertragsauflösungen mit und ohne Perspektive, wobei bei Vertragsauflösungen mit Perspektive ein Wechsel (Folgevertrag, weiterer Schulbesuch) bereits erfolgt oder zumindest geplant ist. Eine engere Definition von Wechsel findet sich hingegen bei Uhly (2013), die von Vertragswechseln spricht, wenn der Folgevertrag mit oder ohne Berufswechsel ohne längere Unterbrechung abgeschlossen wird.

Insgesamt zeigt sich, dass die Begriffe «Abbruch» und «Wechsel» sehr unterschiedlich verwendet werden. Eine Differenzierung nach Verbleib der Jugendlichen nach der Vertragsauflösung, d. h. der Art der Anschlusslösung, scheint zwar sinnvoll und nötig. Die aufgeführten Typologien sind aber kritisch zu betrachten, da realisierte Anschlusslösungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben, unterschiedlich gruppiert und teilweise mit subjektiven Einschätzungen wie einem Ausbildungsverzicht vermischt werden. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen und deren Schlussfolgerungen für die Praxis. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Verwendung des Begriffs «Abbruch» zwiespältig. Er ist nicht nur unpräzis, sondern irreführend. Er suggeriert, dass die Jugendlichen «endgültig» aus dem Bildungssystem aussteigen und ohne Berufsabschluss bleiben. Diese Schlussfolgerung wäre allenfalls zulässig, wenn der Ausbildungsverlauf der Jugendlichen über mehrere Jahre beobachtet wird. Das trifft für die meisten Studien nicht zu. Ebenso problematisch ist die Verwendung des Begriffs «echter Abbruch», da er sich auf Arbeitslosigkeit beschränkt und Übergänge in Brückenangebote oder unqualifizierte Erwerbstätigkeiten nicht berücksichtigt. Die Konsequenzen einer Lehrvertragsauflösung für den Ausbildungs- und Erwerbsverlauf der betroffenen Lernenden werden damit beschönigt oder zumindest nur unzureichend abgebildet. Jugendliche ohne Sekundarstufe-II-Abschluss finden sich häufiger als andere in prekären Erwerbslagen, sind häufiger und länger arbeitslos und in befristeten Anstellungen tätig. Mit Blick auf den Verbleib nach der Vertragsauflösung ist entscheidend zu wissen, ob Jugendliche wieder in eine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II einsteigen und diese erfolgreich abschließen.

Diese Kritik aufnehmend wird im vorliegenden Buch zwischen «zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» und «keine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» unterschieden (Stalder & Schmid, 2006a). Dabei wird ausschließlich die effektive Ausbildungssituation der Jugendlichen berücksichtigt, wobei sich diese je nach Beobachtungszeitpunkt stark verändern kann. Es werden keine Rückschlüsse auf den zukünftigen Ausbildungsverlauf (Ausbildungsverzicht, endgültiger Abbruch o.Ä.) gezogen. Dementsprechend wird auf die Verwendung des Begriffs Abbruch verzichtet. Für eine differenzierte Betrachtung des Verbleibs nach der Vertragsauflösung werden bei den zertifizierenden Ausbildungen vier Anschlusslösungen unterschieden: die Fortsetzung der Ausbildung in demselben Beruf, aber in einem anderen Betrieb (Betriebswechsel), der Wechsel in eine berufliche Grundbildung im bisherigen Berufsfeld mit einem höheren (Aufstieg) oder tieferen (Abstieg) Anforderungsniveau sowie die Aufnahme einer Ausbildung in einem anderen Berufsfeld oder einer schulischen Ausbildung (Ausbildungswechsel). Bei Jugendlichen, die (vorerst) keine zertifizierende Ausbildung absolvieren, wird danach unterschieden, ob sie in einem Brückenangebot oder einer arbeitsmarktlichen Maßnahme, erwerbstätig, arbeitslos oder inaktiv sind.

