Lenis Lied - Susanne Orosz - E-Book

Lenis Lied E-Book

Susanne Orosz

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Beschreibung

Wien, Februar 1948. Die Spuren des Krieges sind noch überall in der Stadt zu sehen: an den zerbombten Häusern, an den Kratern und Schutthaufen und an den Gesichtern der Menschen. Leni darf endlich aus der Klosterschule nach Hause. Aber dort ist es ganz anders als erwartet: Der Papa macht Leni Angst, weil er jähzornig ist. Die Mama sagt, er sei nur nervös, das käme vom Krieg. Obwohl Leni versucht sich anzupassen, kann sie dem Vater nichts recht machen. Ständig ist sie mit Verboten konfrontiert und mit der Drohung, wieder ins Kloster zurückgeschickt zu werden. Das ist schmerzhaft und zeigt Leni, dass sie ihren eigenen Weg finden muss. Je mehr sie sich von der Melodie ihres Herzens leiten lässt, desto besser gelingt es ihr, der Enge des Elternhauses zu entkommen.

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Seitenzahl: 323

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EPUB ISBN 978-3-7026-5887-8

1. Auflage 2013

Einbandgestaltung: b3k, Foto © akg-images© Copyright 2013 by Verlag Jungbrunnen WienAlle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Susanne Orosz

Lenis Lied

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Glossar

Susanne Orosz

wurde in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs. Von dort holte sie die Abenteuerlust mit zwanzig Jahren fort nach München. Sie studierte Germanistik und Philosophie und arbeitete als Filmdramaturgin. Nach Abschluss des Studiums verschlug es sie noch weiter in den Norden. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit für unterschiedliche Filmunternehmen absolvierte sie in Hamburg das Aufbaustudium Film (Fachrichtung Drehbuch) und schrieb von da an Drehbücher für das Fernsehen, ein Theaterstück und etliche Kinder- und Jugendbücher.

1.

Um mich herum dreht sich alles: die Heilige Maria mit den langen Schwertern, die ihr offenes Herz durchbohren, die Fische auf dem Altartuch und das schwere Kreuz über dem Eingang.

„Ist dir wieder schlecht?“

Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand und fixiere die Vorhänge an der Tür der Empfangshalle.

„Die kommt sicher gleich, deine Mama.“ Monika setzt sich neben mich und streichelt meine Hand. So zart und sanft, als ob sie ein Kätzchen streicheln würde.

Der Kreisel in meinem Kopf kommt langsam zum Stehen. Nur im Magen ist mir noch schlecht. Sicher weil ich zu Mittag nichts essen durfte.

„Gehts?“ Monikas dunkle Knopfaugen mustern mich besorgt.

„Du musst zurück in die Küche“, flüstere ich. „Sonst lässt dich die liebe Schwester Hedwig auf dem Holzscheit knien.“

„Ursula wäscht für mich ab. Das fällt der Hedwig gar nicht auf, dass ich nicht da bin.“

Ich setze mich gerade hin und stelle meine Füße auf den Boden.

„Mir gehts wirklich besser. Du musst nicht mit mir warten, Moni.“

Monika senkt den Kopf und betrachtet das Fliesenmuster auf dem Fußboden, als ob darin eine geheime Botschaft versteckt wäre.

„Kommst mich mal besuchen?“, fragt sie ganz leise.

„Ich weiß nicht, ob meine Mama das erlaubt“, erkläre ich.

„Bitte.“

Monikas Augen schimmern.

„Vielleicht zu Ostern.“

Monika nickt. Dann wischt sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Ich glaube, Monika ahnt, dass das mit Ostern gelogen ist. Monika ist vielleicht langsam im Rechnen und sie schreibt das kleine „p“ verkehrt herum, obwohl wir schon in die vierte Klasse gehen. Aber Monika ist schlau und sie merkt sofort, wenn jemand sie anlügt.

In meinem Hals kratzt es. Es tut mir so leid, dass meine Mama nur mich abholt und Monika hierbleiben muss.

„Warte!“ Ich mache die Schultasche auf und grabe nach meinen grünen Handschuhen. Sie waren im Weihnachtspackerl. Das größte Packerl vom ganzen Internat hab ich gehabt: Krachmandeln, Würstel, Speck, sogar echte Schokolade war drin. Aber ich habe alles hergeben müssen, weil wir ja immer teilen sollen.

„Wenn du nicht mit den anderen Kindern teilst, weint das Jesulein“, hat Schwester Hedwig gesagt und mir das Packerl aus der Hand genommen.

„Da, die sind für dich!“ Ich lasse meine grünen Handschuhe vor Monikas Gesicht baumeln. Monikas blasser Mund formt ein Lächeln.

„Aber das darfst du nicht. Du hast die Handschuhe ganz neu bekommen.“

„Na und sagt der Hund, Marmelade ist gesund!“ Ich nehme Monikas Hand und streife ihr einen Handschuh über. Sie sind ein bisschen kratzig, aber sie haben beide ein schönes Edelweiß auf den Handrücken gestickt. Monika zieht den zweiten Handschuh an, dann schmiegt sie ihre Wangen zwischen die behandschuhten Hände und lächelt.

„So warm! Da frier ich garantiert nicht.“

Plötzlich wird Monika ernst. „Und was sagst du deiner Mama?“

Jetzt gibt es einen kleinen Stich in meinem Herzen. Mama! Sie ist sicher durch ganz Wien gerannt, um solche Handschuhe für mich zu finden. Aber Monika war doch das ganze letzte Jahr meine beste Freundin. Als ich mit Nasenbluten im Krankenzimmer lag, hat sie mich besucht, und als ich vor der Erstkommunion zweimal ins Bett gemacht habe, hat sie der Puchner Ursula Schläge angedroht, wenn sie’s verrät.

„Ich sag einfach, ich hab die Handschuhe verloren.“

„Echt?“

„Echt!“

Nass klebt Monikas Kuss an meiner Wange und sie drückt mich so fest an sich, dass ich gar nicht mehr atmen kann.

