Lernseits denken - erfolgreich unterrichten - Evi Agostini - E-Book

Lernseits denken - erfolgreich unterrichten E-Book

Evi Agostini

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Beschreibung

Lehrseits dominiert didaktische Planung, lernseits tobt das Leben! Dieser Spannung stellt sich der innovative Ansatz dieses Buchs: Lehren und Lernen sind unzertrennlich miteinander verbunden – und das Ergebnis ist nicht planbar. Damit sind Lehrkräfte tagtäglich konfrontiert und werden daran gemessen, wie es ihnen gelingt, vorgegebene Ziele zu erreichen.

Mit seinem  lernseitigen Ansatz schafft das Autorenteam die Grundlage für ein  personalisiertes Verständnis von Lernen und zeigt praxisnah auf, welche Auswirkungen diese Erkenntnisse auf das Lehren haben. Lernseits zu denken und responsiv zu unterrichten heißt, das Lehren vom Lernen her zu gestalten.

Acht Kerngedanken führen an die zentralen Themenfelder lernseitiger Orientierung heran. Empfehlungen für die lernseitige Unterrichtspraxis und kritische Dialoge aus Expertensicht regen zur Umsetzung im eigenen Unterricht an.

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Seitenzahl: 231

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Agostini/Schratz/Risse

Lernseits denken – erfolgreich unterrichten

Personalisiertes Lehren und Lernen in der Schule

Impressum

Lernseits denken – erfolgreich unterrichten

Evi Agostini ist ausgebildete Grundschullehrerin. Nachdem sie zunächst Unterrichtserfahrung sammelte, zog es sie nochmals an die Universität, wo sie mit einer pädagogischen, phänomenologischen Arbeit über das Lernen promovierte. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin lehrt und forscht sie zurzeit im Bereich der Lehrerbildung an der Universität Innsbruck.

Michael Schratz unterrichtete an Hauptschule und Gymnasium und war Schulbuchautor für Englisch, ehe er in Lehrerbildung und Schulentwicklung zum gefragten Referenten im In- und Ausland wurde. Als Autor zahlreicher Veröffentlichungen und Mitherausgeber mehrerer pädagogischer Zeitschriften ist es sein Anliegen, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Entwicklung von Schule und Unterricht (be)greifbar zu machen.

Erika Risse war viele Jahre Schulleiterin eines Gymnasiums in Oberhausen und hat als zertifizierter Master Coach in der Systemischen Organisationsberatung langjährige Erfahrung in Schul- und Unterrichtsentwicklungsprojekten für alle Schulstufen und Schulformen. Für Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und für andere schulrelevante Themen bietet sie Lehrer- und Schulleitungsfortbildungen an.

© 2018 AOL-Verlag, Hamburg

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Alle Rechte vorbehalten.

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Fon (040) 325083-060 · Fax (040) 325083-050

[email protected] · www.aol-verlag.de

Lektorat: Anja Ley, Glinde

Redaktion: Frederike Schlünder

Layout/Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth

Illustrationen: Bettina Kumpe, Braunschweig

Coverfoto: © Viacheslav lakobchuk – fotolia.de

ISBN: 978-3-403-70523-9

Das Werk als Ganzes sowie in seinen Teilen unterliegt dem deutschen Urheberrecht. Der Erwerber des Werkes ist berechtigt, das Werk als Ganzes oder in seinen Teilen für den eigenen Gebrauch und den Einsatz im Unterricht zu nutzen. Die Nutzung ist nur für den genannten Zweck gestattet, nicht jedoch für einen weiteren kommerziellen Gebrauch, für die Weiterleitung an Dritte oder für die Veröffentlichung im Internet oder in Intranets. Eine über den genannten Zweck hinausgehende Nutzung bedarf in jedem Fall der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages.

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Inhalt

Liebe Kollegin, lieber Kollege!

I) Einleitung und Einladung

II) Lernen und Lehren neu wahrnehmen mit Vignetten

III) Lernen und Lehren – zwei Seiten von Unterricht

1. Zur Eigentümlichkeit schulischen Lernens

2. Lernen „jenseits“ und „diesseits“ von Unterricht

3. Was „lernseits“ meint

IV) Acht Kerngedanken lernseitigen Unterrichts

1. Kerngedanke: Sinn, Einstellung und Haltung

2. Kerngedanke: Professionsethik und Professionsbewusstsein

3. Kerngedanke: Systemisches Wissen und Handeln

4. Kerngedanke: Persönlichkeitsbezug

5. Kerngedanke: Kompetenzorientierung

6. Kerngedanke: Welchen Zugang erfordert die Sache? Und der Schüler?

7. Kerngedanke: Beziehungskultur

8. Kerngedanke: Resonanzorientierung

V) Lernseitig angelegter Unterricht in der Praxis

1. Die lernseitige Erwartungshaltung im Unterricht

2. Vorbereitung und Durchführung eines lernseitig orientierten Unterrichts

3. Lernsettings, Methoden und Unterrichtsmaterial im lernseitigen Unterricht

4. Quo vadis …? Personalisiert lehren.

Anhang:

Markierungspunkte für Lernseitigkeit im Überblick

Literaturverzeichnis

Liebe Kollegin, lieber Kollege!