1.3 Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg: Das Projekt LEVA

Die Frage, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden, findet in der Forschung seit den 1950er-Jahren Beachtung (Schmid, 2010). Während frühe Studien Lehrvertragsauflösungen vor allem auf individuelle Merkmale der Lernenden und ihr familiäres Umfeld zurückführten, werden seit Mitte der 1990er-Jahre auch institutionelle und strukturelle Determinanten von Lehrvertragsauflösungen berücksichtigt (z. B. Bessey & Backes-Gellner, 2008; Forsblom, 2015; Lamamra & Masdonati, 2008a; Negrini, 2015; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015). Zunehmend wird auch untersucht, welche kurz- und mittelfristigen Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den weiteren Ausbildungsverlauf der Lernenden hat (z. B. Beicht & Walden, 2013; Lovric & Lamamra, 2013; Mischler, 2014; Schmid, 2010; Süss et al., 1996). Es ist heute unbestritten, dass die Gründe für Lehrvertragsauflösungen vielschichtig sind und dass Vertragsauflösungen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für den weiteren Ausbildungsverlauf betrachtet werden können (Baumeler et al., 2012; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015).

Trotz zahlreicher Veröffentlichungen bleibt die Befundlage aus forschungstheoretischer und empirischer Sicht lückenhaft (vgl. dazu Bohlinger, 2002b; Jasper, Richter, Haber & Vogel, 2009; Lamamra & Masdonati, 2009; Uhly, 2015; Vock, 2000). Auftragsbasierte Evaluationsstudien, die nach wie vor das Feld dominieren, stellen meist keinen expliziten Theoriebezug her und sind in der Regel querschnittlich angelegt. Häufig werden Lernende und Betriebe kurz nach der Vertragsauflösung befragt. Auch forschungsbasierte Studien berücksichtigen meist nur eine kurze Phase im Ausbildungsverlauf der betroffenen Lernenden. Sie stützen sich u. a. auf erziehungswissenschaftliche, entwicklungspsychologische, berufspädagogische, soziologische oder bildungsökonomische Ansätze. Studien, die Lehrvertragsauflösungen aus organisationspsychologischer Sicht betrachten, sind bisher rar (z. B. zur Bedeutung des Organisationsklimas vgl. Forsblom, 2015). Im Fokus vieler Evaluationen und Forschungsarbeiten stehen nach wie vor die Ursachen für die Lehrvertragsauflösung. Im Gegensatz dazu sind insbesondere die langfristigen Konsequenzen von Vertragsauflösungen kaum erforscht und es liegt bisher keine Studie vor, die den Ausbildungserfolg nach vorzeitigen Vertragsauflösungen untersucht. So fehlt ein theoretischer Rahmen, der nicht nur erklärt, wie und warum es zu Lehrvertragsauflösungen kommt, sondern auch, unter welchen Bedingungen es Jugendlichen gelingt, nach der Vertragsauflösung eine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II zu finden und einen Berufsabschluss zu erwerben.

Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Forschungslücke an. Im Zentrum stehen die Fragen, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden und welche Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Lernenden hat. Ursachen und Konsequenzen von Vertragsauflösungen werden in ein theoretisches Rahmenmodell gefasst, das sich an passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischen Ansätzen der Organisationspsychologie orientiert (Allen, Bryant & Vardaman, 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Kristof-Brown, Zimmermann & Johnson, 2005; Saks & Gruman, 2012). Mit der Wahl organisationspsychologischer Ansätze wird berücksichtigt, dass die betriebliche Ausbildung in reale Arbeitsprozesse und organisationale Abläufe eingebettet ist, in denen Lernende und Berufsbildende nicht nur Auszubildende bzw. Ausbildende, sondern auch Mitarbeitende bzw. Vorgesetzte sind. Kernelement des Modells ist die Passung der Lernenden zum Beruf und zur Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule. Eine ausreichende Passung zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Lernenden und den Anforderungen der betrieblichen und schulischen Ausbildung ist eine wichtige Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lehrvertragsauflösungen sind als Konsequenz einer ungenügenden Passung zu verstehen – eine gelingende Neuanpassung als Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lernende und Betriebe tragen gemeinsam dazu bei, dass bereits vor Lehrantritt eine gute Passung besteht und dass diese nach Lehreintritt aufrechterhalten und gefestigt werden kann. Aus der Perspektive organisationspsychologischer Ansätze ist eine fehlende Passung insbesondere auf eine mangelhafte Berufs- und Organisationswahl, eine unzureichende Selektion der Lernenden durch die Betriebe oder eine schlechte Ausbildungsqualität in Betrieb und Schule zurückzuführen.

