Lernen macht intelligent - Aljoscha Neubauer - E-Book

Lernen macht intelligent E-Book

Aljoscha Neubauer

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Warum Intelligenz nicht angeboren ist

Nicht erst seit »lebenslanges Lernen« zum Schlagwort geworden ist, steht fest: Effizientes Lernen ist heute unabdingbar für den Erfolg in Ausbildung und Beruf. Doch lassen sich die Grenzen der Begabung durch Üben und Trainieren überwinden? Und behalten Menschen, die als Kinder überdurchschnittlich intelligent waren, ihren Vorsprung auch im Erwachsenenalter?
Begabung ist wichtig, aber nicht selten kann ein Weniger an Begabung durch ein Mehr an Lernen wettgemacht werden, so die zentrale These der Kognitionspsychologen Aljoscha Neubauer und Elsbeth Stern. In ihrem Buch erläutern sie die genetischen und neurobiologischen Grundlagen für Begabung und Lernen. Sie gehen der Frage nach, welche Rolle den Umweltbedingungen dabei zukommt und welche Lernangebote man in welchem Alter machen sollte. Aus diesen Erkenntnissen leiten die Autoren wichtige Forderungen für die Unterrichtsgestaltung ab.

• Ein kompetenter Überblick über die wesentlichen Erkenntnisse der Intelligenz- und Lernforschung
• Mit Ratgeberteil zu den Themen Hochbegabung und Schule sowie den häufigsten Fragen zur Intelligenz- und Lernforschung
• Ein informatives Buch für Eltern, Lehrer, Erzieher und Psychologen

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Seitenzahl: 335

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

VorwortKAPITEL 1 - Intelligenz und ihre Ursprünge
Zum Begriff der IntelligenzIntelligenz als LernfähigkeitIntelligenz als PersönlichkeitsmerkmalZu den Anfängen der Intelligenzforschung
KAPITEL 2 - Die Entwicklung der Intelligenz über die Lebensspanne
Die Entwicklung der Intelligenz in der KindheitDie Entwicklung der geistigen Fähigkeiten bei Klein- und SchulkindernZusammenfassende Betrachtung der universellen Entwicklung der Intelligenz im Kindesalter: Was verändert sich?Gehirnentwicklung und Intelligenz
KAPITEL 3 - Wie viele Intelligenzen gibt es?
Kristallisierte und fluide IntelligenzPrimary Mental AbilitiesDimensionale IntelligenzmodelleEine oder viele Intelligenzen?
KAPITEL 4 - Die Messung von Intelligenz: Intelligenztests und ihre Nützlichkeit
Die Entwicklung von Intelligenztests und der Intelligenzquotient (IQ)IntelligenztestsDie Nützlichkeit von Intelligenztests für Kinder und JugendlicheDie Nützlichkeit von Intelligenztests für ErwachseneDie Vorhersage von allgemeinem Lebenserfolg durch IntelligenztestsWozu brauchen wir überhaupt Intelligenztests?
KAPITEL 5 - Die Ursachen individueller Unterschiede in Intelligenz und Begabung
Was determiniert Begabung: Gene oder Umwelt?Elementar-kognitive Grundlagen der menschlichen IntelligenzImplikationen für die Bildung
KAPITEL 6 - Gruppenunterschiede: Geschlecht, Rasse und ethnische Herkunft
Unterschiede zwischen den GeschlechternEthnische UnterschiedeAbschlussbetrachtung: Selektionseffekte als Ursachen für Gruppenunterschiede
KAPITEL 7 - Intelligenz und Lernen
Die Repräsentation von Wissen und seine Veränderung durch LernenWissen ist der Schlüssel zum Können: Ergebnisse aus der ExpertiseforschungIntelligenz als Produkt der SchulbildungHolzwege in der Bildung: Lernen lernen statt Wissen aneignen und GehirnjoggingNeurowissenschaftliche Grundlagen des Lernens
KAPITEL 8 - Die Entwicklung von Intelligenzunterschieden über die Lebensspanne
Die Entwicklung von Intelligenzunterschieden in der Kindheit: Die LOGIK-StudieDie Bedeutung der Intelligenz für das Lernen in der KindheitIntelligenzunterschiede im Säuglingsund Kleinkindalter: Gibt es kritische Phasen der Intelligenzentwicklung?Veränderungen der Intelligenz im Erwachsenenalter
KAPITEL 9 - Die Perspektive der HochbegabungsforschungKAPITEL 10 - Antworten auf häufig gestellte Fragen
1. Werden Intelligenztests bald durch bio- und neurowissenschaftliche Methoden ersetzt?2. Visualisierer und Verbalisierer: Ist die Unterteilung in Lerntypen sinnvoll?3. Was nützt Gehirnjogging wirklich?4. Können Personen mit unterschiedlicher Intelligenz gemeinsam lernen?5. Worauf soll man sich im Zweifelsfall verlassen – auf das Wissen oder die Intelligenz?6. Ist der Mensch, was er isst – und einatmet? Kann man seine Intelligenz durch Brainfood oder »IQ-Pillen« verbessern oder aber durch Umweltgifte ruinieren?7. Kann die Intelligenz durch gezielte Stimulation in der frühen Kindheit gesteigert werden?
Literatur
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10
RegisterAbbildungsnachweisCopyright

