Lesereise Umbrien - Julia Lorenzer - E-Book

Lesereise Umbrien E-Book

Julia Lorenzer

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Beschreibung

Umbrien gilt als Land der dunklen Wälder und der mittelalterlichen Burgen, außerdem ist die Region im Herzen der Apennin-Halbinsel als Heimat großer Heiliger und bedeutender Künstler bekannt. Julia Lorenzer geht nicht nur den alten Umbrien-Klischees auf den Grund, sondern taucht nebenbei auch in das quirlige Studentenleben der Hauptstadt Perugia ein und spaziert zum Mittelpunkt Italiens. Sie erzählt von den Ursprüngen umbrischer Schokolade, Angorawolle und Keramik, besucht das kleinste Theater, die kleinste Republik und die angeblich lebenswerteste Stadt der Welt. Ihre Reise führt hinauf in die karge Hochebene von Castelluccio, durch das Tiber- und das Neratal und schließlich durch den unergründlichen umbrischen Nebel, der am Ufer des Trasimener Sees seine Geheimnisse enthüllt.

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Copyright © 2022 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Leoks/Shutterstock

ISBN 978-3-7117-1111-3

eISBN 978-3-7117-5467-7

Informationen über das aktuelle Programm desPicus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Julia Lorenzer, 1979 in Rosenheim geboren, hat in Regensburg Kunstgeschichte, Geschichte und Religionswissenschaft studiert. Im Anschluss arbeitete sie in verschiedenen Redaktionen, Museen und Ausstellungshäusern. Heute ist sie als freie Lektorin und Autorin tätig, wobei sie sich auf Reiseführer und Erlebnisberichte über verschiedene Regionen Italiens spezialisiert hat. Sie lebt in Oberbayern, in Italien und auf Reisen. Im Picus Verlag erschien 2020 ihre Lesereise Toskana.

Julia Lorenzer

Lesereise Umbrien

Wo das Herz Italiens schlägt

Picus Verlag Wien

Inhalt

Das Herz Italiens

Spaziergang zum Mittelpunkt

Eine Frage der Perspektive

Mit Bruder Thomas in der Basilika San Francesco

Schönheit und Genuss

Die zwei Vermächtnisse der Luisa Spagnoli

Bauern, Schmuggler, Anarchisten

Die Geschichte der kleinsten Republik der Welt

Das Erbe der Umbrischen Schule

Wie Alberto Burri die Kunstwelt eroberte

Rückkehr nach Perugia

Die Botschafterin Italiens in der Welt

Die Verrückten von Gubbio

Ein halsbrecherisches Rennen und der größte Weihnachtsbaum der Welt

Il Teatro della Concordia

Die Wiedergeburt des kleinsten Theaters der Welt

Eine Hütte voller Gaumenfreuden

In Norcias provisorischer Einkaufspassage

Zu schön, um wahr zu sein

Was Todi einzigartig macht – und was nicht

Keramik rockt

Wie Giovanni uraltes Handwerk neu belebt

Zwischen den Welten

Der Nebel verbirgt, der Nebel enthüllt

Das Herz Italiens

Spaziergang zum Mittelpunkt

L’universo è tutto centro e tutto circonferenza.

Im Universum ist alles Zentrum und alles Umgebung.

GIORDANO BRUNO

»Dafür, dass hier die Mitte sein soll, wirkt doch alles ziemlich still«, meint Michele nachdenklich. Nachdem wir schweigend ein paar Schritte weitergegangen sind, fügt er hinzu: »Wie im Auge eines Sturms.«

Unser Weg führt durch den Wald, immer an der Flanke des Hügels entlang. Linker Hand fällt das Gelände steil in Richtung Tal ab, rechts steigt es etwas sanfter an. An diesem ungewöhnlich heißen Spätsommertag bietet der Schatten der Steineichen, Eichen, Kastanien und Wacholderbäume willkommenen Schutz vor der Hitze. Wo die Sonnenstrahlen mit Mühe durch das dichte Blätterdach dringen, zeichnen sie fleckige Muster auf Felsen und Wurzeln. Die Luft riecht nach Holz, Kräutern und trockener Erde. Zu hören sind nur das Knirschen des Schotters unter unseren Sohlen und hin und wieder ein entferntes, unbestimmtes Knacken und Rascheln im Unterholz. Das müssen natürlich keine Wildschweine sein. Wahrscheinlich handelt es sich um Vögel oder Eichhörnchen oder von den Bäumen herabfallende Kastanien oder Eicheln. Wahrscheinlich.