In Anlehnung an die Literatur zu Berufs- bzw. Laufbahnerfolg werden in der vorliegenden Arbeit objektive und subjektive Kriterien beigezogen, um Ausbildungserfolg zu messen (Arthur, Khapova & Wilderom, 2005; Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005). Als objektiver Indikator wird der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II untersucht. Dieser ist zur sozialen Norm geworden und gilt als notwendige Bedingung für den erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben und für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen (OECD & the Canadian Policy Research Networks, 2005). Als subjektive Indikatoren werden die Ausbildungszufriedenheit und die Verbundenheit mit dem Betrieb nach dem Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung betrachtet (vgl. Ng & Feldman, 2014). Subjektive Indikatoren von Laufbahnerfolg berücksichtigen, dass Erwerbstätige bzw. Lernende ihre Ausbildungs- und Berufslaufbahn selbst evaluieren und individuell unterschiedliche Kriterien verwenden, um «Erfolg» einzuschätzen (Arthur et al., 2005). Laufbahnerfolg wird dabei nicht nur aufgrund der aktuellen Arbeitstätigkeit erfasst, sondern auch in Abhängigkeit vom Ausbildungs- und Berufsverlauf betrachtet (Gunz & Mayrhofer, 2011). Subjektive und objektive Kriterien von Ausbildungserfolg können miteinander übereinstimmen, müssen es aber nicht zwingend, beispielsweise dann, wenn Jugendliche zwar einen Ausbildungsabschluss erreichen, dieser aber nicht ihrem Wunsch entspricht (vgl. dazu Dette et al., 2004).

Datengrundlage ist das Längsschnittprojekt LEVA (Lehrvertragsauflösungen im Kanton Bern), das von 2004 bis 2008 an der Erziehungsdirektion des Kantons Bern durchgeführt und von 2009 bis 2015 an der Universität Neuenburg und der PHBern fortgesetzt worden ist. Zur Erklärung von Lehrvertragsauflösungen und deren unmittelbaren Konsequenzen wurde ein Mehrperspektivendesign mit einer Befragung von Lernenden und ihren (ehemaligen) Berufsbildenden eingesetzt. Dieser Zugang erlaubt es, das Bedingungsgefüge von Lehrvertragsauflösungen aus der Perspektive verschiedener Akteure zu betrachten (vgl. zur Kritik an der einseitigen Fokussierung auf die Sicht der Lernenden Anbuhl & Gießler, 2012; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Stamm, 2012). Der Ausbildungsverlauf nach der Lehrvertragsauflösung und der Ausbildungserfolg wurden längsschnittlich untersucht. Die Beobachtungsdauer von zehn Jahren ermöglicht es, nicht nur unmittelbare Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen zu prüfen, sondern auch mittel- und langfristige (z. B. Wiederaufnahme der Ausbildung nach langer Unterbrechung, Ausbildungsabschluss, Wiederherstellung des Wohlbefindens).

