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»ICH WILL DICH NICHT HIER HABEN, CADEN.«
»ICH WERDE DRÜBER HINWEGKOMMEN!«
Valentina Rhodes hat ihr Leben lang versucht, es allen recht zu machen, doch damit ist jetzt Schluss. Und dieser Sommer, den sie wie jedes Jahr mit ihren besten Freunden auf Oakport Island verbringt, wird ihr Neustart sein. Mit einer Bucketlist voller verbotener Wünsche will sie lernen, sich selbst an erste Stelle zu setzen - bis Caden Callahan, der charismatische Captain des Fußballteams, in ihrem Zimmer einquartiert wird. Hätte sie gewusst, dass er bald zur Clique gehört, hätte sie niemals die heißeste Nacht ihres Lebens mit ihm verbracht. Doch die Keine-Dates-im-Freundeskreis-Regel gerät mit jedem unbeobachteten Moment ins Wanken. Valentina weiß, dass sie sich von ihm fernhalten muss - aber was, wenn Caden der Einzige ist, der ihr helfen kann, herauszufinden, wer sie wirklich ist?
»LESSONS IN FALLING hat alles, was eine gute Romance braucht. Es ist genau die richtige Mischung aus Humor, wichtigen Themen und der Chemie zwischen den Charakteren - ein perfektes Match!« CARINA VON QUEEN.CARI
Band 3 der HALL-BECK-UNIVERSITY-Reihe von WATTPAD-Erfolgsautorin Selina Mae
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Selina Mae bei LYX
Triggerwarnung
Impressum
SELINA MAE
Lessons in Falling
Roman
Ins Deutsche übertragen von Christina Eschbacher
Valentina Rhodes hat ihr Leben lang versucht, es allen recht zu machen, und ihre eigenen Bedürfnisse stets hintangestellt. Doch als nicht einmal ihr glänzender Uniabschluss ihr die gewünschte Anerkennung ihrer Familie einbringt, wird ihr klar, dass es so nicht weitergehen kann – und der Sommer vor ihrem Masterstudium an der HBU, den sie jedes Jahr mit ihren besten Freunden auf Oakport Island verbringt, soll ihr Neustart sein. Mit einer Bucketlist voller verbotener Wünsche will sie in den nächsten acht Wochen über ihren Schatten springen und lernen, sich selbst an erste Stelle zu setzen – bis Caden Callahan, der charismatische Captain des College-Fußballteams unverhofft im Beachhouse auftaucht und in ihrem Zimmer einquartiert wird. Hätte sie gewusst, dass er Monate später zu ihrer Clique gehört, hätte sie niemals die heißeste Nacht ihres Lebens mit ihm verbracht. Doch nun steht mehr auf dem Spiel als nur ihr Herz: Die Keine-Dates-im-Freundeskreis-Regel wird mit jedem unbeobachteten Moment und jeder flüchtigen Berührung auf eine harte Probe gestellt. Valentina weiß, dass sie sich von ihm fernhalten muss, wenn der Sommer nicht in einer völligen Katastrophe enden soll – aber was, wenn Caden der Einzige ist, mit dem sie endlich herausfinden kann, wer sie wirklich ist?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Selina und euer LYX-Verlag
Gewidmet all jenen, die andere viel mehr lieben als sich selbst.
Ich danke euch, aber es ist an der Zeit, an dich zu denken.
VALENTINA
Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.
Für gewöhnlich bretterte ich nicht mit einem Bleifuß wie eine Irre durch die Straßen. Ganz im Gegenteil. Ich war der Inbegriff einer pflichtbewussten Fahrerin. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich eine Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet, geschweige denn einen Strafzettel kassiert. Erfüllte mich meine tadellose Verkehrszentralregisterkartei mit Stolz? Ja, durchaus. Heute konnte ich jedoch nicht als Paradebeispiel für sicheres Fahren glänzen. Wie in einem Actionfilm driftete ich um die Kurven, wenn auch unabsichtlich, und legte mit einem ohrenbetäubenden Quietschen der Reifen beinahe eine Vollbremsung hin.
Aber ich war spät dran. Und nicht einfach nur zu spät für irgendeinen Termin – nein, für den besten Tag des Jahres.
Schwindelerregende Margaritas. Karaoke-Auftritte, deren Erträglichkeit für die restlichen Zuhörer mit jedem Drink exponentiell abnahm. Das Rauschen der Wellen im Hintergrund, die über das Ufer schwappten. Eine Freundestruppe, wie man sie sich nur wünschen konnte. Eine kleine, abgewrackte Bar auf Oakport Island – unser Feriendomizil ab diesem ersten Juliwochenende.
Zwei ganze Monate, in denen mir weder meine Schwester noch meine Mom Kopfzerbrechen bereiteten. Zwei Monate, in denen ich das Bild der perfekten College-Tochter hinter mir lassen und mich endlich mal selbst an erste Stelle setzen wollte – ein seltener Luxus.
Um den Sommer aber gebührend einzuläuten, musste ich erst einmal heil – oder besser gesagt, überhaupt – ankommen. Viel zu spät und mit einem Auftritt, der so spektakulär wie ungewollt war, hielt ich schließlich vor dem grauen Kolonialhaus, das sich längst wie ein zweites Zuhause anfühlte. Die blauen Fensterläden standen, wie immer, weit offen. Schon von der Einfahrt aus fiel mein Blick auf das Fenster meines Zimmers, und in Gedanken sah ich bereits die zerknitterten blauen Laken des oberen Etagenbetts vor mir.
Während meine besten Freunde sich in den ihrer Meinung nach »viel cooleren« Zimmern mit Doppelbetten breitmachten, zog ich viel lieber in das Kinderzimmer ein, welches ich stets ganz für mich allein hatte.
Und da standen sie bereits. Alle drei, perfekt in einer Reihe aufgestellt. Im gleichen Takt tippten sie mit den Füßen auf den Boden und zeigten auf die imaginären Uhren an ihren Handgelenken. Eine derart makellose Synchronität wurde den meisten nur bei der Kür im Kunstschwimmen bei den World Aquatics zuteil.
