Lesereise Toskana - Julia Lorenzer - E-Book

Lesereise Toskana E-Book

Julia Lorenzer

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Beschreibung

Düstere Burgruinen und prächtige Medici-Villen, schroffe Gebirge und sanfte Hügel, vulkanische Schwefelquellen und malerische Meeresbuchten: krasse Gegensätze, denen ein einzigartiger Sinn für Harmonie entgegensteht, der die Grundlage für exzellente Weine und eine weltweit geschätzte Kochkunst bildet. All dem spürt Julia Lorenzer nach, wenn sie an die Strände der Maremma fährt, über die Dächer von Florenz blickt und das Oldtimer-Rennen im Val d'Orcia besucht, aber auch, wenn sie am Alltag der Menschen, die diese unvergleichliche Region prägen, teilnimmt.

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Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Shutterstock/Banet

ISBN 978-3-7117-1099-4

eISBN 978-3-7117-5421-9

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Julia Lorenzer, 1979 in Rosenheim geboren, hat in Regensburg Kunstgeschichte, Geschichte und Religionswissenschaft studiert. Im Anschluss arbeitete sie in verschiedenen Redaktionen, Museen und Ausstellungshäusern. Heute ist sie als freie Lektorin und Autorin tätig, wobei sie sich auf Reiseführer und Erlebnisberichte über verschiedene Regionen Italiens spezialisiert hat. Sie lebt in Oberbayern, in Italien und auf Reisen.

Julia Lorenzer

Lesereise Toskana

Viel mehr als nur Steine

Picus Verlag Wien

Inhalt

Traum und Wirklichkeit

Vom Leben in der Bilderbuchlandschaft des Val d’Orcia

Hüter des Schatzes

Eine Bootsfahrt rund um Capraia

Von Pilgern, Raubrittern und Kirchenmännern

Auf der Via Francigena

Über den Dingen

Das European University Institute in Fiesole

Wahre Liebe zwischen Glamour und Kommerz

Die Mille Miglia in der Toskana

Viel mehr als nur Steine

Das neue Leben der Villa Palagione

Kommunisten, Sozialisten, Populisten

Das Ende der »Toscana rossa«?

Dentro le mura

Luccas historisches Zentrum ist eine Welt für sich

Gottesgeschenk

Die heißen Quellen der südlichen Toskana

Drei Komponenten und eine Menge Tradition

Wie ein bayerischer Koch die Aromen der Toskana lieben lernte

Die Erben der Medici

Die Habsburger als Herrscher der Toskana

Und … Action!

Die Toskana als Filmkulisse

Das verwandelte Land

Die Maremma – vom malariageplagten Sumpfgebiet zum Nationalpark

Traum und Wirklichkeit

Vom Leben in der Bilderbuchlandschaft des Val d’Orcia

Andrea Giorgi fährt schnell, sodass in den scharfen Kurven der Serpentinenstraße nach Pienza die Reifen quietschen. Es geht an Weinbergen und wogenden Weizenfeldern vorbei. Auf den Hügeln, deren Farbe zu dieser Jahreszeit langsam von Sattgrün zu Hellbraun wechselt, stehen vereinzelte Zypressen. Hier und da führt eine Allee zu einem malerischen Landhaus. Im Val d’Orcia finden Fotografen wunderbare Motive der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Ein Sehnsuchtsort, eine echte Bilderbuchlandschaft. Die Toskana der Postkarten, wie sie die Menschen in London, New York und Tokio vor Augen haben, auch wenn sie noch nie in Italien waren.

»Das hätte alles auch ganz anders kommen können«, erklärt Andrea, während er aufs Gaspedal steigt, um einen Traktor zu überholen. »Früher hat sich niemand um diese Gegend gekümmert. Anfang der achtziger Jahre gab es Pläne, im Val d’Orcia eine Giftmülldeponie einzurichten. Als wir davon erfahren haben, haben wir uns dagegen gewehrt. Aber das war nicht leicht.«

Die Lehrerin Vera Petreni – die erste Frau, die jemals den Bürgermeisterposten in Pienza innehatte – überzeugte damals die anderen Gemeinden davon, dass man angesichts dieser Bedrohung eng zusammenarbeiten müsse. Die daraus entstandene Initiative legte einen steinigen Weg zurück, der jedoch schließlich von Erfolg gekrönt war: Naturschutzgebiete entstanden, und nach jahrzehntelanger Arbeit erhielt das Orcia-Tal im Jahr 2004 von der UNESCO sogar den Titel »Weltkulturerbe«.