Nur einen knappen Kilometer hinter uns krallt sich, gekrönt von einer mittelalterlichen Festung, die Altstadt von Narni in einen steilen Abhang. Die dicht gedrängten Häuser bilden eine eigenartige Mischung, relativ neue Bauten schmiegen sich an uralte Steinmauern, ein sorgfältig renoviertes Gebäude ragt zwischen zwei anderen hervor, die offenbar seit Langem ungenutzt verfallen. Als ich heute Morgen in der Stadt ankam, erinnerte mich das Halbrund der Häuser aus verschiedenen Epochen an die Zuschauerränge eines antiken Theaters – mit einem großen Parkplatz an der Stelle, an der eigentlich die Bühne sein sollte.

Narnis Gebäude erzählen nicht nur die eigene Geschichte, sondern die von ganz Umbrien: Da sind Mauerreste aus vorrömischer Zeit, errichtet von den ersten Siedlern, die dem Volk der Umbrer angehörten. Zisternen, mit denen später die Römer die Wasserversorgung der Stadt an der Via Flaminia sicherten, die sie nach der Eroberung in »Narnia« umbenannten – ein Name, der den britischen Autor Clive Staples Lewis zum Titel seiner weltberühmten »Chroniken von Narnia« inspirierte. Da stehen frühchristliche Kirchen auf den Fundamenten antiker Heiligtümer, wuchtige mittelalterliche palazzi, gebaut von einflussreichen Adelsfamilien, und eine Festung, mit der schließlich der Papst seinen weltlichen Machtanspruch verdeutlichte.

Oben, im Kern des centro storico, lief ich durch enge Gassen und über holpriges Pflaster. Rechts wie links ragten hohe Mauern aus schwarzgrauem Stein empor. Alles wirkte rau und ungeschminkt. Ich sah keine bunten Blumenkästen, keine sorgfältig restaurierten pittoresken Details. Nichts war zu spüren von der Leichtigkeit, mit der sich andere umbrische Städte wie Spello, Spoleto, Assisi oder Todi an sonnigen Tagen über das Klischee des düsteren Umbrien erheben. Andererseits erweckt Narni im Gegensatz zu diesen Orten auch nie den Eindruck, ein Freilichtmuseum zu sein.

Narnis Innenstadt ist keine Kulisse, hier findet echtes Leben statt – obwohl immer mehr Häuser und Wohnungen leer bleiben, weil die Menschen lieber unten im Tal wohnen, wo man in wenigen Minuten die strada statale erreicht, wo es neue, große Supermärkte mit noch größeren Parkplätzen gibt. Vom Industriegebiet Narni Scalo am Fuß des Hügels schlängelt sich eine Straße durch einen Flickenteppich aus Feldern zu den sich in der Ferne über die Ebene ausbreitenden Gewerbegebieten rund um Terni. Die zweitgrößte Stadt Umbriens ist seit Jahrzehnten das industrielle Zentrum der ganzen Region. So sind, wo zwischen den palazzi in Narnis Zentrum ein Blick ins Umland geworfen werden kann, nicht nur dunkle, schier undurchdringliche Wälder, sondern immer wieder auch ferne Schornsteine und Fabriken zu erkennen. Die Gegenwart fehlt keineswegs in dem eigentümlichen Mosaik, das Narni heißt. Alles gleichzeitig, alles neben- und durcheinander, faszinierend und anstrengend.

In diesem Labyrinth der Epochen kann es nicht schaden, wenn einem jemand den Weg weist. In meinem Fall übernimmt das der fünfundzwanzigjährige Lockenkopf Michele. Im Rahmen von »Narni sotterranea« führt er regelmäßig Gruppen durch lange vergessene unterirdische Gewölbe der Stadt. Den Teilnehmern der Touren durch Narnis Unterwelt zeigt Michele nicht nur eine ehemals verschüttete und erst 1979 wiederentdeckte Höhlenkirche, sondern er führt sie auch in einen Saal, der einst von den Dominikanern im Rahmen der Inquisition als Verhörraum genutzt wurde, und in die Zelle, in der die Angeklagten tage-, wochen- oder sogar monatelang auf ihr Urteil warten mussten. »Narni sotterranea« beleuchtet außerdem eine noch viel länger zurückliegende Epoche: die römische Kaiserzeit. Da die Organisation sich hauptsächlich für das interessiert, was sich unter der Erde befindet, ist ihr der zweitausend Jahre alte Acquedotto della Formina besonders wichtig.

