Leopoldine Spielvogel und die Leiche im Kornfeld - Kirstin Allmenröder - E-Book

Leopoldine Spielvogel und die Leiche im Kornfeld E-Book

Kirstin Allmenröder

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Beschreibung

Gabriele Hasmann und Kirstin Allmenröder schildern einen historischen Kriminalfall: In einem Feld wird eine kopflose Leiche gefunden. Die junge, selbstbewusste Reporterin Leopoldine Spielvogel beschäftigt sich mit der Tat und ist der Polizei, die lange im Dunkeln tappt, immer eine Nasenlänge voraus. Gemeinsam mit ihrer Freundin, der Krankenschwester Antonia Nawratil, streift Leopoldine durch das Wien der 1920er-Jahre und kann mit Charme, Scharfsinn und Mut die Tat aufklären.

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UND DIE LEICHE IM KORNFELD

 HISTORISCHER WIEN-KRIMI 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

E-Book im Elsengold Verlag, 2022

© der Originalausgabe:

Elsengold Verlag GmbH

Berlin, 2022

Asternplatz 3, 12203 Berlin

[email protected]

Lektorat: Dirk Palm

Umschlaggestaltung: Goscha Nowak (unter Verwendung eines Fotos von akg-images)

ISBN 978-3-96201-105-5 (epub)

ISBN 978-3-96201-095-9 (print)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.elsengold.de

www.bebraverlag.de

www.was-mit-geschichte.de

KAPITEL 1

DER VERSCHWUNDENE DACHDECKER

Leopoldine Spielvogel blickte aus alter Gewohnheit nach rechts und links, als sie vom Hausflur auf die Straße trat. »Schau dich um und grüße höflich bekannte Gesichter, ehe du dich auf den Weg machst«, lautete eine der zahlreichen Weisheiten ihrer Großmutter Hildegard. Die alte Dame hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter, die 1907 an Tuberkulose verstorben war, bei sich aufgenommen und kümmerte sich seit nunmehr 15 Jahren bis heute rührend um sie. Auch wenn Poldi, wie die junge Frau von den meisten ihr Nahestehenden genannt wurde, vor Kurzem bereits ihren 27. Geburtstag gefeiert hatte, sah Oma Hilde immer noch das kleine Mädchen in ihr, das ihre Fürsorge benötigte.

Die Sonne ging gerade auf und warf ihre ersten Strahlen des Tages auf die Wiener Innenstadt, die mit dem beginnenden Vogelgezwitscher in den Baumkronen langsam zum Leben erwachte. In der Nähe erklang knisternd »Ach wenn es nur immer so bliebe« von Fanni Hornischer aus einem Grammophontrichter, in einem offenen Pawlatschenhof wurden Teppiche ausgeklopft und die Wirte der umliegenden Gasthäuser schoben geräuschvoll Tische und Sesseln über das Katzenpflaster, um die Schanigärten für ihre Gäste vorzubereiten. Und von allen Seiten war das Hufgeklapper der Pferde zu hören, die Menschen in Droschken zur Arbeit zogen oder mit Bierfässern, Gemüse und anderen Lebensmittel beladene Karren von den Märkten zu den Wirtschaften brachten.

Das Licht fiel schräg in die Straßenschlucht, in der sich die Kriminalreporterin gleich auf den Weg in die Redaktion der »Illustrierten Kronen Zeitung« machen würde, und brachte das tizianrote Haar der jungen Frau zum Funkeln. Sie trug ihre wilden Locken im Nacken zu einem Knoten gesteckt, eingefasst von einem perlmuttfarbenen Band. Die Frisur saß allerdings so locker wie fast jeden Tag, weil sie schwer aus dem Bett kam und sich deshalb vor dem Spiegel stets beeilen musste. In der Regel wandte sie nach dem Aufstehen kaum fünf Minuten für ihr Aussehen auf – was allerdings weniger am Zeitmangel, als an dem Selbstverständnis für ihre natürliche Schönheit lag, das ihr Oma Hilde mit auf den Weg gegeben hatte. Nach der Morgentoilette trank sie stets ein paar Schlucke heißen Milchkaffee, lief anschließend mit einer angebissenen Marmeladesemmel im Mund durch ihr Zimmer und kleidete sich dabei hektisch an.

Leopoldine hob den Kopf und schnupperte an dem sich langsam erwärmenden Julitag, der nach Sprit, staubigem Asphalt und sonnenverbranntem Laub roch.

Hastig strich sich die hochgewachsene, schlanke Frau ein paar Strähnen hinter das Ohr zurück, die sich gelöst hatten und ihr nun vorwitzig in die Stirn fielen. Ihr oberster Vorgesetzter, der 69-jährige Zeitungsverleger Gustav Davis, schätzte es sehr, wenn seine weiblichen Angestellten adrett aussahen und sich feminin benahmen. Und auch der 43 Jahre alte Chefredakteur Ewald Kopetzky schlug in dieselbe Kerbe. Nicht selten meckerte er daher an seiner Mitarbeiterin herum, die häufig leger gekleidet und mit offenem Haar zur Arbeit kam, nicht viel von Konventionen hielt und sich schon gar nicht anpassen wollte. Da die Reporterin mit ihrer »Ich-pfeif-mir-nichts-Mentalität« aber über eine ausgesprochen gute Spürnase verfügte und zusätzlich mit einem großen Maß an Neugierde in Kombination mit Hartnäckigkeit ausgestattet war, zählte sie zu den besten Mitarbeiterinnen des bekannten Wiener Blattes.

Und obwohl die kecke Journalistin über ein freches Mundwerk verfügte und sich von niemandem außer ihrer Großmutter zügeln ließ, befolgte sie die Spielregeln des Redaktionsleiters meistens – so gut sie eben konnte. Sie wehrte sich im Normalfall nur, wenn er sie oder eine andere seiner Bürodamen wie ein dummes Frauchen behandelte oder sie Unrecht witterte.

