Leistungssport im Kindesalter. Pädagogische Erwartungen und Umsetzung in der Praxis - Daniel Schneider - E-Book

Leistungssport im Kindesalter. Pädagogische Erwartungen und Umsetzung in der Praxis E-Book

Daniel Schneider

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Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Didaktik - Sport, Sportpädagogik, Note: sehr gut, Ruhr-Universität Bochum (Fakultät für Sportwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Wie ergeht es jungen Fußballern, die schon unter Leistungsbedingungen in einem Bundesliga-Club wie dem FC Schalke 04 trainieren? Besteht hier die Gefahr, wie von Kritikern des Kinderleistungssports befürchtet, dass die unbeschwerte Kindheit dieser Heranwachsenden dem kurzfristigen Erfolg im Leistungssport geopfert wird? Nehmen die jungen Sportler also sowohl aktuelle Nachteile gegenüber ihren Alterskameraden, die keinen vergleichbaren Sportaufwand betreiben, als auch zu erwartende Handicaps in ihrem späteren Leben in Kauf? Oder werden in der Jugendarbeit des FC Schalke 04 trotz der fehlenden Rahmentrainingskonzeption im Fußball den verschiedensten Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter Aufmerksamkeit geschenkt? Hat der Verein sogar selbst einen internen Ersatz für die fehlende Rahmentrainingskonzeption entworfen, um die Belange seines Nachwuchses zu schützen, so dass den kleinen „Asamoahs“ und „Ailtons“ genügend Freiraum bleibt, um sich kindgerecht möglichst vielseitig zu entwickeln? Um diesen Fragen nachzugehen, werden in diesem Buch vielfältige Aspekte verfolgt. Zuerst einmal ist der Blick auf das System des Leistungssports zu lenken, der mit seinem Code „Sieg oder Niederlage“ schwer mit pädagogischen Belangen in Einklang zu bringen ist. In diesem Rahmen wird auch die Frage des Trainers als Pädagoge beleuchtet. Darüber hinaus ist die Charakteristik des Kindesalters mit Bewegung und Spiel im Mittelpunkt näher zu beleuchten, um im Anschluss daran eine eigene Normvorstellung einer Kinderumwelt zu erarbeiten. Diese kombiniert pädagogische Idealvorstellungen mit positiven Voraussetzungen für einen heranwachsenden Fußballer beim FC Schalke 04 in verschiedenen Lebensbereichen. Um den Vergleich zwischen der Normumwelt und der Praxis beim FC Schalke 04 vollziehen zu können, wird erst einmal die täglich Arbeit beim Bundesligisten vorgestellt. Dabei stehen das Nachwuchskonzept des Vereins und die Mannschaften U9 bis U12 im Vordergrund. Die empirische Grundlage für den anschließenden Vergleich bietet ein Fragebogen an die Eltern der aktiven Kinder der ausgewählten Teams. Die erhaltenen Ergebnisse werden dann letztlich zum Vergleich zwischen der Praxis bei Schalke und der skizzierten Normumwelt genutzt. Dabei werden Äquivalenzen und auch Diskrepanzen, für die Alternativen erarbeitet werden, aufgedeckt.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das System Leistungssport
3. Charakteristik des Kindesalters
3.1 Kinderwelt ist Bewegungswelt
3.2 Spiel als existentielle Grundlage der Kindheit
4. Normumwelt des heranwachsenden Fußballprofis
4.1 Lebensbereich Familie
4.2 Lebensbereich Schule
4.3 Lebensbereich Freizeit
4.4 Lebensbereich Sozialkontakte
4.5 Kurze Zwischenbilanz
4.6 Ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung
4.7 Zeitliche Inanspruchnahme
4.8 Körperliche Beanspruchung
5. Überleitung: Von der Theorie zur Praxis
6.1 Nachwuchskonzept
6.3 Trainings- und Spielaufwand der U9 bis U12
7.1 Zeitaufwand
7.2 Position des Kindes innerhalb der Familie
7.3 Familienbedeutung

