Leise Wut - Cornelia Härtl - E-Book

Leise Wut E-Book

Cornelia Härtl

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Beschreibung

Ein totes Kind. Das Jugendamt am Pranger. Die Presse sucht nach Schuldigen. Die Offenbacher Sozialarbeiterin Lena Borowski wird, kaum aus ihrem Urlaub zurück, mit dem Fall ihres Ex-Schützlings, des kleinen Tobias, konfrontiert und kurz nach dessen gewaltsamem Tod suspendiert. Als auch noch Tobis Mutter Selbstmord begeht, steht für Lena fest, dass dies kein gewöhnlicher Fall ist. Sie will und muss für Aufklärung sorgen. Und schon bald findet sie sich in einer Welt wieder, mit deren Grausamkeit sie nicht vertraut ist ... Wut und Spannung in Offenbach und auf Menorca – denn bis dorthin führt Lenas Weg bei der Lösung des Falles. Auch im dritten Band mit der Sozialarbeiterin Lena Borowski zeigt Cornelia Härtl ihren LeserInnen ein Milieu, das niemand so genau kennt … oder kennen will.

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Cornelia Härtl

Leise Wut

Der dritte Lena Borowski-Krimi

eISBN 978-3-947612-93-2

Copyright © 2020 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Mascha Vassena

Covergestaltung: elicadesign/autorendienst.net

Bildrechte: [email protected]/depositphotos.com

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Inhalt

Die Autorin

Prolog

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Drei Wochen später

Die Autorin

Cornelia Härtl kommt ursprünglich aus Süddeutschland. Erste berufliche Erfahrungen sammelte sie in der First-Class-Hotellerie, bevor sie in Frankfurt am Main Betriebswirtschaft studierte.

Sie arbeitete als Marketingmanagerin, in Leitungsfunktionen im sozialen Bereich und war in der Erwachsenenbildung tätig. Viele Jahre engagierte sie sich darüber hinaus ehrenamtlich.

Neben Fachartikeln und Kurzgeschichten schreibt sie Sozialkrimis sowie, unter dem offenen Pseudonym Carla Wolf, Cosy Crime. Unter anderen Namen veröffentlicht sie weitere Genres im Bereich Unterhaltung, Mystery und Erotik.

Cornelia Härtl ist verheiratet und lebt südlich von Frankfurt.

Für Wolf-Ingo

Prolog

Der Junge wimmerte, sie konnte es durch die dünne Wand hören.

Die Männer waren gegangen und hatten sie mit ihm allein gelassen. Sie vertrauten ihr. Ihrer Angst vor ihnen. Das war ein Fehler.

In der Küche lag unter der Spüle ein Wohnungsschlüssel versteckt. Vor Wochen, als sie alle in diese Bruchbude einzogen, hatte ER einmal kurz den Überblick verloren. Seitdem wartete sie auf ihre Gelegenheit. Jetzt schien der Zeitpunkt gekommen zu verschwinden.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zu dem Zimmer, in dem der Junge lag. Schlief er? Er schniefte und hielt ein zerfleddertes Kuscheltier an sich gedrückt. Sie wollte sich bereits zurückziehen, als er den Kopf hob. Im Halbdunkel des Raumes trafen sich ihre Blicke. Er war klein, so zart, mit blondem Flaum und hellen Augen. Still sah er sie an. Sie konnte ihn nicht alleine hierlassen. Sie seufzte, stieß die Tür ganz auf und ging zu ihm. Der Mann, der GOTT war, hatte dem Jungen die Hände zusammengebunden. Sie löste den schmutzigen Gürtel, der irgendwann einmal zu einem Bademantel gehört hatte, von den blassen Handgelenken. Er starrte sie an, urplötzlich flackerte Angst in seinen Augen auf. Er verzog den Mund zu einem Greinen.

»Pst!«, signalisierte sie ihm, den Finger an die Lippen gelegt, die Augen warnend aufgerissen. Sie zog ihn hoch, ängstlich presste er die Stoffgiraffe an sich.

»Ich haue ab. Wenn du willst, nehme ich dich mit«, flüsterte sie in ihrer Sprache. Er antwortete nicht. Starrte nur auf den Schlüssel in ihrer Hand. Wie hypnotisiert ließ er sich in den Flur führen. Sie lauschte kurz an der Tür, dabei fiel ihr etwas ein.

»Bleib hier.« Sie rannte in die Küche, griff nach dem Stoffbeutel am Haken hinter der Tür. Dorthinein warf sie alles, was sie im Kühlschrank und im Regal fand. Es war nicht viel. Ein Stück Salami, eine kleine Packung Milch, ein Apfel, eine Packung Cracker. Mit einem Ohr nach draußen lauschend, durchsuchte sie danach den Schrank und die Schubladen nach Geld. Sie fand zwei 10-Euro-Scheine in einer Tasse und einen Fünfziger in einem alten Briefumschlag, auf dem jemand unter dem Wort »Einkäufe« Streichhölzer, Seife und Spülmittel notiert hatte.

Der Junge stand genauso an der Tür, wie sie ihn verlassen hatte. Er atmete durch den geöffneten Mund, seine Nase in dem tränenverschmierten Gesicht war rot vom Weinen. So konnte sie unmöglich mit ihm auf die Straße gehen.

Ich sollte ihn hierlassen. Der ist eh fertig.

Der Junge hob die Hand und fuhr damit unter der Nase entlang. Er sah sie an. Vertrauensvoll auf eine Weise, die sie berührte. Erneut ging sie zurück, dieses Mal ins Bad, um ein Handtuch zu holen. Als sie ihm das Gesicht abgewischt hatte, ließ sie es einfach zu Boden fallen.

Nun endlich drehte sie den Schlüssel im Schloss. Langsam zog sie die Tür der Wohnung auf. Bereit, innerhalb von Sekunden ihren Plan für diesen Tag aufzugeben, falls ausgerechnet jetzt jemand kommen würde. Draußen war es still. Sie trat in den Hausflur hinaus. Niemand zu sehen. Sie griff nach der Hand des Jungen, zog ihn mit sich. Sie nahmen die Treppe, hasteten hinunter. Erst, als sie auf der Straße standen, begann etwas in ihrem Magen zu rumoren. Angst. Wenn jetzt der Transporter angefahren käme. Die Männer sie hier sehen würden. Mit dem Jungen …

Schnell schob sie den Gedanken an die Konsequenzen weg. In aller Eile orientierte sie sich. Sie befanden sich in einer Siedlung, in der mehrere lang gestreckte, fünfgeschossige Häuser schräg zur Straße standen wie große Legosteine. Dazwischen ungepflegter Rasen, ein Sandkasten, eine Schaukel, Teppichstangen.

Der Himmel hing grau über ihnen, es nieselte und ein leichter Wind bauschte eine weggeworfene Zeitung auf.

Der Junge brummelte etwas, sie achtete nicht auf ihn, zog ihn über die Straße. Sie rannten zwischen zwei Häusern hindurch, bis sie zu einem Fußpfad kamen. Hier erst bemerkte sie, wie unpassend sie angezogen waren. Der Junge trug lediglich eine kurze Hose und ein T-Shirt, er hatte keine Jacke an und an den Füßen nur Socken. Sie selbst trug ein viel zu dünnes Kleid unter ihrer Strickjacke. Hektisch sah sie sich um. Wohin? Sie war so sehr darauf konzentriert gewesen, die Wohnung zu verlassen, dass sie sich über das weitere Vorgehen kaum Gedanken gemacht hatte. Ausgerechnet jetzt fing der blöde Junge wieder an zu weinen.

Gerda Bahlmann prüfte mit dem Finger die Erde ihrer Topfpflanzen. Noch feucht genug, sie stellte die Gießkanne zur Seite und blickte hinunter in den Durchgang zum Nachbarhaus. Ein dunkelhaariges, mageres Mädchen lief dort, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. An der Hand hielt sie einen kleinen, blonden Jungen, der ein Stofftier hinter sich herschleifte. Die Nervosität, die die beiden ausstrahlten, erregte ihre Aufmerksamkeit. Ebenso die Kleidung. Beide waren nicht dem Wetter entsprechend angezogen. Trug der Junge überhaupt Schuhe? Sie schob die Brille etwas höher auf die Nase. Das Mädchen hatte es eilig, sie sah sich ständig um. Der Junge weinte. Er kam nicht richtig mit, stolperte. Verlor sein Spielzeugtier. Das Mädchen wollte weiter, aber der Kleine war bockig. Sie mussten zurück. Er umklammerte die Giraffe jetzt so fest, als wolle er sie erwürgen. Sie verschwanden hinter dem Nachbarhaus. Wohin sie wohl wollten, ohne Kopfbedeckung, ohne Schirm bei dem feuchten Wetter? Achteten denn Eltern heutzutage nicht mehr auf sowas? Die Rentnerin zuckte die Schultern. Sie wohnte schon lange in dieser Siedlung am Stadtrand von Heilbronn. Inzwischen zogen immer mehr merkwürdige Leute hierher, bald wunderte einen gar nichts mehr.