Rasch überprüfte Leopoldine den Sitz ihrer Kleidung. Sie trug ein Kostüm in hellen Brauntönen mit wadenlangem Rock, dazu Hochhackige aus schwarz-creme-farbigem Leder. Das noble Geschäft am Ring hatte die Schuhe allerdings extra beim Lierferanten in den USA nachbestellen müssen, da die junge Frau über ausgesprochen große Füße verfügte – angeblich ein Erbe ihrer Mutter.

Rasch fischte sie in ihrer Handtasche nach dem kleinen Kosmetikspiegel und überprüfte, ob keine Schlafkrümel in den Augenwinkeln klebten, wie ihr das schon häufiger passiert war. Sonst gab es nichts zu kontrollieren, denn Schminke verwendete sie ausschließlich bei festlichen Veranstaltungen.

Nachdem sie sicher sein konnte, dass ihr Vorgesetzter mit ihrem Aussehen zufrieden sein würde, ging sie endlich los.

»Zeig ihnen, wie man Verbrecher jagt, Poldi!«, erscholl da der Ruf aus einem Fenster im ersten Stock des Hauses Blumenstockgasse 2, in dem die Journalistin im Dachgeschoss bei einer alten Witwe namens Adelheid Wassermann wohnte. Margarete Maultasch, Ehefrau und Mutter von vier kleinen Kindern, sah ihrer Nachbarin mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid nach, ehe diese nach einem kurzen Winken in ihre Richtung um die nächste Straßenecke verschwand. Dabei hätte sie so gerne kurz getratscht und sich aus dem aufregenden Leben der Zeitungsangestellten berichten lassen, ehe sie zu ihrem langweiligen Haushalt zurückkehrte. Seufzend zog sich die dralle Blondine zurück, um sich an die Arbeit zu machen. »Gerechtigkeit sieht anders aus«, dachte sie. Die einen durften aufregende Geschichten über Räuber und Mörder schreiben und sogar hin und wieder den Schauplatz einer blutigen Untat fotografieren, die anderen mussten von früh bis spät, tagein tagaus, putzen, kochen und Wäsche schrubben. Die einen wurden mit Anerkennung von wichtigen Herren wie Verlegern und Kriminalbeamten bedacht, die anderen von ihren Ehemännern angekeppelt und den Gschrappen sekiert.

Leopoldine sah auf die Uhr, während sie mit großen Schritten vorwärts eilte und hoffte, die nächste Straßenbahn zu erwischen und pünktlich in der Redaktion einzutreffen. Als sie auf dem Weg durch die engen Innenstadtgassen an einer Kreuzung stehenblieb und wartete, stieg ihr aus einem zerbrochenen Kellerfenster der Geruch nach feuchtem Moder in die Nase. Aus der dem gleich daneben befindlichen Gasthaus, dessen Tür weit offenstand, wehte die schale Luft nach Bier, altem Frittierfett und kaltem Rauch in ihre Richtung. Die junge Frau liebte es, neben dem, was sie sah und was sie hörte, auch die verschiedenartigsten Aromen, die durch die Straßen waberten, bewusst wahrzunehmen. Sie fand, nichts machte ihre Umgebung so lebendig wie deren Duft!

Bei der Oper angekommen, sprang sie in die Ringlinie und fuhr Richtung Schottentor. Von dort würde sie die zehn Minuten zu Fuß in die Redaktion der »Illustrierten Kronen Zeitung« gehen, die sich in der Pramergasse 28 im 9. Bezirk befand.

Leopoldine blickte aus dem Fenster auf ihr geliebtes Wien, das sich noch immer nicht von dem Niedergang nach dem Ersten Weltrkieg erholt und von einer blühenden mächtigen Metropole in eine graue bedeutungslose Stadt verwandelt hatte. Die Aristokraten waren ins Ausland geflüchtet, um in der Heimat nicht enteignet zu werden, zahlreiche Verwaltungsbehörden und Institutionen, die vorher Entscheidungen für ein riesiges Reich fällen mussten, standen vor der Schließung, und die Kriegsgewinnler verdienten sich eine goldene Nase an den Verlierern und Armen. Die »Belle Epoque« der Jahrhundertwende, die Zeit der prunkvollen Feste, herrschaftlichen Bälle und Hochblüte von Kunst und Kultur schien endgültig vorüber zu sein.

Leopoldine schrak aus ihren Gedanken hoch, als neben der Tramway kreischend eine Hupe trötete. Gleich darauf vernahm sie ein lautes Rumpeln, begleitet von einem Wiehern und gefolgt von unflätigem Geschimpfe. Aufgrund der immer stärkeren Verbreitung des Automobils gehörte es mittlerweile zum Alltag auf Wiens Straßen, dass diese mit Pferdefuhrwerken kollidierten. Die Lenker der motorisierten Fahrzeuge konnten oft noch nicht jede Situation auf der Fahrbahn richtig einschätzen, und die Kutscher wie auch die Tiere waren überfordert mit den neuen lauten, stinkenden Verkehrsteilnehmern.

Als die junge Frau am Schottenring aus der Straßenbahn stieg, hatten sich dicke graue Wolkenberge vor die Sonne geschoben und den Himmel verdunkelt. Kurz darauf begann es zu nieseln, wobei die winzigen Tropfen wie ein glänzender Vorhang zu Boden fielen und sich als zartgewebter Schleier auf Leopldines rotes Haar legten. Die Journalistin beschleunigte ihre Schritte jedoch nicht, im Gegensatz zu den Leuten um sie herum, die aufgescheucht in alle Richtungen davonstoben. Sie würde so oder so nass werden – ob sie nun ihr Tempo beibehielt oder schneller ging, spielte ihrer Meinung nach keine Rolle.

Mit feuchter Kleidung und plattgedrückter, tropfender Frisur stand sie zehn Minuten später im Büro von Ewald Kopetzky, der sie unmittelbar nach dem Betreten der Redaktion zu sich gerufen hatte. Missbilligend musterte der Chefredakteur seine nasse Angestellte und zog dabei eine Augenbraue hoch.