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7.4 Elternerwartung S. 69 7.5 Schulleistung S. 70 7.6 Einmalige Schulaktion vs. Training S. 71 7.7 Freizeitverzicht S. 73 7.8 Anderes Hobby neben dem Fußball S. 73 7.9 Langeweile an trainingsfreien Tagen S. 74

7.10 Sozialkontakte zu Gleichaltrigen S. 75

7.11 Zusammensetzung des Freundeskreises S. 76

7.12 Konflikt zwischen Training und anderen Aktivitäten S. 78 7.13 Einfluss auf Gesundheit S. 78

7.14 Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung S. 79

8. Vergleich zwischen der skizzierten Normumwelt und der Praxis beim FC Schalke 04 S. 80 8.1 Äquivalenzen S. 81 8.1.1 Lebensbereich Familie S. 81 8.1.2 Lebensbereich Schule S. 82 8.1.3 Eigenmotivation und Spaß S. 83

8.1.4 Körperliche Beanspruchung S. 84

8.1.5 Ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung S. 85 8.2 Diskrepanten und sich daraus ergebende Alternativen S. 86 8.2.1 Elternerwartungen S. 86

8.2.2 Soziale Komponente der Schule S. 88 8.2.3 Lebensbereich Freizeit S. 89

8.2.4 Lebensbereich Sozialkontakte S. 91

9. Zusammenfassung und Ausblick S. 95

10. Literaturverzeichnis S. 99

11. Anhang S. 109

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1. Einleitung

Kann bei den dauerhaften physischen Höchstbelastungen und der Wahrscheinlichkeit von Verletzungen die körperliche Unversehrtheit junger Leis-tungssportler ausreichend geschützt werden? Beeinträchtigen die zeitlichen Aufwendungen den Schulerfolg, ist die Entwicklung von Freundschaften, von kulturellen Interessen überhaupt möglich oder verkümmern Begabungen, Interessen und Persönlichkeitsaspekte, die nicht dem Sporterfolg dienen?1

Die beiden Sportwissenschaftler Rüdiger Heim und Alfred Richartz fragen dies in dem KompendiumErster Deutscher Kinder- und Jugend-sportberichtstellvertretend für eine Vielzahl ihrer Kollegen, aber auch für Sportler2, Trainer und Eltern.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird der Leistungssport im Kindesalter3, der auch titelgebend für die vorliegende Arbeit ist, kontrovers diskutiert. Die „Debatte um die (pädagogische) Verantwortbarkeit von hochleis-tungssportlichem4Engagement im Kindesalter“5beschäftigt die Öffentlichkeit fortlaufend mit unterschiedlicher Intensität. Emotionen zwischen Bewunderung für die außergewöhnlichen Leistungen junger Sportler und Empörung über das vermutete Zustandekommen des Gezeigten begleiten die Diskussion.6

1Heim, Rüdiger / Richartz, Alfred: Jugendliche im Spitzensport. In: Schmidt, Werner (Hrsg.): Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann, 2003. S. 255-274, hier S. 255.

2Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wird im folgenden Text darauf verzichtet, bei der Nennung von Funktionen jeweils die männliche und weibliche Form des entsprechenden Substantivs aufzuführen. Wenn also z.B. das Substantiv „Trainer“ verwendet wird, so kann hier Trainerinnen und Trainer gemeint sein. Die Bedeutung ist jeweils aus dem Kontext zu entnehmen.

3Das Kindesalter wird in dieser Arbeit mit einem Verweis auf die möglichen Unterschiede zwischen chronologischem und biologischem Alter nicht durch eine Angabe von Lebensjahren eingegrenzt. Wenn eine Relevanz auch für das Kindesalter ersichtlich ist, werden somit auch Phänomene herangezogen, die in der Literatur Jugendlichen zugesprochen werden.

4Zwischen „Hochleistungssport“, „Spitzensport“ und „Leistungssport“ u.s.w. werden im Folgenden keine Bedeutungsunterschiede vorgenommen. Sämtliche Begriffe werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet und lediglich vom Breitensport als eine von breiten Massen betriebene Form des Sporttreibens, ohne nationale oder gar internationale Spitzenleistungen anzustreben, unterschieden.