01

Lena Borowski schreckte schwer atmend aus einem Traum auf, der sich mit ihrem Erwachen in die Dunkelheit zurückzog wie ein verschrecktes Tier. Sie benötigte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, wo sie sich befand. Sie war wieder zu Hause, in Offenbach, in ihrer eigenen Wohnung im Buchrainweg. Im Traum war sie woanders gewesen. Irgendeine Gefahr hatte ihren Körper in Aufruhr versetzt. Ihr Herz schlug heftig, ihr Mund war trocken. Sie tastete mit der Hand auf die andere Seite des Bettes. Sie war leer. Langsam hob sie die Beine aus dem Bett, setzte sich auf und starrte in das Halbdunkel des Schlafzimmers, bevor sie aufstand, um in die Küche zu gehen. Sie war durstig. An die Spüle gelehnt trank sie ein Glas Wasser. Der Tag sickerte durch die halbgeschlossenen Jalousien. Sie konnte sich noch nicht richtig entscheiden, ob sie wach bleiben oder ins Bett zurückkehren wollte.

Irgendwo klingelte ein Telefon. Es war der Klingelton ihres Diensthandys. Wo lag es nochmal? Ach ja, sie hatte es zum Aufladen eingestöpselt.

»Frau Borowski?« Eine Frau, kaum zu verstehen.

Die Nummer war unterdrückt.

»Wer ist dran? Ich kann Sie kaum hören.«

»Bitte …«, die Stimme am anderen Ende verschwand kurzzeitig, als habe die Anruferin eine Hand über das Gerät gelegt. Jemand hämmerte im Hintergrund gegen eine Tür.

»Frau Borowski«, die Frau klang heiser, als habe sie geweint oder geschrien oder beides. Sie redete noch gedämpfter als vorher. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.«

Erneut wurde es im Hintergrund laut. Eine Männerstimme, die Worte konnte Lena nicht verstehen. Die Frau stieß einen undefinierbaren Ton aus.

Das Telefon wurde, den Geräuschen nach, weggelegt. Lena lauschte angestrengt.

»Zick nicht rum!«, schrie der Mann.

Die Frau antwortete ihm, offenbar durch eine geschlossene Tür, für Lena nur in Bruchstücken verständlich.

»… nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«

Einige Augenblicke blieb es still.

»Hallo?«, flüsterte Lena in den Hörer. Sie war nun hellwach.

Die Stimme des Mannes im Hintergrund war nur noch ein kaum wahrnehmbares beruhigendes Murmeln. Die Frau schluchzte kurz auf.

»Schwöre es!«, hörte Lena sie sagen.

Die Antwort musste zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen sein, denn nun kam sie an das Telefon zurück.

»Hat sich erledigt«, sagte sie leise. In ihrer Stimme schwang jetzt etwas anderes mit. Erleichterung?

»Vergessen Sie, dass ich angerufen habe.«

»Aber … wer?« Lena erhielt keine Antwort, die Verbindung war unterbrochen.

Stirnrunzelnd blickte sie auf den Apparat in ihrer Hand.

Toby. Welche der Familien, die sie als Sozialarbeiterin für den Landkreis Offenbach betreute, hatte ein Kind, das so hieß? Dass es um ein Kind ging, stand für sie außer Frage.

Das Mobiltelefon war inzwischen vollständig aufgeladen, sie zog den Stecker und legte es auf der Kommode ab. Ob die Frau noch einmal anrufen würde? Vorsichtshalber ließ sie das Handy auf Empfang geschaltet. Es war wohl ihrer Müdigkeit geschuldet, dass sie es vor dem Aufladen überhaupt eingeschaltet hatte. Im Büro würde sie erst am Montag wieder sein. Toby. Toby. Der Name sagte ihr etwas, aber noch bevor sie ihre Erinnerung klar schalten konnte, klingelte es an der Haustür.

»Fräulein Borowski!« Die Hausmeisterin stand vor ihr, einen Stapel Post in der Hand. »Habe ich doch richtig gehört.« Ein leiser Vorwurf schwang in diesen Worten mit.

»Frau Kasulke. Ich wäre nachher zu Ihnen runtergekommen. War zu müde nach dem langen Flug.« Lena lächelte. Ihr Gegenüber und sie waren sich über Jahre hinweg nicht gerade wohlgesonnen gewesen. Inzwischen hatte sich das geändert. Auch wenn sie beide keine Freundinnen waren, wusste sie doch, dass sie der Älteren vertrauen konnte. Leider würde sie ihr die Anrede »Fräulein« wohl nicht mehr ausreden können.

»Nachher bin ich nicht mehr da«, antwortete die Hausmeisterin ernst und überreichte Lena den Stapel. »Hab was zu erledigen.«

»Danke. Ich komm dann die Tage vorbei und erzähle Ihnen, wie es in Neuseeland war.«

Die Kasulke murmelte etwas, das sich wie »mal sehen« anhörte und trat den Weg ins Erdgeschoss an. Normalerweise hätte Lena sich gewundert darüber, dass die Andere den Weg in den dritten Stock angetreten hatte, im Haus gab es keinen Aufzug. Doch die Müdigkeit und die Zeitverschiebung führten dazu, dass ihr Kopf mit Watte gefüllt schien. Sie warf die Post auf die Kommode. Urplötzlich übermannte sie erneut die Müdigkeit und sie ging zurück ins Schlafzimmer.

»Nur noch ein paar Minuten«, dachte sie, bevor sie tief und fest einschlief.

02

Toby. Endlich wusste sie, mit wem sie gesprochen hatte. Es war vier Uhr früh, Sonntag. Sie hatte den restlichen Samstag komplett verschlafen.

Jetzt fühlte sie sich ausgeruht. Einen Moment lang blieb sie dennoch liegen. Ihr war kühl und das lag nicht an der frischen Morgenluft, die zum gekippten Fenster hereindrang.

Er hat sich nicht gemeldet.

Sie schüttelte den Gedanken ab, kehrte zu dem zurück, was ihr im Halbschlaf eingefallen war.

Toby. Tobias Kiewitz. Vier Jahre. Seine Mutter musste die Frau am Telefon gewesen sein. Angelika Kiewitz, alleinerziehend. Bezog seit Jahren Hartz IV. Lena hatte die kleine Familie betreut, als sie noch beim Jugendamt war. Seit ihrem Wechsel in eine Querschnittsabteilung war sie nicht mehr für sie zuständig. Trotzdem hatte die Frau sie angerufen.

Lena stand auf, duschte ausgiebig, kochte Kaffee und checkte ihr Handy. Frau Kiewitz hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie würde frühestens morgen früh, wenn sie im Amt war, die Akte mit der Telefonnummer raussuchen können. Einen Moment überlegte sie. Vielleicht gab es ja noch einen Festnetzanschluss? Sie rief online das Dietzenbacher Telefonbuch auf und sah nach. Kein Eintrag. Verärgert warf sie ihr Handy auf den Tisch.

Etwas in der Stimme der Frau hatte sie alarmiert.

Es war inzwischen halb sechs. Viel zu früh, um jemandem einen Besuch abzustatten. Lena hockte sich mit ihrer Kaffeetasse in der Hand auf die Couch und kramte in ihrem Gedächtnis. Was wusste sie sonst noch über die Kiewitz? Tobys Vater war offiziell unbekannt. Angelikas Beziehungen hielten meist nicht lange. Gelegentlich stürzte sie total ab, jedes Mal spielte Alkohol dabei eine Rolle. Bei Lenas letzten Besuchen war jedoch deutlich geworden, dass die noch recht junge Frau versuchte, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Sie war trocken, hielt die Wohnung in Ordnung und Toby hatte keinerlei Anzeichen von Verwahrlosung gezeigt. Lena dachte nach. Welche Kollegin war jetzt zuständig? Sieglinde Brohm, die Abteilungsleiterin, hatte die Fälle nach Lenas Versetzung neu verteilt, aber auch sie würde Lena erst am Montag fragen können.