Eine engagierte Kollegin gestand uns einmal inmitten des Alltagsgewusels mit einem leichten Seufzen in der Stimme: „Ich hab’ so Sehnsucht nach mir selbst.“ Diesen Satz haben wir nie vergessen. In Momenten des Erschöpftseins von den Anforderungen des Alltags regt er an, kurz stehen zu bleiben und in sich hineinzuhorchen. Sich der Frage zu widmen, sollte ich etwas in meinem Leben verändern, und wenn ja, dann was?

Was hat das mit schulischem Lernen zu tun? Stellen Sie sich einmal folgende, zugegebenermaßen skurrile Situation vor: Sie gehen in Ihre Klasse hinein und beginnen Ihren Unterricht mit dem Austeilen eines Aufgabenbogens, den Sie vorher mühevoll unter Berücksichtigung von drei verschiedenen Niveaustufen vorbereitet haben, um jeden Ihrer Schüler1 im Lernprozess möglichst mitnehmen zu können. Ihre Schüler lesen sich ihre jeweiligen Aufgaben durch, aber statt sofort mit der Bearbeitung der Aufgabe anzufangen, sieht jeder einzelne Schüler Sie an und spricht mit einem kleinen Seufzer diesen Satz aus: „Ich hab’ so Sehnsucht nach mir selbst.“ Sie sind verdutzt, wollen gerade loswettern, halten aber inne und lassen diese Aussage einen Moment lang im Raum stehen und auf sich wirken. Schließlich antworten Sie leise: „Ich auch.“

Wenn Ihnen diese Situation aus der Seele spricht oder Sie berührt, dann wird die Lektüre dieses Buches ein Gewinn für Sie sein. Darin findet sich der Satz: „Wenn Lehrkräfte Momenten der Irritation und der Unsicherheit im Unterrichtsgeschehen Beachtung schenken, verändert dies nicht nur ihre Wahrnehmung von Lernen, sondern diese veränderte Auffassung hat auch Auswirkungen auf ihr Lehren.“ Der hier beschriebene Moment ist ein konstruierter. Im schulischen Alltag gibt es jedoch vielfältige Momente der Irritation und Unsicherheit. Wie viel Zeit und Raum nehmen wir uns, diese Momente wahrzunehmen, darüber nachzudenken und darauf zu antworten? Keine Zeit? Was soll ich denn noch alles schaffen? Vielleicht viel weniger, als wir uns selbst aufbürden, indem wir versuchen, alle Gedanken und Gefühle unserer Schüler vorwegzunehmen, als seien wir Hellseher, um auf diesen vagen Vermutungen aufbauend unseren Unterricht zu konzipieren. Was, wenn wir die Kontrolle über das Lerngeschehen einfach einmal aussetzen und uns auf die Menschen, die auf einzigartige Arten und Weisen versuchen, der Welt habhaft zu werden und sich in ihr zurechtzufinden, einlassen? Dann beginnen wir „lernseits“ zu denken und machen die „gelebten Erfahrungen von Lernen“ zum Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen. Und genau dieser Blickrichtungswechsel verändert uns und unseren Unterricht. Zu diesem Gedankenexperiment laden wir Sie ein. Wir machen uns auf die Suche nach der Antwort auf die Frage: Was macht eigentlich einen guten Unterricht aus? Wie kann ich erfolgreich lehren und wie meine Schüler erfolgreich lernen? Und nehmen Sie mit auf unsere Gedankenreise hierzu. Die Lektüre soll Herausforderung und Inspiration zugleich sein. Herausforderung, weil ich als Lehrer meine bisherigen Vorstellungen von Lehren und Lernen und von einem gelingenden Unterricht zunächst einmal infrage stellen und über Bord werfen muss, um frei zu sein für einen Perspektivwechsel und für neue Impulse. Inspiration, weil in mir die Lust geweckt wird, mit diesem veränderten Blickwinkel in die Schule zu gehen und mich neu in Beziehung zu setzen. Zu den Schülern. Zu den Lerngegenständen. Und schließlich zu mir selbst. Daraus resultiert nicht weniger als ein neues Verständnis von Lernen, das der Realität in den Köpfen und Herzen Ihrer Schüler weit näherkommt als alle Antizipation. Gelingender Unterricht braucht genau diese Veränderung in der eigenen Haltung zum Lehren und Lernen, zu Lehrenden und Lernenden.