»Besitzen Sie keinen Schirm, Fräulein Spielvogel, oder wollen Sie noch weiterwachsen?«, witzelte er plump.

»Ich habe mein Cape daheim vergessen. Aber das sollte ich eigentlich Ihnen borgen, damit Sie der Regen nicht von der Seite erwischt«, entgegnete die Angesprochene mit ausgeglichener Miene und bedeutsamem Blick auf die Rundungen ihre Gegenübers vom Hals abwärts.

Die Reporterin war dafür bekannt, nie um eine Antwort verlegen zu sein und diese auch gerne mit rasiermesserscharfer Zunge zu formulieren – was von den Menschen, die sie mochten, bewundert, von ihren Feinden allerdings gefürchtet wurde.

Ihre beste Freundin, die 29-jährige Krankenschwester Antonia Navratil, genannt Toni, verglich sie gerne mit der großarigen Dorothy Parker. Die beiden waren Bewunderinnen der amerikanischen Schriftstellerin, die in ihren Texten vorwiegend den Geschlechterkampf sowie die Stellung von Minderheiten thematisierte und als eine der bedeutendsten Autorinnen und unerschrockensten Feministinnen ihrer Zeit galt. Als Theater- und Literaturkritikerin versetzte sie regelmäßig Produzenten und Künstler in Angst und Schrecken, da sie bei ihren Beurteilungen kein Blatt vor den Mund nahm und dabei gerne Schläge unter die Gürtellinie austeilte – nicht immer mit Stil, selten mit Takt, aber meist mit gut platzierter Spitze. So wie auch Leopoldine es gerne tat – weil sie es aufgrund ihrer Wortgewandtheit konnte!

Seufzend ließ sich der voluminöse Kopetzky auf seinen Sessel sinken, der in jeder Faser seines Holzes belastet unter dem Gewicht des Mannes aufquietschte.

»Spielvogel …« Das Fräulein ließ er weg, sobald er sauer auf sie wurde. »Kommen wir zum Thema unseres geselligen Beisammenseins. Ich kenne Ihre emanzipatorischen Bestrebungen in Bezug auf Ihre Karriere«, begleitend zum letzten Wort zeichnete er mit seinen Wurstfingern Anführungszeichen in die Luft, »nur zu gut und toleriere sie auch bis zu einem gewissen Grad. Immerhin habe ich Ihrem Vater am Sterbebett versprochen, Sie bei Ihren beruflichen Plänen zu unterstützen.«

Leopoldine rollte mit den Augen. Sie konnte diesen Spruch nicht mehr hören, den der Chefredakteur als ihr direkter Vorgesetzter immer dann absonderte, wenn er Dankbarkeit von ihr einfordern wollte. Doch da konnte er lange warten! Es stimmte schon, er hatte sie nach ihrer Studienzeit der Literatur und Philosophie in die Redaktion der »Illustrierten Kronen Zeitung« geholt und nahm sie seither regelmäßig vor dem Verleger Gustav Davis in Schutz, wenn der wieder einmal gegen die »Spompanadeln dieser extrovertierten rothaarigen Reporterin« polterte. Aber wie er ja selbst sagte – es ging dabei um nichts anderes als seine Freundschaft zu Heinrich Spielvogel und die Zusicherung, sich um seine Tochter kümmern. Das hatte aber nichts mit einem Gefallen, den er IHR tat, zu tun. Wofür also sollte sie sich erkenntlich zeigen?

»Worum geht es denn jetzt genau?«, wollte sie wissen, wobei ihre grünen Augen angriffslustig funkelten.

Ewald Kopetzky seufzte erneut und sah sie fast flehend an.

»Mir wurde von ganz oben aufgetragen, Sie an die Zügel zu nehmen, Spielvogel. Vorerst gibt es keine Reportagen außer Haus mehr. Sie dürfen im Büro an Ihrem Platz arbeiten, Artikel schreiben, Telefon und Schreibmaschine benutzen, aber keine Recherchen durchführen oder Interviews machen, die nichts mit den von mir vorgegebenen Themen zu tun haben. Ist das angekommen?«

Die junge Frau versuchte, ihr Temperament im Zaum zu halten, da sie wusste, sie würde wütend nichts erreichen. Sie legte lächelnd ihre Hände auf den Schreibtisch des Chefredakteurs und fragte betont langsam: »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?«

»Natürlich, ich …«

»Jetzt hören Sie mir mal zu«, unterbrach Leopoldine ihr Gegenüber, immer noch um Contenance bemüht. »Mein Vater war ein bekannter und vor allem begnadeter Detektiv, der nicht nur der Presse, sondern auch der Polizei zugearbeitet hat, weshalb ihn auch Gott und die Welt in Wien kannte. Er war zu allen Menschen gleich freundlich und bewegte sich in zwielichtigen Etablissements zwischen den Gaunern genauso selbstverständlich ohne aufzufallen, wie auf den prunkvollen Bällen inmitten der Schönen und Reichen. Deshalb ist seine Tarnung in all den Jahren seiner Tätigkeit auch nie aufgeflogen und keiner hat ihm jemals etwas nachgetragen – im Gegenteil, alle mochten ihn. Er ist bis heute noch vielen Leuten, vom kleinen Strizzi bis hin zum hochdekorierten Kriminalbeamten, ein Begriff. Und er war so gut, dass er sogar den Polizeipräsidenten persönlich hätte beschatten können, ohne dass dem das aufgefallen wäre.«

»Das kann ich nicht bestreiten. Aber was wollen Sie …«»Ich will damit sagen, dass sein Blut durch meine Adern fließt und ich es weit bringen kann, wenn man mich lässt. Aber sicher nicht im Büro an meinem Schreibtisch!«