Das vorliegende Buch stellt ausgewählte, in Projektberichten erschienene Resultate zum Projekt LEVA zusammen (Moser, Stalder & Schmid, 2008; Schmid & Stalder, 2007, 2008a; Stalder & Schmid, 2006a) und vertieft bisherige Ergebnisse zu Entstehungsbedingungen und Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen (Schmid, 2008, 2010, 2012; Schmid & Stalder, 2012; Stalder, 2011a; Stalder & Schmid, 2012a). In Kapitel 2 werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze beschrieben, die die theoretische Grundlage für die Arbeit bilden. Die Ansätze werden in Kapitel 3 auf den Kontext der beruflichen Grundbildung übertragen und im Zusammenhang mit Lehrvertragsauflösungen und späterem Ausbildungserfolg erörtert. Das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und die Daten des Projekts LEVA werden in Kapitel 4 beschrieben. Ergebnisse zu den Entstehungsbedingungen von Lehrvertragsauflösungen, zum Entscheidungsprozess, zum Wiedereinstieg und zum erfolgreichen Berufsabschluss werden in Kapitel 5 präsentiert und in Kapitel 6 diskutiert.

«Chaque cas est un cas particulier», schrieb Bernard Müller (1993, S. 4) treffend in seiner Waadtländer Studie zu Lehrvertragsauflösungen. Dies illustrieren die Porträts betroffener Lernender, die die empirischen Ergebnisse exemplarisch ergänzen, in aller Deutlichkeit. Darin kommen junge Frauen und Männer zu Wort, deren Lehrvertragsauflösung bis zu zehn Jahre zurückliegt. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte, erklären, welche Gründe aus ihrer Sicht zur Vertragsauflösung geführt haben, wie sie und ihr Umfeld damit umgegangen sind und wie es nach der Vertragsauflösung weitergegangen ist. Alle Namen der porträtierten Personen sind geändert.

2 Passung, Sozialisation und Fluktuation

In diesem Kapitel werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze der Organisationpsychologie vorgestellt, die die Grundlage für das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» bilden (Allen et al., 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Saks & Gruman, 2012; Wanberg, 2012). In Kapitel 2.1 werden verschiedene Ebenen von Passung dargestellt und es wird gezeigt, welche Konsequenzen eine gute bzw. ungenügende Passung auf arbeitsbezogene Einstellungen und das Verhalten von Mitarbeitenden hat. In Kapitel 2.2 steht die organisationale Sozialisation, das heißt, der Prozess der Anpassung im Vordergrund. Es wird erläutert, welche Faktoren proximale und distale Sozialisationsergebnisse beeinflussen und wie Mitarbeitende und Betriebe zu einer gelingenden Anpassung beitragen. Inbesondere wird auf das Kündigungsverhalten von Mitarbeitenden eingegangen, das als wichtiges Sozialisationsergebnis gilt.

2.1 Passung

Passung wird definiert als generelle Übereinstimmung zwischen einer Person und ihrer Umwelt (person-environment fit) (Edwards & Shipp, 2007; Kristof-Brown et al., 2005). Im Arbeitskontext impliziert eine gute Passung, dass die Eigenschaften von Mitarbeitenden und deren Arbeitsumwelt gut aufeinander abgestimmt sind. Dazu gehören insbesondere die Passung zwischen der Person und ihrem Beruf (person-occupation fit), der Organisation (person-organisation fit), der Arbeit (person-job fit), der Arbeitsgruppe (person-workgroup fit) und der vorgesetzten Person (person-supervisor fit) (Jansen & Kristof-Brown, 2006; Judge & Ferris, 1992; Kristof-Brown et al., 2005). Die Übereinstimmung zwischen Person und Umwelt kann dabei komplementär oder supplementär sein (Kristof-Brown et al., 2005). Bei einer komplementären Passung füllen die Merkmale einer Person eine Lücke in der Arbeitsumwelt und umgekehrt, zum Beispiel wenn eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter über die Fähigkeiten verfügt, die dem Stellenprofil entspricht, oder wenn der Betrieb einer Person eine Stelle anbietet, die ihrem Bedürfnis nach Weiterentwicklung entspricht. Bei einer supplementären Passung haben Person und Umwelt ähnliche Eigenschaften, zum Beispiel die gleichen Arbeitswerte oder Ziele. Die grundlegende Annahme von Person-Umwelt-Passungstheorien ist, dass eine hohe Passung zu positiven Ergebnissen führt (Chatman, 1989; Dawis & Lofquist, 1984; Holland, 1997; Wanous, 1992). Diese umfassen zum Beispiel eine hohe Arbeitszufriedenheit, eine starke Verbundenheit mit dem Betrieb, gute Arbeitsleistungen und eine geringe Fluktuationstendenz (Edwards & Shipp, 2007).