Vorwort

Viele Menschen verbringen große Teile ihres Lebens damit, nach guten, vielleicht sogar außergewöhnlichen Leistungen zu streben. Hierfür, so lehren uns Pädagogen und Psychologen, ist effizientes Lernen über einen langen Zeitraum eine unabdingbare Voraussetzung. Manche Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich besonders gut in der Kindheit erwerben, später hingegen nur mit erheblich größerem Aufwand. Andererseits wird fast allerorts lebenslanges Lernen propagiert, und tatsächlich erlauben es die dynamischen Entwicklungen im Arbeitsleben unserer Gesellschaften kaum noch jemandem, ein Leben lang im gleichen Tätigkeitsfeld beschäftigt zu sein. Aber nicht nur die Vermittlung von Fachwissen und Expertise steht im Zentrum des lebenslangen Lernens, auch in »weichen« Fertigkeiten (soft skills) wie sozialer und emotionaler Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Überzeugungskraft etc. müssen wir uns ein Leben lang weiterentwickeln, um uns auf einem – durch zunehmende Rationalisierungs- und Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft – immer kleiner werdenden Arbeitsmarkt weiterhin aussichtsreich positionieren zu können. Dies dient einerseits dem Ziel, einen möglichst hohen Lebensstandard im Hier und Jetzt zu erreichen, andererseits aber auch – in Zeiten implodierender Renten- und Pensionssysteme  – die notwendigen Rücklagen für das Alter schaffen zu können. Zur Erreichung dieser Ziele der fachlichen, vor allem aber auch der persönlichen Fortbildung haben sich inzwischen ganze Dienstleistungssektoren etabliert (Supervision, Training von Managementqualitäten, Führungserfolg, soziale und emotionale Intelligenz und vieles mehr), und zum Teil sind neue Berufsbilder wie etwa das des Coachs entstanden. Wer »es geschafft hat«, geht heute nicht mehr zum Psychoanalytiker, sondern hat einen eigenen Coach.