»Frauen gehören nun einmal …«

»Wagen Sie es nicht!«, fauchte Leopoldine. »Wenn ich jetzt nur ahne, dass Sie das Wort ›Herd‹ oder ›Kandare‹ in den Satz einbauen wollen, werde ich richtig grantig. Wir wissen beide, dass unsere Emanzipation in vollem Gange und nicht mehr zu stoppen ist. Wir dürfen nicht mehr nur auf Gesellschaften neben dem Mann als sein Anhängsel glänzen, um ihn danach zu Hause zu bekochen, seine Wäsche zu waschen und ihm die Füße zu massieren. Es ist auch schon lange nicht mehr unsere einzige Bestimmung, zu heiraten und Babys zu bekommen! Wir dürfen auch alleine leben, schrullig sein und eine Katze halten. Darüber hinaus haben wir unseren Platz auch in der Geschäftswelt gefunden – weil es nach dem Krieg gar nicht anders ging und man uns dankbar dafür war, dass wir die Arbeit der Männer verrichten konnten. Und jetzt bleiben wir, basta!«

Der beleibte Chefredakteur blinzelte irritiert und suchte nach einer Möglichkeit, den Monolog seiner Mitarbeiterin zu unterbrechen.

»Sie wissen schon, dass wir seit vier Jahren wählen dürfen, oder?«, frage sie süffisant, als sie noch immer den Widerspruch im Verhalten ihres Vorgesetzten wahrnahm. »Wir haben für unsere politischen Rechte gekämpft«, fuhr Leopoldine mit erhitztem Gemüt und voller Leidenschaft fort, »und machen dasselbe jetzt in Hinblick auf unsere berufliche Karriere. Puh …« Erschöpft ließ sich die Reporterin ungefragt auf den Sessel vor dem Schreibtisch ihres Gegenübers fallen.

Nachdem Kopetzky seine Stimme wiedergefunden und zugleich beschlossen hatte, sich auf keine Diskussion zum Thema Emanzipation einzulassen, antwortete er beschwichtigend: »Fräulein Spielvogel, Sie haben ja in manchen Dingen recht.« Er hob abwehrend die fleischige Hand, als er bemerkte, dass seine Angestellte bereits ihren Mund öffnete, um neuerlich Einspruch zu erheben. »In den meisten sogar. Die gegenwärtige Situation erlaubt es den Damen, sich unabhängig zu machen und erfolgreich zu sein. Das will ich gar nicht bestreiten.«

Das konnte er auch nicht, denn die ökonomische Notwendigkeit hatte einen gesellschaftlichen Wandel ausgelöst, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Im und nach dem Ersten Weltkrieg fehlten die Männer als Arbeitskräfte und Versorger der Familie, weshalb viele Frauen an ihrer statt die freien Stellen besetzten, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Sie arbeiteten aber mittlerweile eben nicht mehr nur aus einer Notwendigkeit heraus als Bäuerinnen, Hausmädchen oder Putzhilfen, sondern in Berufen, die ihnen Spaß machten. Es war somit ab sofort möglich, dass Frauen Anerkennung durch ihre Leistung abseits von Heim und Herd erfuhren und für ihr Wissen und Können mit Geld und Prestige belohnt wurden.

Der Chefredakteur grunzte zufrieden, weil seine Angestellte nicht neuerlich losgeplappert hatte.

»Davis besteht dennoch auf diese Maßregel, um Sie in Schach zu halten. Und Sie wissen auch genau, warum, nicht wahr?«

Leopoldine senkte den Kopf. Es dürfte dem Zeitungsverleger ein Dorn im Auge sein, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis zu einem Polizeibeamten pflegte und Leute aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kannte, weshalb sie früher als andere an Informationen herankam – was zwar gut für sein Blatt, aber schlecht für die Moral seiner männlichen Reporter und damit für das gesamte Betriebsklima war. Und die eifersüchtigen Herren drohten in letzter Zeit immer häufiger mit Kündigung, wenn ihre weibliche Kollegin die besten Geschichten schreiben durfte und dafür von der Leserschar Lob und Zuspruch erhielt. So saß der alte Mann, der über das Imperium »Illustrierte Kronen Zeitung« herrschte, zwischen zwei Stühlen und entschied sich nun offenbar für das Wohl seiner Geschlechtsgenossen.

»Sie werden weiterhin Ihre Augen und Ohren offenhalten und die Hinweise, die Sie von Ihren Informanten erhalten, an Ihre Kollegen weitergeben. Zumindest vorübergehend. Klappt das einige Zeit und haben sich die Wellen der Unzufriedenheit geglättet, dürfen Sie wieder an die Front. Dann werde ich mich oben persönlich für Sie einsetzen. Versprochen!«

Die junge Frau knirschte mit den Zähnen und nickte. Sie wusste genau, wann sie verloren und den Rückzug anzutreten hatte. Vorerst würde sie schweigen und tun, wie man ihr geheißen. Sie nahm sich allerdings vor, bald einen spektakulären Fall an Land zu ziehen, den nur sie bearbeiten konnte. Wenn Gustav Davis wählen musste, zwischen einer wirklich guten Story, die er vor der Konkurrenz bringen konnte, und der Bauchpinselei seiner männlichen Angestellten, würde er sich letztlich für Ersteres entscheiden.

Sie zwang sich also erneut zu einem Lächeln, nickte zur Bestätigung, dass sie die »Strafe« akzeptierte, und verließ mit vor unterdrückter Wut zitternden Knien das Büro von Ewald Kopetzky.

Bei ihrem Schreibtisch angekommen, wendete sie zuerst, wie an jedem Arbeitstag, das Blatt ihres Tischkalenders. Es war Sonntag, der 16. Juli 1922.

Anschließend führte sie ein paar unergiebige Telefonate mit ihren Informanten und tippte auf der Schreibmaschine lustlos einen Artikel über die Rattenplage, die in vielen Teilen der Stadt herrschte. Gegen elf Uhr gähnte sie mehrmals herzhaft und beschloss, die Redaktion zu verlassen, um zuerst ein wenig durch den nahen Liechtensteinpark zu spazieren und sich anschließend beim Bäcker um die Ecke einen Striezel zu holen.