5Heim, Rüdiger: Jugendliche Sozialisation und Selbstkonzeptentwicklung im Hochleis-tungssport: eine empirische Studie aus pädagogischer Perspektive. Aachen: Meyer & Meyer, 2002. S. 7.

6Vgl. Frei, Peter u.a.: Belastungen und Risiken im weiblichen Kunstturnen. Teil 2: Innensichten, pädagogische Deutungen und Konsequenzen. Schorndorf: Hofmann, 2000. S. 13.

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Im Bereich des Fußballs, der im Mittelpunkt der Ausführungen stehen wird, sorgt zurzeit ganz aktuell die Geschichte des 9-jahrigen Bea Patou für Aufsehen: Das außergewöhnlich talentierte, als „Wunderknabe“7titulierte Kind aus Kamerun lebt seit zwei Jahren in Spanien und wird vom aktuellen spanischen Meister FC Valencia umworben. Sein Vater, Donald Patou, fordert für die Dienste seines Sprösslings eine gute Schulbildung für seinen Sohn sowie einen Arbeitsplatz für sich selbst in Valencia. Die Bestürzung über diese Art des Kinderhandels zog weltweit ihre Kreise. Prominentester Fall in der Fußball-Szene zwischen Bewunderung der einzigartigen Fähigkeiten und Empörung aufgrund der Karriereumstände ist aber der Ghanaer Freddy Adu. Der mittlerweile 15-Jährige, dem die außergewöhnlichsten Fähigkeiten nachgesagt werden, erhielt einen Werbevertrag des Sportartikelherstellers Nike über 1,5 Millionen Dollar und spielt für 250.000 Dollar im Jahr in der amerikanischen Major League Soccer.8

Die skizzierten Beispiele erfüllen jedes auf seine Weise die Dichotomie, die Rüdiger Heim vom Kinderleistungssport zeichnet:

Auf der einen Seite (...) die ungeheure Faszination, ja fast mythische Wirkung, die von den heranwachsenden Siegern (...) ausgeht und die nicht zuletzt gerade auf das Alter der (...) Sportler zurückgeführt werden kann. Auf der anderen Seite (...) junge Sportler als Gefangene im Räderwerk einer unbarmherzigen Leistungsmaschinerie (...), deren Kindheit und Jugendzerrieben zwischen unbändigem Ehrgeiz der Eltern, gewissenlosen Trainern und Funktionären, politischen und wirtschaftlichen Interessen - auf dem Altar der Medaillen geopfert werden.9

Eine Ursache für eine derart zwiespältige Bewertung ist nicht zuletzt die Tatsache, dass dem Leistungssport sowohl fördernde als auch hemmende Wirkung auf die Entwicklung des Kindes eingeräumt werden. Grundsätzlich außer Frage steht, dass sportliches Engagement - an dieser

7Deutsche Presseagentur: Das Buhlen um Wunderknaben. Westfalenpost, 13.01.05, http://www.westfalenpost.de/wp/wp.archiv.frameset.php, 15.02.05

8Vgl. Dahms, Martin / Gotthardt, Thomas: Die großen Clubs in Spanien reißen sich um ein neunjähriges Fußball-Talent. Ganz großes Geld für kleine Jungs. http://www.bietigheimerzeitung.de/htm/news/artikel_brennpunkt.php4?artikel=9242, 15.02.05

9Heim 2002, S. 7; Vgl. Brettschneider, Wolf-Dietrich u.a.: Schule und Leistungssport -Chancen und Probleme. In: Sportunterricht (1993), Heft 9, 42. Jahrgang, S. 372-382, hier S. 372.