Ob Menschen und ihr Umfeld zusammenpassen, kann bei Mitarbeitenden direkt erfragt (wahrgenommene Passung, subjektive Passung) oder indirekt ermittelt werden (objektive Passung). Im Fall der wahrgenommenen Passung schätzen die Personen direkt ein, ob ihre Fähigkeiten, Werte oder Ziele mit dem Beruf, dem Betrieb oder der Arbeit übereinstimmen (z. B. «Meine eigenen Werte passen gut zu den Werten des Betriebs, in dem ich zurzeit tätig bin»). Von subjektiver Passung wird dann gesprochen, wenn Personen einerseits sich selbst und andererseits ihr Arbeitsumfeld einschätzen und die Passung indirekt durch einen Vergleich ermittelt wird (z. B. «Ich bin handwerklich geschickt» und «Die Tätigkeiten, die ich ausübe, verlangen hohes handwerkliches Geschick»). Bei der objektiven Passung wird die Passung über verschiedene Informationsquellen erschlossen, z. B. indem die Person zu ihren Fähigkeiten befragt und ihre Selbsteinschätzung mit einer Einschätzung durch ihre Vorgesetzten verglichen wird. Auch wenn sich die verschiedenen Messungen von Passung inhaltlich auf dasselbe beziehen, stimmen wahrgenommene, subjektive und objektive Passung häufig nur in geringem Ausmaß überein (Cable & Judge, 1997; Cooper-Thomas, Van Vianen & Anderson, 2004; Harris & Schaubroeck, 1988). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Menschen dazu neigen, Hinweise aus der Umwelt so zu deuten, dass sie ein stimmiges und positives Selbstbild aufrechterhalten können (Endler & Magnussen, 1976). Stellen Menschen zum Beispiel fest, dass die Arbeit nur schlecht zu ihren Interessen passt, sie aber trotzdem zufrieden sind, führt dies zu kognitiver Dissonanz (Festinger, 1957). Die beiden Wahrnehmungen stehen im Widerspruch zueinander, was als unangenehm erlebt wird und einen Druck erzeugt, die Dissonanz zu reduzieren. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass Personen die positiven Aspekte der Arbeit hervorheben und andere eher negative Aspekte ausblenden (Kristof-Brown & Jansen, 2007). Personen, die über eine hohe Arbeitszufriedenheit berichten, dürften damit eine hohe Passung wahrnehmen, selbst wenn diese in Realität nur mittelmäßig ist.

2.1.1 Ebenen von Passung

In der organisationspsychologischen Forschung wird hauptsächlich die Passung mit der Organisation, der Arbeit, der Arbeitsgruppe und der vorgesetzten Person diskutiert (Kristof-Brown et al., 2005). Die Passung mit dem Beruf ist Kernthema berufs- und laufbahntheoretischer Ansätze (Bergmann, 2007; Brown & Associates, 2002), findet aber auch in der Personalauswahl zunehmende Beachtung (Schuler, Höft & Hell, 2014).