Unruhig stand sie auf, lief durch die Wohnung. Ihr Blick blieb an dem Stapel Post hängen, den die Kasulke ihr gebracht hatte. Inmitten von Rechnungen und Werbung fand sie eine Ansichtskarte, die das Foto eines Feuersalamanders zeigte. Auf der Rückseite hatte jemand in ungelenken Großbuchstaben die Worte »Lena« und »Samantha« geschrieben, dazwischen war ein Herz gemalt. In der Erwachsenenschrift, mit der die Karte auch adressiert worden war, war hinzugefügt: »Liebe Frau Borowski. Uns allen geht es gut, Samantha fragt oft nach Ihnen. Kommen Sie uns mal wieder besuchen? Herzliche Grüße, B. Treutle.« Tatsächlich war es eine Weile her, seit Lena die kleine Samantha in ihrer neuen schwäbischen Heimat besucht hatte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie verwahrlost das Mädchen bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, zog sich ihr Herz zusammen. Inzwischen hatten sich Samanthas Lebensumstände radikal verbessert. Jetzt ging es dem Mädchen bei ihren Adoptiveltern, einem liebevollen Ehepaar, gut. Sie lebte mit den Treutles und Max, einem anderen Adoptivkind der Familie, in einem Einfamilienhaus mit großem Garten in einer ruhigen Kleinstadt. Ein Umstand, den sie einem Deal verdankte, den Lena damals eingefädelt hatte. Gegen etliche Widerstände. Aber das war egal. Das Ergebnis zählte.

Sie nahm die Karte mit ins Wohnzimmer, um sie ins Bücherregal zu stellen. Der Feuersalamander gab ein gutes Bild ab.

Noch immer war es zu früh, um nach Dietzenbach zu fahren. Wo hatte Frau Kiewitz gewohnt? In einem der Hochhäuser, aber die genaue Anschrift wusste Lena aus dem Gedächtnis nicht. Zu viele Klienten, es war unmöglich, sich alles zu merken. Sie würde vor Ort nachsehen. Zuständigkeit hin oder her.

03

Das Dietzenbacher östliche Spessartviertel war weit über die Stadtgrenzen hinaus als Brennpunktgebiet bekannt. Man hatte die Großwohnsiedlung, die früher Starkenburgring hieß, vor Jahren umbenannt. Unter anderem, um Menschen mit diesen negativ behafteten Wohnadressen bessere Chancen einzuräumen. Faktisch waren die fünf Hochhäuser, zwischen neun und siebzehn Stockwerken hoch, noch immer ein breit gestreutes Betätigungsfeld für Sozialarbeiter. Doch seit Anfang der Nullerjahre ein Konzept zur Verbesserung der Wohnbedingungen umgesetzt worden war, hatte sich vieles verändert. Lena profitierte jetzt davon, dass die einst dauerbeschädigten und wenig aussagekräftigen Klingelanlagen neu gestaltet waren. Bereits im Eingangsbereich des zweiten Hauses, das sie betrat, entdeckte sie im siebten Stock den Namen »A. Kiewitz«. Sie legte den Finger auf den Klingelknopf und wartete. Nichts geschah. Es war kurz vor neun Uhr morgens an einem Sonntag. Nicht ausgeschlossen, dass dort oben noch alle in ihren Betten lagen. Dennoch ließ Lenas Nervosität nicht zu, dass sie ihr Hiersein in Frage stellte. Erneut klingelte sie. Auch dieses Mal umsonst. Ihr Blick wanderte über die Klingelreihe des ganzen Stockwerks. Leise schlug die Erinnerung an, als sie den Namen Buckpesch las. Sie wusste sofort, dass sie die Leute kannte. Gleichzeitig aber auch, dass das keine Klienten von ihr waren. Dennoch klingelte sie nun genau dort.

»Hallo?« Eine brüchig klingende Frauenstimme.

Lena nannte ihren Namen und stellte sich, nach kurzem Zögern, der Einfachheit halber als Mitarbeiterin des Jugendamtes vor. Frau Buckpesch stellte keine weiteren Fragen, sondern betätigte den Türöffner. Sie stand an der Wohnungstür, als Lena wenig später aus dem Lift in den Flur trat. Der ähnelte einem langen dunklen Tunnel, in den kaum Tageslicht fiel. Frau Buckpesch war eine zierliche Person, deren blasses Gesicht mit der kurzen spitzen Nase und den großen grauen Augen in der spärlichen Beleuchtung an ein Kind erinnerte. Erst wenn man näherkam, das Netz an feinen Falten, die pergamentartige Beschaffenheit der Haut und den unendlich müden Blick erkennen konnte, ahnte man ihr tatsächliches Alter.

»Frau Borowski«, sagte sie nur. Sie hielt die Tür fest, als sei sie ein Schutzwall gegen Bedrohungen von außen. Bereit, sie sofort zu schließen, sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen. Und jetzt fiel es Lena wieder ein.

»Wie geht es Ihrer Enkelin?«, fragte sie. Sie selbst war es gewesen, die Carolin Buckpesch eines Tages halb tot in ihrer Wohnung gefunden hatte, der prügelnde Freund saß im Wohnzimmer und sah ungerührt fern.

»Seit Sie sie da rausgeholt und ihr eine Wohnung besorgt haben, wieder gut.« Die ältere Frau lächelte leicht. Betreten blickte Lena auf ein verfärbtes und unvollständiges Gebiss.

Ihr Gegenüber bemerkte den Blick und senkte beschämt den Kopf.

Lena kannte Magda Buckpesch und ihren Mann Roger nur flüchtig. Sie wusste, dass der Mann wegen mehrerer schwerer Einbrüche vorbestraft war. Vor vielen Jahren hatte er sich aus der Kriminalität verabschiedet, aber im normalen Leben nie wirklich Fuß gefasst. Inzwischen bezogen die beiden Rente, die jedoch bei weitem nicht ausreichte. Daher blieben sie zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesen. Mit diesem Hintergrund war es ihnen unmöglich, hier wegzuziehen.

»Auf ewig verdammt«, hatte es Magda damals genannt. Ein kurzes Zulassen von Verbitterung. Lena wusste, dass sich die kleine Frau seit Jahren trotz aller Nackenschläge mit einer bewundernswerten Zähigkeit durchs Leben kämpfte.

»Frau Kiewitz hat mich angerufen und gebeten, vorbeizukommen. Leider öffnet niemand.«

»Oh. Die sind gestern in Urlaub gefahren«, murmelte Frau Buckpesch. Hinter ihr tauchte jetzt ihr Mann auf. Fast zwei Köpfe größer als seine Frau, breitschultrig und mit dem misstrauischen Blick, den hier viele hatten. Als er Lena erkannte, nickte er ihr wortlos zu.

»Frau Borowski wollte zu Angelika«, erklärte ihm seine Frau und deutete zur gegenüberliegenden Tür.

»Die sind weg«, bestätigte er die Aussage seiner Frau.

Ein merkwürdiges Schweigen entstand. Frau Buckpesch blickte zu ihrem Mann hoch und blinzelte nervös.

»War ein Riesenstreit gestern, bevor sie gefahren sind«, bequemte er sich schließlich zu sagen. »Sie hat ja wieder einen neuen Freund. Der ist nicht gut für sie.«

Lena nickte verstehend. Dann hob sie seufzend die Schultern.

»Tja, wenn sie weg ist …«

Ihr Blick wanderte zur Tür. ‚Angelika und Toby‘ stand auf dem Namensschild aus Ton, das über der Klingel hing.

»Ich habe sie gar nicht weggehen sehen. Nur gehört«, murmelte Frau Buckpesch.

»Sei still, Frau. Das geht uns nichts an.« Herr Buckpesch hatte genug, das war ihm anzusehen. Er litt an einer unheilbaren Allergie gegen Ämter und Justiz.

Wäre die Sache mit seiner Enkelin nicht gewesen, würde er nicht mal mit mir sprechen.