Die Autofenster waren heruntergelassen, sodass ich Iris’ Stimme deutlich hörte, als sie rief: »Du bist zu spät!« Für den unwahrscheinlichen Fall, dass mir das entgangen wäre. Ihr schelmisches Grinsen brachte die charakteristische Lücke zwischen ihren Schneidezähnen zum Vorschein. »Ich glaube, ich habe noch nie erlebt, dass du zu spät zu irgendetwas warst.«
Alfie, dessen feuerrotes Haar vom Küstenwind in alle Richtungen zerzaust war, nickte mit gespielter Dramatik und musterte mich mit schmalen Augen. »Auf der Einladung stand zwanzig Uhr. Es war also nur logisch, anzunehmen, dass Valentina Rhodes, die personifizierte Pünktlichkeit, selbstverständlich auch Punkt acht Uhr auf der Matte steht.«
»Und doch … hier ist sie. Unsere Lieblings-Honor-Studentin«, warf Anni ein. »Zu spät. Und das ausgerechnet am besten Tag des Jahres.«
Ich knallte die Autotür hinter mir zu und versuchte, sie mit einem vernichtenden Blick zu strafen. Und scheiterte kläglich.
Meine Wangen glühten, meine Augen funkelten, und ehe ich michs versah, verwandelte sich der gespielt finstere Blick in ein strahlendes Lächeln. Wie hätte ich auch anders reagieren können, wenn ein Sommer voller unvergesslicher Momente mit meinen Lieblingsmenschen bevorstand?
Anni stürmte mit einem lauten Quietschen auf mich zu. Sie stürzte sich regelrecht wie ein Rugbyspieler auf mich, sodass ich mich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Ihr blondes Haar kitzelte in meinem Gesicht, während sie ihre Arme so fest um meinen Hals schlang, dass ich kaum noch Luft bekam. Keine Sekunde später schlossen auch Alfie und Iris sich der Umarmung an. In einem chaotischen Durcheinander, das ich selbst nicht treffend beschreiben konnte, fielen wir wie Bowlingpins auf den Rasen. Lachend, nach Atem ringend, als ein ineinander verschlungener Haufen.
Es war gerade mal einen Monat her – einen Monat und acht Tage, um genau zu sein –, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten. Aber es fühlte sich an, als wären Jahre vergangen. Über einen Monat war es her, dass Anni nach Stuttgart geflogen war, Iris Zeit mit ihrer Familie in Kalifornien verbracht hatte und von dort aus zu einem Traumurlaub nach Cancún aufgebrochen war. Ein Urlaub, den ich nicht nur gezwungenermaßen auf Social Media mitverfolgen musste, sondern auch durch mindestens tausend Textnachrichten voller Strand-, Meer- und Poolbilder bis ins Detail miterleben durfte. Alfie hingegen war im Sommerhaus seiner Familie hier auf Oakport Island geblieben. Die anderen Dunbridges – seine Eltern und die zwei jüngeren Brüder – waren erst gestern abgereist.
»Ich habe die Fähre verpasst«, murmelte ich in irgendjemandes Haar. »Die Autofähre, mit der ich eigentlich fahren sollte, wurde kurzfristig gegen eine reine Passagierfähre ausgetauscht. Warum, weiß nur der Himmel.«
Einer nach dem anderen rollte von mir herunter, und ich bekam endlich wieder richtig Luft. Erst jetzt erkannte ich, dass es Alfies Haare gewesen waren, die mir nicht nur die Sicht geraubt, sondern mich beinahe erstickt hätten. Seine wilde, feuerrote Mähne war unverkennbar, ebenso wie Iris’ pastellfarbenes Haar. Vor etwa zwei Jahren hatte sie sich dazu entschieden, ihre Haare in ein sanftes Orange-Pink zu färben, inspiriert von Alfies natürlichem Rot.
Etwa eine Woche später hatte ich mich aus einer Laune heraus dazu durchgerungen, es Iris gleichzutun, und färbte meine Haare ebenfalls. Auch hier sollte es nicht bei einer spontanen Aktion bleiben. Ich verliebte mich in das satte Kirschrot, das seit jenem Tag zu meinem Markenzeichen wurde.
»Normalerweise bist du eine Stunde vor Abfahrt da«, setzte Iris an und begutachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Was ist passiert?«
»Mom«, erwiderte ich schlicht.
Ich musste nicht erwähnen, dass meine Mutter erst eine Stunde, nachdem ich loswollte, von ihrer Partynacht zurückgekehrt war. Auch nicht, dass ich meine Schwester nicht einfach hatte allein lassen können, ohne zu wissen, ob sie überhaupt wieder aufkreuzen würde. Denn meine beste Freundin musterte mich nur kurz und antwortete mit einem verstehenden Kopfnicken. »Ah.«
Ich rappelte mich auf und hoffte, einen Augenblick – nur einen klitzekleinen – durchschnaufen zu können, um die Hortensien zu bewundern, die rund um das Haus in voller Blüte erstrahlten. Alfies Eltern legten allergrößten Wert darauf, dass das Haus während und nach ihrer Anwesenheit ein makelloses Erscheinungsbild abgab. Zu anderen Jahreszeiten wirkte der Garten oft etwas trist, doch in den Sommermonaten leuchtete alles in bunten Farben. Statt jedoch die florale Pracht zu genießen, mein Gepäck hochzubringen oder Mom wissen zu lassen, dass ich angekommen war (was sie vermutlich ohnehin kaltlassen würde), bemerkte ich Iris’ unmissverständlichen Blick.
»Was auch immer du gerade vorhast: Es muss warten. Dein Zuspätkommen bedeutet, dass wir nun zu spät kommen«, kreischte sie.