Dann hören wir beide das Schlurfen auf der Treppe. Monika versteckt die Hände mit den Handschuhen in den Taschen ihrer Kleiderschürze und steht auf.

Schwester Hedwigs braune Sandalen und gleich darauf ihre dicken Waden erscheinen oben auf der Steintreppe zu den Schlafsälen. Dann weht sie in ihrer wallenden Tracht mit einem Paket in der Hand zu uns herunter. Monika wirft mir einen ängstlichen Blick zu. Schnell rennt sie hinüber zum Treppengeländer und duckt sich. Genau auf der vorletzten Stufe wechselt Schwester Hedwig ihr großes Paket von der linken in die rechte Hand. Und genau in dem Moment taucht Monika aus ihrer Deckung auf und windet sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Ich muss grinsen, weil es wirklich so aussieht, als wäre Monika unsichtbar. Wenn wir etwas gelernt haben im Kloster, dann, uns unsichtbar zu machen. In den Fluren und auf der Treppe, immer an der Wand entlang gehen und immer den Kopf nach unten. Niemals raufschauen. Wer nichts sieht, der wird nicht gesehen. Aber Schwester Hedwig sieht Monika trotzdem.

Als Schwester Hedwig schon vor mir steht, das Paket auf die Bank wuchtet und Monika oben gerade die letzte Stufe nimmt, brüllt sie los.

„Treibel Monika! Was machst du da oben? Warum bist du nicht in der Küche?“ Monika bleibt sofort wie angewurzelt stehen und senkt schuldbewusst den Blick. Schwester Hedwig dreht sich um und schaut zu ihr hinauf.

„Was hast du in deinen Taschen?“

„Nichts, liebe Schwester.“

„Runterkommen.“

Monika zögert. Dann zieht sie den Kopf noch tiefer zwischen ihre Schultern und gleitet lautlos zu uns herunter.

„Zeig her.“ Schwester Hedwig stemmt ihre Unterarme in die Hüften. Ganz rot gefleckt sind die, vom heißen Abwaschwasser.

Monika zieht langsam die Hände aus den Schürzentaschen und streckt der Schwester die Handschuhe hin.

„Sind das deine?“

„Nein, liebe Schwester Hedwig. Die hat mir die Hübner Leni geschenkt.“

„Du weißt, dass Geschenke nicht erlaubt sind.“

Monika hebt den Kopf und schaut Schwester Hedwig bittend an.

„Aber die sind doch zum Abschied! Ich brauch die Handschuhe, wirklich. Ich hab immer so kalte Finger in der Hofpause. Bitte, Schwester Hedwig, ich …“

„Liebe Schwester Hedwig, heißt das erstens. Und zweitens entscheiden wir, wer hier was braucht.“ Schwester Hedwig streckt auffordernd die Hand aus. „Kinder, die bei uns solche Handschuhe bekommen, sind fleißig. Und die schwänzen nicht einfach ihren Küchendienst, so wie du.“

Monika hebt langsam die Handrücken und betrachtet noch einmal die Edelweiße auf den grünen Handschuhen, so als wollte sie sich ihren Anblick für immer einprägen. Dann zieht sie sich die Handschuhe von den Fingern und gibt sie der Schwester.

Monikas schwarzer Pagenkopf wippt beim Treppensteigen. Das Gesicht hält sie zur Wand gedreht. Ich richte mich auf und schaue ihr nach. Aber Monika dreht sich nicht noch einmal zu mir um.

„Die lässt sich ja Zeit, deine Mutti.“ Schwester Hedwig wischt sich über die schwarzen Haare an ihrer Oberlippe. Wie ein dicker Kater sieht sie dabei aus. „Wahrscheinlich Stromsperre.“

Genau in diesem Moment rumpelt die Tür hinter den dicken Vorhängen am Eingang. Ein kalter Luftstoß weht herein und bewegt das bestickte Altartuch.

Mama, endlich! Das muss sie sein. Ich rutsche von der Bank und laufe ihr entgegen. Die ganze Nacht hab ich davon geträumt, dass sie mich abholt. Im Traum sind wir zusammen mit dem Zug aufs Land gefahren. Nur wir beide, ganz allein. Genau wie früher. Auf einmal fühle ich mich gar nicht mehr schwindlig und mein Herz hämmert schnell. Jetzt teilt sich der Vorhang an der Zwischentür und Mamas schwarzer Mantel mit dem Pelzkragen kommt herein. Er ist voller Schneeflocken, die glitzern wie Sterne in einer klaren Winternacht.

„Frau Hübner, Gott sei Dank. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Schwester Hedwig steckt die Handschuhe ein und streicht ihre Schürze glatt.

„Ich bin die Tante!“ Tante Josepha nimmt das Kopftuch ab und gibt der Schwester die Hand. „Herfurther, mein Name. Ich hol die Leni ab.“

Mir stockt der Atem. Wo ist Mama? Sie hat doch versprochen, mich abzuholen. Warum kommt Tante Josepha?

„Was ist? Was schaust du denn so, Leni?“ Die Tante stellt den kleinen Koffer auf die Bank. „Kennst du mich nicht mehr?“

Es ist ganz eng in meinem Hals, und in meinem Herzen breitet sich ein komisches Zittern aus. Hoffentlich wird mir nicht wieder schwindlig.

„Wo ist die Mama? Ich will, dass die Mama kommt!“ Richtig wacklig ist meine Stimme vor Aufregung.

Tante Josepha schaut erst zur Schwester, dann zu mir.

„Bitte, Leni, du weißt doch, dass die Mama arbeiten muss.“

„Aber sie hat mir versprochen, dass sie mich abholt.“

Tante Josepha macht ein mitleidiges Gesicht. Dann klappt sie den kleinen Koffer auf.