Zurück zum Eingangsszenario: Stellen Sie sich die gleiche Situation noch einmal vor. Sie teilen die Arbeitsblätter aus und alle lesen die Aufgabe. Wieder schauen Ihre Schüler auf. Im Chor rufen sie erleichtert ein Zitat aus Goethes Faust aus: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Sie lachen und erwidern: „Ich auch.“

Was hat sich verändert? Unsere gedanklichen Auseinandersetzungen sollen Sie auf den Weg zu einer Antwort auf diese Frage führen. Gehen müssen Sie ihn dann selbst.

Wir wünschen Ihnen, dass Sie dieses Buch aufwühlt und Sie motiviert, lernseits zu denken und diesem Denken neues Handeln folgen zu lassen.

Ihr Autorenteam

Danksagung

Auf den folgenden Seiten finden sich die Spuren vieler Menschen, ohne die es dieses Buch nicht gäbe. Angefangen von den Schülern und Lehrern, denen wir die kapiteleinleitenden „Vignetten“ verdanken, bis zu den Kollegen an unseren Lehr- und Forschungsinstituten, die uns in wichtigen Auseinandersetzungen weiter gebracht haben, als wir sonst gekommen wären. Claudia Solzbacher war Patin und Wegbegleiterin auf unserem erfahrungsreichen Weg. Friedhelm Käpnick, Udo Klinger und Siegfried Baur haben dieses Werk durch ihre kritischen Rückmeldungen bereichert.

I) Einleitung und Einladung

Dieses Buch ist eine Einladung zum Innehalten, dazu, einmal aus dem Marsch der Bildungsakteure herauszutreten und genau hinzuschauen. In welche Richtung marschieren Sie da eigentlich? Wie ist der Weg beschaffen und sind da noch andere Wege, die es zu erkunden gilt? Wann haben Sie das letzte Mal darüber nachgedacht, was Lehren und Lernen für Sie persönlich bedeutet oder was einen guten Unterricht auszeichnet? Welche Vorstellung Sie persönlich vom Lehren und Lernen und von einem guten Unterricht haben, ist von entscheidender Bedeutung für die Ausgestaltung der Lernprozesse Ihrer Schüler. Angenommen, Sie befürworten Schülerorientierung und Individualisierung. Dies führt Sie in der Praxis dazu, dass Sie versuchen zu antizipieren, auf welche Weise und auf welchem Niveau jeder Schüler wohl lernt. Schnell merken Sie, dass dieser Anspruch viel zu hoch ist, Sie vielleicht sogar überfordert, denn Sie können ja nicht in die Köpfe und Herzen jedes einzelnen Schülers hineinschauen. Es ist leider unmöglich, zu wissen, wer wie im Einzelnen lernt. Lernen zeigt sich immer erst im Nachhinein, anders gesagt, in den Ergebnissen. Erst im Rückblick können Sie feststellen, ob Ihre Schüler gelernt haben – oder auch nicht. Also beschränken Sie sich in der Planung Ihres individualisierten Unterrichts auf drei Lerntypen und drei Lernniveaus in der Hoffnung, damit möglichst viele Schüler zu erreichen. An diesen Festlegungen richten Sie Ihre Unterrichtsvorbereitung aus. Dabei legen Sie vorab fest, was Ihre Schüler jeweils lernen sollen und auf welchen drei Wegen dies geschehen kann. Funktioniert Lernen wirklich so?

Lernen ist eine Suchbewegung. Bewegung braucht Raum. Wie viel Raum geben Sie Ihren Schülern für diese Suchbewegungen des Lernens, wenn Lernwege und Antworten von vornherein festgelegt sind? Als Lehrkraft führen Sie Regie über die Gestaltungsprozesse im Unterricht und definieren so den Möglichkeitsraum, in dem die Suchbewegungen stattfinden. Dabei bemühen Sie sich um größtmögliche Kontrolle darüber, wie und was gelernt wird. Auch darüber, wo Ihre Schüler suchen sollen. Dies drückt sich zum Beispiel aus in Begriffen wie „Lernzielkontrollen“. Jetzt mögen Sie denken: „Ja, aber ich muss doch wissen, was und wie meine Schüler lernen, wie sonst soll denn Unterricht funktionieren?“ Eben diese Frage greifen wir in diesem Buch auf und nehmen Sie mit auf die Suche nach einer Antwort darauf, wie Lernen jenseits dieser Art von Kontrolle gelingen kann. Wir möchten Sie vom Anspruch befreien, für jeden Schüler das Denken und Fühlen vorwegzunehmen (oder es Ihnen gar abzunehmen), und Sie ermutigen, sich auf das Unverhoffte, Spontane, auf die Ausgestaltung der schülereigenen Suchbewegungen einzulassen, um zu begreifen, wie Lernen (auch Ihr eigenes) funktioniert bzw. besser funktionieren kann.