Ich hatte kaum Zeit, mein Auto in der ganzen Eile abzuschließen, welches noch immer halb auf dem Bordstein stand, bevor sie meinen Arm packte und mich zu dem mintgrünen Ford Bronco zerrte, den sie gemietet und vor der Garage geparkt hatte. Ein nostalgisches Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich den Wagen sah. In unseren ersten Sommerferien hier, gleich nach dem ersten Collegejahr, hatte sie genau denselben zum ersten Mal gemietet. »Eines Tages werde ich dich kaufen – und dann wirst du nur mir gehören«, verkündete sie damals feierlich mit einem verträumten Blick, bevor sie dem Auto einen Abschiedskuss auf die Motorhaube drückte.
Nun begnügte sie sich damit, den Bronco jedes Mal für den Zeitraum, in dem wir auf der Insel weilten, zu mieten – und bestand darauf, immer selbst hinterm Steuer zu sitzen. So konnte sie viel Zeit mit »ihrem Schätzchen« verbringen, bis das nur allzu vertraute, unvermeidbare Ende kam.
Keine Minute später saßen wir alle in Iris’ heiß geliebtem Ford. Mein Gepäck? Ließ ich im Auto. Einen Schluck Wasser? Dafür war keine Zeit. Ein Moment zum Durchatmen? Unmöglich. Alfie und ich quetschten uns auf die Rückbank, Anni machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem, und Iris zwinkerte mir im Rückspiegel zu, während sie den Wagen souverän aus der Einfahrt lenkte. »Ich fasse es immer noch nicht. Valentina Rhodes … zu spät. Wahrscheinlich gewinne ich eher den Jackpot im Lotto, als das noch mal zu erleben.« Die Schadenfreude war kaum zu überhören.
»Ich sagte doch bereits, dass die Fähre zu früh abgelegt hat. Nicht meine Schuld. Das zählt fast schon gar nicht.«
Ihre Lippen kräuselten sich zu einem verschmitzten Lächeln. »Klar. Wenn ich zu spät dran wäre, würde ich es wahrscheinlich auch auf die Fähre schieben«, neckte Iris mich und warf mir diesen liebenswert wissenden Blick zu. »Hoffen wir mal, dass uns die Ampeln gnädig sind. Sonst verpassen wir noch Chesters große Eröffnungsshow.«
»Und ohne einen Siebzigjährigen, der Dancing Queen für uns singt, können wir unmöglich in die Sommerferien starten«, warf Anni ein, als wäre das eine unumstößliche Regel des Universums. Iris trat aufs Gas, und ich wusste instinktiv, dass wir es rechtzeitig schaffen würden. Egal wie spät wir dran waren – Iris würde eher die Gesetze der Physik aushebeln, als sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, bei einem der wohl kultigsten Songs aller Zeiten lautstark mitzusingen.
Unser erstes Wochenende auf der Insel lief immer nach demselben Schema ab, wie ein Ritual, das niemand zu hinterfragen wagte. Freitagabend war Karaoke und Margaritas angesagt, und Chester eröffnete das Konzert Punkt zwanzig Uhr dreißig mit dem immer gleichen Lied. Samstagmorgen begann traditionell mit einer Mischung aus Reue, einer monumentalen Katerstimmung und einem improvisierten Frühstück, das wir aus den Überresten, die Alfies Familie hinterlassen hatte, zusammenstellten. Anschließend taumelten wir, manchmal noch halb betrunken, in die Stadt, um mit Eis die Laune zu heben. Wenn ich richtig mitgezählt hatte, war Alfie schon mindestens zweimal nicht am zwanzig Minuten entfernten Ziel angelangt, ohne sich zu übergeben. Danach stand ein kurzer Schaufensterbummel auf dem Plan, bevor wir schlussendlich wieder bei einem Drink auf den gelungenen vergangenen Abend anstießen.
Der Rückweg gestaltete sich auch jedes Jahr aufs Neue gleich: ein leichter Schwips, die Sonne, die gnadenlos am Himmel glühte, und der Wind, der – als hätte er sich gegen uns verschworen – ausblieb, genau dann, wenn wir uns nach einer Abkühlung sehnten. Anni hatte bis dahin bereits immer einen leichten Sonnenbrand, während Alfie jedem gekochten Hummer hätte Konkurrenz machen können. Und ich? Trotz der unvermeidlichen Übelkeit und Hitze war ich jedes Mal so glücklich wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Unsere Sonntage waren, wie Mom immer zu sagen pflegte, »genau so, wie Gott sie vorgesehen hat«. Vollkommene Ruhe und Entspanntheit. Wir lasen Bücher, sprangen in den Pool oder ins Meer oder nahmen lange, kalte Duschen, wenn das jeweilige Gewässer an diesem Tag zu warm war.
Und jetzt war es zwanzig Uhr einunddreißig, als wir auf den Parkplatz des Blitz rollten.
»Wenn wir auch nur eine einzige Note von Dancing Queenverpassen, mache ich dich, Valentina, höchstpersönlich dafür verantwortlich!«, rief mir Iris über ihre Schulter hinweg zu, während sie schon halb sprintend auf den Eingang der Bar zusteuerte. Anni heftete sich an ihre Fersen.
Alfie hingegen schien die ganze Angelegenheit mit maximaler Gelassenheit anzugehen. Offensichtlich war er nicht allzu besorgt, irgendetwas zu versäumen, und so schlenderten wir beide gemächlich zur Holztür, deren blaue Farbe vom salzigen Meereswind schon an den Kanten abgeblättert war.
»Weißt du«, sagte Alfie und grinste dabei, »du könntest dir das alles sparen und einfach diese Passagierfähre nehmen. Aber nein, du bestehst ja darauf, mit deinem klapprigen Gefährt die ganze Strecke hier runterzufahren. Zwei Mal im Monat geht die Karre kaputt. Dass sie überhaupt noch die zweihundert Meilen hier runter geschafft hat, grenzt an ein Wunder. Miete dir einfach hier ein Auto.«
Ich hätte die Fähre allemal noch erwischt, wenn ich endlich damit aufhören würde, die Scherben von Problemen aufzukehren, die eigentlich gar nicht meine waren. Aber wie soll man sich raushalten, wenn es um das Chaos der eigenen Mutter geht – und man ein Leben lang nichts anderes getan hat, als zu versuchen, es ihr recht zu machen?