„Jetzt schau erst einmal her, was für ein schönes Geschenk ich für dich hab. Na, ist das was?“ Die Tante zieht eine Felljacke aus dem Koffer. Sie ist hellgrau und hat eine Doppelknopfreihe mit braunen Kordeln dran. Schnell blicke ich auf die Spitzen meiner Schnürschuhe. Ich will die Jacke nicht anschauen, obwohl sie schön ist und sicherlich warm. „Warum ist die Mama nicht gekommen? Sie hat es mir versprochen!“

„Willst du die gar nicht anziehen?“ Durch den Tränenschleier in meinen Augen sehe ich, wie die Hand der Tante die Jacke streichelt. Ganz langes, weiches Fell ist das. Wie für eine Dame. Aber ich will die Jacke nicht haben. Ich will, dass meine Mama kommt und mich abholt.

„Was glaubst du, wie sich andere Kinder freuen würden über so eine Jacke?“, schnarrt Schwester Hedwig.

Ich kann das Blitzen in ihren Augen sehen. Genau das gleiche Blitzen wie zu Weihnachten, als sie die Würstel in meinem Weihnachtspäckchen gefunden hat.

„Das ist echtes Kaninchen.“ Die Tante hält die Jacke auf. Und obwohl ich es gar nicht will, dreh ich mich herum und schlüpfe hinein. Ganz automatisch.

„Schön Danke sagen!“, flüstert mir die Tante ins Ohr.

„Danke!“, quetsche ich hervor.

„Bekomm ich gar kein Bussi?“

Tante Josepha hält mir ihre Wange hin. Ich hauche brav einen Kuss darauf.

„So was von undankbar.“ Schwester Hedwig gibt Tante Josepha das Paket. „Nicht einmal die Fransen vom Mantel des Heiligen Martin gebühren dir. Nicht einmal die Fransen.“

„Muss ich noch irgendwas unterschreiben?“, erkundigt sich die Tante.

„Nein, das ist schon alles mit Frau Hübner geregelt. Nur das Bettzeug und die Wäsche müssen Sie noch mitnehmen. Das ist alles in dem Paket.“

Die Tante hilft mir, die Kordeln der Jacke zu verschließen.

„Wo sind denn deine Handschuhe?“, will Tante Josepha wissen. Ich schaue auf die schwarz-roten Bodenfliesen.

„Die hab ich verloren!“

„Verloren!“, wiederholt die Tante. Sie kann es gar nicht richtig glauben.

„Man sollte Kindern keine kostbaren Geschenke machen, wenn sie’s noch gar nicht verstehen“, murmelt Schwester Hedwig.

Tante Josepha hebt das zusammengeschnürte Paket an und greift nach meiner Hand.

„Vergelts Gott, Schwester. Danke für alles, was sie für uns getan haben.“

„Vergelts Gott, liebe Schwester“, sage ich und mache einen Knicks.

Über den Blick der Schwester legt sich ein Schleier aus Eis.

Draußen riecht die Luft dumpf und nach Verbranntem. Ein Gemisch aus Schnee und Graupel fällt aus dem grauen Himmel auf uns nieder. Ich sperre den Mund auf und versuche, die patzigen Flocken zu schnappen. Aber die Tante zieht mich so schnell weiter, dass mein Mund die größten Flocken verfehlt. Dann landet eine einzelne Flocke auf dem Kragen meiner Jacke. Wie ein seltener Kristall sieht sie aus. Schnell lecke ich sie ab, bevor sie zerfließen kann. Sofort habe ich zwei lange Fellhaare im Mund. Ich wische mir mit dem Ärmel den Mund, aber der Ärmel haart auch und plötzlich sind so viele Haare in meinem Mund, dass ich nicht mehr schlucken kann. Ich bleibe stehen und will mir die Haare aus dem Mund holen, aber schon zieht mich die Tante weiter.

„Komm, Leni. Wir müssen um halb sechs im Gasthaus sein, sonst schimpft der Papa. Er ist eh so nervös, weil du kommst.“

„Ich werd ganz brav sein. Versprochen!“

„Das musst du auch, sonst schickt er dich sofort zurück ins Kloster!“, erklärt Tante Josepha und nimmt meine Hand.

Ich laufe weiter, aber der Koffer schlingert in meiner Hand. Nicht, dass er schwer wäre, aber er ist breit. Und ich schaffe es nicht, ihn mit gestrecktem Arm von mir wegzuhalten und trotzdem so schnell zu laufen wie die Tante. Warum muss alles so schnell gehen? Warum ist sie nicht schon zu Mittag gekommen, wenn schon sie mich abholen muss? Nur deshalb hab ich kein Mittagessen bekommen.

„Zu Hause kriegst du eh was. Und viel bessere Sachen als bei uns“, hat Schwester Hedwig erklärt.

Und jetzt ist mir schlecht. Das kommt vom Hunger. Aber vielleicht kommt es auch von den Kaninchenhaaren.

„Träum halt nicht. Da schau, die Tramway kommt!“

Die Tante geht jetzt noch schneller. Platsch, platsch, platsch, spritzt das Schmelzwasser unter ihren Schuhen hoch und der kleine Koffer schlägt bei jedem Schritt an meine Knie.

„Aua. Ich kann nicht so schnell.“

Die Tante dreht sich im Gehen um. „Also gib schon her, wenn’st das nicht tragen kannst.“ Tante Josepha greift mit der Pakethand zusätzlich meinen Koffer. Die Paketschnur schneidet ganz tief in ihre Handfläche. Aber Tante Josepha macht das nichts aus. „Ein echter Indianer kennt keinen Schmerz“, sagt sie immer. Aber ich bin kein Indianer. Und deshalb bin ich froh, dass meine Hand jetzt frei ist und ich mir die Haare von der Zunge fischen kann. Ich hab gleich gewusst, dass mit der Jacke was nicht stimmt. Warum nur ist Mama nicht gekommen? Sie hätte mir nie so eine blöde Jacke geschenkt und sie würde auch nicht so an mir herumziehen.