»Aber es ist trotzdem nie vorbei«, meint Andrea. »Man muss wachsam sein. Wir, die wir heute hier leben, tragen die Verantwortung.«

Er parkt vor der Stadtmauer. Von dort ist er zu Fuß in einer Minute beim Rathaus, das Teil des mustergültigen Renaissance-Ensembles in Pienzas Zentrum ist. Darin – genauer: im Einwohnermeldeamt – befindet sich sein Arbeitsplatz. Andrea ist Anfang sechzig und weiß nicht, wie lange er noch zum Dienst wird antreten müssen. Die Regierung von Mario Monti hat das Rentenalter deutlich hinaufgesetzt, um den Haushalt zu entlasten. Doch Monti ist längst abgewählt. Seine Nachfolger überbieten sich seit Jahren mit Vorschlägen, diese ökonomisch sinnvolle, aber unpopuläre Maßnahme so bald wie möglich ungeschehen zu machen.

»Wir werden sehen. Ich nehme es, wie es kommt. Außerdem mag ich meine Arbeit.«

Und das, obwohl Andrea immer mehr zusätzliche Aufgaben bekommt, da die Gemeinde frei werdende Stellen aus Kostengründen nicht neu besetzt. Inzwischen ist er auch für die Kultur zuständig. Heute steht als Erstes die abschließende Besprechung zu einer Lesung des Autors Stefano Benni an, die am Abend im Innenhof des Palazzo Borgia stattfinden wird.

Nachdem er den Vormittag im Büro verbracht hat, rast Andrea wieder zurück nach Monticchiello. Das kleine, fast zur Gänze aus einer mittelalterlichen Burganlage bestehende Dorf liegt nur ein paar Kilometer entfernt auf einem steil aufragenden Hügel und gehört zur Gemeinde Pienza.

Über die Region hinaus ist Monticchiello für das Freilufttheater bekannt, das die Bewohner jeden Sommer auf der piazza mitten im Dorf veranstalten. Das sogenannte Teatro Povero entstand in den sechziger Jahren. Die selbst geschriebenen Stücke haben meist sozialkritischen Charakter, die Themen stammen in der Regel aus dem Alltag der toskanischen Landbevölkerung. Während der Spielzeit im Juli und August gibt es beinahe täglich Aufführungen und die Zuschauer kommen in Scharen, um dieses einzigartige Spektakel zu erleben.

Andrea steuert den Wagen schwungvoll durch das Tor mit dem Spitzbogen und dann, unter den erstaunten Blicken einer amerikanischen Reisegruppe, mit einem routinierten Zwei-Züge-Manöver in seine winzige Garage.

»Ciao Daniele!« Andrea winkt seinem etwa gleichaltrigen Nachbarn zu. Daniele verkauft Kleidung an Touristen. Ein kleines Sortiment, aber nur ausgesuchte, hochwertige Ware.

»Nicht der Ramsch aus China, den es inzwischen überall gibt«, verkündet er seinen Kunden stolz. Daniele verbringt so viel Zeit in seinem winzigen Geschäft, dass er es sich dort zwischen den Blusen, Pullovern, Mänteln und Kleidern »Made in Italy« einigermaßen wohnlich eingerichtet hat. In einer Ecke hängen ein paar Erinnerungsstücke: ein Foto, das ihn mit dramatischer Geste auf der Bühne des Teatro Povero zeigt, daneben Danieles Ticket für das Champions-League-Finale zwischen Juventus Turin und Borussia Dortmund, das 1997 in München ausgetragen wurde.