Zurück an ihrem Arbeitsplatz brühte sie sich Kaffee auf, schnitt das süße Germgebäck in mehrere dicke Schnitten, schmierte darauf die beim Greißler nebenan erstandene Zwetschkenmarmelade und verzehrte ihre Mittagsjause mit genüsslichem Schmatzen.

Danach beschloss die junge Frau, ihre Großmutter anzurufen. Sie war froh, dass die alte Dame das Geschenk, über einen eigenen Telefonanschluss zu verfügen, von ihrer Enkelin angenommen hatte, damit diese sich jederzeit nach ihrem Befinden erkundigen konnte. Leopoldine besuchte Oma Hilde außerdem regelmäßig zwei Mal pro Woche abends und zusätzlich an jedem Sonntagnachmittag, machte sich jedoch trotzdem ständig Sorgen, dass der 63-Jährigen etwas passieren könnte und sie nicht sofort zur Stelle wäre. Hildegard Kneissel und ihre Enkelin verband ein inniges Verhältnis, die beiden standen einander stets bei und konnten sich aufeinander verlassen. Leopoldines Vater hatte sich in seiner Trauer nach dem Tod seiner Ehefrau außerstande gefühlt, alleine für sein Kind zu sorgen und es seiner Schwiegermutter in Pflege gegeben. Er war jedoch so oft zu Besucht gekommen, wie er nur konnte, und hatte versucht, bis zu seinem Unfalltod kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs immer für seine Tochter da zu sein.

»Servus, Oma«, begrüßte Leopoldine die rüstige Seniorin am Telefon, die seit dem Auszug ihrer Enkelin fünf Jahre zuvor alleine in ihrem Haus in der Sedlitzkygasse 47 in Simmering wohnte. »Wie geht es dir?«

»Wunderbar, mein Liebling«, rief Hildegard Kneissel fröhlich. »Und dir?«

»Mir ist langweilig«, klagte die Journalistin. »Ich muss hier in der Redaktion an meinem Arbeitsplatz bleiben und darf nicht auf die Straße.« Rasch schilderte sie ihrer Großmutter, was vorgefallen war.

»Ach, du Ärmste! Ich ahne, wie du dich fühlst. Aber weißt du was? Ich habe vielleicht einen Fall für dich. Du könntest ja heimlich recherchieren und dann deinen Vorgesetzten mit einer tollen Geschichte überraschen.«

Leopoldine sah vor ihrem geistigen Auge den spitzbübischen Ausdruck im Gesicht ihrer Oma und forderte diese grinsend auf, fortzufahren, während sie aus ihren drückenden Schuhen schlüpfte. Anschließend klemmte sie sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Wange und begann, sich die schmerzenden Füße zu reiben.

Die 63-Jährige berichtete indessen von dem Dachdecker Simon Mikschofsky, der mit seiner Ehefrau im Nachbarhaus mit der Nummer 45 wohnte und seit einiger Zeit spurlos verschwunden zu sein schien.

»Poldi«, tönte da eine sonore Stimme quer durch das Großraumbüro, »wir gehen auf ein Achtel, kommst du mit?« Die Redakteure und Reporter der »Illustrierten Kronen Zeitung« machten sich regelmäßig einen Spaß daraus, ihre ehrgeizige weibliche Kollegin auf die Probe zu stellen, weil sie von einem zum anderen Mal nicht glauben konnten, wie viel Alkohol diese vertrug. Tatsächlich könnte die junge Frau die meisten dieser aufgeblasenen Wichtigtuer ohne Probleme jederzeit unter den Tisch trinken, wenn sie es darauf anlegen würde. Doch das tat sie nicht, weil dieses kindische Kräftemessen unter ihrer Würde war und sich die Männer nach einer Niederlage garantiert nur noch mehr von ihr provoziert fühlten. Aus der Gruppe ausschließen wollte sie sich jedoch auch nicht, hoffte sie doch, sich durch ihr freundschaftliches Verhalten irgendwann genug Respekt erarbeitet zu haben, um in der Redaktion nicht nur als weibliche Mitarbeiterin akzeptiert, sondern als erfolgreiche Kriminalreporterin anerkannt zu werden.

»Oma, ich komm nach der Arbeit vorbei. Dann erzählst du mir die Geschichte noch einmal ausführlich. Ich möchte jedes Detail erfahren, einverstanden?« Dann verabschiedete sie sich mit einem paar lauten Luftbussis von der alten Dame, ehe sie den Hörer auflegte, in ihre Schuhe schlüpfte und nach ihrer Handtasche griff.

Zehn Minuten später saß Leopoldine inmitten ihrer männlichen Kollegen im Schanigarten vom Heurigen Kollmann unter der schattenspendenden Krone eines Kastanienbaums. Es hatte aufgehört zu regnen, doch hie und da rollte ein Tropfen von einem der breiten Blätter und platschte in die Gläser, die bereits mit einem kühlen Weißwein gefüllt waren.

Die Männer überboten sich förmlich darin, der jungen Frau anzügliche Komplimente wie »Dein Hintergestell sieht heute zum Anbeißen aus!« zu machen. Doch Leopoldine wusste, dass dieses Balzgehabe nur dazu diente, ihr Informationen zu entlocken – natürlich erfolglos, zumal sie selbst gerade über gar kein Verbrechen berichtete.

Aus dem einen angkündigten Achtel Wein wurden viele, die Stimmung war ausgelassen, schon bald wollte keiner mehr in die Redaktion zurückkehren. Da sich Ewald Kopetzky bereits außer Haus befand, bestand dafür auch keine Notwendigkeit, und die Bürodamen würden kein Wort über die Abwesenheit der Redakteure und Reporter verlieren.