Jetzt quietscht und knirscht es hinter mir, und der rot-weiße Triebwagen der Tram rast an uns vorbei. Tante Josepha bleibt stehen. Ein Lastwagen hält extra für uns. Gemeinsam rennen wir über die Straße. Drüben an der Haltestelle ist alles schwarz vor Leuten. Wie Ameisen schieben und drängeln sie sich. Alle wollen zur gleichen Zeit einsteigen. Tante Josepha bleibt mit dem großen Paket und dem Koffer zwischen den Leute stecken.

„Hallo. Platz machen, bitte! Wir müssen einsteigen.“

„Das wollen wir alle, gnädige Frau.“ Ein Mann in einer blauen Latzhose und einem dicken Pullover dreht sich zu uns um. „Der Wagen ist bummvoll, aber wir werden schon noch Platz finden. Kommen Sie, ich helf Ihnen.“

Damit nimmt der Latzhosenmann Tante Josepha das Paket aus der Hand und springt auf das Trittbrett, wo schon ein Mann mit einer großen Zeitung unterm Arm steht. Der Mann in der Latzhose schiebt die Leute, die draußen am Trittbrett stehen, nach drinnen. „Jetzt lassen Sie doch andere Leute auch einsteigen.“

„Drinnen ist kein Platz mehr“, giftet der mit der Zeitung. Aber der Mann in der Latzhose ist kräftig, und im Nu hat er den Mann mit der Zeitung ins Innere des Waggons bugsiert. Jetzt zieht er Tante Josepha zu sich hinauf. Sie dreht sich zu mir um.

„Leni!“

Da merke ich, dass ich im Gedränge Tante Josephas Hand losgelassen habe. Ich recke den Hals und brülle: „Hier! Hier bin ich!“

Dann zwänge und quetsche ich mich zwischen den Rücken und Beinen der Leute auf der Verkehrsinsel nach vorn. Die meisten sind hartnäckig und wollen nicht zur Seite gehen. Ich boxe und trample ihnen mit meinen Schnürschuhen auf die Zehen. Dann höre ich, wie der Schaffner das Signal zur Abfahrt gibt.

„Halt, das Mädchen muss noch einsteigen.“

Das ist die Stimme vom Latzhosenmann. Aber ich kann ihn nicht sehen, weil noch so viele Leute vor mir stehen. Endlich machen mir die Leute Platz und ich kann wie durch eine enge Gasse an den Waggon herankommen. Erst jetzt sehe ich, wie viele Leute auf dem Trittbrett stehen. Eine ganze Traube von Menschen ist das, die drinnen keinen Platz mehr findet. Lustig sieht das aus, wie einer sich an der Schulter vom anderen festhält. Wie ein Bandelwurm. Jetzt greift das Ende vom Bandelwurm meine Hand und zieht mich aufs Trittbrett hinauf. Noch einmal bimmelt der Schaffner. Seine blaue Uniformmütze blitzt über den Köpfen der Fahrgäste.

„Lassen Sie erst das Mäderl einsteigen“, ruft der Mann in der Latzhose. Jetzt greift ein grauer Pulloverarm zwischen den Trittbrettfahrern durch und packt mich unter der Achsel. Genau in dem Moment rutsche ich aus und die Straßenbahn fährt los. Mit beiden Beinen hänge ich in der Luft. Unter mir rast das Straßenpflaster. Ich bin stumm vor Schreck. Aber dann zieht mich der Arm, an dem ich hänge, ruckartig hoch und ich lande im Wageninneren.

„Hui! Das war ja knapp!“ Der Mann in der Latzhose lacht.

„So ein Wahnsinn“, giftet der mit der Zeitung. „Die Kleine hätte sich das Genick brechen können.“

„Ach was. Ist doch gut gegangen!“ Der in der Latzhose drückt mich an sich und lacht. Er riecht nach Schmieröl, und sein Pullover kratzt an meiner Wange.

„Erst gestern hat der Einundsiebziger eine Frau überrollt, die schnell noch aufspringen wollte!“, erklärt der mit der Zeitung.

„Leni, komm her zu mir!“, ruft weiter hinten die Tante.

Der in der Latzhose schiebt mich in Richtung Tante, die sich ihrerseits zwischen dunklen Mantelrücken und Hüten zu mir vorkämpft.

„Na, da ist ja deine Mutti.“

Tante Josepha hält sich mit einer Hand an der Lederschlaufe fest und drückt mich mit der anderen an sich. „Mein Gott, Leni. Was machst du denn für Sachen.“

„Nächstes Mal passen’S besser auf auf die Kleine“, murmelt der mit der Zeitung.

„Es ist halt schwer mit einem Kind allein“, antwortet der in der Latzhose.

Ich setze mich auf den Koffer neben Tante Josepha und schaue den Mann in der Latzhose an. Seine zurückgekämmten Haare kräuseln sich im Nacken wie kleine Schneckenhäuser. Das gefällt mir. Der Mann zwinkert mir zu.

„Das machst du richtig. Setz dich nur hin und ruh dich aus. Habt ihr viele Stationen bis nach Hause?“ Ich zucke die Achseln und schaue zur Tante. Ich soll ja nicht mit fremden Menschen auf der Straße sprechen. Ob das auch für die Straßenbahn gilt? Die Tante späht zwischen den Schultern der anderen Fahrgäste durchs Fenster, vielleicht, weil sie wissen will, ob wir bald aussteigen müssen. Jetzt wischt sie ein Loch in die beschlagene Fensterscheibe.

„Noch sieben Stationen, Leni. Dann sind wir bei der Oper“, erklärt die Tante.

„Wo wohnst du denn?“, fragt mich der Mann. Ich presse die Lippen aufeinander. Ich möchte ihm gern antworten, weil er mir geholfen hat. Und weil er so interessante Schneckerln im Nacken hat.

„Margaretenstraße“, flüstere ich schließlich so schnell, dass weder der Mann noch ich es hören können. Der Mann schaut zur Tante. Als sie merkt, dass er sie anlächelt, späht die Tante wieder durch ihr Guckloch aus dem Fenster.

Jetzt schaut auch der Mann in eine andere Richtung.