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Stelle ist die breitensportliche Orientierung gemeint - von Kindern auch noch in der heutigen Gesellschaft gern gesehen wird.10Schon der altgriechische Philosoph Platon (427-347 v.Chr.) nahm einen positiven Einfluss „von Gymnastik und Leibesübungen auf die Charakterbildung“11an. Doch der leistungsorientierte Kindersport wird bei zum Teil den gleichen Aspekten völlig diametral bewertet. Kritiker stellen dabei die organisatorischen Rahmenbedingungen des Leistungssports wie den Zeitaufwand und die Spezialisierung in den Vordergrund ihrer Argumentationen, Be-fürworter dagegen mehr die persönlichkeitsrelevanten Aspekte.12So wird auf der einen Seite mit „dem zur Kinderarbeit entarteten Kinder-Leistungssport“13, so der holländische Sportpädagoge Bart Crum, „neben gesundheitlichen Gefahren die Risiken einer sozialen Isolation und intellektuellen Verkümmerung, einer gravierenden Beschränkung der Freizeit und einer bedenklichen Beeinträchtigung der harmonischen Persönlichkeitsentwicklung“14gleichgesetzt. Die zeitaufwendige Verwicklung in dem Leistungssport führe zu einer Kanalisierung der Interessen sowie der sozialen Kontakte der Kinder, eine „Monokultur“15, wie es Stefan Größing ausdrückt, entstehe. Die Produktion von „Sozialkrüppel[n]“16sei die mögliche Folge.

Doch wo die Kritiker beispielsweise eine Verarmung der sozialen Kontakte anführen, sehen die Befürworter des Kinderleistungssports eine Möglichkeit zur Stiftung sozialer Bindungen und durch die Arbeit in der Trai-

10Vgl.Brettschneider, Wolf-Dietrich / Gerlach, Erin: Sportengagement und Entwicklung im Kindesalter: eine Evaluation zum Paderborner Talentmodell. Aachen u.a.: Meyer & Meyer, 2004. S. 133.

11Conzelmann, Achim: Sport und Persönlichkeitsentwicklung: Möglichkeiten und Grenzen von Lebenslaufanalysen. Schorndorf: Hofmann, 2001. S. 31.

12Franke, Elk: Kinderleistungssport - oder Wie relativ sind soziale Probleme im Sport? In: Klein, Michael: Sport und soziale Probleme. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Tb., 1989. S. 121-138, hier S. 128.

13Crum, Bart: Kinder-Leistungssport zwischen Selbstverwirklichung und Ausbeutung. In: Howald, Hans / Hahn, Erwin (Hrsg.): Kinder im Leistungssport / 19. Magglinger Symposium 1980. Basel u.a.: Birkhäuser, 1982. S. 200-207, hier S. 204.

14Brettschneider, Wolf-Dietrich / Heim, Rüdiger: Heranwachsende im Hochleistungs-sport. Eine (Zwischen-) Bilanz empirischer Befunde. In: Leistungssport (2001), Heft 4, 31. Jahrgang, S. 34-38, hier S. 34.

15Größing, Stefan: Hochleistungssport im Kindesalter - gesellschaftliche Notwendigkeit oder pädagogische Gefahr. In: Österreichisches Journal für Sportmedizin (1989), Heft 4, 19. Jahrgang, S. 107-112, hier S. 110.

16Bette, Karl-Heinrich: Die Trainerrolle im Hochleistungssport. Sankt Augustin: Richarz, 1984. S. 104.

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ningsgruppe auch sozialer Werte17, die für das spätere Leben der Kinder durchaus als wertvoll erachtet werden können. Es wird grundsätzlich auf das kindliche „Recht auf Entfaltung seiner Begabungen“18sowie den Spaß verwiesen, der die sportliche Betätigung sowie das Leisten den Heranwachsenden macht.19Im Leistungssport erlebten die Kinder Erfolge, indes auch die eigenen Grenzen, sie eigneten sich durch die perspektivische Trainingsarbeit die positiv besetzten Persönlichkeitsmerkmale Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit an.20Kurz gesagt: Durch den Leistungs-sport, der zudem als eine sinnvolle Freizeitgestaltung gesehen wird21, könne der Nachwuchssportler „Erfahrungen machen, die ihm sonst vorenthalten blieben.“22Neben der schon erwähnten persönlichkeitsrelevanten Leistungsorientierung sind hier ebenfalls ganz anderweitige Aspekte wie das häufige Reisen, das mit dem Leistungssport einhergeht, oder die Möglichkeit der Identitätsentwicklung beispielhaft zu nennen. Am kompaktesten legitimieren Ommo Grupe und Michael Krüger in ihrerEinführung in die Sportpädagogikden Kinderleistungssport. Das Duo betont, dass

