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Leopard E-Book

Jo Nesbø

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Beschreibung

Harry Hole ist am Ende, er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen und lebt zurückgezogen in Hongkong. Da erschüttert eine Serie aufsehenerregender Morde Oslo. Die junge Kommissarin Kaja schafft es schließlich, ihren berühmten Kollegen zurückzuholen. Schnell wird Harry in den Fall hineingezogen. Der Täter erweist sich als äußerst unberechenbar und intelligent. Als Harry dem Killer schließlich gegenübersteht, muss er eine beinahe übermenschliche Entscheidung treffen. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Harry Hole ist am Ende, er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen und lebt zurückgezogen in Hongkong. Da erschüttert eine Serie aufsehen-erregender Morde Oslo. Die junge Kommissarin Kaja schafft es schließlich, ihren berühmten Kollegen zurückzuholen. Schnell wird Harry in den Fall hineingezogen. Der Täter erweist sich als äußerst unberechenbar und intelligent. Als Harry dem Killer schließlich gegenübersteht, muss er eine beinahe übermenschliche Entscheidung treffen.

Der Autor

JO NESBØ, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer SohnBlood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Panserhjertebei H. Aschehoug & Co., Oslo.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-550-92011-0

© 2009 by Jo Nesbø © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Published by agreement with Salomonsson Agency Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Titelabbildung: plainpicture / © Alexander Keller (Mann in Schneelandschaft); Shutterstock / © Le Panda (Ausfransung); © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund) Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

TEIL I

KAPITEL 1

Ertrinken

Sie wachte auf. Blinzelte in die Finsternis. Atmete mit weit aufgerissenem Mund durch die Nase. Blinzelte wieder. Spürte eine Träne über ihre Wange laufen, spürte, wie sie das Salz alter Tränen auflöste. In ihre Kehle rann kein Speichel mehr, ihre Mundhöhle war trocken und wie erstarrt. Die Wangen wurden von dem inneren Druck fest nach außen gewölbt. Der Fremdkörper in ihrem Mund schien ihren Kopf sprengen zu wollen. Was war das? Was war das bloß? Sie wäre nach dem Aufwachen am liebsten gleich wieder in der dunklen, warmen Tiefe versunken, die sie im Schlaf umgeben hatte. Die Spritze, die er ihr gegeben hatte, wirkte noch immer, aber sie spürte, dass die Schmerzen im Anmarsch waren. Spürte das an den langsamen, dumpfen Schlägen ihres Pulses und an der ruckweisen Bewegung des Blutes in ihrem Gehirn. Wo war er? Stand er direkt hinter ihr? Sie hielt den Atem an und lauschte. Es war nichts zu hören, aber sie spürte seine Anwesenheit. Leopard. Warum dachte sie an einen Leoparden? Weil sie gelesen hatte, dass nur diese Großkatze nachts jagte? Der Leopard schleicht sich im Dunkeln an seine Beute an und bringt seinen Atem in Gleichklang mit deinem. Hält den Atem an, wenn du den Atem anhältst. So kann er ganz dicht hinter dir stehen, ohne dass du seine Anwesenheit bemerkst. Sie bildete sich ein, seine Körperwärme zu spüren. Worauf wartete er? Sie begann wieder zu atmen. Und meinte, im selben Augenblick den Atem eines anderen in ihrem Nacken zu spüren. Sie wirbelte herum und schleuderte ihren Arm nach hinten, traf aber nur Luft. Dann kauerte sie sich zusammen und versuchte sich klein zu machen, sich zu verstecken. Es war sinnlos.

Wie lange war sie betäubt gewesen?

Die Betäubung versagte einen Augenblick. Für den Bruchteil einer Sekunde. Lange genug, um ihr einen Vorgeschmack zu geben. Auf das Versprochene. Das, was kommen würde.

Der Fremdkörper, der vor ihr auf dem Tisch lag, hatte die Größe einer Billardkugel, war aus glänzendem Metall mit kleinen, ausgestanzten Löchern, Figuren und Zeichen. Aus einem Loch ragte ein roter Draht mit einer Schlinge hervor. Sie musste unwillkürlich an den Weihnachtsbaum denken, der in sieben Tagen, am Abend vor dem Heiligen Abend, bei ihren Eltern geschmückt werden würde. Mit glänzenden Kugeln, Weihnachtsmännern, Körbchen, Kerzen und norwegischen Flaggen. In acht Tagen wollte sie Weihnachtslieder singen und in die strahlenden Augen ihrer Nichten sehen, wenn diese die Geschenke auspackten, die sie für sie besorgt hatte. Was sie nicht alles anders machen würde! So viele Tage, die sie intensiver leben würde! Wahrhaftiger, erfüllt von Freude, Leben und Liebe. Sie dachte an all die Orte, an denen sie nur vorbeigekommen war, die sie noch sehen wollte. An die Männer, die sie getroffen hatte, und an den einen, dem sie noch nicht begegnet war. An den Embryo, von dem sie sich im Alter von siebzehn Jahren getrennt hatte, und an ihre noch ungeborenen Kinder. An all die Tage, die sie in dem Glauben vergeudet hatte, noch so viele vor sich zu haben.

Dann konnte sie plötzlich nur noch an das Messer denken, das ihr an die Kehle gehalten wurde. Und an die sanfte Stimme, die sie aufforderte, die Kugel in den Mund zu nehmen. Sie hatte es getan, natürlich hatte sie es getan. Mit hämmerndem Herzen hatte sie den Mund so weit aufgerissen wie nur möglich und die Kugel hineingeschoben, bis nur noch der Draht heraushing. Das Metall hatte salzig und bitter geschmeckt wie Tränen. Danach hatte er ihren Kopf nach hinten gezwungen, und die Stahlklinge des Messers brannte auf ihrer Haut, als er sie mit der flachen Seite an ihren Hals drückte. Die Decke des Raums wurde von einer Lampe erhellt, die in einer Ecke an der Wand lehnte. Grauer, nackter Beton. Außer der Lampe gab es nur einen weißen Campingtisch, zwei Stühle, zwei leere Bierflaschen und zwei Menschen. Ihn und sie. Sie hatte den Geruch seiner Lederhandschuhe wahrgenommen, als er mit dem Zeigefinger leicht an der roten Drahtschlinge gezogen hatte, die aus ihrem Mund hing. Und im nächsten Augenblick war es, als explodierte ihr Kopf.

Die Kugel hatte sich ausgedehnt und drückte nun gegen die Innenseite ihrer Mundhöhle. Egal wie weit sie die Kiefer öffnete, der Druck blieb konstant. Er hatte ihren aufgerissenen Mund konzentriert und mit sichtlichem Interesse untersucht, wie ein Zahnarzt den Sitz einer Klammer kontrolliert. Der Anflug eines Lächelns hatte seine Zufriedenheit signalisiert.

Mit ihrer Zunge spürte sie den Noppen nach, die aus der Kugel herausragten und sich gegen ihren Gaumen pressten, gegen das weiche Fleisch unter ihrer Zunge, gegen die Innenseite ihrer Zähne und gegen ihr Zäpfchen. Sie hatte versucht zu sprechen, und er hatte aufmerksam den unartikulierten Lauten gelauscht, die aus ihrem Mund gedrungen waren, genickt, als sie es schließlich resigniert aufgab, und eine Spritze hervorgeholt. Der Tropfen an der Nadelspitze hatte im Licht der Taschenlampe geglitzert, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Rühr den Draht nicht an.«

Wenige Sekunden nachdem er ihr die Spritze in den Hals gesetzt hatte, war sie ohnmächtig geworden.

Sie lauschte ihrem eigenen panischen Atem und starrte in die Dunkelheit.

Sie musste etwas tun.

Sie presste die Handflächen auf den Sitz des Stuhls, der von ihrem Schweiß ganz klamm war, und stand auf. Niemand hinderte sie daran.

Langsam und mit kurzen Schritten ging sie bis zur Wand und tastete sich daran entlang, bis sie eine kalte, glatte Fläche unter ihren Fingern spürte. Die Metalltür. Sie packte den Riegel und ruckte daran, aber er bewegte sich nicht. Verschlossen. Natürlich war die Tür verschlossen, was hatte sie denn gedacht? Hörte sie wirklich ein Lachen, oder war das Geräusch in ihrem eigenen Kopf? Wo war er? Warum spielte er auf diese Weise mit ihr?

Sie musste etwas tun. Denken. Aber um richtig nachdenken zu können, musste sie diese Metallkugel loswerden. Die Schmerzen trieben sie bald in den Wahnsinn. Sie schob Daumen und Zeigefinger auf beiden Seiten in die Mundwinkel. Spürte die Noppen. Versuchte vergeblich, ihre Finger unter eine davon zu schieben. Sie musste husten und stellte panisch fest, dass sie keine Luft mehr bekam. Die Noppen hatten die Schleimhaut am Eingang ihrer Luftröhre stark gereizt, das Gewebe war angeschwollen, und sie lief Gefahr zu ersticken. Sie trat gegen die Metalltür und versuchte zu schreien, aber die Kugel erstickte alle Laute. Sie gab wieder auf. Lehnte sich gegen die Wand und lauschte. Hörte sie vorsichtige Schritte? Bewegte er sich durch den Raum? Spielte er Blindekuh mit ihr? Oder war es nur das Blut, das in ihren Ohren rauschte? Sie bereitete sich auf die Schmerzen vor und presste die Kiefer zusammen. Es gelang ihr aber nur kurz, die Noppen wieder zurück in die Kugel zu schieben, bevor sie ihren Mund erneut aufspannten.