Im Moment steht er auf der piazzetta vor seinem Laden, raucht eine Zigarette und wechselt mit jedem, der vorbeikommt, ein paar Worte. Abgesehen von den Touristen sind es immer dieselben Gesichter. In Monticchiello wohnen nicht mehr viele Leute – und von denen, die geblieben sind, sind einige so alt, dass sie die steilen Treppen in den uralten Gemäuern kaum noch bewältigen können. Sie verlassen ihre Wohnungen in den oberen Stockwerken selten.

»Aber es war schon schlimmer«, meint Daniele.

Mit dem Tourismus haben sich neue Perspektiven für das Dorf eröffnet. Es gibt drei Lokale, ein Bed & Breakfast und ein paar Geschäfte wie seines. Nicht so viele, dass der einzigartige Charakter Monticchiellos in Gefahr wäre, aber genug, um das Leben hier etwas in Schwung zu bringen. Seit einiger Zeit ertönen sogar wieder Kinderstimmen in den Gassen.

Leichtfüßig nimmt Andrea die Stufen der Außentreppe. Er ist noch nicht oben angelangt, da öffnet Vera Petreni bereits die Haustür. In der linken Hand hält sie ihr Handy. Die ehemalige Bürgermeisterin von Pienza trägt ein einfaches Haus-kleid und darüber eine blaue Kittelschürze. Als Lehrerin ist Vera nicht mehr tätig, im Gegensatz zu ihrem Mann wurde sie bereits vor einigen Jahren pensioniert.

»Irene ist dran!«

Vera und Andrea setzen sich auf das Sofa vor dem riesigen, übervollen Bücherregal und sprechen mit dem kleinen Bildschirm, auf dem sie das Gesicht ihrer Tochter sehen.

»Wie geht es euch? Ist alles in Ordnung?«

Irene hat gerade ihr Medizinstudium beendet, sie lebt mit ihrem Mann in Deutschland. Vielleicht war es wirklich schon einmal schlimmer – aber junge Leute, die nicht in der Landwirtschaft oder im Tourismus arbeiten wollen, zieht es noch immer fort. Auch Irenes jüngerer Bruder Livio hat einen Universitätsabschluss, er wohnt inzwischen in Mailand.

»Guarda! C’è il nonno! Schau! Da ist der Opa!« Ein Paar großer, staunender Augen erscheint auf dem Bildschirm, dann ist das vergnügte Quietschen eines Babys zu hören. An dem Abend, an dem ihr Enkel geboren wurde, sind Vera und Andrea sofort ins Auto gesprungen. Acht Stunden ist Andrea in jener Nacht gefahren, ohne Pause.

»Ciao, ciao!« Irene nimmt die Hand ihres kleinen Sohnes und beide winken. »Sag Auf Wiedersehen zu Oma und Opa!«

»Ciao! Ciao!«

Der Bildschirm wird schwarz, plötzlich ist es sehr still in der Wohnung. Die Uhr an der Wand tickt leise, aus der Küche riecht es nach Gebratenem.

Andrea zieht vor dem Essen sein Hemd aus und hängt es über die Lehne eines Stuhls. Es gibt pasta und danach eine bistecca. Sie sprechen über die anstehenden Theaterproben und über die Lesung von Stefano Benni. Während Vera etwas später den Tisch abräumt, geht Andrea nach oben, um eine Stunde zu schlafen.

Bevor er wieder nach Pienza fährt, will er noch nach seinem Garten sehen. Auf einigen Quadratmetern Grünfläche direkt hinter der alten Burgmauer hat Andrea Zucchini, Bohnen, Tomaten und Salat angebaut. Täglich kontrolliert er, dass es den Pflanzen an nichts fehlt, und erntet, was reif ist. Die Mauer ist an dieser Stelle nur noch eine Ruine und so niedrig, dass sich eine einmalige Sicht über das ganze Tal bietet. Die sanften Hügel mit den Weizenfeldern, dazwischen ungeteerte Straßen, die zu den Landgütern und agriturismi führen. In der Ferne sind kleine Ortschaften auszumachen.