Passung Person-Beruf

Die Passung Person-Beruf umfasst die Übereinstimmung zwischen den Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person und den Merkmalen und Anforderungen ihres Berufes (Vogel & Feldman, 2009). Berufe sind sozial konstruiert und umfassen objektivierte, standardisierte Bündel von spezialisierten Tätigkeiten und Kompetenzen, die von Berufstätigen erworben werden müssen und für die Ausübung des Berufs vorausgesetzt sind (Heinz, 1991; Lempert, 2006). Klassische Berufswahltheorien wie z. B. der persönlichkeitstypologische Ansatz von Holland gehen davon aus, dass Menschen ein berufliches Umfeld wählen, das ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht und dass eine hohe Übereinstimmung zwischen Interessen und Berufsumfeld zu einer hohen Zufriedenheit, guten Arbeitsleistungen und beruflicher Stabilität führt (Hirschi, 2013; Holland, 1959; Spokane & Cruza-Guet, 2005). Auch in aktuellen Laufbahntheorien, wie z. B. der konstruktivistischen Theorie der Laufbahnentwicklung (Savickas, 2002, 2005), ist die Passung ein zentrales Element. Mit der Wahl eines Berufes wird das berufliche Selbstkonzept ausgedrückt und bestätigt, was zum Erleben von Sinnhaftigkeit im Leben führt. Laufbahnentwicklung wird als kontinuierlicher und aktiver Anpassungsprozess verstanden, in dem die Passung zwischen Person und Umwelt über die Zeit der gesamten Berufslaufbahn optimiert wird (Hirschi, 2013). Zwei Metaanalysen bestätigen, dass eine hohe Übereinstimmung zwischen beruflichen Interessen und aktueller Berufstätigkeit zu höherer Arbeitszufriedenheit und einem höheren Wohlbefinden, stabilen Berufslaufbahnen und besseren Trainings- und Arbeitsleistungen führt (Assouline & Meir, 1987; Van Iddekinge, Roth, Putka & Lanivich, 2011). Eine schlechte Passung mit dem Beruf hat vor allem dann negative Auswirkungen auf die Berufslaufbahn, wenn Individuen wegen einer falschen Berufswahl längere Zeit arbeitslos sind (Feldman, 2002).

Passung Person-Organisation

Die Passung Person-Organisation umschreibt die Übereinstimmung zwischen einer Person und ihrem Betrieb. Eine hohe Passung wird dann erreicht, wenn Mitarbeitende und Betriebe in ihren grundlegenden Werten und Zielen übereinstimmen (Chatman, 1989; Kristof-Brown et al., 2005). Arbeitsbezogene Werte wie z. B. Autonomie, Sicherheit, Beziehungen und Fairness am Arbeitsplatz sind ein wesentlicher Bestandteil des Selbstkonzepts (Super, 1962). Sie bestimmen, wie Menschen ihr Umfeld und die Verhaltensweisen anderer Personen interpretieren und beurteilen (Dose, 1997; Jin & Rounds, 2012). Das Erreichen einer Wertekongruenz zwischen Person und Organisation ist damit entscheidend für die Entwicklung und Stabilisierung des beruflichen Selbstkonzepts und eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration am Arbeitsplatz (Ashforth, Sluss & Saks, 2007; Edwards & Cable, 2009; Judge, 2007). Eine gute Übereinstimmung von Person und Organisation erleichtert die Kommunikation und Kooperation unter den Mitarbeitenden (Edwards & Shipp, 2007; Meglino & Ravlin, 1998). Gut passende Mitarbeitende richten ihr Verhalten stärker auf die Erwartungen der Organisation aus, bauen eine engere Verbundenheit zur Organisation auf und sind zufriedener mit ihrer Arbeit. Sie erreichen bessere Leistungen, werden eher befördert und bleiben länger im Betrieb (Bretz Jr & Judge, 1994; Lauver & Kristof-Brown, 2001; O’Reilly, Chatman & Caldwell, 1991; Tak, 2011).