Etwas tun. Denken.

Federn. Die Noppen waren gefedert.

Sie waren zum Einsatz gekommen, als er an dem Draht gezogen hatte.

»Rühr den Draht nicht an«, hatte er gesagt.

Warum nicht? Was würde geschehen?

Sie glitt an der Wand hinunter auf den Boden. Feuchte Kälte stieg von dem Beton auf. Sie wollte wieder schreien, schaffte es aber nicht. Stille. Schweigen.

All die Worte, die sie an die von ihr geliebten Menschen hätte richten sollen, statt sich schweigend mit Leuten zu umgeben, die ihr egal waren.

Es gab keinen Ausweg. Nur sie und diesen wahnsinnigen Schmerz, ihr Kopf, der zu zerspringen drohte.

»Rühr den Draht nicht an.«

Wenn sie daran zog, würden die Noppen vielleicht zurück in die Kugel springen und sie von ihren Schmerzen befreien.

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wie lange war sie schon hier? Zwei Stunden? Acht? Zwanzig Minuten?

Wenn es so einfach war und sie wirklich nur an diesem Draht ziehen musste, warum hatte sie es dann nicht längst getan? Wegen der Warnung eines ganz offensichtlich kranken Mannes? Oder war das Teil des Spiels? Sollte sie dazu verleitet werden, diesen vollkommen unnötigen Schmerz zu ertragen? Oder zielte das Spiel darauf ab, dass sie sich der Warnung widersetzte und am Draht zog, so dass … so dass etwas ganz Furchtbares geschah? Was sollte denn geschehen? Was war das für eine Kugel?

Es war ein Spiel, da war sie sich sicher, ein grausames Spiel. Denn ihr blieb keine Wahl. Die Schmerzen waren unerträglich, ihr Hals schwoll an, und bald würde sie ersticken.

Noch einmal versuchte sie zu schreien, aber es wurde nur ein Schluchzen daraus, und sie blinzelte und blinzelte, hatte aber keine Tränen mehr.

Ihre Finger fanden den Draht auf ihren Lippen. Sie zog vorsichtig daran, bis er sich straffte.

Sie bedauerte, so viele Dinge nicht getan zu haben, keine Frage. Aber wenn ein Leben voller Entsagungen an einen anderen Ort als diesen führte, würde sie sich ohne Zögern für ein solches entscheiden. Sie wollte einfach nur leben. Egal, was für ein Leben. So einfach war das.

Sie zog den Draht heraus.

Die Nadeln schossen aus den Spitzen der Noppen. Sie waren sieben Zentimeter lang. Vier bohrten sich auf beiden Seiten durch die Wangen, drei in die Nebenhöhlen, zwei in den Nasengang und zwei weitere durch das Kinn nach außen. Eine Nadel durchbohrte die Speiseröhre und eine weitere den rechten Augapfel. Zwei Nadeln stießen durch den hinteren Teil des Gaumens in das Gehirn. Aber das war nicht die Ursache ihres Todes. Wegen der Metallkugel, die den Mund blockierte, gelang es ihr nicht, das Blut auszuspucken, das aus den Wunden in ihren Rachen strömte. Stattdessen lief es in die Luftröhre und von dort weiter in die Lunge, wo es dafür sorgte, dass kein Sauerstoff mehr ins Blut aufgenommen werden konnte. Das wiederum führte zu einem Herzstillstand und das zu dem, was der Gerichtsmediziner in seinem Bericht als zerebrale Hypoxie bezeichnete, also Sauerstoffmangel im Gehirn. Mit anderen Worten: Borgny Stem-Myhre ertrank.

KAPITEL 2

Hellsichtige Finsternis

18. Dezember

Die Tage sind kurz. Draußen ist es immer noch hell, aber hier drinnen, in meinem Schneideraum, herrscht ewige Finsternis. Im Lichtschein der Arbeitslampe sehen die Menschen auf den Bildern an der Wand seltsam glücklich und ahnungslos aus. Erwartungsvoll, als wäre das Leben, das vor ihnen liegt, eine Selbstverständlichkeit, eben und ohne Hindernisse, wie die spiegelblanke Oberfläche eines Meeres aus Zeit. Ich habe die Fotos aus Zeitungen ausgeschnitten, die tränenreichen Geschichten der schockierten Familien abgetrennt wie auch die bluttriefenden Details der Leichenfunde. Habe nur die unausweichlichen Fotos genommen, die irgendein Vater oder Verwandter einem aufdringlichen Journalisten gegeben hat, Bilder aus Zeiten, in denen es ihnen noch gutging und sie so breit lächelten, als wären sie unsterblich.

Die Polizei hat die Verbindung zwischen den Morden bisher noch nicht erkannt. Aber das wird sie, bald.

Was ist es, wie kommt es, dass ein Mensch zum Mörder wird? Ist das Morden angeboren? In den Genen verankert? Ist es eine ererbte Seite, die andere nicht haben? Oder wurde es aus der Notwendigkeit geboren, dann weiterentwickelt in der Begegnung mit der Welt, ist es eine Überlebensstrategie, eine lebensrettende Krankheit oder rationeller Wahnsinn? Denn wie eine Krankheit ist die feurige Fieberhitze des Körpers und der Wahnsinn eine notwendige Rückzugsmöglichkeit an einen Ort, an dem ein Mensch sich verschanzen und neue Kraft tanken kann.

Ich persönlich glaube, dass die Fähigkeit zu töten in jedem gesunden Menschen ist. Unser Dasein ist ein stetiger Kampf um Besitz und Güter, und wer nicht seinen Nächsten zu töten vermag, hat keinerlei Existenzberechtigung. Zu töten ist im Grunde nichts anderes, als das Unabwendbare zu beschleunigen. Der Tod macht keine Ausnahme, und das ist auch gut, denn das Leben ist Leid und Schmerz. So gesehen ist jeder Mord ein Akt der Barmherzigkeit. Nur dass einem das nicht so vorkommt, wenn die Sonne die Haut wärmt, frisches Wasser die Lippen benetzt, man seine eigene idiotische Lebenslust mit jedem Herzschlag spürt und man alles geben würde, um nur weiterzuleben. Für einen winzigen Augenblick ist man dann bereit, alles zu opfern, was man sich im Laufe der Zeit angeeignet hat: Würde, Position und Prinzipien. Das ist der Augenblick, in dem man einschreiten, sich dem verwirrenden, blind machenden Licht entgegenstemmen muss, um wieder tief in die kalte, hellsichtige Finsternis einzutauchen und den harten Kern der Wahrheit zu spüren. Die Wahrheit. Denn genau die habe ich gesucht und gefunden. Das, was einen Menschen zum Mörder macht.

Wie steht es mit meinem eigenen Leben? Halte ich es auch für die spiegelblanke Oberfläche eines Meeres aus Zeit?

Ausgeschlossen. In nicht allzu ferner Zeit werde auch ich auf dem Abfallhaufen des Todes liegen, gemeinsam mit den anderen Protagonisten dieses kleinen Dramas. Aber in welchem Zustand der Verwesung mein Körper auch sein mag, selbst wenn nur noch mein Skelett übrig ist, so werde ich doch lächeln. Denn dafür lebe ich, das ist meine Existenzberechtigung, meine Chance auf Erlösung, auf Befreiung von der Schande.

Ich werde jetzt die Lampe löschen und hinausgehen ins Tageslicht. In das bisschen, das davon noch übrig ist.

KAPITEL 3

Hongkong

Der Regen wollte überhaupt nicht nachlassen. Und auch all das andere nicht. Es wollte einfach nicht aufhören. Es war mild und feucht, und das schon wochenlang. Der Boden war gesättigt von Wasser, Europastraßen wurden weggeschwemmt, Zugvögel zogen nicht mehr in wärmere Gefilde, und es wurden Insekten gesichtet, die man so weit im Norden noch nie zuvor gesehen hatte. Der Kalender zeigte Winter an, doch auf den Rasenflächen Oslos lag kein Schnee, sie waren nicht einmal braun, sondern grün und einladend wie der Kunstrasenplatz in Sogn, wo resignierte Wintersportler in Bjørn-Dæhlie-Trikots joggten, in der Hoffnung, nun endlich am Sognsvann Ski laufen zu können. Am Silvesterabend war der Nebel so dicht gewesen, dass das Knallen der Feuerwerkskörper vom Osloer Zentrum bis nach Asker zwar zu hören war, man aber von den Raketen, selbst wenn man sie im eigenen Garten startete, nichts, aber auch gar nichts zu sehen bekam. Trotzdem feuerten die Norweger an diesem Abend Feuerwerkskörper im Wert von durchschnittlich sechshundert Kronen pro Nase ab. Jedenfalls laut einer Umfrage, die ferner zu dem Ergebnis gekommen war, dass sich die Zahl der Norweger, die sich ihren Traum von einer weißen Weihnacht an den weißen Stränden Thailands erfüllten, innerhalb von drei Jahren verdoppelt hatte. Auch in Südostasien schien das Wetter verrückt zu spielen; bedrohliche Wirbelstürme, wie man sie sonst nur aus der Taifunsaison kannte, standen Schlange über dem Chinesischen Meer. In Hongkong, wo der Februar in der Regel einer der trockensten Monate des Jahres ist, regnete es an diesem Morgen so stark, dass der Flug 731 der Cathay Pacific Airways aus London vor der Landung auf dem Chek-Lap-Kok-Flughafen wegen schwieriger Sichtverhältnisse in die Warteschleife musste.