Lernseits denken

Wir laden Sie ein, schulische Unterrichtssituationen in ihrer Komplexität einmal anders wahrzunehmen und sich einem Lernbegriff zu nähern, der nicht von lehrseitigem Denken (Ich trage die alleinige Verantwortung für das Lernen meiner Schüler und versuche alles, was passieren soll und könnte, so gut wie möglich vorwegzunehmen. Ich gebe die Regie nicht aus der Hand.), sondern von lernseitigem Denken geprägt ist (Ich bin offen für eigene, auch spontane Lernwege meiner Schüler, mache sie mitverantwortlich für ihr Lernen und damit zu Mitakteuren ihrer eigenen Bildungsprozesse. Durch meine Wahrnehmung dieser Lernprozesse lerne ich selbst etwas über meine Schüler und über das Lernen an sich.). „Lehrseits“ unterrichten bedeutet, die pädagogisch-didaktischen Handlungen lediglich von der Methode und vom eigenem Können als Lehrkraft her zu setzen und (notwendige) Brüche in diesem Erfahrungsprozess zugunsten optimierender Interventionen zu glätten; „lernseits“ gedachter Unterricht macht die gelebten, widerständigen Erfahrungen von Lernen zum Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen. Wie genau dies aussehen kann, wird ein zentraler Gegenstand unserer Ausführungen sein.

Ziel dieses Buches ist, Sie zunächst in Ihrem gewohnten Verständnis von Lehren und Lernen zu irritieren und in Ihnen die Bereitschaft zu wecken, Ihre Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten aufs Spiel zu setzen. Wir möchten Ihre Aufmerksamkeit und Achtsamkeit neu ausrichten, auf Ihre Schüler und deren vielfältige Arten, zur Welt zu sein und sich diese Welt in ureigensten Lernprozessen zu eigen zu machen, auf sich selbst und Ihre Art, in der Klasse zu sein und in die Such- und Lernprozesse einzugreifen. Wie und was nehmen Sie wahr, wenn Sie Ihren Blick auf die Lernatmosphäre richten, die aus dem Zusammenspiel der mannigfaltigen Interaktionen resultiert? Das Kennen- und Erlernen dieser neuen Wahrnehmungsweise setzt das Einnehmen verschiedener Perspektiven voraus, die wir Ihnen anhand von acht Kerngedanken lernseitigen Unterrichts erläutern. Diese Kerngedanken werden ausgehend von konkreten Unterrichtsbeispielen in Form von Vignetten veranschaulicht. Die Vignette ist eine eigene Textsorte, die im pädagogisch-wissenschaftlichen Diskurs entwickelt wurde und ein zentrales Werkzeug zur Beschreibung und Analyse von Lernprozessen in der Schule darstellt. Durch sie wird die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit von Unterrichtssituationen veranschaulicht und somit zugänglich gemacht. Im Lesen von Vignetten werden Sie merken, dass Lernen viel mit Irritation und Unsicherheit zu tun hat, diese sogar Voraussetzungen sind, um lernen zu können. Wenn Sie als Lehrer Momenten der Irritation und der Unsicherheit im Unterrichtsgeschehen Beachtung schenken, so verändert dies nicht nur Ihre Wahrnehmung von Lernen, sondern diese veränderte Auffassung hat auch Auswirkungen auf Ihr Lehren. Anhand von Vignetten werden Sie auf die widerständigen Erfahrungen beim Lernen aufmerksam gemacht. Sie machen diese Situationen schrittweise für Sie nachvollziehbar und helfen Ihnen, eine Perspektive „lernseits“ von Unterricht einzunehmen. Im exemplarischen Nachvollzug der Lernerfahrungen anderer, von Schülern, aber auch von Lehrkräften wird für Sie Ihr eigenes Lernen spürbar. Sie entwickeln so ein Gefühl dafür, wo und wie Sie mit Ihrem Lehren auf diese spürbaren Unterrichtsmomente antworten können.

Responsiv unterrichten

Lernseitig zu denken setzt voraus, Lernen und Lehren in einem gemeinsam geteilten Erfahrungsvollzug wahrzunehmen. Responsiv und damit erfolgreich zu unterrichten meint ein Lehren, das im Dienste dieses gemeinsamen Erfahrungsvollzuges steht und auf schulische Situationen antwortet, in die Sie selbst als Lehrender verwickelt sind, indem Sie Herausforderungen annehmen und mit Anforderungen umgehen. Dies gelingt nur dann, wenn Sie nicht schon fertige Antworten parat haben, auf die Sie dann ungeduldig bei Ihren Schülern warten. Beim lernenden Lehren interessieren deshalb vor allem jene Momente, in denen Ihre eigenen Erwartungen in Bezug auf die Schüler, aber auch auf die zu lehrenden Unterrichtsinhalte enttäuscht (und damit eine Täuschung los) werden. Welche unerwarteten Verhaltensweisen nehmen Sie bei Ihren Schülern wahr? Welche neue Sicht eröffnet sich dadurch auf sie? Was erfahren Sie Neues über einen bestimmten Sachverhalt, auch dann noch, wenn Sie ihn bereits seit vielen Jahren zu vermitteln versuchen? Diese neue Sicht auf Ihren eigenen Unterricht eröffnen Ihnen Ihre Schüler – durch die Fragen, die sie stellen, aber auch durch die Antworten, die sie geben. Deshalb heißt es, aufmerksam zu sein für solche Schülerfragen oder Schülerantworten, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht immer in das eigene Konzept zu passen scheinen. Erst wenn Ihre bisher selbstverständlich gewordenen Wahrnehmungsgewohnheiten infrage gestellt werden, können Sie Neues über Ihr eigenes Lehren erfahren und es sukzessive verändern, indem Sie die konkreten Erfahrungen Ihrer Schüler im Unterricht beim Lehren aufgreifen. Damit hängen Fragen zusammen wie: Wie kann Unterricht so gestaltet werden, dass er Raum lässt für unerwartete Antworten? Wie können Heterogenität und Fremdheit der Schüler nicht als Überforderung gewertet, sondern als Grundbedingungen angenommen werden, die responsives Unterrichten ermöglichen?