im sportlichen Training und Wettkampf Erfahrungen gesammelt und Tugenden gelernt werden, die für soziales Zusammenleben von prinzipieller Bedeutung sind, wie beispielsweise Gegensätze erfahren, akzeptieren und fair austragen können, sich an Regeln halten, den Gegner als Partner verstehen und zugleich mit ihm zu kämpfen, siegen und verlieren zu können. Im Wettkampf- und Leistungssport zeigt sich das Bestreben, Mittelmäßigkeit und Dilettantismus zu überwinden, außergewöhnliche Herausforderungen anzunehmen, sogar gezielt aufzusuchen, um am Ende das Ziel, im Wettkampf zu bestehen oder die erhoffte und angestrebte Leistung zu erfüllen, zu erreichen.23

Die Debatte um den Kinderleistungssport und deren Einfluss auf die Entwicklung der Aktiven, die also bedeutend durch den Blickwinkel auf

17Vgl. Heim / Richartz 2003, S. 255.

18Grupe, Ommo: Kinderhochleistungssport in pädagogischer Sicht. Resümee und Aufarbeitung einer kontroversen Diskussion. In: Sportunterricht (1984), Heft 11, 33. Jahrgang, S. 409-419, hier S. 411.

19Vgl. Größing 1989, S. 108.

20Vgl. Heim / Richartz 2003, S. 255.

21Vgl. Brettschneider / Heim 2001, S. 34.

22Grupe, Ommo: Hochleistungssport für Kinder aus pädagogischer Sicht. In: Daugs, Reinhard (Hrsg.): Kinder und Jugendliche im Leistungssport: Beiträge des Internationalen Interdisziplinären Symposiums "KinderLeistungen" vom 7. bis 10. November 1996 in Saarbrücken. 1. Aufl. Schorndorf: Hofmann, 1998. S. 32-44, hier S. 35.

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die Diskussion bestimmt wird, hat darüber hinaus auch die bildungs- und sportpolitische Ebene nicht unberührt gelassen. Am 4. Juni 1983 beschloss der Hauptausschuss des Deutschen Sportbundes in Stuttgart die GrundsatzerklärungKinder im Leistungssport.24Diese Rahmenbedingungen für einen ethisch vertretbaren Kinderleistungssport sollten allzu extreme Auswüchse und damit die vorangegangen geschilderten hemmenden Entwicklungseinflüsse auf die Aktiven möglichst verhindern:25

Als Grundsatz für den Leistungssport mit Kindern hat uneingeschränkt zu gelten, daß deren Entwicklung nicht zugunsten kurzfristiger Erfolge im Sport leiden darf. (...) Der Leistungssport des Kindes darf auch auf das künftige Leben als Jugendlicher oder Erwachsener keine negativen Einflüsse nehmen.26

Seine von Grund auf positive Einstellung zum Kinderleistungssport begründet der DSB mit dem „natürliche[n] Bedürfnis der Kinder, ihre sich entwickelnden Kräfte an den verschiedensten Aufgaben und untereinander zu messen“27sowie mit vier potenziellen Auswirkungen der leis-tungssportlichen Betätigung. Der Leistungssport könne bei Kindern die körperliche, seelische und geistige Entwicklung fördern, durch Erfahrung des eigenen Könnens Selbstvertrauen schaffen, zu sozialem Handeln anregen und den Erfahrungs- und Erlebnisraum des Kindes erweitern. Allerdings müsste hierzu eine frühe Spezialisierung sowie eine reine Leistungs- und Erfolgsorientierung vermieden werden.28Grundsätzlich werden also zwei Problemlagen angeschnitten: Zum einen soll das Training im Kinderleistungssport kindgemäßer gestaltet werden und zum anderen rückt die Persönlichkeitsentwicklung des Aktiven, die auch mit der Koordination vom Leistungssport mit anderen Lebensberei-

23Grupe,Ommo / Krüger, Michael, 1997, S. 277 zit. nach Martin, Dietrich: Handbuch Kinder- und Jugendtraining. Schorndorf: Hofmann, 1999. S. 20.