»Da vorne, siehst du? Das ist ein pozzo d’accesso.«

Hinter einer Biegung zeigt Michele auf eine Art winzigen Brunnenschacht am Wegesrand. Ich beuge mich über das ihn umgebende Holzgeländer und erhasche durch eine kleine quadratische Öffnung einen Blick in die Vergangenheit. Der Schacht ist tiefer, als ich gedacht hätte.

»Das ist einer der fünfundfünfzig Wartungsschächte. Wie du siehst, verläuft der Aquädukt in diesem Abschnitt direkt unter dem Waldweg.«

Was hat Michele vorhin bei seinem Vortrag vor der Gruppe zu der antiken Wasserleitung erklärt? Sie ist dreizehn Kilometer lang, an jedem der beiden Enden konnte beim Bau immer nur ein einzelner Mann arbeiten, denn der Tunnel ist so schmal, dass darin keine zwei Menschen nebeneinander stehen können. Die Arbeiten sollen trotzdem insgesamt nur etwa vier Jahre gedauert haben.

»Der Aquädukt war sehr solide konstruiert«, sagt Michele. »Er hat den Untergang des Römischen Reiches lange überdauert und Narni sogar noch bis ins 20. Jahrhundert mit Wasser versorgt.«

»Unglaublich«, murmle ich, noch immer über den Schacht gebeugt, sodass meine Stimme aus dem dunklen, feuchten Gewölbe widerhallt.

»Ja, nicht wahr? Aber jetzt müssen wir weiter. Wir haben noch ein Stück zu gehen.«

Michele hat recht. Schließlich ist es nicht der Aquädukt, weswegen wir hier durch den Wald spazieren. Jedenfalls nicht ausschließlich. Nach der Führung bin ich mit Michele ins Gespräch gekommen, und er freute sich über mein Interesse. Schließlich erklärte er sich bereit, mir noch einen weiteren, in mehrerlei Hinsicht besonderen Ort zu zeigen.

Etwa siebenhundert Kilometer von diesem bewaldeten umbrischen Hügel entfernt, an der Vetta d’Italia in Südtirol, liegt der nördlichste Punkt Italiens. Um bis zum kalabrischen Melito di Porto Salvo zu gelangen, wo das italienische Festland in der entgegengesetzten Richtung endet und Sizilien zum Greifen nah scheint, muss man ungefähr die gleiche Wegstrecke zurücklegen. Bardonecchia, unweit von Turin an der Grenze zu Frankreich gelegen, markiert das westliche Ende Italiens. Das östliche befindet sich am Capo d’Otranto in Apulien, wo man bei klarer Sicht die Küste Albaniens am Horizont erkennen kann.

In Umbrien und im nördlichen Latium, dem »grünen Herz Italiens«, leben die Menschen seit vielen Generationen in dem Bewusstsein, sich im Zentrum ihres Landes zu befinden. Aber wo dieses Zentrum genau liegt, darüber war man sich noch nie einig. Kein Wunder – existiert doch bis heute keine allgemein anerkannte Methode, den Mittelpunkt einer so unregelmäßigen Fläche wie der des italienischen Stiefels zu berechnen.

2014 bestimmte ein niederländisches Institut mithilfe eines eigenen Computermodells die geografischen Mittelpunkte aller europäischen Staaten. Für Italien wurde damals ein zu Orvieto gehörendes Gewerbegebiet namens Fontanelle di Bardano ermittelt. Das exakte Zentrum des Stiefels – inklusive der zu Italien gehörenden Inseln – läge demnach direkt neben einer Tiermehlfabrik. Weder ein schöner Hintergrund für Touristenselfies noch eine passende Umgebung für Souvenirshops. Die Resonanz auf diese Veröffentlichung blieb dementsprechend verhalten.