Eine lernseitige Haltung als professionelle pädagogische Haltung in der Schule

Eine lernseitige Haltung ist eine professionelle Haltung, die erlernbar ist und mit der das Lernen von Kindern und Jugendlichen, aber auch Ihr Lehren gelingt. Wir möchten Sie darin schulen, einen veränderten Blick auf Schule und Unterricht zu werfen, und zeigen Ihnen Möglichkeiten auf, Unterrichtsmaterialien personalisiert einzusetzen und auszugestalten. Der lernseitige Blickwinkel verändert den Zugang zu Meilensteinen bisheriger individueller Förderung, wie z.B. dem hoch gehandelten selbstbestimmten Lernen. Wann immer Lehrkräfte Selbstlernmaterial herstellen, mag es einen hohen Bezug zu den Lernenden haben, zumindest in der Vorstellung der Verfasser. Wie viel Spielraum lässt dieses Material aber wirklich zu? Sind verschiedene Herangehensweisen, unterschiedliche Antworten oder gar neue Fragen denkbar? Unterrichtsmaterial, das der Lernseitigkeit Rechnung trägt, sollte so weit offen sein, dass die Schüler immer wieder die Möglichkeit haben, über den Aufforderungscharakter des Materials ihren jeweils persönlichen und damit bedeutsamen Zugang zum Lernen auch tatsächlich umzusetzen, d.h. ihre eigene Urheberschaft zu beanspruchen.

Zum einen geht es im Buch darum, Sie dafür zu sensibilisieren, wie man Lernen anders wahrnehmen kann und muss, um dem Lernen der Schüler eine höhere persönliche Sinnhaftigkeit zu geben. Zum anderen möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, dass alles Wissen und Handeln systemisch in ein größeres Ganzes eingebettet ist und es dabei doch immer auch einen Persönlichkeitsbezug hat. Das bedeutet auch, dass die Kerngedanken lernseitigen Unterrichtens sich nicht nur auf die Schüler beziehen, sondern systemisch gedacht immer auf ein Miteinander von Lernenden und Lehrenden. In diesem „Zwischen“ nimmt ein gemeinsamer Sinn seinen Ausgang und eröffnet ein neues Verständnis von einer Sache, aber auch von sich selbst und von den in die Lernerfahrung involvierten Personen. Im günstigsten Fall haben Sie als Lehrkraft den Blick lernseits auf das Unterrichtsgeschehen und reflektieren es professionell. Dadurch wird es auch möglich, dass Ihre Schüler durch ihr eigenes Vorgehen Lernanlässe schaffen und so ihre Vorstellungen im Unterricht umsetzen können.

Personalisiertes Lehren und Lernen

Dem Konzept der Individualisierung setzen wir das Konzept eines personalisierten Lernens und Lehrens entgegen. Das, was im Buch unter personalisiertem Lernen und Lehren verstanden wird, soll das Lernen (und damit einhergehend die fachliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden) stärker in den Fokus rücken, als dies heute über Konzepte individueller Förderung wissenschaftlich diskutiert und in Schulen vielerorts praktiziert wird. Im Gegensatz zur Individualisierung nimmt Personalisierung die soziale Verfasstheit der Lernenden ernst und trägt ihrer vielfältigen Verwicklung mit der Welt Rechnung, die sich in jedem Klassenzimmer zeigt. Lernen ist die persönlichste Sache der Welt, sodass Sie die damit in Zusammenhang stehenden Erfahrungen, die Bedeutungen, die die Einzelnen damit verknüpfen, niemals vorwegnehmen können. Das Einzige, was Sie als Lehrkraft tun können, ist möglichst umfassend über diesen Lernvollzug und seine Struktureigentümlichkeit Bescheid zu wissen, um Ihre eigenen Lehrmöglichkeiten wahrnehmen zu lernen. Dies versetzt Sie in die Lage, Ihren Unterricht so zu gestalten, dass Ihre Schüler sich in vielfältiger Art und Weise vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen mit den bildenden Widerständigkeiten der Welt auseinandersetzen können.