»Die beiden sind mit den Kindern weggefahren. Punkt.«

Doch seine Frau wich nicht von der Tür. »Denk doch daran, wie Frau Borowski unserer Carolin geholfen hat«, regte sie seine Erinnerung an. »Vielleicht geht es der Angelika genauso.«

»Sie ist mit ihm ans Meer und du mischst dich da nicht ein«, insistierte ihr Mann. Er griff nach der Schulter der zarten Person und zog sie zurück in die Wohnung.

»Schönen Tag noch«, warf er Lena schroff zu und schloss die Tür. Sie stand alleine auf dem dunklen Gang. In der Wohnung gegenüber blieb es still. Trotzdem konnte Lena nichts gegen die aufsteigende Unruhe tun, die sie erfasste.

04

Norbert Müller war der erste, der sie am Montagmorgen sah. Zu Lenas Erstaunen blieb der Teamleiter bei ihrem Eintreten wie versteinert an seiner Bürotür stehen.

»Morgen!«, rief sie ihm über den Gang hinweg zu. Er nickte knapp und verschwand, die Tür schlug heftig zu.

»Merkwürdige Begrüßung«, murmelte sie, als sie den kleinen Büroraum betrat, den sie mit einer Kollegin teilte. Sie hielt inne, als ihr Blick auf Andrea Geissler fiel. Die saß hinter ihrem Schreibtisch, der Lenas gegenüberstand, und sah sie mit großen Augen an.

»Was ist denn los? Habt ihr nicht mit mir gerechnet?« Lena warf ihre Tasche auf den Sessel und zog ihre Lederjacke aus. »Ich war doch nur im Urlaub.«

Andrea schnellte nach vorn. »Lena. Weißt du noch gar nichts?«

»Ob ich was weiß, weiß ich erst, wenn du mir sagst, was ich wissen sollte.« Sie würde sich die Laune nicht verderben lassen. Nicht gleich am ersten Tag.

Oder wissen alle bereits, was ich getan habe?

Der große Knall, wie sie es nannte, lag inzwischen rund zwei Monate zurück. Sechs der acht Wochen, die seither vergangen waren, war sie weg gewesen. Überstunden, Resturlaub, sie hatte kaum etwas von ihrem diesjährigen Anspruch nehmen müssen. Es war nicht nur der Wunsch nach Erholung, der sie getrieben hatte, für eine Weile das Amt und alles, was damit zusammenhing, hinter sich zu lassen. Aber das konnte Andrea unmöglich wissen.

»Eine unserer Klientinnen, die Kiewitz und ihr Sohn …« Andrea schüttelte in einer hilflosen Geste den Kopf.

»Was?« Lena war mitten in der Bewegung erstarrt.

»Der Kleine ist tot. Die Mutter hat Selbstmord begangen.« Andrea war kaum zu verstehen.

»Woher weißt du das?« Lena fühlte eine Welle von Übelkeit in sich aufsteigen.

»Die Maibaum. Sie hat uns heute in aller Herrgottsfrühe zusammengetrommelt.«

Lena blickte automatisch auf ihr Diensthandy. Sie hatte keine Nachricht erhalten. Weder von der Sozialdezernentin noch von Norbert, ihrem Teamleiter.

»Dich haben sie nicht informiert?« Andreas Blick wirkte wie eingefroren.

Lena schüttelte den Kopf. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Was war hier los?

»Sag nicht, dass ich mit dir gesprochen habe.« Andrea flüsterte nun. »Die Kripo war auch dabei. Ich glaube, sie wollen dich befragen …« Weiter kam sie nicht. Norbert Müller stürmte mit hochrotem Gesicht und besorgniserregenden Falten auf der Stirn in den Raum

»Lena, du sollst sofort rüber ins Haupthaus kommen. Die Maibaum will dich sprechen.«

Lena blickte von Andrea zu Norbert und wieder zurück. Ein weiterer Kollege war an der offenen Tür aufgetaucht und blickte sie an. Mitleidig, wie ihr schien.

»Meine Termine«, murmelte sie mit einer vagen Handbewegung zu ihrem Computer. Norberts Brauen hoben sich unmerklich. Andrea blinzelte nervös. Der Kollege an der Tür verschwand wortlos.

»Für deine Vertretung ist gesorgt«, antwortete Norbert. Er war überfordert als Teamleiter und versuchte häufig, das durch besonders forsches Auftreten im Team wettzumachen. Dass nun keine Häme in seiner Stimme mitschwang, keine Genugtuung, machte ihr klar, dass etwas verdammt Ungutes in Gang war.

05

Marianne Maibaum, Sozialdezernentin des Landkreises Offenbach, residierte im obersten Stockwerk der Kreisverwaltung in der Werner-Hilpert-Straße. Vom Spessartviertel, wo sich die Büros des Querschnittsteams befanden, bis dorthin war es Lena noch nie so weit vorgekommen. Nun saß sie bereits seit einer Viertelstunde im Vorzimmer und wartete darauf, von ihrer obersten Vorgesetzten empfangen zu werden. Sieglinde Brohm rauschte irgendwann an ihr vorbei ins Büro der Politikerin. Als sie totenbleich wieder herauskam, würdigte sie Lena keines Blickes. Dabei waren beide einmal so etwas wie befreundet gewesen. Damals, als sie noch Sozialarbeiterinnen im Jugendamt waren. Nach Sieglindes Beförderung zur Abteilungsleiterin hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen verändert. Sieglinde war seither gezwungen, anders zu handeln als vorher. Vor allem die Effizienz der Abteilung stand nun im Vordergrund ihres Wirkens, ebenso quälte sie in zunehmendem Maße die Frage, wie immer mehr Arbeit mit immer weniger Personal bewerkstelligt werden konnte. Lena war ihr dabei ein Dorn im Auge, weil sie stets auf die Unvereinbarkeit von qualitativ guter Arbeit und zusammengeschusterter Lösungen aufgrund von Überlastung verwies. Als Sieglinde die Gelegenheit bekam, Lena in ein zunächst befristetes Vorzeigeprojekt der Dezernentin abzustellen, hatte sie nicht lange gezögert. Seither saß Lena mit rund einem Dutzend anderer Sozialarbeiter*innen in Büros direkt im Brennpunkt und war für einen ausgesuchten Personenkreis erste Ansprechpartnerin in allen Fragen der Hilfegewährung sämtlicher Ämter.

Die Tür flog auf und Lena wurde aus ihren Überlegungen gerissen. Doch nicht Marianne Maibaum stand dort, sondern Konrad Leiß. Der Personalchef sah aus, als habe man ihm die Luft abgelassen. Er winkte Lena herein. Beim Betreten des Raumes war es, als würde sie sich in eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre begeben. Die Maibaum saß am Kopfende des Besprechungstischs und blickte bei ihrem Eintreten von einem Schriftstück auf. Lena erkannte unverhohlene Abscheu in ihren Augen, bevor sich die Chefin wieder im Griff hatte. Neben der Maibaum saß Carola Bergmann, die persönliche Referentin der Politikerin. Ihre Miene war ernst und ausdruckslos. Leiß räusperte sich, bevor er Lena bat, ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen und sich ihr gegenüber niederließ.

Die nachfolgende halbe Stunde würde sie vermutlich nie vergessen. In einer Atmosphäre eisiger Kälte informierte sie Konrad Leiß über die Situation. Angelika Kiewitz war in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Ihr Sohn Toby lebte ebenfalls nicht mehr. Der kleine Junge war derartig schwer misshandelt worden, dass er die Tortur nicht überlebt hatte.

»Die Misshandlungen zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Sie als zuständige Sozialarbeiterin hätten sehen müssen, was in der Familie vorgeht«, hielt Leiß ihr vor.

»Moment«, meldete sich Lena zu Wort. »Ich war nicht mehr zuständig für die Familie.« Niemand antwortete, Leiß wich ihrem Blick aus.

»Frau Borowski, wir alle stehen hinter Ihnen. Die Kripo wird Sie womöglich befragen. Wir als Behörde sind jedoch aufgefordert, die Sache intern zu klären. Bis dahin sind Sie vom Dienst suspendiert. In Ihrem eigenen Interesse. Und selbstverständlich nach Rücksprache mit dem Betriebsrat, der der Maßnahme zugestimmt hat.«

Die Worte hallten nach wie ein viel zu lauter Gong, der in ihrem Kopf geschlagen wurde.