»Seien Sie froh, dass wir nicht auf dem alten Flughafen landen«, sagte Kaja Solness’ chinesisch aussehender Sitznachbar zu ihr. Sie umklammerte die Armlehnen so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. »Der lag mitten in der Stadt, da würden wir bestimmt in einen der Wolkenkratzer krachen.«

Das waren die ersten Worte, die der Mann sprach, seit sie zwölf Stunden zuvor abgehoben hatten. Kaja ergriff nur zu gern die Gelegenheit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als darauf, dass sie wie ein Spielball den momentanen Turbulenzen ausgeliefert waren:

»Danke, Sir, das beruhigt mich. Sind Sie Engländer?«

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, und sie realisierte, dass sie ihn mit ihrer Zuordnung zur früheren Kolonialmacht wahrscheinlich bis aufs Blut beleidigt hatte. »Äh, oder … Chinese, vielleicht?«

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin Hongkong-Chinese. Und Sie, Fräulein?«

Kaja Solness überlegte einen Augenblick lang, ob sie sich als Hokksund-Norwegerin vorstellen sollte, beschränkte sich dann aber auf die einfache Auskunft »Norwegerin«, worüber der Chinese eine Weile nachdachte, ehe er beinahe triumphierend ausrief: »Aha, Skandinavierin.« Dann fragte er sie, was sie in Hongkong wolle.

»Einen Mann finden«, antwortete sie und starrte auf die blaugrauen Wolken, in der Hoffnung, der feste Boden würde sich bald offenbaren.

»Aha«, wiederholte der Chinese. »Sie sind sehr hübsch, Fräulein. Und glauben Sie es ja nicht, wenn man Ihnen erzählt, dass sich Chinesen nur mit Chinesen verheiraten.«

Sie lächelte matt. »Sie meinen Hongkong-Chinesen?«

»Besonders die Hongkong-Chinesen«, nickte er eifrig und zeigte ihr seine Finger, an denen kein Ring steckte. »Ich mache in Mikrochips, meine Familie hat Fabriken in China und Südkorea. Was haben Sie heute Abend vor?«

»Schlafen, hoffe ich«, erwiderte Kaja mit einem Gähnen.

»Und morgen?«

»Da habe ich ihn hoffentlich schon gefunden und bin wieder auf dem Weg nach Hause.«

Der Mann runzelte die Stirn. »Sie haben es aber sehr eilig, Fräulein.«

Kaja schlug das Angebot des Mannes aus, sie mit in die Stadt zu nehmen, und stieg stattdessen in einen Doppeldeckerbus. Eine Stunde später stand sie auf einem Flur des Empire Kowloon Hotels und atmete tief durch. Sie hatte die Schlüsselkarte in die Tür des Zimmers gesteckt, das man ihr zugewiesen hatte, und musste nur noch die Tür öffnen. Sie zwang ihre Hand, die Klinke nach unten zu drücken. Dann riss sie die Tür mit einem Ruck auf und starrte in den Raum.

Es war niemand da.

Natürlich nicht.

Sie trat ein, ließ den Rollkoffer neben dem Bett stehen, stellte sich ans Fenster und blickte nach draußen. Zuerst nach unten auf das Gewimmel der Menschen, die siebzehn Stockwerke unter ihr über die Straße hasteten, dann auf die Wolkenkratzer, die in keiner Weise ihren graziösen oder wenigstens pompösen Schwestern in Manhattan, Kuala Lumpur oder Tokio glichen. Sie sahen aus wie Termitenhügel, gleichermaßen abschreckend und beeindruckend, und waren groteske Zeugen der Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen, wenn sieben Millionen Einwohner auf einer Fläche von etwas mehr als hundert Quadratkilometern Platz finden müssen. Kaja spürte, wie die Müdigkeit sie übermannte, streifte die Schuhe ab und ließ sich auf das Bett fallen. Obwohl sie in einem Doppelzimmer eines Viersternehotels lag, nahm das einhundertzwanzig Zentimeter breite Bett fast die gesamte Bodenfläche des Zimmers ein. Skeptisch fragte sie sich, wie sie zwischen diesen Termitenhügeln eine bestimmte Person finden sollte, noch dazu einen Mann, der allem Anschein nach nicht sonderlich daran interessiert war, gefunden zu werden.

Sie wog einen Moment lang ihre Möglichkeiten ab: die Augen zu schließen oder loszulegen. Dann riss sie sich zusammen und stand wieder auf. Zog ihre Kleider aus und ging unter die Dusche. Anschließend stand sie vor dem Spiegel und stellte ohne Selbstbeweihräucherung fest, dass der Hongkong-Chinese recht hatte: Sie war hübsch. Das war nicht nur ihre Meinung, sondern eine Tatsache, wenn Schönheit denn überhaupt irgendwie messbar war. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den rabenschwarzen und markanten, elegant geformten Augenbrauen. Die beinahe kindlich großen, grünen Augen strahlten in der für eine reife, junge Frau typischen Intensität. Das honigbraune Haar und die vollen Lippen ihres breiten Mundes. Der lange, schlanke Hals, der ebenso schlanke Körper mit den kleinen Brüsten, die sich wie sanfte Hügel, wie Wellen auf einer perfekten Meeresoberfläche auf der winterbleichen Haut erhoben. Die sanften Rundungen ihrer Hüften und die langen Beine, die gleich zwei Modelscouts aus Oslo bewogen hatten, sich auf die Reise zu ihr nach Hokksund zu machen, wo sie zur Schule gegangen war, und die ihr Nein nur kopfschüttelnd akzeptiert hatten. Am meisten freute sie jedoch, was einer der Scouts beim Abschied zu ihr gesagt hatte: »Okay, Schätzchen, aber denk dran, du bist keineperfekteSchönheit. Deine Zähne sind zu klein und spitz. Du solltest nicht so viel lächeln.«

Nach diesem Kommentar war ihr das Lächeln leichter gefallen als je zuvor.

Kaja zog eine khakifarbene Hose und eine dünne Regenjacke an und schwebte schwerelos und still mit dem Aufzug hinunter zur Rezeption.

»Chungking Mansion?«, fragte der Mann am Empfang und zog eine Augenbraue hoch, als er ihr den Weg erklärte: »Kimberley Road bis zur Nathan Road und dann nach links.«

Alle Pensionen und Hotels der Interpol-Mitgliedsstaaten waren verpflichtet, ausländische Gäste zu registrieren, doch als Kaja den norwegischen Botschaftssekretär angerufen hatte, um die letzte Adresse zu überprüfen, unter der der Mann, den sie suchte, registriert gewesen war, hatte der Sekretär ihr erklärt, dass das Chungking Mansion weder ein Hotel noch einMansionim eigentlichen Sinn war. Es handelte sich eher um ein Konglomerat aus Läden, Imbissbuden, Restaurants und einer Vielzahl von gemeldeten und nicht gemeldeten Pensionen, die, auf vier riesige Hochhäuser verteilt, zwischen zwei und zwanzig Zimmer vermieteten. Bei den Zimmern reichte die Bandbreite von sauberen, einfachen Räumen bis hin zu Rattenlöchern und miesen Gefängniszellen. Aber das Wichtigste: Im Chungking Mansion konnte ein Mann, der keine allzu hohen Ansprüche an das Leben hatte, schlafen, essen, wohnen, arbeiten und sich vermehren, ohne jemals den Termitenhügel verlassen zu müssen.

In der Nathan Road, einer belebten Geschäftsstraße mit Markenboutiquen, glattpolierten Fassaden und hohen Schaufenstern, fand Kaja das Eingangstor des Chungking. Und trat ein.

In einen Mix aus Gerüchen von Fast-Food-Küchen, den Hammerschlägen der Schuhmacher, dem Singsang der muslimischen Gebete, die aus den Radiolautsprechern schallten, und den müden Blicken der Secondhand-Verkäufer. Sie lächelte einem verwirrten Backpacker mit einem Lonely-Planet-Reiseführer in der Hand zu, dessen weiße, verfrorene Beine in allzu optimistischen Camouflageshorts steckten.

Ein uniformierter Wachmann warf einen Blick auf den Zettel, den Kaja ihm hinhielt, sagte »Lift C« und zeigte den Korridor hinunter.

Vor dem Aufzug war der Andrang so groß, dass sie erst beim dritten Mal mitkam, und dann stand sie dicht gedrängt in dem knackenden, ruckelnden Blechkasten und musste daran denken, dass die Zigeuner ihre Toten stehend begruben.

Der Besitzer der Pension, ein turbantragender Muslim, zeigte ihr enthusiastisch einen winzigen Raum, der einem Verschlag glich, auf wundersame Weise aber Platz für ein Bett, einen an der Wand über dem Fußende des Bettes installierten Fernseher und eine gurgelnde Klimaanlage an der Kopfseite bot. Seine Begeisterung sank merklich, als sie seine Präsentation unterbrach, ihm das Foto eines Mannes zeigte, den Namen nannte, der im Pass des Gesuchten angeführt war, und sich nach seinem Verbleib erkundigte.