»Komm Poldi, sing uns ein Lied«, forderte schließlich einer der schon ziemlich eingespritzten Kollegen, als ein Ziehharmonikaspieler musizierend den Garten betrat. Die kam der Aufforderung gerne nach, gab dem Mann ein Zeichen und trällerte anschließend, falsch, dafür aber umso lauter, das alleseits bekannte »Fiakerlied«. Die Journalisten klatschten johlend in die Hände, ebenso die Gäste am Nebentisch. Nach ein paar Achtel mehr, begannen sie beim Erzählen ihrer »Heldengeschichten im Dienste der Zeitung« bereits zu lallen. Leopoldine hatte ebenfalls schon einen ordentlichen Spitz und spürte, wie ihr Gesicht immer heißer wurde. Auch wenn sie reichlich Alkohol vertrug, war sie es doch nicht gewohnt, bereits am frühen Nachmittag so viel Wein zu trinken, noch dazu so einen sauren Heckenklescher – es musste mittlerweile fast ein Liter sein. Wie immer, wenn sie angesäuselt war, bat sie die Gesellschaft um Aufmerksamkeit und gab ein paar schmutzige Witze zum Besten:

»Erzählt ein Nachbar dem anderen, dass die Dame von gegenüber beim Duschen singt. Antwortet der andere, das sei egal, weil man durch das Fernglas ohnehin nichts höre!«

Die Männer am Tisch kommentierten die Pointe mit lautem Gegröhle.

»Ein altes Ehepaar liegt im Bett. Er beginnt, sie zu streicheln, und schon bald haben sie Geschlechtsverkehr. Am nächsten Tag fragt sie ihn: ›Und? Hast du gestern noch lang weitergemacht?‹«

Die Kollegen hieben sich vor Erheiterung auf die Oberschenkel und brüllten vor Lachen.

Mit leicht vernebelten Gedanken erinnerte sich die junge Frau daran, wie damenhaft empört sich Antonia stets gab, wenn ihre Freundin beim Erzählen von Zoten Worte in den Mund nahm, die dort ihrer Meinung nach nicht hingehörten.

»Komm, Poldi, trink noch ein Glaserl mit uns!«, rief Georg, dessen Schreibtisch sich im Redaktionsbüro dem ihren gegenüber befand. Halfen Komplimente nichts, sollte sie abgefüllt werden – so lief es jedes Mal.

In einem Anflug von Vernunft beschloss die Reporterin, auf Wasser umzusteigen, ehe die Situation außer Kontrolle geriet. Josef war bereits besoffen vom Sessel gerutscht, während Karl sprachlich gehandicapt versuchte, ein angeblich spektakuläres Zusammentreffen mit einem hochrangigen Politiker zu rekonstruieren. Und Johann prangerte einstweilen die angebliche Unfähigkeit der Zeitungsverleger im Allgemeinen, und die ihres obersten Vorgesetzten, Gustav Davis, im Speziellen an und redete sich dabei immer mehr in Rage.

»Ich muss noch zu meiner Großmutter«, erklärte Leopoldine und erhob sich leicht schwankend. Unter teils ehrlich gemeinten, teils geheuchelten Ausrufen des Bedauerns seitens ihrer Kollegen verabschiedete sie sich und stelzte, so nüchtern wirkend wie möglich, davon. Ein Windstoß fuhr durch die Laubkronen der Kastanienbäume und erfüllte den Schanigarten mit lautem Rauschen. Der jungen Frau stieg das Aroma von gebratenem Fleisch und frischem Brot in die Nase, während sie auf den Hauseingang des Heurigen zustrebte. Im Schankraum traf sie auf den Sohn des Weinhauers, den sie schon seit der Schulzeit kannte. Sie griff nach seiner schwieligen Hand und platzierte dort die geforderten Münzen für den von ihr konsumierten Wein, der nach der Inflation im Anschluss an die Kriegsjahre mittlerweile um ein Vielfaches teurer war als zuvor. Danach trat sie auf die Straße hinaus und machte sich auf den Weg zur Tramway, um zu ihrer Großmutter in die Sedlitzkygasse zu fahren.

Eine Stunde später drückte Hildegard Kneissel, die ihre Enkelin in einem geblümten ärmellosen Kittel und ausgetretenen Schlapfen bereits an der Haustür empfing, fest an ihren wogenden Busen. Gleich darauf schob sie die junge Frau eine Armeslänge von sich, legte ihre Stirn in Falten und rümpfte demonstrativ die Nase.

»Hast du Alkohol getrunken, Poldi?«, fragte sie tadelnd.

»Ich musste, Oma Hilde!«, rechtfertigte sich Leopoldine. »Meine Kollegen machen mir ohnehin schon das Leben zur Hölle. Wenn ich dann nicht mit ihnen zum Heurigen mitgehe, wenn sie mich ausdrücklich darum bitten, grenzen sie mich noch mehr aus und reden hinter meinem Rücken!«

»Das tun sie doch so oder so, Schätzchen!«, erwiderte die alte Damen, während sich ihre sonst stets heitere Miene verfinsterte. Ihr rosigstrahlendes Gesicht verlor stets ein wenig an Glanz, wenn die Sorge um Leopldine ihre Gedanken umwölkte. »Du weißt doch, dass sie nur neidisch auf dich sind und musst nicht mit ihnen trinken gehen, um zu beweisen, dass du mit ihnen mithalten kannst. Du bist besser als das!«

»Ich weiß, Omi!«, seufzte die Reporterin und ließ ihren Kopf erneut auf die Brust ihrer Großmutter sinken, während ihre weichen Arme sie umschlossen und ihr die Geborgenheit schenkten, nach der sie sich oft sehnte.

»Na komm rein, mein Mädel, ich mach uns einen Kakao!«, sagte Hildegard Kneissel und schob ihre Enkelin ins Haus.