Sie sah von Leiß, der sichtlich bemüht war, die Sache so sachlich wie geschmeidig rüberzubringen, zu Carola Bergmann, die sie aufmerksam musterte. Was sie dachte, konnte Lena noch nicht einmal erahnen. Bei Marianne Maibaum verhielt sich das anders. Blanker Hass leuchtete aus den Augen der Dezernentin.

Die rächt sich jetzt an dir für das, was du ihr vor Kurzem zerschossen hast.

Doch keinesfalls wollte Lena eine solche Behandlung klaglos hinnehmen.

»Als ich sie zuletzt gesehen habe, hatte Angelika Kiewitz ihr Leben wieder im Griff. Doch seit meiner Versetzung gehörten sie und ihr Sohn nicht mehr zu meinen Klienten.«

Leiß blickte stirnrunzelnd zur Maibaum, die Lenas Worte mit einer leichten Handbewegung abtat. Erst jetzt sah Lena, dass die Finger der Dezernentin auf der Fallakte lagen.

»Schauen Sie nach!«, forderte sie die Politikerin auf.

Carola Bergmann blickte nun ebenfalls auf die Akte. Nachdenklich, wie Lena schien. Sie sagte jedoch nichts.

»Das werden wir tun. Wie gesagt, wir klären das. Nicht Sie. Wir stehen momentan im Fokus, es ist die Kreisverwaltung, mein Dezernat, das Jugendamt.« Marianne Maibaum erhob sich zum Zeichen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Leiß und die Bergmann taten es ihr gleich. Lena schnappte empört nach Luft. »So geht das aber nicht! Sie können mich nicht einfach zur Seite schieben. Eine Suspendierung kommt einem Urteil gleich …«

»Frau Borowski. Wir haben uns das gut überlegt. Es ist momentan der einzig denkbare Weg.« Die Bergmann hatte sie unterbrochen. Nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Sobald wir klarer sehen, reden wir weiter.«

Keine Chance, die Sache noch zu drehen.

»Wir melden uns, falls es Neuigkeiten gibt.« Leiß reichte ihr als einziger die Hand.

Wie betäubt verließ Lena das Büro der Politikerin. Sie rannte die Treppe hinunter. Dann stand sie vor dem grauen Gebäude, immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie war total durcheinander. Wohin sollte sie sich wenden? Zurück an ihren Schreibtisch, das war ihr untersagt worden. Sie wusste, dass Norbert Müller sehr genau darauf achten würde, dass sie dieses Verbot einhielt. Und hier im Haus gab es für sie nichts mehr zu tun.

Wir heben die Suspendierung sofort wieder auf, sollte sich der Fall zu Ihren Gunsten klären, hatte der Personalchef ihr versichert, nachdem er ihre Schlüssel und das Diensthandy an sich genommen hatte. Lena fühlte sich, als habe man ihr einen Teil ihrer Identität geraubt. Sollte sie jetzt einfach nach Hause fahren? Während man hier so tat, als trüge sie die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an dem, was geschehen war? Wut erfasste sie. Am liebsten hätte sie gegen irgendetwas getreten. Nur, dass das auch nichts geändert hätte. Genauso wenig wie an ihrem permanent schlechten Gewissen. Hatte Angelika Kiewitz noch gelebt, als sie am Vortag vor ihrer Tür stand? Sie ging noch einmal die Optionen durch, die sie gehabt hatte. Doch genau wie am Sonntag kam sie zum Ergebnis, dass es keinerlei Handhabe für sie gegeben hätte, die Polizei zu rufen. Die hätte ganz sicher keine Wohnung aufgebrochen, deren Bewohner laut Auskunft der Nachbarn in Urlaub gefahren waren.

Lena wusste, dass ein Blick in die Akte die Sache klären würde. Nur, dass die Maibaum genau das verhindert hatte. Mit Argumenten, die Lena nur bedingt akzeptieren konnte. Während sie ziellos durch die Straßen lief, lächelte ihr die Maibaum mehrfach von Plakatwänden entgegen. Genauso wie der amtierende Landrat Hans-Joachim Söder. Die beiden würden sich in den kommenden Wochen bis zur Landratswahl ein heißes Gefecht liefern. Die Maibaum wollte unbedingt Söders Stuhl. Da war es für die ehrgeizige Politikerin fast ein Super-Gau gewesen, als zwei Monate zuvor eines ihrer geplanten Vorzeigeprojekte im Sozialbereich den Bach runterging, nachdem brisante Details zu Betrügereien durch den von ihr ausgesuchten Geschäftspartner ans Licht gekommen waren. Sie verdächtigte Lena, etwas damit zu tun zu haben. Das kam nicht von ungefähr. Doch sie konnte ihr nichts nachweisen. Jetzt würde sie versuchen, es ihr auf andere Weise heimzuzahlen.

Die Fäuste tief in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben, lief Lena eine Weile ziellos umher. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie drehte auf dem Absatz um, und schlug den Weg zu den Hochhäusern des Spessartviertels ein.

06

»Sie schon wieder!« Herr Buckpesch klang nicht erfreut.

»Ach, Frau Borowski«, piepste seine Frau und drängelte sich an ihm vorbei zur Tür. »Kommen Sie rein. Ich habe gerade frischen Kaffee aufgesetzt.«

Lena ignorierte den unwilligen Blick des Mannes und folgte seiner Frau in die Wohnung. Klein war sie und vollgestopft mit Möbeln, die mehr Raum benötigt hätten. Aber alles war picobello, sauber und wesentlich aufgeräumter als Lenas eigene Wohnung.

»Sie kommen sicher wegen Angelika«, begann die ältere Frau das Gespräch, kaum dass sie das Wohnzimmer betreten hatten.

Lena ließ sich auf ein geblümtes Sofa sinken. »Es lässt mir einfach keine Ruhe.«

Frau Buckpesch nickte, sie sah traurig aus. »Wir machen uns ebenfalls Vorwürfe. Aber wir haben die Nachbarn doch gehört. Sie haben am Samstagabend das Haus verlassen. Angelika hatte den Urlaub angekündigt. Gefreut hat sie sich. Ein bisschen im Meer baden, das täte Toby ganz gut. Und sie wollte mal was anderes sehen als immer nur das hier.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer vielsagenden Geste. »Ihr Freund hat ihr die Reise spendiert, erzählte sie mir. Sie selbst hatte ja kein Geld. Die Streitereien …«, sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen, »die waren doch an der Tagesordnung.«

»Kennen Sie den Mann, mit dem Ihre Nachbarin zusammen war?« Lena hatte nachgerechnet. Sie war fast ein dreiviertel Jahr nicht mehr zuständig für Frau Kiewitz. Damals war die Frau Single gewesen.

»Hm«, machte ihr Gegenüber und warf einen unsicheren Blick zu ihrem Mann hinüber.

»Wir wollen in nichts hineingezogen werden«, brummte der. Eine betretene Stille trat ein, die durch die Türklingel durchbrochen wurde. Herr Buckpesch verschwand und zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu.

»Frau Buckpesch, ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Lena leise. »Wie Sie wissen, war ich einige Jahre die zuständige Sozialarbeiterin im Jugendamt. Jetzt ist ein kleiner Junge tot, dessen Mutter mich kurz zuvor noch angerufen hat und ich habe keine Ahnung, was genau geschehen ist.« Sie blickte kurz zur Tür, von draußen war lebhaftes Gemurmel zu hören.

»Man hat mich vom Dienst suspendiert.«

»Ach herrje!« Frau Buckpesch hob die Pergamenthände an den Mund und sah Lena mitfühlend an. »Aber Sie können doch nichts dafür.«

»Leider ist die Situation im Moment etwas unübersichtlich.«

Herrn Buckpeschs Stimme hob sich, offensichtlich war er verärgert.

»Der Freund, er hatte ebenfalls ein Kind«, flüsterte die ältere Frau nun hastig. »Auch ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter. Das hat mir Angelika erzählt. Der Mann selbst war eher unauffällig. Aber er fuhr ein großes Auto. Einen Chevrolet, sagt mein Mann.«

Der schlug nun gerade draußen jemandem lautstark die Tür vor der Nase zu.

»Reporterpack!«, schimpfte er verärgert, als er zurück ins Zimmer kam. »Wollten mich doch tatsächlich über unsere Nachbarin ausquetschen.«

Er ließ sich in den Sessel neben dem seiner Frau fallen und musterte Lena auf einmal neugierig. »Die Kerle wollten wissen, ob das Jugendamt sich um die Familie gekümmert hat.«

Lena schloss kurz die Augen. »Woher wissen die denn schon Bescheid?« Sie selbst hatte erst vor einer knappen Stunde von den Geschehnissen erfahren.