Als Kaja seine Reaktion bemerkte, fügte sie eilig hinzu, dass sie die Frau dieses Mannes sei.

Der Botschaftssekretär hatte ihr zuvor erklärt, in Chungking sei es sinnlos und eher kontraproduktiv, mit dem Ausweis einer offiziellen Stelle herumzuwedeln. Als Kaja sicherheitshalber noch hinzufügte, sie habe fünf Kinder mit dem Mann auf dem Bild, änderte sich die Haltung des Pensionsbesitzers radikal. Ein junger, westlicher Ungläubiger, der bereits so viele Kinder in die Welt gesetzt hatte, verdiente seinen Respekt. Er seufzte tief, schüttelte den Kopf und sagte in beklagendem Stakkato-Englisch: »Traurig, traurig, Fräulein. Sie haben ihm den Pass abgenommen.«

»Wer?«

»Wer? Na, die Triaden, Fräulein. Für so etwas sind immer die Triaden verantwortlich.«

»Die Triaden?«

Natürlich war ihr die chinesische Mafia-Organisation ein Begriff, aber in ihrer Vorstellung existierte sie nur in Zeichentrickfilmen oder Karatestreifen und vielleicht noch in Büchern.

»Setzen Sie sich, Fräulein.« Er zog eilig einen Stuhl heran, auf dem sie Platz nahm. »Sie haben nach ihm gesucht, aber er war weg, und da haben sie seinen Pass mitgenommen.«

»Seinen Pass? Warum?«

Er zögerte.

»Bitte, ich muss es wissen!«

»Ich fürchte, Ihr Mann war beim Pferderennen.«

»Pferderennen?«

»Happy Valley. Auf der Galopprennbahn. Das ist eine schreckliche Unsitte.«

»Er hat Spielschulden? Bei den Triaden?«

Er nickte und schüttelte dann mehrmals den Kopf, um sein Bedauern auszudrücken.

»Und sie haben ihm den Pass abgenommen?«

»Er muss seinen Pass zusammen mit den Schulden zurückkaufen, wenn er aus Hongkong wegwill.«

»Er kann sich doch einfach beim norwegischen Konsulat einen neuen beschaffen!«

Der Turban bewegte sich von einer Seite zur anderen. »Schon. Man kann sich hier in Chungking für achtzigUS-Dollar auch einen machen lassen. Aber der Pass ist nicht das eigentliche Problem. Bedenken Sie, gute Frau, Hongkong ist eine Insel. Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Mit dem Flugzeug.«

»Und wie wollen Sie wieder abreisen?«

»Ebenfalls mit dem Flugzeug.«

»Ein Flughafen. Tickets. Alle Namen im Computer gespeichert. Viele Kontrollpunkte. Nicht wenige, die auf dem Flughafen arbeiten, bekommen ein kleines Zubrot von den Triaden, damit sie Gesichter wiedererkennen. Verstehen Sie?«

Sie nickte langsam. »Sie meinen, es ist nicht so leicht, hier wegzukommen.«

Der Besitzer schüttelte lachend den Kopf. »Nein, es ist unmöglich. Aber man kann sich in Hongkong verstecken. Sieben Millionen Einwohner. Da ist es leicht, unterzutauchen.«

Kaja spürte den Schlafmangel und schloss die Augen. Der Besitzer schien das misszuverstehen, jedenfalls legte er ihr tröstend die Hand auf die Schulter und murmelte: »Ja, ja.«

Nach einem kurzen Zögern beugte er sich vor und flüsterte: »Gute Frau, ich glaube, er ist noch immer hier.«

»Ja, das habe ich verstanden.«

»Nein, ich meine, hier im Chungking. Ich habe ihn gesehen.«

Sie hob den Kopf.

»Zweimal«, sagte er. »Bei Liy Yuan. Er isst dort. Billigen Reis. Sagen Sie niemandem, dass Sie das von mir haben. Ihr Mann ist ein guter Mann. Aber er steckt in Schwierigkeiten.«

Er verdrehte die Augen, so dass sie beinahe unter seinem Turban verschwanden. »Großen Schwierigkeiten.«

Das Li Yuan waren ein Tresen, vier Plastiktische und ein Chinese, der ihr aufmunternd zulächelte, als sie nach sechs Stunden Warten, zwei Portionen gebratenem Reis, drei Kaffee und zwei Litern Wasser aus dem Schlaf aufschrak, den Kopf von der fettigen Tischplatte nahm und ihn anstarrte.

»Tired?«, fragte er lachend und zeigte ihr eine unvollständige Zahnreihe.

Kaja gähnte, bestellte ihre vierte Tasse Kaffee und wartete weiter. Zwei Chinesen kamen und setzten sich wortlos an den Tresen, ohne etwas zu bestellen. Sie würdigten sie keines Blickes, was ihr nur recht war. Ihr Körper war von der endlosen Sitzerei der letzten Stunden, seit sie in Norwegen abgeflogen war, so steif, dass sie Schmerzen hatte, welche Haltung auch immer sie einnahm. Sie neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, um ihren Kreislauf ein bisschen in Gang zu bringen. Dann legte sie ihn von einem Knacken begleitet in den Nacken und starrte in die bläulich weißen Neonröhren an der Decke, ehe sie den Kopf wieder nach vorne nahm und direkt in ein sonnenverbranntes, gehetztes Gesicht starrte. Er war vor einer der herabgelassenen Stahlrollläden im Gang stehen geblieben und scannte Li Yuans kleines Etablissement mit den Augen. Sein Blick blieb an den beiden Chinesen am Tresen hängen. Er hastete weiter.

Kaja rappelte sich auf, aber ein Bein war eingeschlafen und gab unter ihr nach. Sie nahm ihre Tasche und hinkte, so schnell sie konnte, dem Mann hinterher.

»Welcome back«, hörte sie Li Yuan hinter sich rufen.

Wie dünn er aussah. Auf den Bildern war er breit und groß gewesen, und in der Talkshow im Fernsehen hatte der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ausgesehen wie für Pygmäen gemacht. Trotzdem zweifelte sie keine Sekunde daran, dass er es war: der kurzgeschorene, etwas eckige Schädel, die markante Nase, die Augen mit dem Spinnennetz feiner Adern und die alkoholumspülte, hellblaue Iris. Das entschlossene Kinn mit dem überraschend milden, beinahe schönen Mund.

Sie hinkte auf die Nathan Road und erblickte im Schein der Leuchtreklamen die Rückseite einer Lederjacke, die aus der Menschenmenge herausragte. Er ging nicht schnell, trotzdem musste sie fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Als er von der belebten Geschäftsstraße in eine engere Straße mit weniger Menschen abbog, vergrößerte sie den Abstand zu ihm. Aus den Augenwinkeln registrierte sie das Straßenschild, Melden Row. Sie war versucht, einfach zu ihm zu gehen und sich vorzustellen, um es hinter sich zu bringen. Aber sie wollte nach Plan vorgehen: Zuerst musste sie herausfinden, wo er wohnte. Es hatte zu regnen aufgehört, und plötzlich rissen die Wolken auf und offenbarten einen hohen, samtschwarzen Himmel mit stecknadelkopfgroßen, blinkenden Sternen.

Nach etwa zwanzig Minuten blieb er plötzlich an einer Ecke stehen, so dass Kaja schon fürchtete, entdeckt worden zu sein. Aber er drehte sich nicht um, sondern zog etwas aus seiner Jackentasche, das sie etwas verwirrte. Eine Saugflasche?

Dann bog er ab.

Kaja folgte ihm auf einen offenen, überlaufenen Platz, der hauptsächlich von jungen Menschen bevölkert war und an dessen Ende ein Schild mit englischer und chinesischer Schrift über einer breiten Glastür leuchtete. Kaja erkannte die Titel einiger aktueller Filme wieder, die sie auch verpassen würde. Ihr Blick fand seine Lederjacke gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er die Saugflasche auf den niedrigen Sockel einer Bronzeskulptur stellte, die einen Galgen mit einer leeren Schlinge darstellte. Er ging an zwei besetzten Bänken vorbei, nahm auf der dritten Platz und holte eine Zeitung hervor. Nach etwa zwanzig Sekunden stand er wieder auf, ging zurück zur Skulptur, griff im Vorbeigehen nach der Flasche, steckte sie in die Jackentasche und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.

Es hatte wieder zu regnen begonnen, als sie ihn zum Chungking Mansion abbiegen sah. Sie sann darüber nach, wie sie das Gespräch mit ihm beginnen sollte. Vor dem Aufzug war jetzt kein Gedränge mehr, trotzdem nahm er die Treppe ins darüberliegende Stockwerk, bog nach rechts ab und verschwand durch eine Drehtür. Sie hastete hinter ihm her und fand sich plötzlich in einem verfallenen, menschenleeren Treppenhaus wieder, in dem es aufdringlich nach Katzenpisse und nassem Beton stank. Sie hielt den Atem an und lauschte dem klatschenden Aufprallen von Tropfen. Als sie gerade nach oben gehen wollte, hörte sie unter sich eine Tür ins Schloss fallen. Sie rannte die Treppe hinunter und blieb vor einer verbeulten Metalltür stehen, der einzig möglichen Quelle für dieses Geräusch. Sie legte die Hand auf die Klinke, spürte das Zittern kommen, schloss die Augen und fluchte innerlich. Dann riss sie die Tür auf und trat ins Dunkel, das hieß ins Freie.