Auf meinem Koffer ist es eng und stickig. Nach einer Weile wird mir langweilig und ich stehe auf. Draußen vor dem Straßenbahnfenster zieht das Parlament vorüber. Rechts neben dem Gebäude liegt ein Trümmerhaufen. Im Krieg ist das Parlament von einer Fliegerbombe getroffen worden. Das ganze Dach ist kaputt. Aber die große Statue am Brunnen davor, mit der Lanze und dem Goldhelm, die steht noch.

„Das ist die Athene“, erklärt der Mann. „Sie bedeutet Weisheit. Deshalb steht sie vor dem Parlament. Damit die Politiker drinnen immer weise Entscheidungen fällen. Aber leider haben sie das in den letzten Jahren oft vergessen, nicht wahr?“

Der Mann nickt zur Tante hinüber, aber sie hat scheinbar die Frage nicht gehört.

„Zum Glück haben wir einen milden Winter“, sagt der Mann.

„Noch einmal so eine Kälte wie vor einem Jahr, das wäre eine Katastrophe.“ Die Tante schaut durch den Mann hindurch, als wäre er Luft. Dabei ist er doch so nett! Die Tante hebt den Koffer hoch und klemmt sich das Paket unter den Arm.

„Wir steigen jetzt aus, Leni“, sagt sie streng. Der Mann mit den Schneckerln macht ein enttäuschtes Gesicht. Ich verstehe nicht, warum die Tante nicht mit ihm reden will. Vielleicht ist es wegen dem Onkel Leo. Ihre Augen glänzen und ihr linker Mundwinkel zittert. Das bedeutet, dass sie gleich weinen wird.

„Ach, da ist ja schon die Oper“, sagt der Schneckerlmann. „Also dann, habe die Ehre.“

Der Mann will der Tante mit dem Koffer helfen, aber sie tut so, als würde sie das nicht sehen. Zum Glück steigen an der Oper ganz viele Leute aus und wir müssen uns nicht zum Ausstieg drängen, sondern wir werden von den anderen geschoben. Das ist praktisch, denn man muss kaum die Füße bewegen.

„Auf Wiedersehen!“, höre ich den Schneckerlmann hinter mir rufen. Schade, ich kann ihn gar nicht mehr sehen.

Draußen ist es jetzt schon ganz dunkel. Wie eine große, schwarze Tonne spannt sich der Nachthimmel über uns und es gibt kaum Licht.

Platsch! tappe ich in ein mit Wasser gefülltes Loch in der Straße. Ich stolpere und fange mich an Tante Josephas Arm.

„Pass halt auf. Oder willst du dir den Fuß verknacksen?“, meckert die Tante. Stimmt. Das habe ich schon ganz vergessen, dass die Straßen und das Trottoir voll sind mit Löchern und Rissen. Angestrengt schaue ich beim Gehen auf den Boden. Das würde mir gerade noch fehlen, mit einem verstauchten Fuß bei der Mama anzukommen. Die Tante geht jetzt langsamer. Wir sind gleich im Geschäft. Da müssen wir uns nicht mehr so beeilen. Tante Josepha schaut nach oben, als würde sie über den schwarzen Dächern hinter dem Naschmarkt die Sterne erkennen. Ich blinzle angestrengt. Aber über den Dächern sind gar keine Sterne. Ganz sicher nicht. Ich schaue die Tante an und sehe, dass sie sich Tränen aus den Augen wischt. Also doch. Sie hält den Kopf hoch, damit ich nichts merke. Aber ich weiß, dass sie weint. Die Tante weint jetzt eigentlich jeden Tag. Das hat mir Mama zu Weihnachten erzählt, als sie mir das Packerl gebracht hat. Das ist wegen dem Onkel Leo, ihrem Mann. Der ist noch nicht zurückgekommen, obwohl der Krieg schon seit drei Jahren vorbei ist. Deshalb ist die Tante so traurig und weint oft schon gleich nach dem Aufstehen oder mitten unterm Schnitzel panieren. Sie bildet sich oft ein, Onkel Leos Stimme zu hören. Dann rennt sie aus der Küche in den Schankraum und schaut nach, ob er da ist. Das sind die Nerven, meint die Mama. Ich drücke vorsichtig den Arm von der Tante, weil sie dann vielleicht zu weinen aufhört. Aber es kommen nur noch mehr Tränen, und an der Ecke Schleifmühlgasse stellt die Tante das Paket und den Koffer ab und sucht in ihren Manteltaschen nach einem Taschentuch. Ein eiskalter Wind schneidet in mein Gesicht. Plötzlich klingt etwas in meinen Ohren. Das ist ein Ton. Ein ganz heller und klarer Ton. Wie ein dünner Silberdraht, so fein klingt der. Ich schaue mich um, aber außer einer Frau mit einer Einkaufstasche ist niemand zu sehen. Sicher kommt der Ton von weiter vorne. Vielleicht kann man zwischen den Ständen vom Naschmarkt etwas sehen. Während die Tante ihr Taschentuch aufschüttelt und ihre Nase putzt, laufe ich schnell vor und spähe in die Gasse zwischen den gemauerten Marktständen. Und tatsächlich. Weit drüben auf der anderen Seite vom Markt steht jemand auf der Ladefläche eines hölzernen Karrens zwischen einem Haufen von Brettern und Steinen und spielt auf einer Trompete. Der Wind bewegt die Straßenbeleuchtung auf der Stromleitung, und im matten Lichtkegel erkenne ich eine Gestalt in Uniform. Eine russische Uniform ist es aber nicht. Auch keine amerikanische oder englische. Die sehen anders aus. Es ist eine Uniform, die ich noch nie gesehen habe. Dann bleibe ich stehen und reiße erstaunt den Mund auf. Das ist ja gar kein Mann sondern eine Frau! Ich sehe deutlich, dass sie keine Hose sondern einen Rock anhat. Aber das kann gar nicht sein. Uniformen tragen doch nur Männer. Die Melodie, die sie auf der Trompete spielt, klingt wunderschön. Wie ein schillerndes Seidentuch legt sie sich über Häuser und Ruinen. Ganz ruhig und festlich ist auf einmal alles. Und in meinen Lungen wird die Luft weit und weich und ich möchte die Melodie gern einsaugen und für immer in mir behalten.