Im Laufe der Lektüre des Buches werden Sie die Erfahrung machen, dass der Zugang zum Lernen, aber auch zum Lehren immer nur in einer begrenzten Perspektive und unter Einnahme eines bestimmten Standpunktes möglich ist. Lernen zeigt sich in der eigenen Wahrnehmung stets nur als ein ganz bestimmtes Phänomen. Es lässt sich, wie wir oft zu glauben meinen, so simpel als Ganzes niemals fassen, sondern wird dagegen immer nur in bestimmten Facetten oder gar Schattierungen von Facetten greifbar. In den unterschiedlichen Vignetten dieses Buches zeigt sich Lernen beispielsweise als Erfinden, als Sich-Einlassen, als Sich-Anpassen, als Angesprochen-Werden, als Noch-Nicht- oder Nicht-mehr-Können, aber auch als Vermeiden, als Unterbrechen oder als Sich-in-Beziehung-Setzen. All dies sind Erfahrungen, welche die Schüler tagtäglich in der Schule machen und wodurch sie neben fachlichen Inhalten immer auch etwas über sich selbst lernen. Dasselbe gilt auch für das Lehren. Lehren wird in unserem Alltagsverständnis meist mit Instruktion oder der Vermittlung von Wissen gleichgesetzt. Häufig aus dem Blick gerät, dass Sie als Lehrender nicht nur etwas über die zu lehrenden Gegenstände, sondern auch über Ihre Schüler und sich selbst als Wissenden erfahren. Doch auch Lehren gerät in der eigenen Wahrnehmung stets nur als eine ganz bestimmte Erfahrung in den Blick, im lernseitigen Zugang dieses Buches z.B. immer da, wo ein Sinn provoziert und eine Einstellung oder Haltung hervorgebracht wird, wo Sie in Ihrer Professionsethik und Ihrem Professionsbewusstsein gefragt sind, wo Sie systemisches Wissen und Handeln erwerben, wo Sie Bezüge sowohl zu den unterschiedlichen Persönlichkeiten in Ihrer Klasse als auch zu den zu vermittelnden Kompetenzen aufbauen, wo Sie sowohl die Sache als auch den einzelnen Schüler im Blick haben, wo Sie am Aufbau einer Beziehungskultur arbeiten oder sich an resonanzhaltigen Momenten orientieren. Erst dieser Blick aus der Distanz auf die Unterrichtssituation heraus macht es uns zuallererst möglich, bestimmte Zusammenhänge zu sehen. In der Distanz zum Geschehen und vor allem zu uns selbst können wir die je aktuelle Situation reflektieren, uns auf den vielleicht gerade neu entstandenen Bedarf einlassen und unser Handeln darauf ausrichten. Dabei müssen wir als Lehrende lernen, die Komplexität des Unterrichtsgeschehens wahrzunehmen – möglichst wenig auszublenden, uns auf die Gefühlslage unserer Schüler einzustellen oder sie zumindest zu registrieren, ebenso die Bedürfnisse, die daraus entstehen, oder aber auch die kreativen Impulse, die von den Schülern ausgehen und unsere Erwartungen überraschen. Die Arbeit mit Vignetten, die wir Ihnen in diesem Buch näher vorstellen werden, helfen Ihnen dabei, sich in dieser neuen Wahrnehmungsweise zu schulen und zu begreifen, welcher Art die hier beschriebene Komplexität sein kann. Die Auseinandersetzung mit dieser Textsorte soll Sie letztlich dazu ermutigen, andere Standpunkte einzunehmen, den Anrufen einer vieldeutigen Schulwelt Gehör zu schenken und auf der Suche nach lernseitigen Anknüpfungsmöglichkeiten auf immer wieder neue (Ab-)Wege zu geraten.