Etwas huschte über ihre Füße, aber weder schrie sie, noch rührte sie sich.

Im ersten Augenblick glaubte sie, in einem Fahrstuhlschacht gelandet zu sein, doch als sie nach oben sah, erblickte sie rußschwarze Wände, von einem Wirrwarr aus Rohren, Leitungen, verdrehten Metallstümpfen und eingestürzten, verrosteten Gerüsten überzogen. Es war kein Innenhof, bloß ein wenige Quadratmeter großer Lichtschacht zwischen zwei Hochhäusern. Licht fiel nur durch ein kleines Viereck hoch oben ein, in dem die Sterne blinkten. Trotz des wolkenlosen Himmels tröpfelte Wasser auf ihr Gesicht. Erst nach einer Weile ging ihr auf, dass es sich dabei um das Kondenswasser der zahllosen rostigen Air-Condition-Kästen handeln musste, die an den Wänden befestigt waren. Sie wich ein paar Schritte zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Metalltür.

Wartete.

Schließlich hörte sie aus dem Dunkel: »What do you want?«

Seine Stimme überraschte Kaja. Sie hatte sie nie zuvor in realiter gehört, außer in der Talkshow zum Thema Serienmörder. Die müde Heiserkeit ließ ihn älter klingen als die knapp vierzig Jahre, die er war. Gleichzeitig strahlte seine Stimme aber auch eine gelassene, selbstbewusste Ruhe aus, die so wenig zu dem gejagten Gesichtsausdruck passte, der ihr draußen bei Li Yuan aufgefallen war. Sie war tief und warm.

»Ich bin aus Norwegen«, sagte sie. Keine Antwort.

Sie schluckte, wusste, dass ihre ersten Worte entscheidend sein konnten.

»Ich heiße Kaja Solness. Ich habe den Auftrag, Sie zu finden. Im Namen von Gunnar Hagen.«

Auch der Name des Dezernatsleiters für Gewaltverbrechen führte zu keinerlei Reaktion. War er noch da?

»Ich arbeite als Mordermittlerin für Hagen«, sagte sie ins Dunkel.

»Gratuliere.«

»Da gibt es nichts zu gratulieren. Jedenfalls nicht, wenn Sie in den letzten Monaten norwegische Zeitungen gelesen haben.« Sie hätte sich die Zunge abbeißen können. Wieso versuchte sie, witzig zu sein? Bestimmt lag das am Schlafmangel. Oder ihrer Nervosität.

»Ich meinte, gratuliere, dass Sie Ihren Auftrag so gut erledigt haben«, sagte die Stimme. »Sie haben mich gefunden. Jetzt können Sie wieder abreisen.«

»Moment!«, rief sie. »Wollen Sie nicht wissen, was ich von Ihnen will?«

»Lieber nicht.«

Aber die Worte, die sie sich notiert und eingeübt hatte, sprudelten bereits aus ihr hervor: »Zwei Frauen wurden getötet. Die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin deuten darauf hin, dass es sich um denselben Täter handelt. Darüber hinaus haben wir keinen einzigen Anhaltspunkt. Auch wenn bislang nur ein Minimum an die Presse durchgesickert ist, titeln sie bereits damit, dass ein neuer Serienmörder sein Unwesen treibt. Vereinzelt wird sogar geschrieben, der Schneemann könne ihn inspiriert haben. Wir haben eine Expertise von Interpol anfertigen lassen, die uns allerdings nicht weitergebracht hat. Der Druck der Medien und der Behörden …«

»Das bedeutet nein«, sagte die Stimme.

Eine Tür knallte.

»Hallo? Hallo? Sind Sie da?«

Sie tastete sich vor und fand eine Tür. Öffnete sie, bevor die Angst von ihr Besitz ergreifen konnte, und stand in einem anderen dunklen Treppenhaus. Weiter oben sah sie einen Lichtschimmer und lief die Treppe, drei Stufen auf einmal nehmend, hoch. Das Licht fiel durch eine Schwingtür. Sie öffnete sie und fand sich in einem einfachen, nackten Flur wieder. An den Wänden blätterte der Putz, und die Feuchtigkeit quoll wie Mundgeruch aus den Mauern. An der Wand lehnten zwei Männer. Sie hatten Zigaretten in den Mundwinkeln. Ein süßlicher Geruch strömte ihr entgegen. Die beiden sahen sie benebelt an. Zu benebelt, hoffte sie. Der Kleinere der beiden war schwarz, vermutlich afrikanischer Herkunft, dachte sie. Der Größere war weiß und hatte eine pyramidenförmige Narbe auf der Wange, die wie ein Warndreieck leuchtete. Sie hatte in einer Polizeizeitschrift gelesen, dass in Hongkong gut dreißigtausend Polizisten auf den Straßen Streife gingen und dass die Stadt deshalb als die sicherste Millionenstadt der Welt galt. Aber das war draußen auf den Straßen.

»Looking for hashish, lady?«

Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln und die Ratschläge zu befolgen, die sie den jungen Mädchen gegeben hatte, als sie noch von Schule zu Schule gefahren war. Sie musste wirken, als wüsste sie, wohin sie wollte, und nicht wie jemand, der sich verlaufen hatte. Nicht wie ein Beutetier.

Sie erwiderten ihr Lächeln. Die einzige andere Tür des Korridors war zugemauert. Sie nahmen die Hände aus den Hosentaschen und die Zigaretten aus den Mundwinkeln.

»Looking for fun, then?«

»Wrong door, that’s all«, sagte sie und machte kehrt, da legte sich eine Hand um ihr Handgelenk. Die Angst schmeckte metallisch. In der Theorie kannte sie diese Situation. Hatte sie auf einer Gummimatte in einer hellerleuchteten Sporthalle trainiert, umgeben von Übungsleitern und Kollegen.

»Right door, lady. Right door. Fun is this way.« Der Atem, der ihr entgegenschwappte, stank nach Fisch, Zwiebeln und Marihuana. In der Sporthalle hatte sie nur einen Widersacher gehabt.

»No thanks«, sagte sie mit bemüht fester Stimme.

Der Schwarze trat neben sie, packte auch ihr anderes Handgelenk und sagte mit sich überschlagender Stimme: »We will show you.«

»Only there’s not much to see, is there?«

Alle drei drehten sich zur Schwingtür um.

In seinem Pass war von 193 Zentimetern die Rede, doch in dieser nach Hongkong-Maßen gemauerten Türöffnung sah er mindestens wie zwei Meter zehn aus. Und doppelt so breit wie noch eine Stunde zuvor. Die Arme hingen entspannt an den Seiten des Körpers herunter, und er rührte sich nicht, starrte nicht, wurde nicht laut. Er blickte einfach ruhig auf den Weißen und wiederholte:

»Is there, jau-ye?«

Sie spürte, wie der Griff des Weißen abwechselnd lockerer und wieder fester wurde, während der Schwarze von einem Fuß auf den anderen trat.

»Ng-goy«, sagte der Mann in der Türöffnung.

Sie merkte, wie ihre Handgelenke zögernd freigegeben wurden.

»Komm«, sagte er und fasste sie leicht unter dem Oberarm.

Ihre Wangen glühten, als sie durch die Tür gingen, sie schämte sich wegen der Trägheit ihres Gehirns und auch, weil sie es ihm so bereitwillig überlassen hatte, sie aus den Fängen dieser zwei Haschdealer zu befreien, die sie vermutlich nur ein bisschen erschrecken wollten.

Er führte sie zwei Etagen nach oben und durch eine weitere Schwingtür. Dann stellte er sie vor einen Aufzug, drückte den Knopf mit dem Pfeil nach unten, stellte sich neben sie und heftete seinen Blick auf die leuchtende »11« über der Aufzugtür. »Gastarbeiter«, sagte er. »Sie sind allein und langweilen sich nur.«

»Ich weiß«, sagte sie trotzig.

»Drück G fürground floor,und unten gehst du nach rechts und dann immer geradeaus, bis du auf die Nathan Road kommst.«

»Bitte, hör mich an. Du bist der Einzige im Dezernat, der sich mit Serientätern auskennt. Du hast den Schneemann gefasst.«

»Stimmt«, sagte er. Tief in seinem Blick ahnte sie eine unbestimmte Bewegung, dann fuhr er sich mit dem Finger über den Kiefer und unter dem rechten Auge entlang. »Und danach habe ich gekündigt.«

»Gekündigt? Dienstfrei genommen, meinst du wohl.«

»Gekündigt, wie in Schluss gemacht.«

Erst jetzt bemerkte sie, dass sein Kieferknochen vorstand.

»Gunnar Hagen behauptet, dir vor deiner Abreise vor sechs Monaten offiziell dienstfrei gegeben zu haben – bis auf weiteres.«

Der Mann lächelte, und Kaja war verblüfft über die totale Veränderung, die sein Gesicht dabei durchmachte: »Das ist nur, weil Hagen es einfach nicht kapieren will …« Er hielt inne, und das Lächeln verschwand. Sein Blick richtete sich auf die Zahl auf dem Fahrstuhldisplay. Dort leuchtete eine Fünf.