Ich gab ein schnaubendes Lachen von mir, irgendwo zwischen Belustigung und bitterem Ernst. »Damit ich dann an der Hall Beck während meines gesamten Masterstudiums an Unterernährung leide?«
»Ich übernehme das dann.«
»Was genau? Mein Essen oder das Mietauto?«
»Beides.« Alfie zuckte mit den Schultern – in dieser lässigen, ungerührten Art, die so typisch für ihn war.
Und genau das war mein Problem. Dieses nagende Gefühl, meinen Freunden auf der Tasche zu liegen, jedes Mal, wenn sie mir etwas schenkten, Rechnungen übernahmen oder mir den Rücken freihielten, ohne je eine Gegenleistung zu erwarten. Es war, als gäbe es einen unsichtbaren Countdown, der unaufhaltsam ablief, und wenn er bei null ankam, würden sie genug davon haben, immer nur zu geben. Genug von mir. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.
»Du weißt, dass ich das niemals annehmen würde.« Während ich sprach, stieß ich die knarzende Tür des Blitz auf. »Es reicht schon, dass du uns bereits seit vier Jahren hier in eurem Sommerhaus einquartierst. Kostenlos, wohlgemerkt.«
Drinnen erwartete uns ein wilder Mix aus Stimmengewirr, Lachen und klirrenden Gläsern. Jemand brüllte lautstark seine Bestellung über den Tresen, während die hübsche Kellnerin hinter der Bar mit einem fast schon unmenschlichen Organisationstalent die Gäste bediente und gleichzeitig die Zeche abkassierte. Die bunten Flaschen jeder erdenklichen Alkoholsorte standen perfekt nebeneinandergereiht im Regal hinter ihr. Tische und Stühle waren alle besetzt, doch Anni und Iris hatten einen Nischenplatz links von der Bühne ergattert. Von dort aus hatte man nicht nur eine perfekte Sicht auf die besagte Bühne, sondern auch auf die Veranda und den Strand durch die Flügeltür gegenüber. Die roten Sitzpolster waren an manchen Stellen aufgerissen, aber nicht so dramatisch, dass jemand auf die Idee gekommen wäre, sie auszubessern oder gar durch neue zu ersetzen.
Iris und Anni schenkten uns keine Beachtung – ihre gesamte Aufmerksamkeit galt der Bühne. Dort wartete bereits Chester, der geborene Entertainer. Seine beachtliche Nase stand in keinem Verhältnis zu seiner kleinen Brille, während höchstens zehn graue Haare seinen Kopf zierten. Gekleidet in ein Flanellhemd, Shorts und Birkenstocks, hätte er es vermutlich nicht auf ein GQ-Cover geschafft, aber was ihm an Stil fehlte, machte er mit seinen Gesangskünsten wieder wett.
Kaum sah er uns in der Tür stehen, schmetterte er um Punkt zwanzig Uhr dreiunddreißig sein erstes »Ooooh!« durch die Lautsprecher. Die Menge tobte.
Ich war bei meiner zweiten Frozen Margarita, als mir auffiel, dass Annis Freund fehlte. Dabei gehörte er seit seinem offiziellen Einstand letzten Jahres fest zu unserer kleinen Truppe, nachdem er Oakport in all seinen Facetten erlebt hatte – im Sommer, Winter und Frühling.
»Wo ist Mike?«
Für eine sekundenlange Ewigkeit fürchtete ich, sie hätten sich womöglich getrennt. Keine Chance. Annika Schmidt würde so eine Krise niemals durchmachen, ohne den kompletten Gruppenchat in Flammen zu setzen. Ihr sorgloses, beschwipstes Kopfwippen bestätigte meine Theorie. Ihre Lippen formten sich zu einem nachdenklichen Schmollmund. Wahrscheinlich wollte sie so was wie »Spät dran« oder »Wartet zu Hause« sagen.
Doch Iris kam ihr zuvor. Sie beugte sich quer über den Tisch, Arme weit ausgestreckt. »Miiiiike!« Sie zog seinen Namen genüsslich in die Länge und nippte an ihrer vierten Margarita – oder versuchte es zumindest. Es brauchte fünf Anläufe, bis der Strohhalm endlich seinen Weg in ihren Mund fand. Dann drehte sie den Kopf in Annis Richtung und seufzte theatralisch: »Weißt du, selbst wenn wir vorher alle schon mit ihm befreundet gewesen wären – ich hätte euch trotzdem akzeptiert.«
Alfie, der neben ihr saß, riss gespielt entsetzt die Augen auf. »Trotz des heiligen Freundschafts-Zölibats?«, fragte er, während irgendwo auf der anderen Seite des Blitz jemand mit fragwürdiger Inbrunst die höchsten Töne von My Heart Will Go On ins Mikrofon krächzte.
»Trotz des Freundschafts-Zölibats«, bestätigte Iris feierlich. »Und obwohl ich Männer gerade generell nicht ausstehen kann.«
Das Freundschafts-Zölibat: Was vor vier Jahren als halbherziger Scherz begonnen hatte, war mittlerweile zu einer unumstößlichen Regel geworden. Unser Kennenlernen verdankten wir einer glücklichen Fügung – und einer Runde Gratisdrinks auf einer Erstsemester-Party. Und aus Mangel an Gesprächsstoff hatte Iris – zwischen Wut, Tränen und lautstarken Flüchen – bei einem illegalen Lagerfeuer in einem fremden Garten ihre Trennungsgeschichte mit uns geteilt.
Ihr gesamter Freundeskreis hatte sich damals von ihr abgewandt, weil sie sowohl mit ihm als auch mit ihr befreundet gewesen waren und nach der Trennung anscheinend mehr den Kontakt zu ihm gesucht hatten. Von einem Moment auf den anderen hatte sie ihren Freund, ihre Freunde und ihren Halt verloren. Und wir waren die Fremden, die ihr einfach nur zugehört hatten.