»Schmeißfliegen. Die haben ihre Quellen und Methoden«, ließ Herr Buckpesch sie wissen. Augenscheinlich gehörten Reporter für ihn in eine ähnliche Kategorie wie Beamte und Polizisten.

»Wer hat die beiden gefunden?«, fragte Lena.

»Ramona. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Die hatte einen Schlüssel. Wegen der Post. Und Tobys Hamster.«

Wie sich herausstellte, kannten die Buckpeschs den Teenager nicht. Doch als das Mädchen am Vortag die Wohnung betreten hatte, um den Hamster zu füttern, war sie angesichts dessen, was sie dort vorfand, schreiend auf den Gang gerannt.

»Die war so durch den Wind, die konnte nicht mal mehr den Notruf wählen. Das mussten wir dann tun«, brummte Herr Buckpesch.

»Die Polizisten haben auch uns vernommen«, fuhr seine Frau fort.

»Befragt. Lediglich befragt.«

Lena brummte der Kopf. Das ältere Ehepaar hatte also einen heftigen Streit gehört, danach aber angenommen, dass sowohl Angelika und Toby Kiewitz als auch ihr neuer Freund mit seinem Sohn gemeinsam zu einer Urlaubsreise aufgebrochen waren.

»Wohin sollte es denn gehen? Wissen Sie das?«

Die beiden schüttelten zunächst den Kopf, bevor ihnen doch noch etwas einfiel.

»Mallorca? Ich glaube, es war Mallorca«, meinte er.

»Nein, etwas, das so ähnlich klang«, meinte sie.

»Ist auch egal. Sie ist ja nicht gefahren. Womöglich wollte sie nach dem Streit nicht mehr.«

»Vielleicht hat er sie verlassen und ist alleine weggefahren. Und deshalb hat die Angelika sich umgebracht.«

Die beiden fingen nun an, alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Lena ahnte, dass das Gespräch sie nicht mehr weiterbringen würde, und verabschiedete sich. Es gab noch jemanden, mit dem sie dringend sprechen musste.

07

Sieglinde Brohm bugsierte ihren schwarzen Mini in eine Parklücke vor dem gepflegten Mehrfamilienhaus in der Anton-Hermann-Straße in Heusenstamm. Sie stieg aus, griff nach einigen Tüten auf der Rückbank, schloss die Tür und wandte sich um. Als sie Lena auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen sah, erstarrte sie.

»Ich darf nicht mit dir reden. Und du nicht mit mir«, stieß sie nach ein paar Schocksekunden hervor.

»Wer sagt das?« Lena schlenderte gemächlich auf ihre ehemalige Abteilungsleiterin zu. Es war ihr nicht anzumerken, dass sie seit über zwei Stunden auf Sieglinde wartete. Sie wirkte, und das war kalkuliert, lässig.

»Die Maibaum. Und der Leiß.« Sieglinde versuchte, an Lena vorbeizukommen, doch die stellte sich ihr in den Weg. »Du musst aber mit mir reden. Denn du bist die Einzige, die mir helfen kann.«

»Lass mich vorbei, oder ich schreie!«

»Schrei doch.« Lena bewegte sich keinen Millimeter und sah Sieglinde unverwandt an.

Die senkte schließlich die Augen. »Niemand wird mit dir reden. Die haben uns allen heute einen Maulkorb verpasst.«

Lenas Arm sank herab. »Sag mir einfach, wer die Familie Kiewitz nach meiner Versetzung betreut hat.«

Ein Flackern trat in Sieglindes Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Warum nicht? Du hast doch meine damaligen Fälle nach meiner Versetzung neu verteilt, oder?«

Sieglindes Mund verzerrte sich, als leide sie Schmerzen. »Habe ich«, quetschte sie schließlich hervor. »Aber ich weiß das nicht aus dem Gedächtnis.«

»Du hast die Akte.«

»Hatte. Ich hatte die Akte. Bis sie heute Morgen von jemandem abgeholt wurde. Direkt zur Maibaum. Glaub mir, ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen.«

»Es gibt eine digitale Version.«

»Die ist gesperrt.«

Lena runzelte die Stirn. »Sieglinde, das ist doch Mist. In deinem Team wird diejenige Person ja wissen, dass sie zuständig ist! Das lässt doch niemanden kalt! Ein kleiner Junge ist tot. Offenbar wurde er seit längerer Zeit misshandelt. Als ich die Familie abgegeben habe, ging es ihm gut. Jetzt will man mir einen Strick daraus drehen. Abgesehen davon fühle ich mich total beschissen bei der Vorstellung, dass der kleine Toby gewaltsam zu Tode kam. Kannst du das nicht verstehen?«

»Hör auf!« Sieglinde stellte ihre Tüten ab und trat einen Schritt auf Lena zu. »Niemand will dir an den Karren fahren. Im Gegenteil. Die Spitze der Kreisverwaltung steht hinter dir. Mal wieder. Wie auch immer du das angestellt hast. Aber ich habe die Sache nun an der Backe und muss sehen, wie ich Schaden von meiner Abteilung abwenden kann.«

Lena zog irritiert die Brauen nach oben. »Schaden von deiner Abteilung abwenden? Was redest du da? Wenn Mist gebaut wurde, muss das auf den Tisch. Ihr könnt die Sache doch nicht köcheln lassen, mit mir im Schmortopf! Und das noch zu deiner Information: Das Gespräch, das ich heute früh in Frau Maibaums Büro geführt habe, war nicht freundlich.«

»Möglich. Aber du bist erst einmal raus aus der Nummer. In deinem eigenen Interesse suspendiert, bis zur Aufklärung der Sache. Nicht im öffentlichen Fokus, wie unsere Dezernentin so schön sagt. Ganz im Gegensatz zu uns anderen. Also spiel dich nicht auf, genieße deine Freizeit und reiße niemanden mit rein, nur weil du es einfach nicht lassen kannst, deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.«

Sie nahm ihre Tüten wieder auf und dieses Mal trat Lena beiseite.

»Du bist wütend, Sieglinde. Weil ich einen eigenen Kopf habe und nicht alles abnicke, was in der Hierarchie von oben kommt. Aber denk bitte bei allem daran, dass wir früher eine Art kollegialer Freundschaft hatten. Unsere fachlichen Auseinandersetzungen einmal beiseitegelassen, war ich dir gegenüber stets loyal. Vergiss das nicht.«

Sieglindes Blick war abweisend, aber sie widersprach nicht.

»Glaub ja nicht, dass mich das kaltlässt. Ein Kind zu misshandeln, das ist so ekelhaft. Du kennst meine Meinung dazu. Aber ich kann, will und werde mich nicht gegen meine Vorgesetzte stellen.« Damit wandte sie sich ab und ging an Lena vorbei ins Haus.

Die stand noch eine Weile da und starrte auf den Bürgersteig. Hatte man sie wirklich aus der Schusslinie genommen? Wenn ja, warum? Wenn sie doch gar nichts damit zu tun haben konnte? Sie wurde aus der Nummer nicht schlau.

08

Die Kripo stand am nächsten Morgen vor ihrer Tür. Ein Mann und eine Frau, beide ungefähr in Lenas Alter. Sie wollten nicht die Sozialarbeiterin befragen, sondern die Person, die Angelika Kiewitz vor ihrem Tod angerufen hatte. Man hatte das Handy gefunden und inzwischen auswerten lassen.

»Es lag im Badezimmer, in einem Korb von Schmutzwäsche verborgen. Der letzte Anruf, den die Frau getätigt hatte, galt Ihnen. Worum ging es?«

Die Kripobeamtin hatte blasse Haut und fahlblondes Haar, das sie zum Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre Stimme war kräftig, der Ton sachlich.

Lena schilderte, was vorgefallen war. Dass sie zunächst keinen Schimmer gehabt hatte, wer da am anderen Ende gewesen war. Dass sie, als es ihr klar wurde, hingefahren war, aber nach der Aussage der Nachbarn keinen Grund gesehen hatte, weitere Schritte einzuleiten.