»Wie auch immer, ich arbeite nicht mehr für die Polizei.«

»Wir brauchen dich …« Sie holte tief Luft. Wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte, aber handeln musste, bevor er wieder abtauchte. »Und du brauchst uns.«

Sein Blick richtete sich auf sie. »Wie zum Teufel kommst du darauf?«

»Du schuldest den Triaden Geld. Du kaufst mit einer Saugflasche Dope auf der Straße. Du wohnst …« Sie schnitt eine Grimasse. »… hier. Und du hast keinen Pass.«

Ein Pling ertönte, die Fahrstuhltür öffnete sich knirschend, und muffig warme Luft strömte ihr von den Körpern drinnen entgegen.

»Den nehme ich nicht!«, sagte Kaja lauter als beabsichtigt und bemerkte die Gesichter, die sie mit einer Mischung aus Ungeduld und offensichtlicher Neugier ansahen.

»Doch, das tust du«, sagte er, legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie vorsichtig, aber bestimmt in den Fahrstuhl. Augenblicklich war sie von Körpern umschlossen, die es ihr unmöglich machten, sich zu rühren oder umzudrehen. Sie wandte ihren Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite, um zu sehen, wie sich die Türen schlossen.

»Harry!«, rief sie.

Aber er war bereits verschwunden.

KAPITEL 4

Sex Pistols

Der alte Pensionsinhaber legte nachdenklich den Zeigefinger unmittelbar unterhalb des Turbans an die Stirn und musterte sie lange. Dann griff er zum Telefonhörer, wählte eine Nummer, sagte ein paar arabische Worte und legte wieder auf. »Warten«, sagte er. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

Kaja nickte lächelnd.

Sie saßen sich an dem schmalen Tisch gegenüber, der den Rezeptionstresen darstellte, und sahen sich an.

Dann klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab, hörte zu und legte wieder auf, ohne selbst etwas gesagt zu haben.

»150000 Dollar«, sagte er.

»150000?«, wiederholte sie ungläubig.

»Hongkong-Dollar, Fräulein.«

Kaja rechnete im Kopf nach. Das machte etwa 130000 norwegische Kronen. Das Doppelte ihres Verfügungsrahmens.

Sie fand ihn kurz nach Mitternacht, da war sie bereits vierzig Stunden auf den Beinen. Seit drei Stunden suchte sie den H-Block ab, hatte im Kopf eine innere Karte gezeichnet und systematisch alle Unterkünfte überprüft, Cafés, Straßenküchen, Massageclubs und Gebetsräume, bis sie zu den billigsten Unterkünften kam, den großen Schlafsälen, in denen die Gastarbeiter aus Afrika und Pakistan logierten, die keine eigenen Zimmer hatten, sondern bloß abgetrennte Bereiche ohne Fernseher, Klimaanlage oder jegliches Privatleben. Der schwarze Nachtportier, der Kaja einließ, starrte lange auf das Bild, das sie ihm zeigte, und noch länger auf den Hundertdollarschein, mit dem sie ihm vor der Nase herumwedelte, ehe er ihn nahm und auf eine der Kabinen zeigte.

Harry Hole, dachte sie. Got you.

Er lag auf dem Rücken auf einer Matratze und atmete beinahe lautlos. Eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn, und der unter dem rechten Ohr vorstehende Kieferknochen zeichnete sich im Schlaf noch deutlicher ab. Aus den anderen Kabinen hörte sie hustende und schnarchende Männer. Wasser tropfte von der Decke und klatschte mit hohlen, missmutigen Seufzern auf den Steinboden. In dem kalten, bläulichen Licht der Neonröhren an der Rezeption, das durch die Öffnung des Vorhangs in die Kabine fiel, erkannte sie vor dem Fenster einen Kleiderschrank, daneben einen Stuhl und auf dem Boden neben der Matratze eine Plastikflasche mit Wasser. Ansonsten war der Raum leer. Es roch bittersüß wie nach verbranntem Gummi. Rauch stieg von einer heruntergebrannten Kippe in einem Aschenbecher auf, der neben der Saugflasche am Boden stand. Als sie sich auf den Stuhl setzte, bemerkte sie einen fettigen, gelblich braunen Klumpen in seiner Hand. Kaja hatte während ihrer Arbeit als Streifenpolizistin genug Hasch gesehen, um sicher zu sein, dass es das nicht war.

Es war beinahe zwei Uhr, als er aufwachte.

Zuerst nahm sie nur die minimale Veränderung seines Atemrhythmus wahr. Dann leuchtete im Dunkeln das Weiße seiner Augen auf.

»Rakel?«, flüsterte er und schlief wieder ein.

Eine halbe Stunde später schlug er abrupt die Augen auf, zuckte zusammen, warf sich herum und griff nach etwas, das er unter der Matratze aufbewahrte.

»Ich bin’s«, flüsterte Kaja. »Kaja Solness.«

Der Körper vor ihr erstarrte mitten in der Bewegung, dann kollabierte er und fiel schwer zurück auf die Matratze.

»Verdammt, was willst du hier?«, stöhnte er mit belegter Stimme.

»Dich holen«, sagte sie.

Er lachte leise und mit geschlossenen Augen. »Mich holen? Gibst du nie auf?«

Sie holte einen Umschlag hervor, beugte sich hinunter und öffnete ihn. Er schlug die Augen auf.

»Ein Flugticket«, sagte sie. »Nach Oslo.«

Die Augen schlossen sich wieder. »Danke, aber ich bleibe hier.«

»Wenn ich dich finden kann, können die das auch.«

Er antwortete nicht. Sie wartete, lauschte auf seinen Atem und das Seufzen des tropfenden Wassers. Schließlich sah er sie an, rieb sich den rechten Kieferknochen und stemmte sich auf die Ellenbogen:

»Hast du ’ne Kippe?«

Sie schüttelte den Kopf. Er warf die Decke zur Seite, stand auf und trat an den Kleiderschrank. Dafür, dass er sich bereits ein halbes Jahr im subtropischen Klima aufhielt, war er überraschend blass. Auf dem Rücken zeichneten sich seine Rippen ab. Vermutlich hatte er mal einen athletischen Körperbau gehabt, doch das, was von seinen Muskeln noch übrig war, war nur als Schatten unter der weißen Haut zu erkennen. Als er den Kleiderschrank öffnete, bemerkte Kaja überrascht, dass er seine Kleider sorgsam zusammengefaltet hatte. Er zog ein T-Shirt und eine Jeans an, dieselben Sachen, die er tags zuvor getragen hatte, und fischte mit Mühe eine Zigarette aus einem zerknüllten Päckchen.

Dann stieg er in ein Paar Flip-Flops und zündete die Zigarette an.

»Komm«, sagte er leise. »Essenszeit.«

Es war halb drei Uhr nachts. Graue Stahlrollläden waren vor den Läden und Snackbars von Chungking heruntergelassen. Nur bei Li Yuan nicht.

»Wie bist du eigentlich nach Hongkong gekommen?«, fragte Kaja und betrachtete Harry, der sich nicht gerade elegant, aber äußerst effektiv die glänzenden Glasnudeln aus der weißen Suppenschale in den Mund schaufelte.

»Geflogen. Frierst du?«

Kaja zog unwillkürlich die Hände unter ihren Schenkeln weg. »Schon klar, aber warum hierher?«

»Ich war auf dem Weg nach Manila. Hongkong war eigentlich nur eine Zwischenlandung.«

»Die Philippinen. Und was wolltest du dort?«

»Mich in einen Vulkan stürzen.«

»In welchen?«

»Tja, kennst du einen mit Namen?«

»Nein, aber ich habe gelesen, dass es viele gibt. Liegen nicht einige davon … auf Luzon?«

»Nicht schlecht. Insgesamt gibt es achtzehn Vulkane, und drei davon befinden sich auf der Inselgruppe Luzon. Ich wollte auf den Mount Mayon. Zweieinhalbtausend Meter. Ein Stratovulkan.«

»Ein Vulkan mit steilen Flanken, gebildet aus immer neuen Schichten Lava.«

Harry hörte zu essen auf und sah sie an. »Ausbrüche in jüngerer Zeit?«

»Viele. Dreißig?«

»In der Personalakte steht etwas von 47 seit 1616. Zuletzt 2002. Er steht im Verdacht, etwa dreitausend Leute auf dem Gewissen zu haben.«

»Was ist passiert?«

»Es hatte sich Druck aufgebaut.«

»Ich meine mit dir.«

»Ich rede von mir.« Sie glaubte, die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen zu erkennen. »Ich bin rückfällig geworden, habe im Flugzeug angefangen, Schnaps zu trinken. In Hongkong haben sie mich aufgefordert, von Bord zu gehen.«

»Es gibt viele Flüge nach Manila.«

»Mir ist klargeworden, dass Manila, mal abgesehen von den Vulkanen, auch nicht besser ist als Hongkong.«

»In welcher Beziehung besser?«

»Weiter weg von Norwegen.«

Kaja nickte. Sie hatte die Schneemann-Akte gelesen.