„Leni?“

Das ist die Tante. Ich kann jetzt nicht weg. Ich muss noch einen Moment dastehen und zuhören. Wie Frühlingsvögel zwitschert die Trompete. Ganz leicht und schwebend hört sich das an.

„Leni!“

Ich drehe mich um. Die Tante hat den Koffer und das Paket wieder aufgehoben und geht langsam weiter. Ich laufe zu ihr, aber ich bleibe noch einmal stehen und schaue zurück. Der Wind drückt in die Stromleitung, und die Straßenbeleuchtung schwingt in die andere Richtung. Die Frau mit der Trompete steht jetzt im Dunkeln und ich kann sie gar nicht mehr sehen. Aber hören kann ich sie noch. Ich laufe weiter und fühle mich auf einmal wie in einem Traum. Ich muss nicht mehr ins Kloster, und gleich bin ich bei der Mama. Die wunderschöne Musik wird langsam leiser. Komisch, dass ich das Gefühl habe, ich hätte die Melodie schon irgendwo gehört. Aber das kann ja gar nicht sein. Jetzt hat die Musik aufgehört. Ganz still ist es und ich höre nur noch meine Schritte auf dem Pflaster. Hab ich die Frau mit der Trompete wirklich gesehen, oder hab ich das vielleicht nur geträumt?

Die Tante schaut mich an und lächelt. Sie hat zu weinen aufgehört.

Sieh im Glossar ab Seite 216 nach, wenn dir ein Wort nicht vertraut ist.

2.

„Na, du bist ja gewachsen, Leni!“ Frau Petermann schüttelt meine Hand und ihre spitz gefeilten Fingernägel kratzen in meiner Handfläche. „Freust du dich, dass du wieder da bist?“

„Ja, sehr. Vor allem freu ich mich auf die Mama!“ Zum Glück lässt Frau Petermann meine Hand wieder los, weil der junge Mann neben ihr ihr eine Zigarette anbietet. Er klappt das Feuerzeug auf und gibt Frau Petermann Feuer. „Du bist ja eine richtige Dame geworden“, sagt Frau Petermann und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich muss husten. So viel Rauch wie hier drin im Gasthaus bin ich gar nicht mehr gewöhnt.

„Und wann kommst du zu mir in die Tanzschule?“, will Frau Petermann wissen und setzt sich wieder neben den jungen Burschen auf die Bank. Frau Petermann hat als Einzige ihren Mantel ausgezogen. So kann man ihr gepunktetes Kleid mit dem Rüschenkragen besser sehen. Frau Petermann ist Tanzlehrerin, und schöne Kleider zu tragen, gehört zu ihrem Beruf. Das rote Kleid gefällt mir. Es ist ein richtiger Farbfleck zwischen all den grauen, zerschlissenen Wintermänteln. Aber im Schankraum ist immer schlecht geheizt, weil hier die Kundschaft sitzt, die nur schnell etwas trinken will und nicht so lange bleibt.

„Ich kann doch nicht tanzen“, sage ich und zapple ungeduldig auf meinen Beinen.

„Aber bei mir lernst du’s. Wie alt bist du denn jetzt?“

„Bald zehn“, antworte ich höflich. Hoffentlich hört Frau Petermann auf, mich auszufragen, damit ich schnell zur Mama kann.

„Erst zehn! Na, da musst du wirklich noch ein paar Jahre warten.“ Frau Petermann hebt ihr Weinglas und prostet mir zu. Endlich kann ich gehen!

Zum Glück sind keine anderen Stammgäste da, die ich begrüßen muss. Nur Herr Frankl, aber der sitzt so weit hinten, dass er mich nicht sehen kann.

Ich renne an der Schank vorbei in das große Extrazimmer, wo die Angestellten aus den Büros zu Abend essen. Hier ist es schön warm, und es wird auch nicht so viel geraucht wie draußen im Schankraum. Tante Josepha ist an einem Tisch stehen geblieben, an dem ein dicker Mann vor einem leeren Teller sitzt. Während er gut gelaunt auf sie einredet, küsst er wieder und wieder seine Fingerspitzen. Das bedeutet, dass er Tante Josephas Essen genossen hat und zufrieden ist. Schon bin ich am Durchgang zur Küche. Mein Herz klopft schnell bei der Vorstellung, dass Mama mich gleich in die Arme schließt. Aber da springt die Schwingtür auf und zwei Arme mit übereinandergestapelten, dampfenden Tellern versperren mir den Weg. Ich erkenne Krenfleisch, geröstete Erdäpfel und Würstel. Hinter den duftenden Gerichten blitzt eine weiße Kellnerjacke. Die Tante ist zu mir herübergekommen und legt mir ihre Hand auf die Schulter. „Sag dem Papa guten Tag“, flüstert sie mir zu.

„Grüß Gott“, quetsche ich hervor. Der Papa schaut mich über die Teller hinweg an. Seine kugeligen Augen haben etwas Ernstes, Stechendes. Sein Gesicht wirkt eigentlich rund und weich, aber ich weiß nicht, ob sein Mund, der von den Tellern verdeckt wird, lächelt. Und weil er nur dasteht und nichts sagt, mache ich vorsichtshalber einen Knicks.

„Die Mama ist in der Küche“, murmelt der Papa. „Sie wartet schon.“ Dann bückt er sich rasch zu mir, damit ich ihn auf die Wange küsse. Seine Wange riecht nach Rasierwasser und sie fühlt sich glatt an und nicht so kratzig wie an dem Tag, als ich Papa zum ersten Mal gesehen habe. An dem Tag, an dem ich Papa zum ersten Mal gesehen habe, sah er wie ein Gespenst aus und hat gar nicht gut gerochen. Da ist er gerade aus dem Krieg zurückgekommen. Er war schmutzig und krank. Ich wollte ihn damals nicht küssen, weil er mir so fremd vorgekommen ist. Und mit Fremden darf man ja nicht einmal reden, geschweige denn, sie küssen.