»Im Nachhinein frage ich mich natürlich, ob das ein Fehler war. Leider habe ich nicht verstanden, was genau Frau Kiewitz wollte.« Noch einmal wiederholte sie das Gespräch und die wenigen Worte, die sie mitgehört hatte, als die Anruferin mit jemandem vor der Tür sprach.

Die Beamtin blickte sie aufmerksam an, ihr Kollege schrieb mit.

»Sie haben die Familie betreut?«

Ihr war, als wechselten die beiden einen kurzen Blick, als sie das richtigstellte. »Nicht mehr. Ich wurde vor rund neun Monaten vom Jugendamt in einen neu geschaffenen Querschnittsbereich versetzt.«

»Warum, glauben Sie, hat Frau Kiewitz Sie dennoch angerufen?«

Lena zuckte die Schultern. »Vielleicht, weil sie meine Nummer noch eingespeichert hatte. Weil mein Diensthandy erreichbar war und das der inzwischen zuständigen Kollegin womöglich nicht«, mutmaßte sie. »Sie müssten ja sehen können, ob noch andere Nummern der Kreisverwaltung in ihren Kontakten stehen.« Wieder wechselten die beiden Beamten einen Blick, ließen Lenas indirekte Frage jedoch unkommentiert. »Die Mutter wurde im Wohnzimmer auf der Couch gefunden. Offenbar hat sie sich mit Schlaftabletten und Alkohol das Leben genommen. Der Junge lag in seinem Bett, ordentlich gekämmt und zugedeckt.«

So, als wolle die Mutter im Nachhinein gutmachen, was sie ihrem Kind angetan hatte.

»Tobys Körper trug Anzeichen andauernder Misshandlungen. Gestorben ist er an einer schweren Kopfverletzung. Hat Frau Kiewitz ihren Sohn früher schon geschlagen?«

»Nein. Definitiv nicht. Das passt nicht zu ihr«, entgegnete Lena bestimmt. »Sie war labil, ja. Gefährdet, was Alkohol betraf. Sie hat Toby vernachlässigt, sich zu wenig um ihn gekümmert. Vielleicht ist ihr hin und wieder die Hand ausgerutscht. Aber sie hat ihr Kind nicht körperlich misshandelt.«

»Könnte es sein, dass sie das Kind als Hemmnis betrachtet hat, dass er ihr im Weg stand? Schließlich soll sie eine neue Beziehung gehabt haben.«

Lena dachte kurz nach, bevor sie antwortete. »Man weiß nie, was in einem anderen Menschen vorgeht. Aber so, wie ich sie kannte, würde ich das ausschließen.«

»Wie war sie in Beziehungen?«

»Sehr anlehnungsbedürftig. Sie war jemand, die sich schnell unterordnete, es ging da um Verlustängste. Ihre Kindheit war schwierig. Es fehlte ihr an Anerkennung und als Erwachsene an einem gesunden Selbstwertgefühl. Doch sie hat Toby geliebt, auch wenn sie als Mutter unzulänglich war.«

Lena schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der neue Freund nach dem Streit alleine in Urlaub gefahren sein könnte. Hatte das Tobys Mutter derartig in Rage versetzt, dass sie ihr Kind verprügelt hatte? Oder hatte doch der Mann etwas mit Tobys Tod zu tun?

»Wir suchen mit Hochdruck nach dem Mann. Im Moment ist er jedoch lediglich ein wichtiger Zeuge«, versicherten ihr die Polizisten.

»Der Vater des Kindes ist unbekannt?«

»Laut Aktenlage. Ja. Ich hatte immer das Gefühl, dass Frau Kiewitz weiß, von wem Toby war. Aber sie hat es mir nie gesagt.«

Oder war es ein Eifersuchtsdrama? War Tobys Vater zurückgekommen und hatte die Befürchtung, sein Sohn würde demnächst zu einem anderen Mann Papa sagen?

Am Ende überreichten die Polizisten ihr eine Visitenkarte.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, uns zu verständigen. Wir werden Sie womöglich auch noch einmal befragen müssen.« Als die beiden gegangen waren, fühlte Lena sich unendlich müde. Im Badezimmer schaufelte sie sich kühles Wasser ins Gesicht. Der Blick in den Spiegel sorgte nicht gerade ür Freude. Sie sah fertig aus. Dunkle Schatten ließen ihre Augen aussehen wie grüne Tümpel inmitten von Schlamm. Das dunkle, kurz geschnittene Haar wirkte nicht gewohnt fluffig, sondern klebte regelrecht am Kopf. Ein unangenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper, als sie im Geist wieder die Stimme der Anruferin hörte. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.« Angelika Kiewitz hatte gewusst, dass ihr Kind in Gefahr war. Nur, warum hatte sie bei Lena nicht insistiert, sondern gleich darauf alles zurückgenommen? Wenn es stimmte, was die Polizei annahm, hatte sie ihr Kind in einem Wutanfall getötet und danach sich selbst das Leben genommen.

Lena kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nahm an ihrem kleinen Schreibtisch Platz, zog einen Block aus der Schublade und schrieb systematisch auf, woran sie sich noch erinnern konnte.

»Nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«

Azul. Das spanische Wort für Blau.

Mallorca, hatte Herr Buckpesch gesagt.

So ähnlich, seine Frau.

Lena musste keinen Atlas konsultieren. Mallorcas Nachbarinsel hieß Menorca. War sie gemeint? Oder hatten die beiden älteren Herrschaften etwas völlig missverstanden? Waren Madeira, Malta oder ganz was anderes das Ziel? Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Ob die Kripo den Mann bereits anhand seines auffälligen Wagens identifiziert hatte?

Der Freund, er hatte auch ein Kind. Ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter, geisterte Frau Buckpeschs Stimme durch ihren Kopf.

Sie konnte nicht stillsitzen, sprang auf und tigerte durch die Wohnung.

Ich muss etwas tun. Bloß was?

Die Suspendierung nagte an ihr, das Gefühl, ihr seien die Hände gebunden, setzte ihr zu.

Als seine Mutter mich anrief, lebte er noch.

Sie wusste, dass sie keine andere Chance hatte, als die Sache rational und professionell anzugehen. Dennoch schmerzte sie die Vorstellung, sie habe womöglich versagt. Um ihre Unruhe zu bekämpfen, beschloss sie, joggen zu gehen. Ein probates Mittel, um den Kopf frei zu bekommen. Danach würde sie klarer denken können.

Eine Viertelstunde später trabte sie am Mainufer entlang. Die Luft war mild, alles Grün wirkte hell und frisch, die Enten am Wasser schnatterten lebhaft. Sie fand schnell ihren Rhythmus und lief schon nach kurzer Zeit gleichmäßig und im richtigen Tempo. Erst als ihr Blick auf die Schlagzeile einer bekannten überregionalen Zeitung fiel, geriet sie aus dem Tritt.

»Schlamperei im Jugendamt! Warum musste der kleine Toby (4) sterben?« Daneben ein verwaschenes Foto des Jungen.

Lena blieb keuchend stehen. Der Mann, der auf einer Bank am Ufer sitzend die Zeitung las, blätterte um und die Schlagzeile verschwand aus ihrem Blickfeld. Lena drehte um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schlamperei, was sollte das denn heißen? Jugendämter gerieten jedes Mal, wenn ein Kind auf gewaltsame Weise innerhalb der Familie zu Tode kam, in den Fokus der Medien. Reflexartig wurde die Schuld dort gesucht. Sie hatte schon öfter solche Berichterstattungen aus anderen Kommunen verfolgt. Dieses Mal war die Angelegenheit ganz nah an ihr dran. Und das auf mehr als eine Weise. Bevor sie nach Hause zurückfuhr, kaufte sie am Aliceplatz sämtliche regionalen Zeitungen. Überall war der tote Junge erwähnt. Jedoch nicht so reißerisch wie in Brandheiß, dem Blatt, das für seine krassen Schlagzeilen bekannt war.

Trotzdem reichte die Berichterstattung aus, in Lena Übelkeit aufsteigen zu lassen. Woher hatten die Journalisten so viele Informationen? Dass Angelika Kiewitz Selbstmord verübt hatte, wurde genauso erwähnt wie die Tatsache, dass Tobys Vater unbekannt war. Angeekelt legte Lena die Zeitungen zur Seite. Das Ausschlachten menschlicher Tragödien war nicht ihr Fall.