Fremd blieben wir aber nicht für lange. Das wurde uns allen schnell klar, als Iris unsere neu geschmiedete Freundschaft keine halbe Stunde später offiziell machte. Mit entschlossener Miene ließ sie ihren Blick durch die Runde schweifen – erst zu Anni, dann zu Alfie, und schließlich zu mir –, bevor sie feierlich die ersten und einzigen beiden Regeln verkündete:
Keine Liebschaften innerhalb dieser FreundesgruppeWir nehmen nur neue Leute in unserer Truppe auf, wenn keiner von uns mit ihnen schlafen willVier Jahre später waren wir immer noch dieselben eingeschworenen Drei. Das klang vielleicht, als wären wir ein Haufen hormongesteuerter Mittzwanziger, unfähig, Freundschaften zu schließen, ohne dass Sex ins Spiel kam.
Daran lag es nicht.
Ich hatte in den letzten Jahren einige lockere Geschichten laufen – dank meines Physikstudiums allerdings meist mit meinen Büchern und Prüfungen statt mit Menschen. Nur eine einzige dieser Affären war tatsächlich erinnerungswürdig gewesen.
Sex war also nicht das Problem.
Falls es überhaupt ein Problem gab, dann, dass wir einfach niemand anderen brauchten – und vielleicht auch gar nicht wollten.
Das Freundschafts-Zölibat war also nie ein Thema gewesen. Anni hatte Mike kennengelernt – der Fußballkapitän der HBU, eigentlich Lichtjahre entfernt von unserem sozialen Orbit –, und ein Jahr später brachte sie ihn als ihre Plus-Eins mit nach Oakport. Wir schlossen ihn vom ersten Moment an ins Herz. Außerdem verschaffte er uns Zugang zu legendären Partys, versorgte uns mit Alkohol, weil wir selbst noch nicht alt genug waren, und mit ihm in der Nähe gab es immer etwas zu lachen. Solange das Fußballteam ablieferte und keiner seiner Jungs in Schwierigkeiten geriet, war alles gut. Ersteres passierte häufig – Letzteres hingegen so gut wie nie.
Dann war da noch die Tatsache, dass mein einziger erwähnenswerter One-Night-Stand durch ihn zustande gekommen war – mit einem Typ aus seinem Team. Das brachte Mike ein paar zusätzliche Bonuspunkte bei mir ein.
»Oh Gott, Iris.« Anni lachte und verdrehte die Augen. »Dann ist es ja gut, dass wir deinen Segen haben!« Sie wandte sich wieder mir zu, um endlich meine ursprüngliche Frage zu beantworten. »Er hätte es sowieso nicht rechtzeitig geschafft. Und ich zitiere: ›Wenn ich Chesters Auftritt verpasse, lohnt sich der Abend für mich nicht, Babe.‹« Ihre Stimme ging drei Oktaven tiefer, als sie ihn mit erschreckender Präzision imitierte. »Er wartet zu Hause.«
Und dieses eine Wort – Zuhause – hallte in meinem Kopf nach. Für mich war es nie ein Ort gewesen, sondern ein Gefühl. Ein Gefühl, nach dem ich mich seit meiner Kindheit gesehnt hatte. Es bedeutete Geborgenheit, Zugehörigkeit, das Wissen, dass es irgendwo einen Platz gab, an dem ich wirklich willkommen war.
Während Mike also zu Hause auf uns wartete, kippten wir noch eine letzte Runde Margaritas – aufs Haus, als Belohnung für Iris’ absolut schiefe, aber mit Herz und Seele vorgetragene Version von What Makes You Beautiful.
Alfie hatte mittlerweile genauso große Probleme mit der Treffsicherheit seines Strohhalms wie Iris. Anni musste sie davon abhalten, noch mal zum Mikrofon zu wanken, während sie kichernd fast vorneüber aus der Sitznische fiel.
Und alle drei kämpften lachend darum, mich wiederum davon abzuhalten, meinem Lieblings-Oakport-Flirt zu texten.
Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie sehr dieser Abend noch aus dem Ruder laufen würde, sobald ich nach Hause kam.
CADEN
Ich hatte Valentina Rhodes immer für eine dieser schwer fassbaren Figuren in meinem Kopf gehalten – ein perfektes Hirngespinst, das nur in meiner Fantasie existierte. Nicht, dass ich nicht wusste, dass sie real war. Natürlich war sie das. Und ich war mir zu etwa, sagen wir, neunzig Prozent sicher, dass auch das, was zwischen uns passiert war, echt gewesen war.
Aber als ich sie vor vier Monaten das erste Mal sah, wirkte sie fast … unwirklich. Kirschrotes Haar, große braune Augen, runde, rosige Wangen. Die Art, wie sie schüchtern an ihrem Drink nippte und mir von der anderen Seite der Bar zulächelte – und dabei nicht die geringste Ahnung hatte, was sie mit mir anrichtete. Wie sie sprach. Wie sie lief. Wie sie tanzte.
Und dann dieser Moment, nachdem wir uns in irgendeiner Ecke bereits eine Stunde lang unterhalten, miteinander gelacht und immer weniger Abstand zwischen uns gebracht hatten, als sie mich schließlich leise fragte: »Gehen wir später zusammen nach Hause, Callahan?« Ich hätte explodieren können. Oder implodieren. Wahrscheinlich beides gleichzeitig.
Seitdem rief ich mir an schlechten Tagen manchmal einfach nur in Dauerschleife in Erinnerung, wie sie damals meinen Namen ausgesprochen hatte.
Aber weil seitdem absolute Funkstille herrschte, hatte ich mir irgendwann eingeredet, dass sie vielleicht nur eine Halluzination gewesen war. Zehn Prozent meines Verstandes glaubten immerhin, dass ich mir die ganze Nacht bloß zusammengereimt hatte.
Bis jetzt.
Vier Monate später, wieder kurz nach Mitternacht. Aber diesmal suchte ich vergebens nach einem Lächeln auf ihren Lippen. Es lag keinerlei Spannung in der Luft, kein unausgesprochenes Verlangen knisterte zwischen uns, wie damals nach einem langen Abend voller geladener Blicke und leisem Lachen in einer überfüllten College-Bar.