»Und das Wichtigste«, sagte er und deutete mit seinen Stäbchen auf die Schale, »hier gibt es Li Yuans Glasnudeln. Probier sie mal. Die sind Grund genug, sich um die hiesige Staatsbürgerschaft zu bemühen.«

»Die und Opium?«

Normalerweise war sie nicht so direkt, sie wusste aber, dass sie ihre angeborene Zurückhaltung aufgeben musste, wenn sie zu Ende bringen wollte, weshalb sie gekommen war.

Er zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf seine Glasnudeln.

»Rauchst du das Zeug regelmäßig?«

»Unregelmäßig.«

»Und warum tust du das?«

Er antwortete mit vollem Mund. »Um nicht zu trinken. Ich bin Alkoholiker. Das ist übrigens noch ein Vorteil von Hongkong gegenüber Manila. Kein so hohes Strafmaß bei Drogen. Und sauberere Gefängnisse.«

»Von dem Alkohol wusste ich, aber bist du drogenabhängig?«

»Definier drogenabhängig.«

»Brauchst du dieses Zeug?«

»Nein, aber ich will es haben.«

»Warum?«

»Betäubung. He, Solness, das klingt wie ein Vorstellungsgespräch für einen Job, den ich gar nicht haben will. Hast du schon mal Opium geraucht?«

Kaja schüttelte den Kopf. Auf einer Rucksacktour durch Südamerika hatte sie mal Marihuana probiert. Aber auch das hatte sie nicht begeistert.

»Die Chinesen schon. Vor zweihundert Jahren importierten die Briten Opium aus Indien, um ihre Handelsbilanz zu verbessern, und haben so halb China zu Junkies gemacht.« Er schnippte mit den Fingern. »Und als die chinesischen Behörden verständlicherweise das Opium verboten, erklärten die Briten ihnen den Krieg, um China weiterhin mit Dope zu überschwemmen. Stell dir mal vor, Kolumbien würde New York bombardieren, weil die Amerikaner an der Grenze das Kokain beschlagnahmen.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Dass ich es für meine Pflicht als Europäer halte, einen Teil der Scheiße, die wir in dieses Land gebracht haben, aufzurauchen.«

Kaja lachte, ohne es zu wollen. Sie brauchte wirklich Schlaf.

»Ich bin dir gefolgt, als du dir die Drogen beschafft hast«, sagte sie. »Ich habe gesehen, wie ihr das macht. Es war Geld in der Saugflasche, als du sie abgestellt hast, und hinterher war da Opium drin, nicht wahr?«

»Hm«, sagte Harry, den Mund voller Nudeln. »Hast du mal im Drogendezernat gearbeitet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum eine Saugflasche?«

Harry streckte die Arme über den Kopf. Die Suppenschale vor ihm war leer. »Opium riecht extrem stark. Wenn du das einfach so in die Hosentasche steckst oder in Folie wickelst, spüren die Drogenhunde dich sogar in einer großen Menschenmenge auf. Und auf Saugflaschen ist kein Pfand, da riskiert man nicht, dass einem irgendein Kind oder Besoffener die Flasche während des Handels wegschnappt. Mit anderen Flaschen ist das schon vorgekommen.«

Kaja nickte langsam. Er fing an, sich zu entspannen, sie war also auf dem richtigen Weg. Jeder, der seine Sprache ein halbes Jahr lang nicht mehr gesprochen hatte, wurde gesprächig, wenn er einen Landsmann traf. Das war ganz natürlich. Sie musste dranbleiben.

»Du magst Pferde?«

Er kaute auf einem Zahnstocher herum. »Eigentlich nicht. Die sind so fürchterlich launisch.«

»Aber trotzdem setzt du auf sie?«

»Das schon, aber ein Spieler bin ich nicht.«

Er lächelte, und wieder überraschte es sie, wie sehr ihn sein Lächeln veränderte, ihn menschlich machte, zugänglich, ja fast jungenhaft. Und sie dachte an das kleine Stück offenen Himmel über der Melden Row.

»Gambling ist auf lange Sicht eine schlechte Gewinnstrategie. Andererseits – wenn man nichts mehr zu verlieren hat, ist es die einzige Strategie. Ich habe bei einem Lauf alles gesetzt, was ich hatte, und noch ein bisschen mehr.«

»Du hast alles auf ein Pferd gesetzt?«

»Auf zwei. Eine Quinella. Dabei sucht man sich die zwei Pferde aus, die die ersten Plätze belegen sollen, egal welches der beiden gewinnt.«

»Und du hast dir Geld von den Triaden geliehen?«

Zum ersten Mal entdeckte sie Überraschung in Harrys Blick.

»Was bringt ein seriöses chinesisches Verbrecherkartell dazu, Geld an einen opiumrauchenden Ausländer zu verleihen, der nichts zu verlieren hat?«

»Nun«, sagte Harry und fischte sich eine Zigarette aus dem Päckchen. »Als Ausländer hat man in den ersten drei Wochen nach der Einreise Zugang zur VIP-Lounge der Happy-ValleyGalopprennbahn.« Er zündete die Zigarette an und blies den Rauch zum Deckenventilator, der sich so langsam drehte, dass die Fliegen darauf Karussell fuhren. »Es gibt eine Kleiderordnung, so dass ich mir einen Anzug nähen ließ. Die ersten zwei Wochen reichten aus, um auf den Geschmack zu kommen. Ich lernte Herman Kluit kennen, einen Südafrikaner, der in den Neunzigern in Afrika mit Mineralien ein Vermögen gemacht hat. Er hat mir gezeigt, wie man stilvoll einen Haufen Geld verliert. Das Konzept gefiel mir ganz einfach. Am Abend vor dem Rennen in der dritten Woche war ich bei ihm zum Essen eingeladen, wo er seine Gäste mit einer Vorführung seiner afrikanischen Folterinstrumente aus Goma unterhielt. Dabei habe ich einen Stalltipp von Kluits Chauffeur bekommen. Der Favorit eines Rennens sei verletzt, was geheim gehalten werde, weil er trotzdem starten sollte. Er war ein so klarer Favorit, dass man unmöglich Geld gewinnen konnte, wenn man auf diesen Gaul setzte. Dahingegen sei eine Menge Schotter zu verdienen, wenn man auf alle anderen setzte. Zum Beispiel mit einer Quinella. Aber man bräuchte natürlich ein gewisses Kapital, damit es sich lohnte. Kluit hat mir dank meines ehrlichen Gesichts und meines maßgeschneiderten Anzugs einen Kredit gewährt.« Harry starrte in die Glut der Zigarette und schien bei dem Gedanken zu lächeln.

»Und?«, fragte Kaja.

»Der Favorit gewann mit sechs Längen Vorsprung.« Harry zuckte mit den Schultern. »Als ich Kluit erklärte, dass ich vollkommen pleite wäre, sah er mich mit aufrichtigem Bedauern an und erklärte mir höflich, dass er sich als Geschäftsmann an seine Handelsprinzipien halten müsse. Er versicherte mir, dass diese Prinzipien keine Folterinstrumente aus dem Kongo einschlossen, sondern lediglich besagten, dass er meine Schulden mit Rabatt an die Triaden verkaufte. Was nicht viel besser sei, wie er selbst einräumte. Er wollte in meinem Fall aber 36 Stunden damit warten, damit ich eine Chance hätte, Hongkong zu verlassen.«

»Aber das hast du nicht gemacht?«

»Ich bin manchmal etwas schwer von Begriff.«

»Und danach?«

Harry breitete die Arme aus. »Das hier. Chungking.«

»Und deine Zukunftspläne?«

Harry grinste schief und summte: »No fu-ture, no fu-ture.«

»Wie bitte?«

»Sorry, du bist wohl etwas zu jung für die Sex Pistols.«

»Dann klär mich auf.«

»Nein.« Er drückte seine Zigarette aus. »Du weißt jetzt, was du wissen musst, Kaja Solness.«

»Wissen muss?« Sie runzelte die Stirn. »Das versteh ich nicht.«

»Nein?« Er stand auf. »Glaubst du, ich erzähl dir was über Opiummissbrauch und Schulden, weil ich ein einsamer Norweger bin, der eine Landsmännin getroffen hat?«

Sie antwortete nicht.

»Ich habe dir das alles erzählt, damit du endlich kapierst, dass ich nicht der Mann bin, den ihr braucht. Damit du nach Hause fahren kannst, ohne das Gefühl zu haben, deinen Job nicht ordentlich erledigt zu haben. Und damit du nicht in irgendwelchen Treppenhäusern in Schwierigkeiten gerätst und ich in Ruhe schlafen kann und mir keine Sorgen machen muss, dass du mir die Geldeintreiber auf den Hals hetzt.«

Sie sah ihn an. Die asketische Strenge, die er ausstrahlte, stand im Widerspruch zu dem Humor, der in seinen Augen aufblitzte und einem zuzuraunen schien, dass man nicht alles wörtlich nehmen durfte, was er sagte. Oder dass ihm wirklich alles scheißegal war.

»Warte!« Kaja öffnete ihre Tasche, nahm das kleine rote Büchlein heraus und reichte es ihm, wobei sie ihn genau beobachtete. Erstaunen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er durch die Seiten blätterte.