»Wo man den massiven Turm sieht, das ist Castiglione d’Orcia, das weiter nördlich ist San Quirico. Dahinter liegt Montalcino.«

Alles wirkt sehr idyllisch, klein und unbewegt, beinahe wie eine Modellbaulandschaft. Erst auf den zweiten Blick erkennt man das Auto, das auf einem Feldweg nahe Pienza eine riesige Staubwolke aufwirbelt, und die Fahrradreisegruppe, die sich im Schneckentempo die Straße nach Monticchiello hinaufquält.

»Ja, es ist ruhig hier. Und wir haben von allem ein bisschen weniger.«

Am Fuß des Hügels findet man einen Bäcker, der eine einzige Sorte ungesalzenes toskanisches Brot verkauft, und ein Geschäft, das man in Deutschland »Tante-Emma-Laden« nennen würde. Einen Supermarkt? Nun, einen kleinen gibt es drüben in Pienza.

»Für manche Touristen ist das ein Problem. Für uns nicht. Wir sind keine consumisti.«

Es lebt sich leichter im Val d’Orcia, wenn man nicht allzu konsumorientiert ist. Und wenn man einen Garten hat, aus dem man sein Gemüse bezieht.

Die Mittagspause ist vorüber, Andrea fährt wieder nach Pienza. Am frühen Abend kehrt er nach Monticchiello zurück. Ein Kleinbus aus einem Hotel in Bagno Vignoni hat gerade Gäste hergebracht, damit sie in einem der hiesigen Restaurants bei malerischer Aussicht zu Abend essen können. Zuvor streifen sie in Grüppchen durch den Ort, zücken ihre Handys und fotografieren.

»How wonderful!«

Zwei Engländerinnen betrachten mit leuchtenden Augen das türkisfarbene Sommerkleid, das Daniele heute als Blickfang vor seinem Laden präsentiert. Als er die beiden bemerkt, löst er sich von seinem Laptop, auf dem wie immer das Sportprogramm läuft.

»Bello, eh? Di ottima qualità!« Mit einer einladenden Geste fordert Daniele die Damen auf, den Stoff anzufassen. Sie tun es und nicken einander anerkennend zu.

Nach dem Abendessen fährt Andrea wieder nach Pienza, zum dritten Mal für heute, diesmal mit Vera an seiner Seite. Sie sind spät dran, um neun Uhr beginnt die Lesung.

Im Innenhof des Palazzo Borgia sind fast alle Stühle besetzt. Applaus brandet auf, als Stefano Benni erscheint. Der berühmte Autor trägt Jeans und ein einfaches Sakko, sein weißer Haarkranz steht in alle Richtungen ab. Er setzt sich an den für ihn aufgestellten Tisch, knipst die Leselampe an und trinkt einen Schluck Wasser. Sein neues Buch liegt schon bereit, er schlägt es an der mit einem Lesezeichen markierten Stelle auf.

Ein kurzer Augenblick der Unruhe im Publikum, Vera und Andrea arbeiten sich durch die Reihen bis zu den zwei freien Plätzen in der Mitte vor. Die beiden setzen sich, es wird wieder still, alle warten gespannt. Ein leises Räuspern, dann beginnt Stefano Benni zu lesen.

Seine Geschichte handelt von einem kleinen Dorf, in dem das Leben stillzustehen scheint. Von Menschen, die sich dem Fortschritt anpassen, und anderen, die das Althergebrachte bewahren und mit allen Mitteln verteidigen wollen. Lohnt sich der Widerstand? In der Welt, die Stefano Benni an diesem lauen Frühlingsabend mit seinen Worten erschafft, ist der Kampf nicht vergeblich. Doch diese Welt ist nicht wie unsere, sondern gleicht einem Traum: Tiere können sprechen, das Einfache, Unscheinbare verbirgt unter seiner Oberfläche die größten Wunder.

Die Sonne ist längst untergegangen, tiefe Dunkelheit legt sich über das Tal. In der Ferne bellt ein Hund. Die Lichter der kleinen Ortschaften in der Umgebung funkeln wie die Sterne am Himmel. Wer sagt eigentlich, dass dies kein Traum ist?