Zum Aufbau des Buches

Begleiten Sie uns auf diese Spurensuche des Lernens und lernseitigen Unterrichtens, vollziehen Sie diese Suchbewegungen mit uns mit und lernen Sie dabei die unterschiedlichsten Lernanlässe von Schülern, aber auch Ihre eigenen Lern- und Lehrgelegenheiten bewusst wahrzunehmen. Jedes Kapitel beginnt mit einer Vignette, die verdichtete Unterrichtssituationen exemplarisch veranschaulicht und Ihnen so einen ersten Eindruck von lernseitiger Wahrnehmung gibt. Hier entfalten wir unterschiedliche Möglichkeiten, wie und als was Sie Lernen in der Schule wahrnehmen können und welche Konsequenzen sich daraus für Ihr Lehren ergeben. Um die Anschlussfähigkeit zu aktuellen Unterrichts- und Bildungsthemen zu gewährleisten, wurde diese Lesart lernseitigen Unterrichtens an acht Kerngedanken ausgerichtet, die in Ihrem alltäglichen Lehren eine wichtige Rolle spielen und an denen Sie als Lehrer gemessen werden. Kritische Expertendialoge greifen die unterschiedlichen Lesarten auf: Dabei kommen in Form eines Forums2 Schulführungskräfte, Lehrer und Wissenschaftler zu Wort und diskutieren diese Kerngedanken vor ihren je eigenen (wissenschaftlichen und schulpraktischen) Erfahrungshintergründen miteinander, bringen weitere Beispiele lernseitigen Unterrichtens ein oder haken auch durchaus dort nach, wo Deutungen Einwürfe provozieren oder weitere Erklärungen erfordern. Am Ende eines jeden Kapitels fassen wir die konkreten Ansatzpunkte für Lernseitigkeit für Sie jeweils noch einmal pointiert zusammen. Die in den unterschiedlichen Kapiteln eingeschobenen Kästen sind für ein Verständnis lernseitigen Unterrichtens nicht zwingend notwendig, sondern laden Sie vielmehr dazu ein, kritische Diskurse zu vertiefen oder noch wenig bekannte Thesen und Begrifflichkeiten weiter auszufalten. Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, wie Sie einen lernseitigen Unterricht vorbereiten und durchführen können und wie das Lernmaterial aussehen sollte, das geeignet ist, einen lernseitigen Unterricht zu initiieren, werfen wir im letzten Kapitel einige Schlaglichter auf lernseitige Unterrichtssituationen und beleuchten grundsätzliche Aspekte zur praktischen Umsetzung auf der Basis der lernseitigen Erfahrungen von Schulpraktikern.

II) Lernen und Lehren neu wahrnehmen mit Vignetten

Anton, Alberta und Herr Anras

„Morgen ist Klassenarbeit, ich schreibe Übungen auf“, begrüßt Herr Anras die Schüler, tritt an die Tafel und notiert dort einige Seitenangaben aus dem Übungsbuch für Mathematik. Anton schlägt sein Mathematikbuch auf, den Kopf dicht über das Blatt gebeugt löst er zügig die erste Übung. Sofort wandert sein Blick zur zweiten Übung. Seine Lippen bewegen sich lautlos zum Klang der Aufgabenstellung. Anschließend überträgt er den Zahlenstrahl vom Buch in sein Heft und zeichnet mit dem Lineal gleichmäßige Abstände von 4 mm ein. Abrupt hält Anton in seinen Bewegungen inne. Seine Augen wandern vom Heft zum Buch und wieder zurück. Dann fährt er mit dem Finger die Abstände des Zahlenstrahls im Buch entlang, lässt den Blick erneut zu seinem Heft gleiten, stützt den Kopf auf und lächelt. „Was machst du?“, reißen ihn die Worte von Alberta, seiner Banknachbarin, aus seinen Überlegungen. Sie beugt sich über sein Heft. „Nicht so!“, ruft sie tadelnd aus. Die beiden stecken die Köpfe zusammen, und Alberta erläutert flüsternd: „Bei 19 musst du weitermachen! Nicht so!“ „Ich verstehe das nicht“, antwortet Anton zweifelnd. Erneut tauschen sich die beiden murmelnd aus, Alberta rät ihm: „6, 7, dann musst du weitermachen, herausfinden, was da ist!“ „Ah“, kommentiert Anton wenig überzeugt ihre Erklärungen. Er radiert seinen Zahlenstrahl aus, zieht einen Strich mit seinem Lineal, blickt starr auf sein Heft. „Was machst du da?“, will Alberta erneut wissen. Anton blickt weiterhin starr auf sein Heft. „Ich frage jetzt“, äußert Alberta bestimmt, packt ihr Heft und läuft dem Lehrer entgegen. Anton senkt seinen Kopf, beugt sich noch tiefer über sein Heft, spannt seine Schultern an. Er schreibt, radiert und liest die kurze Aufgabenstellung wiederholt durch. Dann unterteilt er den Zahlenstrahl in Abstände von 5 mm, malt die Zahlen vom Buch mit dem Finger unter die Abstände, blickt erneut in das aufgeschlagene Mathematikbuch. Alberta stellt sich neben ihn, wirft einen schnellen Blick in sein Heft: „Hast du’s gecheckt?“, erkundigt sie sich unsicher. Anton reagiert noch immer nicht. Sein Blick wandert immer wieder vom Buch zum Heft und wieder zurück. Plötzlich flüstert er kaum hörbar: „Es geht.“ Der Lehrer kommt an seinem Tisch vorbei, Anton löst die Augen von seinem Heft und fügt stolz etwas lauter hinzu: „Ja, es stimmt, immer 4 mm.“ „Ein bisschen sauberer kannst du aber schon arbeiten“, weist der Lehrer ihn zurecht. Anton verzieht keine Miene, beugt sich wieder über sein Heft, radiert und unterteilt den gesamten Zahlenstrahl nun in Abstände von 4 mm. Dann trägt er mit der Füllfeder nacheinander die Zahlen ein, zuerst 120, dann 350 und 230. Für die Zahlen 175 und 395 unterteilt er die 4 mm nochmals in 2-mm-Abstände. „Jetzt stimmt es! Schau, es stimmt, es geht!“, ruft er laut aus. Er schaut von seinem Heft auf und dreht sich mit einem triumphierenden Blick zu Alberta um.3