»He, verdammt, das sieht doch tatsächlich nach meinem Originalpass aus.«

»Das ist er.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass das Dezernat ein Budget für so etwas hat.«

»Deine Schulden sind im Kurs gesunken«, log sie. »Ich habe Rabatt bekommen.«

»Das hoffe ich für dich, denn ich habe wirklich nicht vor, mit zurück nach Oslo zu kommen.«

Kaja sah ihn lange an. Ihr graute davor. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie musste ihren letzten Trumpf ausspielen. Gunnar Hagen hatte ihr geraten, damit bis ganz zum Schluss zu warten, falls der Starrkopf sich von seiner sturen Seite zeigte.

»Da ist noch etwas«, sagte Kaja und nahm alle Kraft zusammen.

Eine Augenbraue von Harry hob sich, vielleicht war ihrem Tonfall schon etwas anzuhören.

»Es geht um deinen Vater, Harry.« Sie hörte, dass sie wie automatisch seinen Vornamen einfügte. Weil es ehrlich gemeint war und nicht bloß des Effektes wegen, redete sie sich selbst ein.

»Meinen Vater?« Es klang, als überraschte es ihn, überhaupt einen Vater zu haben.

»Ja, wir haben uns mit ihm in Verbindung gesetzt, er hätte ja wissen können, wo du bist, und dabei hat sich herausgestellt, dass er sehr krank ist.«

Sie starrte auf die Tischplatte.

Hörte ihn atmen. »Sehr krank?« Seine Stimme klang belegt.

»Ja. Und es tut mir leid, dass du das von mir erfahren musst.«

Sie wagte es noch immer nicht, den Blick zu heben. Lauschte dem Schnattern des kantonesischen Fernsehsenders hinter Li Yuans Tresen. Schluckte und wartete. Sie musste endlich schlafen.

»Wann geht der Flug?«

»Um acht«, sagte sie. »Ich hole dich in drei Stunden unten vor dem Eingang ab.«

»Nein, ich komm direkt zum Flughafen, ich hab hier noch ein paar Sachen zu erledigen.«

Er streckte ihr die offene Hand entgegen. Sie sah ihn fragend an. »Dafür brauche ich den Pass. Und du solltest was essen. Damit du ein bisschen Fleisch auf die Rippen kriegst.«

Sie zögerte. Dann reichte sie ihm den Pass und das Flugticket.

»Ich vertraue dir«, sagte sie.

Er sah sie ausdruckslos an.

Dann war er verschwunden.

Die Uhr über Gate C4 des Chek-Lap-Kok-Flughafens zeigte Viertel vor acht. Kaja hatte die Hoffnung aufgegeben. Selbstverständlich würde er nicht kommen. Es war ein natürlicher Reflex von Tieren und Menschen, sich zu verstecken, wenn sie verletzt waren, und Harry Hole war definitiv verletzt. Die Akten zum Schneemann-Fall gaben detailliert Auskunft über all die Morde an den Frauen. Doch damit nicht genug, Gunnar Hagen hatte ihr auch das erzählt, was nicht in den Akten stand. Nämlich wie Harry Holes Exlebensgefährtin Rakel und ihr Sohn Oleg in die Fänge des verrückten Mörders geraten waren und dass sie und ihr Sohn nach Abschluss des Falls sofort das Land verlassen hatten. Harry hatte Hagen daraufhin seine Kündigung auf den Tisch geknallt und war einfach gegangen. Seine Verletzungen waren schlimmer, als sie angenommen hatte.

Kaja hatte ihre Bordkarte vorgezeigt und war auf dem Weg zur Gangway. Sie dachte darüber nach, wie sie den Bericht über den missglückten Auftrag formulieren sollte, als sie ihn in dem schräg durch die Fenster fallenden Sonnenlicht durch das Terminal joggen sah. Er trug eine einfache Tasche über der Schulter, hatte eine Taxfree-Tüte in der Hand und sog frenetisch an einer Zigarette. Am Schalter blieb er stehen. Aber statt dem wartenden Personal seinen Pass zu geben, stellte er die Tasche ab und warf Kaja einen resignierten Blick zu.

Sie ging zurück zum Schalter.

»Probleme?«, fragte sie.

»Sorry«, sagte er. »Ich kann nicht mitkommen.«

»Warum nicht?«

Er zeigte auf die Taxfree-Tüte. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich nur eine Stange Zigaretten nach Norwegen ausführen darf, ich habe aber zwei. Also, wenn du nicht …« Er verzog keine Miene.

Sie verdrehte die Augen und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich freute. »Gib schon her.«

»Vielen Dank«, sagte er, öffnete die Tüte, die zu ihrer Erleichterung keine Flaschen enthielt, und reichte ihr eine geöffnete Stange Camel, in der ein Päckchen fehlte.

Sie ging vor ihm zum Flugzeug, damit er ihr Lächeln nicht sah.

Kaja hielt sich lange genug wach, um den Take-off mitzubekommen und Hongkong unter sich im Dunst verschwinden zu sehen. Und sie registrierte Harrys Blick, der dem Servierwagen folgte, der sich ruckweise mit lustigem Flaschengeklirr näherte, und hörte ihn mit geschlossenen Augen »no thank you« sagen, als die Stewardess ihm etwas zu trinken anbot.

Sie fragte sich, ob Gunnar Hagen recht hatte. War der Mann neben ihr wirklich der Mann, den sie brauchten?

Dann war sie weg, vom Schlaf übermannt, und sie träumte, dass sie vor einer verschlossenen Tür stand und einen einsamen, kalten Vogelschrei aus dem Wald hörte, dabei schien die Sonne so warm. Dann öffnete sie die Tür …

Sie wachte mit dem Kopf an seiner Schulter und angetrocknetem Speichel im Mundwinkel auf, als die Stimme des Kapitäns verkündete, dass sie den Landeanflug auf London begannen.

KAPITEL 5

Der Park

Marit Olsen liebte es, in den Bergen Ski zu laufen. Aber sie hasste es zu joggen. Sie hasste ihren keuchenden Atem nach wenigen Hundert Metern, das erdbebengleiche Zittern der Erde bei jedem ihrer Schritte und die erstaunten Blicke der Spaziergänger. Und sie hasste die Bilder in ihrem Kopf, wenn sie sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen versuchte: das Wabbeln des Doppelkinns, das Schwabbeln ihrer Fettpolster unter dem Trainingsanzug und der hilflos glotzende Fisch-an-Land-Blick, den sie selbst so häufig beobachtet hatte, wenn übergewichtige Menschen sich sportlich betätigten. Auch deshalb hatte sie ihre drei Joggingtouren pro Woche durch den Frognerpark auf abends zehn Uhr gelegt: Dann war dort kaum noch ein Mensch. Und falls sie doch jemandem begegnete, sah er kaum etwas von ihr, wenn sie sich zwischen den wenigen Laternen über die Wege schleppte, die kreuz und quer durch den größten Park der Stadt führten. Auf jeden Fall nicht genug, um in ihr die Stortingsabgeordnete der Arbeiterpartei für die Region Finnmark wiederzuerkennen. Das »wieder« konnte man getrost streichen, kaum jemand kannte Marit Olsen. Wenn sie selten genug ans Rednerpult trat – in der Regel, um sich für die Belange ihres Wahlkreises einzusetzen –, erntete sie bei weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit, die anderen, fotogeneren Kollegen zuteilwurde. Abgesehen davon hatte sie im Laufe der zwei Legislaturperioden, die sie inzwischen im Storting saß, nichts Falsches gesagt, und ihr waren auch keine gröberen Schnitzer unterlaufen. Persönlich zog sie diese Begründung für das fehlende Interesse der Öffentlichkeit auf jeden Fall vor. Die Behauptung des Redakteurs vom Finnmark Dagblad, sie sei ein politisches Leichtgewicht, war eine wirklich boshafte Anspielung auf ihre Körperfülle. Aber derselbe Redakteur hatte nicht ausgeschlossen, dass Marit Olsen einmal Teil einer Arbeiterpartei-Regierung sein könnte, da sie die wichtigsten Anforderungen erfüllte: keine Ausbildung, kein Mann und nicht aus Oslo.

Mag sein, dass er recht hatte und ihre Stärke tatsächlich nicht in den großen – vagen – Gedankenexperimenten lag. Aber sie war eine Frau aus dem Volk, eine, die wusste, was die einfachen Leute auf der Straße bewegte, und die zwischen all den aufgeblasenen und selbstzufriedenen Bewohnern der Hauptstadt gern ihr Sprachrohr war. Denn Marit Olsen redete frei von der – mittlerweile etwas zu großen – Leber weg. Das war ihre eigentliche Qualifikation, und nur das hatte sie dorthin gebracht, wo sie heute war. Mit verbaler Intelligenz und Humor – die Leute im Süden bezeichneten das gerne als trocken oder nordnorwegisch – war sie die sichere Siegerin in den wenigen Debatten, an denen sie hatte teilnehmen dürfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie bemerken würden. Sie musste nur einige ihrer Kilos loswerden. Es gab Studien, die belegten, dass übergewichtige Menschen weniger vertrauenswürdig wirkten, weil das Unterbewusstsein am Übergewicht fehlende Selbstbeherrschung festmachte.

Sie kam zu einer Steigung, biss die Zähne zusammen und verkürzte die Schrittlänge, bis sie, um ehrlich zu sein, mehr ging als lief. Powerwalk. Ja, warum sollte sie es nicht so nennen. Ein Marsch an die Macht. Das Gewicht sank, und die Wählbarkeit stieg.