Der boomende Trainings-, Supervisions- und Coachingmarkt steht aber gleichzeitig in einem zumindest partiellen, aber deshalb nicht weniger interessanten Widerspruch zur Popularität von teils traditionellen, teils modernen Begabungsbegriffen. Der Intelligenzquotient oder IQ ist – selbst in der nicht einschlägig (aus-)gebildeten Bevölkerung – sicher eines der bekanntesten Konzepte der modernen Psychologie. Intelligenz mit ihren verschiedensten Facetten der Begabung gilt wohl den meisten Menschen als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für den Erfolg in Ausbildung und Beruf. Nicht zuletzt werden innerhalb wie außerhalb der modernen wissenschaftlichen Psychologie seit einigen Jahrzehnten immer wieder neue »Intelligenzen« ge- bzw. erfunden, wie beispielsweise die soziale Intelligenz und in jüngerer Zeit die emotionale Intelligenz bis hin zu Kuriositäten wie der sexuellen Intelligenz. Während einige Facetten menschlicher Begabungen angesichts einer mehr als 100-jährigen Tradition als sehr gut erforscht gelten können – dies trifft vor allem auf kognitive Fähigkeiten wie verbale oder Sprachbegabungen, rechnerisch-mathematische Fähigkeiten und das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen zu –, haben andere Merkmale nicht nur eine deutlich kürzere Forschungsgeschichte, sondern die Erkenntnisse über sie sind teilweise trotz 40 bis 50 Jahre währender wissenschaftlicher Bemühungen auf vergleichsweise mäßigem Niveau angesiedelt. Dies gilt zum Beispiel für die Kreativität. Wieder andere Begabungsmerkmale, etwa die erwähnten soft skills, haben zwar einerseits eine längere Forschungstradition (der Begriff der sozialen Intelligenz geht auf Thorndike, 1920, zurück), doch ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand zu diesen Fähigkeiten vergleichsweise bescheiden. In den letzten Jahren haben sich jedoch in der wissenschaftlichen Psychologie seriöse Forschungsaktivitäten zur emotionalen Intelligenz etabliert, die als eine Form der sozialen Intelligenz in neuem Gewande verstanden werden kann.

Die Psychologie und die Märkte, die Psychologen und verwandte Professionen bedienen, sind also mit dem faszinierenden Widerspruch zwischen der Annahme zumindest teilweise erblich bedingter menschlicher Begabungen einerseits und einem Bildungs-, Trainings- und Coachingboom andererseits konfrontiert. Sind menschliche Begabungen (oder auch die Persönlichkeit, der »Charakter« eines Menschen) primär genetisch festgelegt oder zumindest durch pränatale und frühkindliche Einflüsse so stark beeinflusst, dass spätere Bildungsmaßnahmen unsere Psyche eigentlich kaum mehr oder nur in sehr engen Grenzen verändern können? Oder ist die menschliche Psyche (Begabungen und Persönlichkeit) so flexibel, dass Erziehung, (Aus-)Bildung, adäquates Training und Coaching auch aus einem unter schwierigsten Bedingungen aufgewachsenen »Kaspar Hauser« einen erfolgreichen Manager, Wissenschaftler, Künstler oder Politiker machen können?

Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte, das sagt uns schon die intuitive Alltagserfahrung. Aber wo sie genau liegt und welche Begabungen mehr oder weniger genetisch oder durch frühe Erfahrungen festgelegt werden, das wissen wir aufgrund der jüngsten Entwicklungen in der so genannten Populations- oder Verhaltensgenetik (der Erforschung des Einflusses von Anlage und Umwelt) wie auch in den Kognitions- und Neurowissenschaften wesentlich genauer als noch vor ein paar Jahren.

Obwohl wir so etwas wie einen stabilen Kern unserer Begabungen und unserer Persönlichkeit zugrunde legen müssen, haben natürlich Lernen und Erfahrung einen beachtlichen Einfluss auf die Anpassung dieses Kerns an unsere Umwelt. Aber wie genau wirken sich Bildung, Ausbildung und Training auf unsere geistigen Kompetenzen aus? In Deutschland wie in Österreich ist die Frage nach dem Wann und dem Wie besonders virulent, seitdem internationale Schulleistungsstudien wie PISA gelegentlich sogar dahingehend interpretiert werden, dass in diesen Ländern ein Bildungsnotstand herrsche. Obwohl es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass deutsche und österreichische Schüler mit einem weniger effizienten Gehirn ausgestattet sind als finnische, niederländische oder kanadische Schüler, lernen diese mehr und besser in der Schule. Ganz offensichtlich können in Abhängigkeit von der Qualität der Lernangebote bei gleichen Voraussetzungen in der Intelligenz Kompetenzen in unterschiedlichem Ausmaß gefördert werden. Gibt es »kritische Perioden« für die eine oder andere Begabung, nach deren Verstreichen man bestenfalls mittelmäßige Leistungen erreichen kann? Und inwieweit spielen Motivation, Übung und Ausdauer nicht vielleicht sogar eine größere Rolle als die Begabung?