Denn ich war in ihrem Zimmer. Und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie absolut nicht mit mir gerechnet.
Zu meiner Verteidigung: Als Mike mir gesagt hatte, dass ich mir das Zimmer mit einem seiner Freunde teilen würde, war die Möglichkeit, es könnte sich dabei um Valentina Rhodes handeln, so unwahrscheinlich, dass sie auf meiner Liste der möglichen Zimmerpartner nicht einmal vorkam.
Aber gut, als ich vor ein paar Stunden durch diese Tür getreten war, erwartete ich auch nicht, dass mitten im Raum ein verdammtes Hochbett thronen würde.
Seit unserem ersten und einzigen Aufeinandertreffen hatte ich oft an sie gedacht – viel öfter, als ich mir eingestehen wollte. Doch nichts, wirklich nichts, hätte mich auf das vorbereiten können, was in mir losbrach, als sich unsere Blicke das erste Mal wieder trafen.
Es war, als würde mich eine Flutwelle aus Erinnerungen mit voller Wucht erfassen. Jedes perfekte Detail an ihr war noch da, gestochen scharf in meinem Kopf. Mit einem Mal verstand ich, warum ich sie in all der Zeit nicht hatte vergessen können. Und jetzt, wo sie direkt vor mir stand, übertraf sie trotzdem jede meiner Vorstellungen.
»Was …?« Ihre Stirn legte sich in Falten, als könnte sie ihren eigenen Augen nicht trauen. Verständlich. Ich hätte auch nicht anders reagiert, wenn ein (fast) Fremder plötzlich in meinem Bett gelegen hätte.
Valentina blinzelte ein paarmal, ihre großen Augen formten sich zu Schlitzen, als suchte sie nach den richtigen Worten. Nach allem, was ich in diesen wenigen Stunden damals über sie erfahren hatte, rechnete ich eher mit einem »Was machst du hier?« oder »Was geht hier vor?«.
Offensichtlich kannte ich sie nicht halb so gut, wie ich dachte.
»Was zur verfickten Hölle …« Die Worte schossen geradewegs aus ihr heraus, und selbst sie schien kurz überrascht von ihrer eigenen Wortwahl. Dann fing sie sich wieder, stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte mit ihrem anklagenden Zeigefinger auf mich. »Was zum Henker machst du hier?!«
Erinnerte sie sich?
Daran, wie sie meinen Namen gewimmert und sich anschließend an meine Brust geschmiegt hatte, als wären wir ein altes Ehepaar? Falls ja, erinnerte sie sich hoffentlich auch an den Teil, in dem sie sang- und klanglos verschwunden war, noch bevor ich überhaupt aufgewacht war.
Es war nur eine Nacht gewesen. Ein paar Stunden. Aber dass sie etwas, das für mich das verdammte Highlight des Jahres gewesen war, jetzt nicht einmal mit einem kurzen Kommentar würdigte … ging mir gewaltig gegen den Strich.
Ich setzte mich abrupt auf, vergaß dabei für eine Sekunde, dass ich mich in einem Hochbett befand, und stieß mir fast den Kopf. »Valentina, du verletzt meine Gefühle.« Ich zog einen Schmollmund.
Ihre Augen verengten sich zu noch schmaleren Schlitzen – vermutlich konnte sie mich kaum mehr sehen.
»Ich habe dich so sehr vermisst, ich musste einfach in dein Zimmer einbrechen, um dir den Sommer zu ruinieren.«
Dass ich genau wusste, wie unsympathisch ich in diesem Moment rüberkam, machte die Sache nicht besser. Natürlich verdiente sie zu erfahren, warum zur Hölle ich in ihrem Zimmer war. Ich schuldete ihr eine Erklärung – genauso sehr, wie ihre Freunde ihr einen kleinen Warnhinweis schuldig gewesen waren.
Ein simples »Hey, übrigens, du wirst diesen Sommer einen Mitbewohner haben« hätte vollkommen ausgereicht. Aber nein, natürlich hielt niemand es für nötig, ihr das mitzuteilen.
»Lass den Scheiß, Callahan.« Endlich trat Valentina aus dem Türrahmen ins Zimmer. Ihren Koffer ließ sie achtlos im Flur stehen, während sie mit unsicheren Schritten auf die Kommode zutaumelte. Sie war sturzbetrunken. Morgen würde sie sich höchstwahrscheinlich an kein Wort dieses Gesprächs erinnern.
Aber alles, woran ich gerade denken konnte, war, wie sie meinen Namen ausgesprochen hatte. Und dass er – selbst ohne einen spielerischen Unterton in ihrer Stimme – noch genauso schön klang wie damals.
Sie erinnerte sich also.
Die Genugtuung, die sich in meinem Bauch ausbreitete, war fast schon peinlich. Noch schlimmer war der absurde Drang zu fragen: »Warum hast du nicht angerufen?« Kindisch. Kleinlich. Überhaupt nicht mein Stil. Normalerweise war ich derjenige, der nicht anrief. Derjenige, dem es egal war. Ich wollte keine Verpflichtungen, keine Erwartungen – und streng genommen hatte mir Valentina mit ihrem Verschwinden einen Gefallen getan.
Wenn ich mir das nur oft genug einredete, würde ich es vielleicht irgendwann selbst glauben.
Die meisten Frauen, mit denen ich etwas hatte, waren einem Wiedersehen aber nicht abgeneigt. Manche waren sauer, weil ich mich nie wieder meldete. Andere waren nervös, weil ich es tat – insgeheim hoffend, dass da vielleicht doch mehr drin war als nur eine Nacht. War es nie. Und das stellte ich von Anfang an klar. Aber Valentina? Sie war weder sauer noch nervös. Sie wirkte nicht einmal im Ansatz unsicher. Nein, sie war schlicht und einfach genervt. Genervt von meiner bloßen Anwesenheit – nicht davon, dass ich mich nicht gemeldet hatte.