Unterrichtsszenen wie diese sind in der Schule keine Seltenheit. Ein Lehrer betritt mit einem geplanten Ablauf im Kopf die Klasse. Er steht wie Sie und viele andere Lehrer unter Druck: Klassenziele müssen erreicht und erworbene Kompetenzen einer Prüfung unterzogen werden. Da bleibt keine Zeit, sich eingehender mit den Lernprozessen der Schüler zu befassen, geschweige denn schülereigene Lernexperimente zuzulassen oder gar zu befördern. Der Unterricht soll so ablaufen, wie Herr Anras es vorher mühevoll antizipiert und vorbereitet hat. Lernsettings und Lernwege eingeschlossen. Forscher der Universität Innsbruck und der Freien Universität Bozen sind in die Schulen gegangen, um sich genauer anzuschauen, was sich eigentlich im Unterricht abspielt, zwischen Lehrer und Schülern, zwischen den Schülern untereinander und zwischen den Schülern und ihrem Lerngegenstand. Im Gegensatz zu vielen Lehrkräften konnten sie sich die Zeit nehmen, sich auf die Komplexität schulischer Erfahrungssituationen einzulassen und kleinen, zunächst scheinbar nebensächlichen Ereignissen im Unterricht einen zweiten Blick zu schenken. Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses stand dabei das Schülerlernen – so, wie sie es während ihrer Besuche miterfahren haben. Um diese Erfahrungen angemessen festzuhalten, entwickelte die Innsbrucker Forschungsgruppe die narrative Textsorte der Vignette. Als „Klangkörper des Lernens“4 greifen Vignetten kontextualisiert in Zeit und Raum ausgewählte, besondere Momente einer Lernerfahrung in unterschiedlichen Klassenstufen und Fächern auf. Anhand von Vignetten versuchen die Forscher, ihre eigenen Mit-Erfahrungen nahe am Schüler in prägnanter Form für Sie als Lehrer zu schildern und zugleich die Lernatmosphären zum „Klingen“ zu bringen.

Charakteristika der Vignette

Vignetten richten ihren Blick auf unerwartete Ereignisse, in denen Sinn seinen Ausgang nimmt und die damit schulisches Lernen zuallererst bedingen. Diese pathische Struktur sinnlicher Wahrnehmung, die darin besteht, dass uns etwas auffordert, stimuliert, anzieht oder abstößt und damit eigenen Erwartungen zuvorkommt, wird von den Vignettenschreibern prägnant beschrieben. In der Beschreibung der Tonalität der Stimmen kommt zum Ausdruck, was den Einzelnen in schulischen Situationen anspricht, anregt und aufregt, bevor es in Worte gefasst oder in Taten umgesetzt wird. Um dem lebendigen Lernen näher zu kommen, nehmen sie über die Gestimmtheit der Situation auch Ungesagtes und Überhörtes auf: Welche Verben geben den Ton wieder, in dem etwas gesagt, oder den Klang, in dem es hörbar wurde? Ist dies wie in der Erfahrungssituation von Anton und Alberta ein Flüstern oder aber eher ein Wispern, ein Tuscheln oder ein Murmeln? Antwortet Anton zweifelnd, argwöhnisch oder unsicher? Handelt es sich in der Interaktion zwischen Anton und dem Lehrer um ein Zurechtweisen oder eher um ein Zurechtstutzen oder Maßregeln? Gleiches gilt für das Versprachlichen der Bewegungsnuancen oder das Nachzeichnen der Blickrichtungen, die zwischen einer Sache und einer Person hin- und herwandern: Ist der Blick triumphierend, mit dem sich Anton zu Alberta umdreht, oder eher jubelnd und frohlockend? So gilt es Sprachbilder zu malen sowie Stimmungen und Atmosphären eine Stimme zu verleihen, die dem Geschehen den ursprünglichen Klang verleihen. Dabei fokussieren Vignetten insbesondere auch auf leibliche Artikulationen und damit auf das, was sich neben hörbaren Ausdrücken wie Fragen, Antworten und Geräuschen an Mimik, Gestik, Haltung, Gangart, Kleidung und Körperschmuck sichtbar zeigt. Im Unterschied zum bloßen Körper, den wir haben, wird der Leib, der wir sind, als lebendig und beseelt gedacht.5

Die Vignette und ihre didaktische Funktion