Viel idyllischer als im Industriegebiet Orvietos sieht es da auf dem Monteluco aus, einer Anhöhe bei Spoleto, die seit Urzeiten als Kultort gilt. Im Bosco Sacro, dem »Heiligen Wald«, in dem bereits in der Antike dem Gott Jupiter gehuldigt wurde, ließen sich im frühen Mittelalter christliche Einsiedler nieder. Später gründete Franz von Assisi auf dem Monteluco ein Kloster, dessen spartanische Zellen bis heute besichtigt werden können. Dieser Hügel verdankt seine Sonderstellung nicht irgendwelchen Messungen und Berechnungen, sondern seiner Atmosphäre und seiner Geschichte – mehr als jeder seiner Konkurrenten ist er in erster Linie ein spirituelles Zentrum.

Um die umbrische Stadt Foligno auf die Liste der Mittelpunkte Italiens zu setzen, brauchte es ebenfalls weder exakte geografische Daten noch hochkomplexe Computermodelle. Es genügte die Chuzpe eines Wirtes, der seinem Lokal ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen wollte. 1930 eröffnete im Zentrum der Stadt das Caffè Sassovivo, in dem mehrere Billardtische standen, einer davon genau in der Mitte des Raumes. Für das damals beliebte Fünf-Kegel-Billard war das Zentrum dieses Tisches markiert. Diese Markierung wurde im eigenen Dialekt kurzerhand zu lu centru de lu munnu – italienisch il centro del mondo – erklärt. Hier befand sich demnach nicht nur der Mittelpunkt Italiens, sondern gleich der gesamten Welt. Das Caffè Sassovivo existiert bereits seit den achtziger Jahren nicht mehr. Das tut der Behauptung, Foligno sei lu centru de lu munnu keinen Abbruch. Erst 2008 wurde sie sogar durch einen Stadtratsbeschluss offiziell bekräftigt. Und sollte das Caffè Sassovivo, das bei seinen ehemaligen Gästen noch immer Kultstatus genießt, irgendwann wieder auferstehen, dann bestünde noch immer die Möglichkeit, dass sein wichtigstes Möbelstück ebenfalls an seinen Standort zurückkehrt. Denn der Billardtisch, der den Mittelpunkt der Welt markierte, wird bis heute sicher im Keller eines ehemaligen Stammgastes verwahrt.

»Ist es noch weit?«, frage ich Michele. Ich hätte nicht gedacht, dass wir nach dem Einstieg in den Wald noch so eine lange Strecke laufen müssten. Es geht immerfort über Stock und Stein, keinerlei Wegweiser kündet vom nahen Ziel. Wäre ich alleine aufgebrochen, würde ich längst befürchten, eine Abzweigung übersehen und mich verlaufen zu haben.

»Keine Sorge, wir sind gleich da«, ermutigt mich mein Begleiter. »Bald werden wir die Brücke sehen.«

Die Cardona-Brücke, von der Michele spricht, ist Teil des Aquädukts und als solcher bereits eine Sehenswürdigkeit. Doch vor einigen Jahren hat sie für den Tourismus in Narni noch einmal erheblich an Bedeutung gewonnen. Verantwortlich war dafür der Geograf Giuseppe Angeletti aus Perugia.

Angeletti hatte sich bereits 2006 vom Istituto Geografico Militare in Florenz die genauen Koordinaten der vier äußersten Grenzpunkte des italienischen Festlandes geben lassen. 2015 legte er schließlich ein auf diesen Daten beruhendes, selbst verfasstes Gutachten vor, nach dem der Mittelpunkt des italienischen Stiefels in einem Waldgebiet unweit der umbrischen Stadt Narni liege, in unmittelbarer Nähe einer uralten Steinbrücke namens Ponte Cardona.

In Narni wurde Angelettis Ergebnis mit unverhohlener Freude entgegengenommen. Die Konkurrenz um den Titel centro d’Italia reagierte sehr unterschiedlich. In Foligno etwa sorgten Angelettis Berechnungen für kaum mehr als ein Achselzucken. Dafür reagierte man in Rieti, eine gute Autostunde von Narni entfernt in der Region Latium gelegen, umso empfindlicher. Die dortige Piazza San Rufo wird mindestens seit der Zeit der Renaissance als Mittelpunkt des italienischen Stiefels betrachtet. Doch damit nicht genug, offenbar galt die Stadt sogar schon im antiken Rom als »Umbilicus Italiae«, also als »Italiens Bauchnabel«. Bürgermeister Simone Pietrangeli beschwor dementsprechend in seiner ersten Stellungnahme zu den Neuigkeiten aus Umbrien die »tausendjährige Geschichte Rietis«, die den eigenen Anspruch begründe und die man sich nicht durch irgendwelche Zahlenspielereien streitig machen lasse.