»Frag doch mal deine Freunde.« Die Worte waren raus, bevor ich sie aufhalten konnte, und für einen Moment überlegte ich, ob ich heute womöglich zu viel getrunken hatte. Es würde zumindest erklären, warum mein Mund mir nicht mehr gehorchte. Warum ich immer noch darüber nachdachte, warum sie nicht angerufen hatte. Und warum mich das verdammt noch mal so dermaßen störte.
Aber nein. Ich war stocknüchtern. Die Kapitänsbinde, die in zwei Monaten auf mich wartete, ließ keine Eskapaden zu.
»Die sind ja wohl nicht hier, oder?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen die Kommode und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Langsam wurde es albern, dass ich immer noch hier oben auf dem Bett hockte. Aber runterklettern? Das hätte sich viel zu sehr nach einer Niederlage angefühlt. »Warum also zu ihnen gehen, wenn du hier bist? In meinem Zimmer?«
Ich grinste. Eine bessere Vorlage hätte sie mir nicht liefern können. »Unser Zimmer«, verbesserte ich sie.
Sie blinzelte. Die Stille zwischen uns war ohrenbetäubender als jeder Torjubel, und dieser Moment fühlte sich an wie ein entscheidender Elfmeter in der Nachspielzeit.
Dann brach Valentina Rhodes in schallendes Gelächter aus.
Sie lachte so heftig, dass sie sich nach vorne beugte, Hände auf die Knie gestützt, und eine Schrecksekunde lang das Gleichgewicht verlor. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich mir bereits ausmalte, wie sie sich den Kopf an der Kommode aufschlug und den weißen Lack mit Blutspritzern besprenkelte. Instinktiv sprang ich vom Bett. Jede Spur von Belustigung war verflogen, als ich direkt vor ihr stand.
Zum Glück konnte sie sich gerade noch fangen. Trotzdem ließ sie sich sicherheitshalber auf den Boden sinken, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kommode. Keine Platzwunde. Kein Blut. Nur sie, noch immer lachend – und mein Herz, das aus unerfindlichen Gründen doppelt so schnell schlug.
Eine verletzte Mitbewohnerin zehn Minuten nach Ankunft stand definitiv nicht auf meiner Wunschliste.
»Alles okay?«, fragte ich und ging vor ihr in die Hocke. Offensichtlich ja. Sie sah zu mir hoch, mit großen Augen, immer noch sichtlich amüsiert.
Valentina schnaubte. »Die Blondierung muss dir ins Hirn gestiegen sein, Callahan«, nuschelte sie und fuhr mit einer Hand über meinen platinblonden Buzzcut. Ich bezweifelte stark, dass diese Berührung so elektrisierend ausfallen sollte, wie sie sich anfühlte. Wahrscheinlich war das nur als spöttische Geste gemeint. Ihre Hand sank zurück in ihren Schoß, und allmählich beruhigte auch mein Puls sich wieder. »Wenn du ernsthaft glaubst, dass ich acht Wochen lang ein Zimmer – ein Bett – mit dir teilen werde …«
»Echt?« Ich hob herausfordernd eine Augenbraue. »Komisch. Beim letzten Mal, als wir uns ein Bett geteilt haben, schien dich das nicht zu stören. Ganz im Gegenteil – du bist so schnell eingeschlafen, dass ich kaum aus dir raus war, bevor du schon tief und fest geschnarcht hast.«
Die Bilder jener Nacht ließen ihre Wangen augenblicklich erröten. Sie rappelte sich so hastig vom Boden auf, als könnte sie sich damit die Gesprächsoberhand zurückgewinnen.
Währenddessen sorgte allein die Erinnerung daran dafür, dass mein Blut in eine völlig andere Körperregion schoss – so wie jeder verdammte Gedanke an diese Nacht.
Valentina schüttelte den Kopf, und ich richtete mich ebenfalls auf. Ich konnte förmlich zusehen, wie sie sich zwang, fokussiert zu bleiben und nicht auf meine Brust zu schielen. Oder meine Schultern. Oder meine Lippen. Aber sie scheiterte kläglich. Ihre Augen hafteten an meinem Mund, bis sie sich abrupt besann und mir in die Augen schaute. Fast so, als könnte sie dadurch ungeschehen machen, was längst passiert war. »Warum bist du hier, Caden?«
Und diesmal, schwöre ich, hätte ich ihr eine ehrliche Antwort gegeben. Dass ich selbst nicht genau wusste, warum ich hier war. Dass das hier mein erster richtiger Urlaub seit einer gefühlten Ewigkeit war. Wahrscheinlich überhaupt. Dass ich, als Mike mich nach dem Elfmeterschießen gefragt hatte, ob ich mit nach Oakport kommen wollte, aus Reflex Nein sagte – ohne auch nur eine Sekunde über das Angebot nachzudenken.
»Komm schon, Mann«, hatte er gerufen, während er zur anderen Ecke des Tores joggte, um den Ball zu holen. »Du brauchst echt Urlaub.«
»Mit anderen Worten: Ich sehe müde und ausgelaugt aus?« Ich hatte mir theatralisch eine Hand auf die Brust gelegt und eine gekränkte Miene aufgesetzt. »Wie kannst du es wagen!«
Mike hatte gelacht, aber der Blick meines Kapitäns hatte mir verraten, dass das kein Scherz gewesen war.
»Die Augenringe unter deinen Augenringen haben Augenringe. Du hast heute vier von fünf Elfmetern versemmelt. Du sollst dieses Team anführen, aber so? Vergiss es. Zwei Monate Oakport, und wir bringen dich wieder in Bestform. Oder willst du etwa nicht Kapitän werden?«
Seine Frage war rein rhetorisch gewesen – genau deshalb hatte ich gelogen. »Natürlich«, hatte ich beteuert. Und genau da lag das Problem: Ich wollte die Kapitänsbinde gar nicht. Eigentlich war ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch Teil des Teams sein wollte. Nach dem NCAA-Sieg hätte man meinen können, dass die Uni uns ein bisschen Luft zum Atmen ließ, den Druck etwas rausnehmen würde. Schließlich hatten wir ihnen eine verdammte Trophäe nach Hause geholt. Nicht jeder von uns war ein Henry Pressley, der in die Profiliga aufgestiegen war und mittlerweile Millionen scheffelte.