Selbst- und Fremdselektion führen im Wechselspiel dazu, dass Personen und Organisation bereits beim Eintritt in den Betrieb über ähnliche Merkmale verfügen. Gemäß dem Attraction-Selection-Attrition-Modell (Schneider, 1987; Schneider, Goldstein & Smith, 1995) fühlen sich Menschen von Organisationen angezogen, die dieselben Werte haben wie sie und die sie darin unterstützen, eigene Ziele zu erreichen (attraction). Umgekehrt wählt die Organisation unter den Bewerbenden diejenigen aus, die am besten zu ihr passen (selection). Gelingt es einer Person nicht, eine Passung zur Organisation herzustellen, wird sie langfristig nicht im Betrieb bleiben, sondern aus eigenem Antrieb kündigen oder vom Betrieb entlassen werden (attrition).

Passung Person-Arbeit

Die Passung Person-Arbeit beschreibt die Kongruenz zwischen der Person und ihren Arbeitstätigkeiten an einer bestimmten Arbeitsstelle (Bretz Jr, Rynes & Gerhart, 1993; Edwards, 1991; Lauver & Kristof-Brown, 2001). Dabei werden zwei Arten von Passung unterschieden. Die erste beschreibt die Übereinstimmung zwischen den Anforderungen der Arbeitstätigkeit und den Fähigkeiten einer Person (demands-abilities fit). Die zweite bezieht sich auf die Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen der Person und deren Erfüllung durch die Arbeitstätigkeit, so zum Beispiel das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder finanzieller Sicherheit (needssupplies fit). Eine insgesamt gute Passung mit der Arbeit besteht dann, wenn die Person die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften für die Ausübung der Arbeitstätigkeit hat und wenn die Arbeitstätigkeit den Ansprüchen und Wünschen der Person genügt. Eine gute Übereinstimmung wirkt sich positiv auf die Arbeits- und Laufbahnzufriedenheit und die Arbeitsleistung von Mitarbeitenden aus und verstärkt deren Absicht, im Betrieb zu verbleiben (Cable & DeRue, 2002; Edwards & Shipp, 2007; Lauver & Kristof-Brown, 2001; Riordan, Weatherly, Vandenberg & Self, 2001; Vogel & Feldman, 2009).

Die Passung Person-Arbeit unterscheidet sich von der Passung Person–Beruf: Letztere beschreibt die Übereinstimmung eines Individuums mit dem Beruf auf übergeordneter, objektivierter Ebene. Die Passung Person-Arbeit berücksichtigt hingegen, dass Menschen im gleichen Beruf je nach Stellenprofil unterschiedlichen Aufgaben nachgehen und unterschiedliche Arbeitsbedingungen haben. Eine hohe Passung zum Beruf ist nicht zwingend mit einer hohen Passung zur aktuellen Arbeit verbunden (Vogel & Feldman, 2009). So ist es zum Beispiel möglich, dass eine Person die beruflichen Kompetenzen hat, um als Koch zu arbeiten und auch Erfüllung in diesem Beruf findet (Passung Beruf). Dieselbe Person erreicht aber eine schlechte Passung mit ihrer Tätigkeit an einer bestimmten Arbeitsstelle, z. B. wenn die Arbeitszeiten an dieser Stelle nicht ihrem Wunsch entsprechen oder sie von den Vorgesetzten nicht unterstützt wird.

Passung Person-Arbeitsgruppe und Person-Vorgesetzte

Die Passung Person-Arbeitsgruppe bzw. Person-Vorgesetzte/Vorgesetzter umschreibt die Übereinstimmung zwischen Mitarbeitenden und anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe bzw. ihren Vorgesetzten (Ferris, Youngblood & Yates, 1985). Eine hohe Passung besteht dann, wenn eine Person und ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen bzw. Vorgesetzten gemeinsame Ziele, Werte, Einstellungen oder Persönlichkeitsmerkmale haben.