Es geht bei all dem natürlich nicht nur um Tradition, sondern auch um griffige Werbeslogans, die den Absatz der eigenen Produkte und vor allem den Tourismus fördern sollen. Es dürfte die Angst vor dem Verlust eines bewährten Alleinstellungsmerkmals gewesen sein, die den medialen Schlagabtausch zwischen der latinischen und der umbrischen Gemeinde weiter befeuerte. Bald war in den örtlichen und überregionalen Zeitungen von einem »Krieg« zwischen Rieti und Narni die Rede – Schlagzeilen, die aus dem Mittelalter stammen könnten, als sich benachbarte Städte wie Assisi und Perugia tatsächlich regelmäßig blutige Auseinandersetzungen lieferten.

»Da vorne! Das ist die Brücke.«

Micheles Worte reißen mich unsanft aus meinen Gedanken. Mein Blick folgt seinem, und im nächsten Moment erkenne auch ich die schmale Konstruktion aus Travertin, die etwa zwanzig Meter vor uns einen tiefen Graben überspannt. Davor steht am Wegesrand eine hölzerne Bank, daneben ein Mülleimer und die Skulptur, von der ich bereits ein Bild im Internet gesehen habe. Sie erinnert an eine steinerne Torte, aus der in der Mitte ein schlichter Metallstift senkrecht nach oben ragt. Hier soll es also sein, das Zentrum des italienischen Stiefels.

»Komm!«

Michele fordert mich auf, ihm zu folgen. Als Mitglied von »Narni sotterranea« interessiert ihn die zweitausend Jahre alte Brücke natürlich viel mehr als irgendwelche ohnehin zweifelhaften geografischen Berechnungen. Deshalb führt er mich über den steilen Hang hinunter in den Graben, auf dessen Grund ein winziges Rinnsal plätschert.

»Von hier sieht man sie am besten.«

Michele hat recht, von hier unten kann man das antike Bauwerk wirklich in seiner ganzen Schönheit erfassen. Mein Begleiter beginnt wieder zu erklären, er spricht von der Bogenkonstruktion, dem Neigungswinkel, der Statik.

Ich lege den Kopf in den Nacken, sehe den strahlend blauen Himmel durch das Blätterdach blitzen. Micheles Stimme wird zu einem Hintergrundgeräusch für meine Gedanken, die von jetzt an ihre eigenen Wege gehen. In wenigen Augenblicken durchmessen sie das ganze Land, fliegen von der verschneiten »Vetta d’Italia« bis hinunter nach Melito di Porto Salvo, von Bardonecchia bis zum Capo d’Otranto. Sie legen in einem verrauchten Billardcafé in Foligno eine kurze Pause ein, dann steigen sie wieder auf, passieren eine Tiermehlfabrik bei Orvieto und kurz darauf das alte Franziskanerkloster im Bosco Sacro auf dem Monteluco. Sie kreisen über den Schornsteinen der Industrieanlagen von Terni und den jahrhundertealten Mauern von Assisi, Spoleto und Narni.

Michele hat recht: Im Zentrum des italienischen Stiefels ist es erstaunlich still. Doch um uns herum tobt kein Sturm, sondern das Leben – in einem wunderschönen, facetten- und kontrastreichen Land.

Eine Frage der Perspektive

Mit Bruder Thomas in der Basilika San Francesco

Der Weg zu Gott kann niemals am Menschen vorbeiführen.

Sprichwort nach FRANZ VON ASSISI

Im Grunde ist es nur eine Kleinigkeit. Eine abgebrochene Zahnkrone, die wieder befestigt werden muss. Doch fern der Heimat kann so etwas schnell zu einem großen Problem werden. Und besonders unangenehm ist das, wenn man als Reiseleiter für eine Gruppe von mehr als dreißig Pilgern verantwortlich ist. Entsprechend besorgt wirkt der grauhaarige Herr, der hinter der Klosterpforte wartet. Er hat die Krone vorhin provisorisch mit Haftcreme befestigt, aber auf Dauer wird das nicht funktionieren. Ein Zahnarzt muss her.