24Deutscher Sportbund (Hrsg.): Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes „Kinder im Leistungssport“. 1983. In: Kurz, Dietrich: Pädagogische Grundlagen des Trainings. Schorndorf: Hofmann, 1988. S. 123-128.

25Vgl. Franke, Elk: Bedeutung und ethische Konsequenzen sportlicher Höchstleistungen im Kindes- und Jugendalter. In: Daugs, Reinhard (Hrsg.): Kinder und Jugendliche im Leistungssport: Beiträge des Internationalen Interdisziplinären Symposiums "KinderLeistungen" vom 7. bis 10. November 1996 in Saarbrücken. 1. Aufl. Schorndorf: Hofmann, 1998. S. 50-68, hier S. 51.

26DSB (Hrsg). 1983, S. 125.

27Ebd. S. 124.

28Ebd. S. 124f.

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chen wie Freizeit oder Sozialkontakte in Verbindung steht, vermehrt in den Vordergrund.29

Doch der tatsächliche Einfluss dieser Grundsatzerklärung auf die Praxis wurde auf breiter Ebene angezweifelt. Elf Franke stellt stellvertretend fest,

daß diese ethischen Steuerungsversuche sowohl von den Befürwortern als auch den Gegnern des Kinderleistungssports zwar als redliche Bemühungen angesehen wurden, sie aber meist so realitätsfern konzipiert waren, daß sie kaum Auswirkungen auf die Praxis hatten.30

Karlheinz Scherler, der besonders die Unverbindlichkeit der Sprache in der Grundsatzerklärung kritisiert, spricht dieser sogar jeglichen Einfluss auf die Entwicklung des Leistungssportes ab. Grundsatzerklärungen seien Absichterklärungen, nicht aber Bedingungsangaben oder Wirkungsbeschreibungen.31Der Hamburger Sportwissenschaftler fordert: „Wer sich dem Alltag des Leistungssports von Kindern (...) nähern will, darf bei solchen Feiertagsreden nicht stehen bleiben.“32Nach der Fortschreibung derGrundsätze für die Kooperation zur Förderung des Leistungssportab 1986 und der weiteren Grundsatzerklärung des DSBBelastbarkeit und Trainierbarkeit im Kindesalter1989, in der den aktiven Kindern aufgrund der Belastungen „eine Sondersituation für die Persönlichkeitsentwicklung“33zugesprochen wird, wurde Scherlers Forderung 1992 endlich Rechnung getragen. Die Rahmentrainingskonzeption für Kinder und Jugendliche im LeistungssportWeibliches Kunstturnenist die erste dieser Art und berücksichtigt bei den Richtlinien zum Aufbau eines langfristigen Trainingsaufbaus verstärkt die Entwicklung persönlicher Faktoren der jungen Kunstturnerinnen. Mögliche pädagogische Maßnahmen (Beratung, Hausaufgabenbetreuung), ideelle (Karrie-29Vgl.Heim 2002, S. 22.

30Franke 1989, S. 51.

31Vgl. Scherler, Karlheinz: Kinderhochleistungssport und sportpolitische Konsequenzen. Weil es wieder einmal Zeit ist, das Schweigen zu brechen. In: Sportpädagogik (1989), Heft 2, 13. Jahrgang, S. 2-5, hier S. 3.

32Ebd.

33Deutscher Sportbund (Hrsg.): Belastbarkeit und Trainierbarkeit im Kindesalter. Erklärung des Präsidiums des DSB. Frankfurt am Main, 1989. S. 7.