Eine hohe Passung zu anderen Mitarbeitenden fördert die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt unter den Mitgliedern der Arbeitsgruppe und wirkt sich positiv auf die Gruppenleistung aus (Kristof-Brown et al., 2005; Seong, Kristof-Brown, Park, Hong & Shin, 2012). Mitarbeitende, deren Werte und Ziele mit der Gruppe übereinstimmen, richten ihr Verhalten an in der Gruppe existierenden Normen aus (Feldman, 1984). Mitarbeitende, die gut zu ihren Teamkolleginnen und -kollegen und gut zu ihren Vorgesetzten passen, sind zufriedener mit den sozialen Kontakten am Arbeitsplatz und mit der Arbeit, erzielen bessere Arbeitsleistungen, fühlen sich stärker ihrem Betrieb verbunden und haben eine geringere Fluktuationstendenz als schlechter passende Personen (Kristof-Brown et al., 2005; Van Vianen, 2000).

2.1.2 Wirkung von Passung im Vergleich

In der Passungsforschung wurde früher häufig davon ausgegangen, dass die positiven Auswirkungen von Passung universell sind, d. h. unabhängig von der Art der Passung (supplementär vs. komplementär) und von der Ebene (Passung mit Beruf, Betrieb etc.) (Bretz Jr & Judge, 1994; Mitchell, Holtom, Lee, Sablynski & Erez, 2001; Saks & Ashforth, 1997). Kristof-Brown et al. (2005) zeigten jedoch in ihrer Metaanalyse, dass Art und Ebene der Passung in unterschiedlichem Ausmaß mit arbeitsbezogenen Einstellungen, der Arbeitsleistung oder dem Kündigungsverhalten zusammenhängen. Die verschiedenen Ebenen von Passung haben zudem stärkere Auswirkungen auf die Einstellungen als auf das Verhalten von Mitarbeitenden. Die Passung zu Organisation, Arbeit und Vorgesetzten steht in einem starken Zusammenhang mit der Arbeitszufriedenheit und der organisationalen Verbundenheit. Die Passung zur Arbeit hängt zudem in starkem, die Passung zur Organisation in mittlerem Ausmaß mit der Fluktuationstendenz von Mitarbeitenden zusammen. Alle Ebenen der Passung wirken sich hingegen nur in geringem Ausmaß direkt auf die Arbeitsleitung und nur in sehr geringem Ausmaß auf das effektive Kündigungsverhalten aus. Dies deutet darauf hin, dass ein Teil der Personen trotz schlechter Passung zur Arbeit oder zur Organisation im Betrieb verbleiben oder trotz guter Passung den Betrieb verlassen (vgl. Kapitel 2.2.3).

Detaillierte Analysen zum Einfluss der Passung Person-Arbeit auf die Arbeitszufriedenheit zeigen, dass die Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen von Mitarbeitenden und deren Befriedigung durch die Arbeit (needs-supplies fit) einen stärkeren Einfluss hat als die Übereinstimmung zwischen Arbeitsanforderungen und Fähigkeiten (demands-abilities fit) (Kristof-Brown et al., 2005). Es wird angenommen, dass eine gute Passung zwischen Arbeitsanforderungen und Fähigkeiten indirekt auf die Arbeitszufriedenheit wirkt (Edwards & Shipp, 2007). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Mitarbeitende Arbeitsanforderungen internalisieren und deren Erfüllung zu einem eigenen Bedürfnis machen oder wenn eine gute Übereinstimmung zwischen Fähigkeiten und Anforderungen zu einem Kompetenzerleben führt, welches einem individuellen Grundbedürfnis entspricht. Auch in Bezug auf die Arbeitsleistung und entgegen der Erwartung zeigt sich ein etwas stärkerer Zusammenhang mit dem needs-supplies fit als mit dem demands-abilities fit. Insgesamt wird aber davon ausgegangen, dass beide Passungen vorhanden sein müssen. Gute Arbeitsleistungen werden dann erzielt, wenn die Mitarbeitenden ausreichende Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringen und antizipieren, dass gute Leistungen auch zu einer Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Arbeitsplatzsicherheit führen (Edwards & Shipp, 2007).