»Woher hast du denn den?«, fragte die junge Frau verwundert. Sie wusste, dass ihre Großmutter sich jeden Heller vom Mund absparen musste, obwohl sie ihr einen Teil ihres Gehalts abgab. Das Geld nahm die 63-Jährige an jedem Monatsanfang nur widerwillig in Empfang und hoffte stets, es doch nicht zu benötigen und ihrer Enkelin am Monatsende zurückgeben zu können. Aufgrund der durch die Inflation gestiegenen Preise gelang ihr das jedoch so gut wie nie.

»Den hat mir die Luise geschickt«, erkärte Oma Hilde stolz, deren alte Schulfreundin schon viele Jahre zuvor nach Amerika ausgewandert war. »Und Milch hab ich heute extra im Laden geholt, damit ich dir den Kakao machen kann«, freute sich die alte Dame, deren Gesicht nun wieder rosig glänzte.

Einige Zeit später saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer gegenüber, jede ein buntes Porzellanhäferl vor sich auf dem Biedermeiertischchen, aus dem feines Kakaoaroma dampfte. Leopoldine streifte sich stöhnend die Schuhe von den Füßen, griff nach ihrem Getränk und sank auf dem flaschengrünen Diwan in einen der dicken Polster.

»Nun erzähl mir von dem vermissten Mann im Nachbarhaus«, forderte sie und blickte ihre Großmutter neugierig an.

»Simon Mikschofsky«, sagte die Seniorin und warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster auf die Straße, als würde sie hoffen, den Vermissten dort zu entdecken.

»Ein 57-jähriger Dachdecker … Er ist wohl spurlos verschwunden.«

»Wer sagt das? Seit wann ist er nicht mehr da? Hat er keine Familie?«, fragte Leopoldine nach und hätte sich dabei vor Ungeduld, so schnell als möglich an sämtliche Informationen zu gelangen, fast an ihrem heißen Kakao verschluckt.

»Seit Anfang Juni hat ihn niemand aus der Gasse mehr gesehen. Er ist verheiratet, aber seine Frau Marie tut so, als wäre alles in Ordnung. Sie hat einer Nachbarin erzählt, ihr Gatte hätte sich bei der Arbeit am Rücken verletzt und läge im Spital.«

»Das kann doch sein, dieser Beruf ist ja wirklich nicht ganz ungefährlich«, argumentierte die junge Frau sachlich und zugleich enttäuscht darüber, dass die Neuigkeiten nicht spektakulärer waren.

»Ja, natürlich wäre das möglich …«, sinnierte die Großmutter, »aber niemand glaubt so recht daran. Zumal sich Frau Mikschofsky angeblich recht eigenartig verhält, als hätte sie etwas zu verbergen. Sie soll zum Beispiel plötzlich im Hof den Teppich ausgiebig gereinigt haben, obwohl sie sonst ein Schlampadatsch ist.« Oma Hilde atmete einmal tief durch, zuckte dann mit den Schultern und setzte rasch nach: »Also das behaupten die Leute, ich selbst habe nicht mit ihr geredet. Aber ich will mit dieser Person auch nichts zu schaffen haben.«

Leopoldine zuckte erschrocken zusammen, als ein dicker Käfer mit einem satten »Tock« von außen gegen die Fensterscheibe prallte. Das grünschillernde Insekt schwebte danach sekundenlang bewegungslos in der Luft und schien die beiden Gestalten hinter der Glasscheibe anzustarren, ehe es sich langsam im Torkelflug entfernte.

»Warum?«, hakte die junge Frau nach und nahm wieder einen Schluck vom Kakao, der mittlerweile nur noch lauwarm war, was sich bei den sommerlichen Temperaturen nicht gerade als Nachteil erwies. Auch wenn das Ziegelhaus ihrer Großmutter mit den dicken Wänden einen Gutteil der Hitze schluckte, hatte es im Innenbereich immer noch um die 25 Grad.

»Weil es sich um eine hinterhältige, faule Weibsperson handelt«, erklärte die alte Dame und nickte wie zur Bekräftigung ihrer Worte heftig mit dem Kopf, was ihre weißen Spirallöckchen zum Tanzen brachte. »Und sie keppelt die ganze Zeit die Nachbarskinder an, wenn die einmal etwas lauter im Hof spielen, und richtet außerdem alle Leut aus dem Grätzl hinter ihrem Rücken aus. Außerdem ist sie nicht ganz richtig im Kopf!« Hildegards Zeigefinger rotierte in der Luft im Bereich über ihrer Schläfe.

»Da hatte sich jemand offenbar sehr unbeliebt bei meiner Oma gemacht, die sonst nicht so streng mit Menschen ins Gericht geht«, dachte Leopoldine amüsiert.

»Ich werde mich draußen einmal ein bisschen umhören«, erklärte sie ihrer Großmutter, trank das Häferl mit einem Zug leer und erhob sich.

»Ja, mach das, Schätzchen! Ich bin schon neugierig, was du mir hinterher berichtest. Vielleicht wird das ja sogar dein neuer Fall?« Gespannt sah Hildegard ihre Enkelin an.

»Wer weiß?«, lächelte die junge Frau und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie glaubte nicht so recht daran, dass es sich beim Verschwinden des Dachdeckers aus dem Nebenhaus um ein Verbrechen handelte, wollte aber dennoch auf Nummer sicher gehen. Auch wenn sie als Zeitungsreporterin offiziell gar keine Befragungen vor Ort durchführen durfte. Doch sie konnte ihre Recherche, sollte wirklich etwas an der Geschichte dran sein, immer noch damit rechtfertigen, dass es sie ursprünglich privat interessiert hatte, was mit dem Mann passiert war.

Als Leopoldine auf das Pflaster vor dem Haus ihrer Großmutter trat, stand die Sonne schon tief am Himmel. Sie warf ihre letzten Strahlen auf Wien, um die grauen, löchrigen Mauern und desillusionierten Menschen vor der folgenden Nacht noch einmal zu wärmen, ehe sie versank und der Dunkelheit gestattete, die Stadt in Besitz zu nehmen.