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replanung) und materielle Hilfen (Fahrtkosten, Trainingsmaterialien) für die Sportler werden konkretisiert.34

An dieser Stelle ist auch das Nachwuchs-Leistungssport-Konzept, das der Deutsche Sportbund 1997 beschloss, zu nennen. In diesen Ausführungen stehen ebenfalls die Aktiven im Mittelpunkt. Die Entwicklung der Eigenleistung der Kinder dürfe sich nicht an der biologischen Leistungsgrenze orientieren, vielmehr müsse die ethische, pädagogische, entwicklungspsychologische und medizinische Verantwortung für den Nachwuchs im Sport mitgetragen werden.35Inhaltlich konzentriert sich das Konzept vordergründig auf den langfristigen Trainings- und Leistungsaufbau, die Kooperation von Leistungssport und Schule, soziale und wissenschaftliche Betreuung sowie die Laufbahnentwicklung. Für die konkrete Umsetzungen in die Praxis bleiben aber weiterhin die einzelnen Rahmentrainingskonzeptionen zuständig, die im Laufe der Zeit von immer mehr Verbänden entwickelt werden. Die 1999 herausgebrachte RahmentrainingskonzeptionBadminton,die ganz explizit die „Entwicklung der ganzen Persönlichkeit als Voraussetzung für erfolgreiche Leis-tungssporttätigkeit“36als Ziel der Konzeption angibt, beinhaltet zum Beispiel von Wettkampfvorschlägen über ein Koordinationsprogramm bis hin zur Fußgymnastik ein facettenreiches Angebot für die Praxis. Mittlerweile hat mit der Sportart Squash ein 16. Verband seine Rahmentrainingskonzeption veröffentlicht, ganz aktuell liegt mir ein Entwurf für die bereits zweite AuflageRahmentrainingskonzeption Basketball für Kinder und Jugendliche im Leistungssportvor.

Es ist also festzustellen, dass - verallgemeinert man die skizzierten Beobachtungen auf der sportpolitischen Ebene - den Kritikern des Kinderleis-tungssports durchaus Gehör geschenkt worden ist. Die aufgezeigten Tendenzen in der Debatte, die durch die Rahmentrainingskonzeptionen

34Landessportbund Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Weibliches Kunstturnen. Rahmentrainingskonzeption für Kinder und Jugendliche im Leistungssport. Mühlheim/Ruhr: Schi-borr, 1992. S. 102f.

35Vgl. Deutscher Sportbund / Bereich Leistungssport: Nachwuchs-Leistungssport-Konzept: Leitlinien zur Weiterentwicklung des Nachswuchs-Leistungssports; beschlossen vom DSB-Hauptausschuß am 13. Dezember 1997 in Frankfurt/Main. Frankfurt am Main, 1997. S. 5.

36Landessportbund Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Badminton. Rahmentrainingskonzeption für Kinder und Jugendliche im Leistungsport. Wiesbaden: Limpert. 1999. S. 12.

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gekennzeichnet werden, widersprechen beispielsweise einer Frühspezialisierung im Kinderleistungssport, die der Personalisation entgegensteht. Langfristiger Trainings- und Leistungsaufbau sowie eine mehr breiten-sportliche Orientierung in den Kindesjahren werden angestrebt, damit das Training auf die Kinderbelange zugeschnitten ist. An dieser Stelle drängt sich allerdings die Frage auf, wieso ausgerechnet der mit über sechs Millionen Mitgliedern größte deutsche Sportverband, der Deutsche Fußballbund, keine Rahmentrainingskonzeption für den Kinderleistungs-sport entwickelt hat, obwohl auf der DFB-Homepage ein eigenes Nachwuchskonzept37präsentiert wird.