Ich hauche einen Kuss auf Papas Wange, und er geht mit kurzen, abgehackten Schritten weiter. Ich stoße die Schwingtür auf und laufe zum Kücheneingang. Kurz bleibe ich zum Atemholen stehen, weil ich so aufgeregt bin. So lang hab ich darauf gewartet. Noch drei Schritte, dann stehe ich in der Küche. Mama arbeitet mit dem Rücken zu mir. Sie trägt eine weiße Kittelschürze und schöpft Suppe aus dem Topf am Herd. Als sie sich umdreht und mich sieht, lässt sie die Kelle fallen.

„Da bist du ja endlich.“ Sie stellt die Teller ab und läuft um die Anrichte herum. Ich renne jetzt ebenfalls und in der Mitte der Küche prallen wir aneinander und drücken uns und halten uns fest. Wie in einer geheimen Höhle, so sicher und beschützt fühle ich mich in Mamas Armen.

„Warum kommt ihr denn jetzt erst?“

„Stromsperre“, erklärt die Tante und zieht in der Küche den Mantel aus. „Eine Stunde hab ich auf die blöde Straßenbahn warten müssen.“

„Bei uns war nichts. Keine Stromsperre, keine Gassperre, kein Garnichts!“ Mama lacht und reibt ihre Nase an meiner. Mama riecht nach Schweiß, Lavendel und gerösteten Zwiebeln. Jetzt wird endlich alles gut.

„Bring Lenis Sachen in den Keller, damit sie hier nicht stören“, sagt die Tante und schlüpft in ihre blaue Kittelschürze. „Ich mach ihr schnell etwas zu essen. Die haben ihr im Kloster kein Mittagessen gegeben, weil sie geglaubt haben, dass ich sie früher hole.“

„Meine Güte, deshalb bist du so mager!“ Mama zwickt mich abwechselnd in beide Wangen und kitzelt mich am Bauch. Ich lache und zwicke sie ebenfalls.

„Was macht ihr da für ein Theater?“, donnert es plötzlich hinter mir. „Draußen warten die Gäste auf ihre Suppe!“ Papa steht mit einem Schwung schmutziger Teller in der Küche.

„Aber man wird sich doch noch begrüßen dürfen“, ärgert sich Mama und steht auf.

„Das könnt ihr später auch noch machen. Wir sind mitten im Abendgeschäft. Außerdem haben wir kein sauberes Geschirr mehr.“

„Ich mach das schon.“ Die Tante stellt einen großen Topf Wasser auf dem Herd auf. Sie hat sich noch nicht einmal den Mantel ausgezogen und schon mit dem Abwasch begonnen.

„Und du setzt dich jetzt raus“, befiehlt Papa, während er Teller mit Suppe füllt. „Eine Küche ist kein Ort für Kinder, hier wird gearbeitet.“

„Aber ich will bei der Mama bleiben!“

„Hier ist kein Platz. Raus jetzt und keine Widerrede.“

Mama hebt die Schultern und macht ein entschuldigendes Gesicht. Das bedeutet, dass man jetzt nichts machen kann und dass der Papa recht hat.

„Setz dich draußen hin. Ich komm gleich zu dir“, flüstert sie, als sie mich aus der Küche schiebt.

Das Würstel dampft auf dem ovalen Teller. Rundherum schwimmt Gulaschsoße, so wie ich es gerne mag. Aber irgendwie hab ich trotzdem keinen Hunger. Die meisten Speisegäste sind schon gegangen. Nur hinten in der Ecke hockt noch eine alte Frau mit einem kleinen Hund mit eingedrückter Schnauze. Den Hund hat sie mit der Leine an ihr Stuhlbein gebunden, während sie ihre Suppe löffelt. Ich zupfe Klumpen aus meinem Brot und drehe sie zu Kügelchen. Warum dauert das nur so lange, bis die Mama kommt? Der Papa steht drüben am Tresen und spricht mit Herrn Frankl. Vielleicht merkt er es nicht, wenn ich aufstehe und schnell in die Küche laufe. Ich könnte der Mama bei der Arbeit helfen, dann ist sie schneller fertig und kann sich zu mir setzen. Blöd, dass der Papa immer herüberschaut. Herr Frankl legt seinen Beinstumpf auf die untere Querstrebe seiner Krücke und trinkt sein Bierglas leer. Mit der anderen Hand hält er sich am Tresen fest. Es muss schwer sein, die ganze Zeit auf nur einem Bein zu stehen. Vor allem, wenn man so viel Bier dabei trinkt. Aber Herrn Frankl macht das nichts aus. Er kann lange auf einem Bein stehen, ohne zu wackeln. Auch rennen kann er mit dem einen Bein und seinen beiden Krücken. Ziemlich schnell sogar, das hat er mir in den vergangenen Osterferien gezeigt. Das zweite Bein von Herrn Frankl ist in Russland geblieben. Abgeschossen.

Herr Frankl und der Papa reden jetzt schon eine ganze Weile miteinander. Der Papa schüttelt immer wieder den Kopf und macht ein Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. Er ist nicht damit einverstanden, dass ich nicht mehr im Kloster, sondern zu Hause wohnen soll.

„Eine Schnapsidee, das Kind hierherzuholen!“, zischt er Herrn Frankl zu. „Gerade jetzt, wo wir eh schon Probleme genug haben.“

Erschrocken recke ich den Hals. Was meint der Papa mit „Probleme“?