In der Gasse roch es muffig nach feuchten Wänden. Die Journalistin schaute sich um und erblickte einen kleinen Buben, bekleidet mit einem weißfleckigen Leiberl und kurzen Hosen, die von zerschlissenen Trägern auf dem schmalen Körper gehalten wurden. Er kickte lustlos einen schlaffen Lederball gegen die Mauer des Hauses, in dem die Mikschofskys wohnten.

»He du!«, rief sie und ging auf das Kind zu, das ihr mit großen braunen Augen neugierig entgegensah. »Kennst du den Simon? Den Dachdecker?«

Der kleine Kerl, der unangenehm nach Schweiß roch, zuckte mit den knochigen Schultern. Gleich darauf grinste er frech, entblößte dabei drei breite Zahnlücken und streckte der jungen Frau dann eine schmutzige Handfläche entgegen. Leopoldine griff in ihre Tasche, zog die Geldbörse hervor und entnahm ihr ein paar Heller, nach denen der Bub sofort grapschte.

»Klar kenn ich den«, krähte er dann. »Der wohnt neben uns! Aber er ist schon lang nicht mehr zu Hause.«

»Wie lange hast du ihn denn schon nicht mehr gesehen?«

Grübelnd legte das Kind seine Stirn in Falten und antwortete dann: »Ich glaube, ein paar Wochen.«

»Michi, mit wem sprichst du da?«, hörte die junge Frau da eine schrille Frauenstimme von oben in die Gasse fallen, woraufhin der Kleine zusammenzuckte, sich umwandte und ins Haus lief. »Sie da unten, lassen Sie meinen Sohn in Ruh!«

»Ich habe ihn nach Simon gefragt!« Sie verwendete absichtlich nur den Vornamen des Dachdeckers, in der Hoffnung, die Nachbarin würde sie für eine Bekannte des Mannes halten. Ihr Plan ging auf!

»Der ist schon lang nicht mehr heimgekommen!«, gab die Mutter des Buben bereitwillig Auskunft. »Die Marie sagt, er ist im Spital.«

»Ist sie jetzt gerade da?«

»Nein, die ist fort gegangen.«

»Weiß irgendjemand bei Ihnen im Haus vielleicht mehr über Simon? Ich muss ihn wirklich finden!«

Die Frau wirkte plötzlich verunsichert, drehte sich um und sagte etwas in den Raum hinter sich, dann schloss sie ohne ein weiteres Wort das Fenster.

Leopoldine ging auf das Haus zu und rüttelte an der Klinke der Tür, die vermutlich in den Hof führte, doch nichts passierte. Die Gasse war menschleer und niemand in Sicht, den sie zum Verschwinden des Dachdeckers hätte befragen können. Anklopfen wollte sie auch nicht einfach irgendwo und neugierige Fragen stellen, da um diese Uhrzeit die meisten Leute beim Abendbrot saßen.

So kehrte Lepoldine kurz darauf unverrichteter Dinge zu ihrer Großmutter zurück. Sie erzählte von ihrem Misserfolg und versprach, am kommenden Tag zurückzukehren, um ihr Glück noch einmal zu versuchen.

»Dann gibt es jetzt etwas zum Schnabulieren!«, rief Oma Hilde erfreut.

Nachdem die junge Frau noch voller Genuss ein Extrawurstbrot verzehrt hatte, verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg nach Hause.

KAPITEL 2

DIE LEICHE IM KORNFELD

Am folgenden Tag wollte Leopoldine eigentlich ausschlafen, da die Belegschaft der Zeitung üblicherweise sonntags arbeitete und nur im Notfall montags in die Redaktion kam. Doch dieser Plan wurde durch das heftige Schrillen des Telefons auf dem Gang vor ihrem Zimmer vereitelt. Dank ihrer Bekanntschaft mit einem Mann vom Fernmeldeamt, war Adelheid Wassermann schon relativ früh zu einem eigenen Apparat gekommen.

Während die Kriminalreporterin schlaftrunken versuchte, den letzten Traum der Nacht abzuschütteln, hörte sie die alte Witwe auf knarzenden Dielenbrettern heraneilen und kurz darauf deren lautes »Grüß Gott?« Kurz darauf wurde die Türe zu ihrem Zimmer geöffnet und in Richtung ihres Betts gekeppelt: »Für Sie … hätte ich mir denken können … aber Hauptsache, ICH laufe auf meinen alten Beinen her, um abzuheben … Antonia Navratil … sie meint, es sei dringend!«

»Servus! Was ist denn los?«, fragte Leopoldine gleich darauf überrascht in den Hörer.

»Du wirst es nicht glauben«, sprudelte die Freundin begeistert hervor, »wir haben eine Leiche! Besser gesagt … Teile davon. Es handelt sich ganz sicher um Mord! Wir holen dich in zwei Stunden ab.«

Leopoldine staunte nicht schlecht, als Antonia wie versprochen bald darauf in Begleitung eines jungen Mannes in einem weißen Mercedes-Knight mit geschlossenem Verdeck vorfuhr, um sie abzuholen und zum Fundort der noch unbekannten Leiche zu bringen. Dem Privileg, den Schauplatz einer Bluttat nahezu zeitlich mit den polizeilichen Ermittlern und vor anderen Zeitungsfritzen in Augenschein nehmen zu dürfen, verdankte die junge Journalistin zahllose ihrer erfolgreichen Reportagen. Möglich machte das Antonias Vater, der am Gerichtsmedizinischen Institut in der Sensengasse 2 als Arzt tätig war. Die Informationen, die er von den Behörden erhielt, teilte er zumeist umgehend mit seiner über alles geliebten Tochter – wohl wissend, dass diese sofort ihre beste Freundin informieren und mit dieser auf Verbrecherjagd gehen würde.

Es war allerdings schwer verwunderlich, dass Franz Navratil einem Leopoldine bis dato vollkommen Unbekannten seinen heißgeliebten Wagen anvertraute, zumal er ihn erst im Jahr davor für eine unverschämt sündhafte Summe aus Amerika hatte importieren lassen.