Hüter des Schatzes

Eine Bootsfahrt rund um Capraia

Die kleine italienische Flagge, die auf dem Steuerruder am Heck der »Margò« im Fahrtwind flattert, sieht arg mitgenommen aus. Die von der Sonne ausgeblichene grüne und die daran angrenzende weiße Fläche sind zwar noch vollständig erhalten, aber vom roten Drittel der tricolore ist nach unzähligen Fahrten bei Wind und Wetter rund um die Insel Capraia nur noch ein magerer, zerfranster Streifen übrig.

Auf den ersten Blick wirkt Giovannis Gefährt wie ein größeres Ruderboot, es verfügt weder über einen Mast noch über eine Kabine. Trotzdem kann er auf der »Margò« etwa zehn Passagiere bequem unterbringen.

Heute, an einem heißen Sommertag, sind die Bedingungen beinahe perfekt: Es herrscht kaum Seegang, das Meer und der Himmel strahlen tiefblau um die Wette. Allerdings ist es sehr heiß, doch der stets gut gelaunte Skipper mit dem braun gebrannten Gesicht und dem dichten, von grauen Strähnen durchzogenen Haarschopf hat seinen deutschen und italienischen Gästen versprochen: »Später halten wir in einer schönen Bucht, da können Sie sich im Wasser erfrischen!«

Aber noch ist es nicht so weit. Zunächst umkurvt Giovanni die Landzunge nahe dem Hafen, auf der der Leuchtturm steht.

»Vollautomatisch«, erklärt er seinen Passagieren. »Wird vom Festland aus gesteuert. In dem Gebäude, in dem früher der Leuchtturmwärter gewohnt hat, ist jetzt die Guardia Costiera untergebracht.« Giovanni justiert das Steuerruder neu, es geht nun in Richtung Süden, immer an der Küste entlang.

Capraia, etwa acht Kilometer lang, bis zu vier Kilometer breit und offiziell von etwa vierhundert Menschen bewohnt, ist nach Elba und Giglio die drittgrößte der sieben Inseln, die zum Toskanischen Archipel gezählt werden. Und sie ist diejenige, die am weitesten vom Festland entfernt liegt. Von hier erreicht man schneller die Nordspitze Korsikas als den Hafen von Livorno, von dem aus täglich mindestens eine Fähre zur zweieinhalbstündigen Fahrt nach Capraia ablegt. Neben den Verbrauchsgütern für das tägliche Leben werden heute hauptsächlich Touristen transportiert. Vor einigen Jahrzehnten war das noch anders.

Der gerade erst vereinigte italienische Staat unterhielt im 19. Jahrhundert auf dreien seiner weit draußen im Tyrrhenischen Meer gelegenen Eilande – Pianosa, Gorgona und Capraia – landwirtschaftliche Strafanstalten, in denen die Gefangenen unter anderem in der Fischerei, der Viehzucht und der Olivenölproduktion arbeiteten. Das Gefängnis auf Capraia blieb bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Betrieb.

Diese Ära hat die Insel nachhaltig geprägt, und nicht wenige behaupten, sie habe die bis dahin dort herrschende Kultur und Lebensweise zerstört. Viele Bewohner wanderten ab, ihre Sitten und Bräuche verschwanden mit ihnen. Der dem Korsischen ähnelnde Dialekt Capraias wurde durch die Sprache des Personals und der Häftlinge verdrängt. Die Pinien, die in dieser Zeit entlang der Hauptverbindungswege des Gefängniskomplexes gepflanzt wurden, damit sie während der heißen Sommermonate Schatten spendeten, neigen sich bedenklich. Die Bäume sind hier nicht heimisch und haben deshalb Mühe, den berüchtigten Stürmen standzuhalten, die jeden Winter über die Insel fegen.

»In dieser Zeit sind wir hier draußen unter uns!« Der Skipper lacht. »Vom Festland will im Winter kaum jemand hierher. Oft kommt die Fähre wegen des Seegangs sowieso nicht durch. Das Leben ist dann sehr ruhig. Wir verkriechen uns in unseren Häusern, um uns bis zur nächsten Saison zu erholen«, fügt er augenzwinkernd hinzu.