Herr Frankl schaut herüber und drückt besänftigend die Augen zu. „Mach dir keine Sorgen“, soll das heißen. „Dein Papa meint es nicht so.“

Das ist sicher nett gemeint von Herrn Frankl. Aber ich habe trotzdem Angst und mein Herz zittert wie eine Maus, die durch den Kohlenkeller gejagt wird. Ich will nicht zurück in das schreckliche Kloster! Ich darf nur nichts falsch machen und muss dem Papa aufs Wort folgen. Wenn sich der Papa über mich aufregen muss, schickt er mich sofort zurück. Der Papa glaubt, dass ich nicht richtig arbeiten kann und nur im Weg herumstehe. Aber das stimmt nicht. Im Kloster habe ich jeden Tag in der Küche gearbeitet. Herr Frankl legt Geld auf den Tresen und humpelt zum Ausgang. Der Papa macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und dreht mir den Rücken zu.

Langsam kratze ich die Gulaschsoße vom Würstel. Es sieht blass aus und grau. Ich schneide ein Stück ab und stecke es in den Mund. Die Mama meint, ich darf mir nicht immer alles zu Herzen nehmen, was der Papa sagt. Oft klingt es nur so böse und er meint es gar nicht so. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Ich kaue und merke, wie mir wieder schlecht wird. Die Tische fangen an sich zu drehen, die Frau am Ecktisch und ihr Hund, der den Teller ausleckt, drehen sich, und auch das große Buffet mit den Besteckschubladen und dem Regalaufbau. Wie das Wasser im Ausguss von der Badewanne wirbelt alles durcheinander. Dann wird mir schwarz vor den Augen. Ich spüre, wie ich vom Sessel rutsche, aber ich kann mich nicht festhalten. Mein Kopf schlägt leicht auf dem Boden auf und ich höre Vogelgezwitscher. Aber nein, das ist doch die Trompete von vorhin. Wie schön sie spielt!

3.

„Den Kopf zurück, dann hört es auf zu bluten!“ Das ist die Stimme von Tante Josepha. Etwas Warmes läuft durch meine Kehle. Das ist Blut. Ich habe Nasenbluten!

„Nicht schlucken, ausspucken“, sagt jemand. „Setzen Sie sie auf, das Kind erstickt ja.“

Etwas Nasses, Kaltes liegt auf meiner Stirn. Tropfen laufen über meine Schläfen.

„Das wird dir guttun! Komm, Leni, setz dich hin!“

Ich huste und spucke. Jemand wischt mit einem feuchten Tuch über meinen Mund. Ich japse nach Luft und schlage die Augen auf. Mamas Gesicht. Sie lächelt traurig.

„Was machst du denn für Sachen? Gleich am ersten Tag.“

Mamas warme Hand schiebt sich unter meinen Rücken und hilft mir, mich aufzurichten. Beide sitzen wir auf einer Reihe aus drei aneinandergestellten Wirtshausstühlen. Mein Kopf ist auf Mamas Schoß gelegen. Sie drückt sanft das feuchte Geschirrtuch an meiner Stirn fest.

„Na siehst du, es hat schon aufgehört.“

Ich nicke und schaue den kleinen Hund an, der mit seiner flachen Schnauze an einem dunklen Fleck unter dem Ecktisch schnüffelt.

„Komm, Elli. Komm her zu mir.“

Die alte Frau ist mit ihrer Suppe fertig. Sie hat den Mantel angezogen und legt sich ein Fuchsfell um die Schultern. Vor ihrer Brust beißt das Fuchsgesicht mit weißem Maul in seinen eigenen Schwanz.

„Jetzt geh halt her, Elli“, keift die Frau. Sie zieht den Hund an der kurzen Leine zu sich.

Komisch. Mir ist immer noch so schwindlig.

„Erzählst du mir eine Geschichte?“

Mama faltet meinen Leibrock zusammen und öffnet die Tür des dunklen Nussbaumschranks. Er ist fast so hoch wie die Decke und seine Glastüren sind innen mit grünem Stoff bespannt, damit man von außen nicht sieht, was im Schrank drin ist.

„Das ganze mittlere Fach gehört jetzt dir, Leni“, sagt die Mama und zeigt auf das Bord über den Schubladen. „In der Lade hat der Papa seine Sachen.“ Es knarrt, als die Mama die Schranktür schließt. Die grüne Samtquaste am Schlüssel baumelt. Mama setzt sich an meinen Bettrand und stopft die Decke um mich fest, damit mir nicht kalt ist.

„Ich hab keine Zeit für eine Geschichte. Der Papa wird im Gasthaus schon auf mich warten.“

„Bitte, nur heute. Damit ich besser einschlafen kann.“

„So ein großes Mädchen … und will noch eine Geschichte.“

„Eine ganz kurze.“

Mama reibt ihre Hände aneinander. Dann strafft sie sich.

„Na gut.“

„Vom Grasl?“

„Wieso denn vom Grasl? Das weißt du doch schon alles.“

„Erzähl es noch einmal. Bitte, wie früher.“

Mama führt die gefalteten Hände an den Mund und denkt mit geschlossenen Augen nach. Komisch, dass Mama nachdenken muss. Die Geschichte hat sie doch so oft erzählt. Im Krieg, als wir am Sonntag immer lang im Bett liegen konnten. Und auch, als wir zur Großmutter aufs Land gefahren sind und unser Zug von den Bomben getroffen wurde.

„Also“, beginnt Mama endlich. „Der Hauptmann Grasl hat in einer Höhle gewohnt. Zusammen mit seiner Freundin Hamberger.“

„Und dem wilden Michel.“

„Und dem wilden Michel, richtig. Aber außer dem Grasl und seinen Räubern hat keiner gewusst, wo sich die Höhle im Wald befindet. Die war streng geheim. Die Polizei hat ja eine hohe Belohnung auf den Grasl ausgesetzt und die bekam der, der sagen konnte, wo sich der Räuberhauptmann versteckt.“

„Fünfzig Goldtaler.“

„Genau. Aber dem Grasl wurde es zu eng in seiner Höhle und er wollte spazieren gehen. Ich weiß nicht, war ihm langweilig oder hat er frische Luft gebraucht … jedenfalls ist er in den Wald gegangen. Und wie er da so geht …“

„Und die Therese?“

Mama schaut mich an, als wüsste sie nicht, was ich meine. Aber dann fällt es ihr gleich ein.