Auch aus diesem Grunde erscheint es als besonders interessant zu beleuchten, wie es den jungen Fußballern ergeht, die schon unter Leistungsbedingungen in einem Bundesliga-Club wie dem FC Schalke 04 trainieren. Besteht hier etwa die Gefahr, wie von Kritikern des Kinderleis-tungssports befürchtet38, dass die unbeschwerte Kindheit dieser Heranwachsenden dem kurzfristigen Erfolg im Leistungssport geopfert wird? Nehmen die jungen Sportler also sowohl aktuelle Nachteile gegenüber ihren Alterskameraden, die keinen vergleichbaren Sportaufwand betreiben, als auch zu erwartende Handicaps in ihrem späteren Leben in Kauf? Oder werden in der Jugendarbeit des FC Schalke 04 vielleicht trotz der fehlenden Rahmentrainingskonzeption im Fußball den verschiedensten Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter Aufmerksamkeit geschenkt? Hat der Verein eventuell sogar selbst einen internen Ersatz für die fehlende Rahmentrainingskonzeption entworfen, um die Belange seines Nachwuchses zu schützen, so dass den kleinen „Asamoahs“ und „Ailtons“ genügend Freiraum bleibt, um sich kindgerecht möglichst vielseitig zu entwickeln?

37siehe: www.dfb.de/dfb-info/juniorecke/talent_neu/right.php, 18.03.05

38Dietrich Kurz beispielsweise gibt einem seiner Artikel den Titel „Die Gegenwart leben, die Zukunft nicht opfern!“ (Kurz, Dietrich: Die Gegenwart leben, die Zukunft nicht opfern! Prinzipien für einen pädagogisch verantwortungsvollen Leistungssport. In: Leis-tungssport (1994), Heft 4, S. 33-35). Durch einen pädagogisch verantwortungsvollen Leistungssport sollen die jungen Aktiven ihre Kindheit in vollen Zügen ausleben, um somit ihr späteres Leben besser bewerkstelligen zu können. Eckhard Meinberg warnt in diesem Zuge von einem „Diebstahl an Heranwachsenden“ (Meinberg, Eckhard: Kinderhochleistungssport: Fremdbestimmung oder Selbstentfaltung? Köln: Strauß, 1984. S. 27).

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Um diesen Fragen nachzugehen, müssen im Vorfeld einige Aspekte erarbeitet werden. Zuerst einmal ist der Blick auf das System des Leis-tungssport zu lenken, der mit seinem Code „Sieg oder Niederlage“ schwer mit pädagogischen Belangen in Einklang zu bringen ist. In diesem Rahmen wird auch die Frage des Trainers als Pädagoge beleuchtet werden. Darüber hinaus ist die Charakteristik des Kindesalters mit Bewegung und Spiel im Mittelpunkt näher zu untersuchen, um im Anschluss daran eine eigene Normvorstellung einer Kinderumwelt zu erarbeiten. Diese soll, angelehnt an Urie Bronfenbrenner, pädagogische Idealvorstellungen mit positiven Voraussetzungen für einen heranwachsenden Fußballer beim FC Schalke 04 in verschiedenen Lebensbereichen kombinieren. Nach einer Zusammenfassung wird, um den Vergleich zwischen der Normumwelt39und der Praxis beim FC Schalke 04 vollziehen zu können, erst einmal die täglich Arbeit beim Bundesligisten vorgestellt. Dabei stehen das Nachwuchskonzept des Vereins und die Mannschaften U9 bis U12 im Vordergrund. Die empirische Grundlage für den anschließenden Vergleich bietet ein Fragebogen an die Eltern der aktiven Kinder der ausgewählten Teams, wobei die durch die Normumwelt aufgeworfenen pädagogischen Erwartungen sich direkt in den einzelnen Fragen wieder finden. Die erhaltenen Ergebnisse werden dann letztlich zum Vergleich zwischen der Praxis bei Schalke und der skizzierten Normumwelt genutzt. Dabei werden Äquivalenzen und auch Diskrepanzen, für die Alternativen erarbeitet werden, aufgedeckt. Eine Zusammenfassung, die einen Ausblick beinhalten wird, rundet die Arbeit ab.

2. Das System Leistungssport

Seit einiger Zeit wird das System des Leistungssports als eigenständiger gesellschaftlicher Teilbereich angesehen.40Bedeutend in dieser Entwicklung war die Ausprägung eines eigenständigen Codes des Systems. Klaus Cachay und Edwin Gahai beschreiben einen solchen Code als „lei-

39DerBegriffNormumweltwird an Anlehnung an die Veröffentlichung Weischenbergs (vgl. Anm. 69) verwendet.