Die zentrale Frage dieses Buches ist der (vermeintliche) Widerspruch zwischen Begabungen und Talenten einerseits und der großen Bedeutung von Lernen und Bildung andererseits. Was sind die genetischen und neurobiologischen Grundlagen von Begabung und Lernen? Und inwieweit lassen sich die Grenzen der Begabung durch Lernen und/oder Üben überwinden? Ziel dieses Buches ist es, eine Synthese zwischen Erkenntnissen aus Begabungs- und Intelligenzforschung einerseits und kognitionspsychologischer Lehr- und Lernforschung andererseits vorzustellen.

Für die Entwicklung dieser Synthese haben wir, ein Vertreter der Intelligenz- und Begabungsforschung und eine Vertreterin der kognitionswissenschaftlich orientierten Lehr- und Lernforschung, uns zusammengefunden. Dieses Buch ist auch das Ergebnis einiger teils kontroverser, aber umso fruchtbarerer Diskussionen zwischen beiden Autoren. Dem soll die Struktur des Buches Rechnung tragen: Es werden wesentliche Erkenntnisse aus mehr als 100 Jahren wissenschaftlicher Intelligenz- und Begabungsforschung einerseits und Lernforschung andererseits vorgestellt. Wer sich einen »enzyklopädischen Zugang« erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Vielmehr reflektiert die Darstellung die persönlichen Schwerpunktsetzungen der Autoren aus der Perspektive der modernen Kognitions- und Neurowissenschaften.

Interindividuelle Unterschiede in der Intelligenz geben nicht nur der Wissenschaft Rätsel auf, sondern stellen auch eine Herausforderung für unser Schulsystem dar. Können Menschen mit unterschiedlicher Intelligenz von den gleichen Lerngelegenheiten profitieren? Diese Frage steht auch im Zusammenhang mit dem Thema Hochbegabung, dem wir ein eigenes Kapitel gewidmet haben. Es bleibt uns zu hoffen, dass bei den Leserinnen und Lesern das Buch so ankommt, wie wir es beabsichtigt haben: intellektuell stimulierend und alltagstauglich.

Wenn dies gelungen ist, so ist es bei weitem nicht allein unser Verdienst. Hella Beister vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat jedes einzelne Kapitel sehr kritisch gelesen, uns gnadenlos auf Widersprüche oder unverständliche bzw. schlampige Formulierungen hingewiesen und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht. Wir sind ihr zu großem Dank verpflichtet. Frau Naumann von der Deutschen Verlags-Anstalt hat ein Übriges getan, um die Lesbarkeit und die Verständlichkeit des Buchs zu verbessern. Auch ihr sei herzlich gedankt. Frau Anna Kanape vom Institut für Psychologie der Universität Graz sei gedankt für die große Hilfe bei der Erstellung von Grafiken und für Literaturrecherchen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass viele Kolleginnen und Kollegen, vor allem aber auch ZuhörerInnen unserer Vorträge kritische Anmerkungen zu einzelnen Befunden und Thesen geliefert haben, ohne deren Beiträge dieses Buch vielleicht nicht entstanden wäre.

KAPITEL 2

Die Entwicklung der Intelligenz über die Lebensspanne

Den Menschen ist ihre Intelligenz in die Wiege gelegt, doch sie können sie nicht von Anfang an zeigen. Man schreibt Kindern deshalb eine relative, aber keine absolute Intelligenz zu. Sie verfügen über ein geistiges Potenzial, das sich erst noch entwickeln muss. Auch wenn Unterschiede im geistigen Potenzial bereits in der Kindheit sichtbar werden, erreicht die Intelligenz erst im frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt. Wie sich die Intelligenz über die Lebenspanne hinweg verändert, lässt sich aus einer universellen und einer differentiellen Perspektive betrachten. Universell gesehen stellt sich die Frage nach dem Was und dem Wie der Veränderung mit dem Alter. Aus der differentiellen Perspektive hingegen ergibt sich die Frage nach der Stabilität interindividueller Unterschiede: Behalten Menschen, die als Kinder überdurchschnittlich intelligent waren, ihren Vorsprung auch im Erwachsenenalter? Solche und ähnliche Themen werden weiter hinten behandelt. In diesem Abschnitt steht die universelle Entwicklung im Mittelpunkt. Welche Voraussetzungen für die Intelligenzentwicklung bringen Menschen mit, und wie verändern sich diese im Laufe der Kindheit?