09

Der Notar las mit kräftiger Stimme den letzten Absatz des umfangreichen Schriftstücks vor, das vor ihm auf dem Tisch lag und schob es anschließend den Männern zu, die ihm in seinem Büro gegenübersaßen. Beide unterschrieben, wenige Minuten später brachte die Vorzimmerdame ein Tablett mit drei Gläsern Sekt. Es wurden Hände geschüttelt und die Vertragspartner verließen kurze Zeit später gemeinsam die Kanzlei im Frankfurter Westend. Sie verabschiedeten sich vor dem Jugendstilbau und strebten in entgegengesetzte Richtungen.

Es war kurz nach fünf Uhr am Nachmittag, der Tag war ungewöhnlich warm gewesen, in den Straßencafés saßen gut gelaunte Menschen, um den Feierabend mit einem Kaffee oder einem Apérol Sprizz einzuläuten.

Gerd Rohloff bestieg zwei Straßenecken weiter seinen Jaguar und fuhr in Richtung Bahnhofsviertel, wo er eine Viertelstunde später den Kinky-Club betrat. Zum letzten Mal, denn er hatte ihn soeben verkauft. Es war das letzte seiner Etablissements, von dem er sich trennte. Alles andere, darunter das wenige Schritte entfernt liegende Stundenhotel und ein Stripteaselokal, waren bereits in andere Hände übergegangen. Bei jedem Verkauf hatte er genau überlegt, wem er das anvertraute, was er über viele Jahre hinweg aufgebaut und geleitet hatte. Anders als die meisten seiner Konkurrenten im Bahnhofsviertel, hatte er sich in erster Linie als Geschäftsmann gesehen. Der gut verdiente, aber eben Grenzen hatte. Weder mit Drogen noch mit Prostitution hatte er sein Geld gemacht. Einen altmodisch anmutenden Ehrenkodex besaß er. »Stundenhotel ja, Bordell nein«, hatte er einmal auf eine entsprechende Frage geantwortet. Und dass seine Barfrauen auch nur das waren und er in keinem seiner Läden Animiermädchen beschäftigte. »Tabledance, Striptease und wer jemanden kennenlernt, kann stundenweise ein Zimmer mieten. Ich bin kein Zuhälter, verkaufe keine Drogen und habe mich schon immer erfolgreich aus allen anderen Arten von Kriminalität herausgehalten«, lautete seine offizielle Devise. Streng genommen stimmte das Letztere nicht, aber außer ihm wusste das kaum jemand. Gerd Rohloff hatte durchaus seine eigenen Grenzen, Regeln und Gesetze.

»Chef!« Die Barfrau war bereits da. »Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen?« Ihre kajalumrandeten Augen schwammen.

Rohloff strich ihr mit der Hand über den Arm. »Anita, Ihr habt alle eine Übernahmegarantie vom neuen Besitzer.« Zusätzlich hatte jeder, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, vor einigen Tagen einen Umschlag mit ein paar persönlichen Worten, handschriftlich und individuell, ausgehändigt bekommen. Das, was sich darüber hinaus im Umschlag befand, war bei Anita besonders üppig ausgefallen. Sie hatte vor ihrer Zeit hier bereits in einem anderen Club für Rohloff gearbeitet, anschließend war sie vom Eröffnungstag der Kinky-Bar an hinter der Theke gestanden. Sie biss sich auf die Lippen, und als sie den Kopf senkte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

Rohloff betrat sein Büro, das bereits weitgehend leer geräumt war. Noch ein paar letzte Dinge verstaute er in einem Pappkarton. Dann sah er sich ein letztes Mal um. Wehmut ergriff ihn. Der Entschluss, sich aus dem Milieu und all den Geschäften hier zurückzuziehen, war nicht von heute auf morgen gereift. Es war ein schleichender Prozess gewesen, der vor einigen Monaten in Gang gekommen war. Lange hatte er das Für und Wider abgewogen. Dabei war ihm schnell klar geworden, dass seine Entscheidung rein aus dem Bauch heraus kam. Es gab keinen greifbaren Anlass dafür. Lediglich ein immer stärker werdendes Gefühl, das ihm signalisierte, diese Phase seines Lebens sei vorbei. Es war Zeit für etwas anderes.

Mit einem leichten Seufzen nahm er den Pappkarton auf. Als er durch die Tür trat, hielt er inne. Natürlich hatte er sich von jedem einzelnen seiner Mitarbeiter bereits verabschiedet. Doch nun standen sie alle vor seiner Tür Spalier. Keiner sprach, ihre Mienen sagten genug. Stumm, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, ging er zwischen ihnen durch, nickte jedem zu. Zuletzt dem Türsteher, zu dessen martialischen Tattoos, Piercings und Brandings die feuchten Augen so gar nicht passen wollten. Marek verneigte sich leicht und hielt Rohloff die Tür auf, begleitete ihn zum Wagen und half ihm, den Karton auf dem Beifahrersitz des Jaguar zu verstauen. Er würde den Club in der Zwischenzeit so lange führen, bis der neue Besitzer einzog. Rohloff selbst zog es vor, die Tage bis dahin nicht mehr hier zu sein. Es fühlte sich besser an, jetzt zu gehen. Das Tagesgeschäft hatte ihn sowieso nicht gebraucht, das handelten seine Leute.

»Alles Gute Chef. Und wenn Sie mal was brauchen, wir sind immer für Sie da.«

Rohloff nickte gerührt, als der Zwei-Meter-Hüne ihn plötzlich in den Arm nahm.

»Ihr wisst, dass das umgekehrt ebenfalls gilt.« Damit stieg er in den Wagen und fädelte sich, ohne noch einmal zurückzublicken, in den inzwischen dicht gewordenen Verkehr ein.

Eine halbe Stunde später betrat er das Haus in Bad Homburg, das er schon mit seiner verstorbenen Frau bewohnt hatte. Zu groß für ihn alleine, dennoch ein Teil seines Lebens, von dem er sich noch nicht trennen wollte.

Er stellte den Pappkarton in seinem Arbeitszimmer auf den massiven Schreibtisch aus dunklem Holz und packte ihn aus. Zwei handgeschliffene Whiskytumbler, ein paar Fotos, ein Montblanc-Füller, ein Brieföffner. Jetzt war alles erledigt. Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Nur eines blieb noch zu tun. Das Schwierigste überhaupt. Er dachte an die Frau, für die er gerade sein Leben änderte. Ohne dass sie das Geringste davon ahnte.

Gedankenverloren faltete er den Karton zusammen und brachte ihn zum Altpapier. Als er die Tonne öffnete, lag obenauf das Krawallblatt, das seine Haushälterin immer las. Die Schlagzeile schrie ihm nur halb entgegen, er hätte sie, wie üblich ignoriert. Doch in diesem Fall ging das nicht. Was ihn elektrisierte, war das Foto. Darauf eine schlanke Frau mit kurzem, fast schwarzem Haar, die gerade durch eine gläserne Tür trat. Es war verschwommen und vermutlich aus weiter Entfernung aufgenommen. Dennoch erkannte er sie sofort. Der Karton fiel zu Boden. Rohloff griff nach der Zeitung, schlug sie auf und starrte Sekunden später verständnislos auf die Schlagzeile der Titelseite.

Lesbische Sozialarbeiterin: Trägt sie die Schuld am Tod des kleinen Toby (4)?

»Lena«, flüsterte er entsetzt.

Die Zeitung flatterte zurück, er war mit wenigen Schritten im Haus, am Telefon, tippte einen dort gespeicherten Kontakt an. Nur, um zu erfahren, der gewünschte Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Keine Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.

10

Sie fragte sich, woher die Reporter ihre Adresse hatten. Schon seit dem frühen Morgen klingelte ein besonders aggressiver Schmierfink. Da sie nicht öffnete, versuchte er es bei den Nachbarn. Frau Kasulke schien nicht da zu sein, die anderen waren bei der Arbeit. Dennoch war es dem Kerl gelungen, bis zu Lenas Wohnungstür vorzudringen. Sie hatte den Fehler begangen, die Tür zu öffnen, um ihn mit klaren Worten zusammenzufalten. Doch gleich merkte sie, dass das dumm gewesen war. Er hob eine Kamera, bereit loszuknipsen. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Sie hätte wie eine Furie ausgesehen auf den Bildern. Passend zu dem, was man über sie schrieb.

Sie hatte durch die geschlossene Tür hindurch mit der Polizei gedroht und die Klingel ausgestellt. Seither herrschte Ruhe.