Die Entwicklung der Intelligenz in der Kindheit

Der bekannte Entwicklungspsychologe Jean Piaget ging davon aus, dass Säuglinge noch kein Gedächtnis haben, Vorschulkinder noch ganz unflexibel in ihrem Denken sind und Grundschulkinder noch nicht abstrakt denken können. Piaget hatte tatsächlich Beobachtungen an Kindern gemacht, die solche Schlüsse nahelegten. Einer seiner bekanntesten Versuche war der zur so genannten Objektpermanenz. Was Piaget darunter verstand, lässt sich anhand eines sieben Monate alten Babys, das mit einem Gegenstand spielt, nachvollziehen. Setzt man sich mit dem Kind an einen Tisch, legt den Gegenstand in dessen Reichweite und verdeckt ihn mit einem Tuch, wird man feststellen, dass das Kind nicht einfach das Tuch lüftet und sich das Spielzeug wieder holt, sondern hilflos herumschaut. Warum holt sich das Kind, das motorisch längst dazu in der Lage ist, das Spielzeug nicht wieder? Piaget würde sagen: Das Kind weiß noch nicht, dass der Gegenstand, der dem Blickfeld entschwunden ist, weiter existiert. Er ging davon aus, dass während der ersten Lebensmonate in den Köpfen der Kinder nicht viel vor sich geht und sie nur das verarbeiten können, was durch ihre Sinnesorgane aufgenommen wird und präsent ist. Seiner Ansicht nach können Kinder noch keine Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erschließen, die nicht ganz offensichtlich sind. Anfänge des abstrakten Denkens zeigen sich nach Piaget gegen Ende des ersten Lebensjahres, aber auch Kleinkinder hält er noch für recht eingeschränkt in den Prinzipien des Denkens. Piagets Beobachtungen an Vorschulkindern werden später näher erörtert werden, aber bereits an dieser Stelle sei angedeutet, dass die geistigen Fähigkeiten von Kindern dieser Altersstufe sehr viel optimistischer gesehen werden können. Inzwischen wissen wir, dass bereits Säuglinge Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erschließen können. Im Lehrbuch von Usha Goswami sind viele interessante Experimente mit Säuglingen dargestellt, die deren Kompetenzen belegen.

Menschen müssen, was den Erwerb des Wissens angeht, das ihren Kompetenzen zugrunde liegt, nicht in allem bei null anfangen. Wie Vögel mit Wissen über das Fliegen und Löwen mit Wissen über das Jagen ausgestattet sind, so bringen auch die Menschen Wissen mit, das sie nicht allein durch Erfahrung und Lernen erwerben mussten. Schon als wenige Monate alte Kinder wissen sie mehr über die Welt, als Piaget sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte. Allerdings können sie zu dem Zeitpunkt ihr Wissen weder durch Sprache noch durch Handlung ausdrücken. Im so genannten Habituationsparadigma, das Entwicklungspsychologinnen wie Liz Spelke und Renée Baillargeon ausgiebig eingesetzt haben, zeigte sich, über welche erstaunlichen Kompetenzen kleine Kinder verfügen. In diesem Forschungsparadigma werden Säuglinge zunächst für einen längeren Zeitraum mit einem für sie interessanten Ereignis konfrontiert, etwa einem rollenden Ball.

Abbildung 2.1: Die Versuchsanordnung in Habituationsstudien

Die Dauer, mit der die Kinder das Ereignis beobachten, gilt als Indikator für ihr Interesse. Nachdem das Kind durch kurze Blickdauer signalisiert hat, dass es nicht länger an dem Ball interessiert ist, stellt der Versuchsleiter in der Experimentalgruppe unter Anwendung eines Tricks ein physikalisch unmögliches Ereignis her. Im Beispiel der obigen Abbildung wird der Eindruck vermittelt, als hätte der Ball eine feste Wand