Aber nein – sie wollten mehr. Viel mehr. Die Titelverteidigung zum Beispiel. Und offenbar war ich der Auserkorene, der das Team dorthin führen sollte. Mit dieser Aufgabe ging eine Wagenladung von Erwartungen und Druck einher, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war – und die mir den Spaß am Spiel zunehmend nahm.
Also ja. Mike hatte an diesem Tag den Nagel auf den Kopf getroffen. Mit den dunklen Schatten unter meinen Augen hätte ich locker als Onkel Fester aus der Addams Family durchgehen können. Ich spielte nicht mehr auf meinem A-Game, wie man im Fußballjargon so schön sagte. Und es gab mindestens eine Person, die mein Bestes verdient hätte.
Valentina ließ mir nicht einmal die Chance, ihr das zu sagen – oder wenigstens eine etwas weniger selbstmitleidige Kurzfassung davon. Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, driftete ihr Blick schon ab. Als hätte sie vergessen, dass sie mich überhaupt etwas gefragt hatte, huschten ihre Augen durch den Raum und suchten nach etwas, das sie offensichtlich nicht finden konnte. Sie drehte sich, ging von einer Seite des Zimmers zur anderen, völlig in ihrer eigenen Welt, bis ich schließlich sagte: »Draußen.«
Sofort bekam ich wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, versuchte es aber hinter einem Husten zu kaschieren. »Dein Koffer«, fügte ich hinzu. »Steht noch vor der Tür.«
»Den suche ich nicht.« Trotzdem verschwand sie kurz in den Flur und kam im nächsten Moment mit ihrem Koffer zurück. Noch immer kopfschüttelnd schloss sie hinter sich die Tür – die Tür unseres Zimmers.
In meinem Kopf klang das irgendwie … intimer, als es sollte. Fast so, als gäbe es zwischen uns mehr als nur das unbequeme Hochbett, das wir uns zwangsläufig teilten. Als hätten wir uns bewusst für diese Schlafsituation entschieden. Und würden sie vielleicht sogar genießen. Was ganz offensichtlich nicht der Fall war.
Ich beobachtete Valentina, wie sie ihren Koffer durchs Zimmer rollte, bevor ich endlich ihre Frage beantwortete. »Mike hat mich eingeladen. Deshalb bin ich hier.«
Meine Worte waren nicht viel aufschlussreicher als die vagen Ausflüchte zuvor, aber zumindest eine Antwort.
Sie stöhnte genervt auf, ich konnte allerdings nicht genau sagen, ob es an dem Bullshit lag, den ich von mir gab (ja, ich konnte mir das durchaus eingestehen), oder weil sie gerade herausgefunden hatte, dass die beiden oberen Schubladen bereits mit meinen Sachen belegt waren. Die wollte sie wohl für sich beanspruchen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
»Deine Sachen sind in meinen Schubladen«, stellte sie fest. »Du bist in meinem Zimmer. In meinem Bett.« Valentina holte tief Luft, drehte sich um und sah mich an – oder besser gesagt, sie versuchte es. Ich lehnte mich entspannt gegen die Leiter des Hochbetts, während sie mich mit einem Ausdruck betrachtete, der irgendwo zwischen Verwirrung und Verzweiflung schwankte. »Und ich bin so betrunken, dass ich nicht mal sicher bin, ob du wirklich hier bist oder ob ich mir dich nur einbilde. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du ausgerechnet hier bist? Da denke ich ein einziges Mal an dich, und schon …« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit auch den Gedanken an mich loswerden, und richtete den Blick in eine andere Richtung, als wäre ich eine Fata Morgana, die sich gleich in Luft auflösen würde.
Stattdessen wirbelte sie herum, öffnete die oberen Schubladen und begann, meine Sachen herauszuräumen – ohne jede Rücksicht darauf, dass ich sie ordentlich gefaltet hatte. Ein Kleidungsstück nach dem anderen landete lieblos in den unteren Schubladen, während sie mit verbissenem Gesichtsausdruck Platz für ihre Klamotten schuf.
Ich hätte gedacht, dass sie mit ihren eigenen Sachen etwas achtsamer umgehen würde, als sie schließlich ihren Koffer öffnete. Aber nein – die flogen genauso chaotisch in die Schubladen wie zuvor meine. Sollte mir recht sein. »Du hast an mich gedacht?«
Für einen Moment erstarrte sie mitten in der Bewegung, den Rücken mir noch immer zugewandt. Es kostete mich jede Menge Selbstbeherrschung, nicht auf das Bündel Unterwäsche in ihrer Hand zu schauen, das sie gerade in die Schublade verfrachten wollte. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, ein Gedanke ließ sich nicht unterdrücken: Befand sich unter diesem Bündel auch das Spitzenhöschen, das sie in jener Nacht bei mir getragen hatte?
Ein weiterer Blutschwall rauschte in eine ohnehin schon überversorgte Region. Ich zwang mich, jede einzelne Erinnerung an sie in diesen verfluchten Spitzenpanties zu verbannen. Ich durfte nur nicht daran denken, wie ich sie damals langsam über ihre weichen Schenkel gezogen hatte. Fuck. Ich war schlimmer als ein notgeiler Teenager.
Valentina räusperte sich, stopfte ihre Unterwäsche in die Schublade und knallte sie mit unnötig viel Schwung zu. Erst jetzt, wo ich mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren konnte, fiel mir auf, dass ihre Wangen noch immer leicht gerötet waren.
Sie schüttelte den Kopf. »So kurz, dass es nicht mal der Rede wert ist«, gestand sie schließlich. »Für gewöhnlich denke ich nicht an dich – falls du das andeuten willst.«
Ich schon, dachte ich. Dich aus meinem Kopf zu bekommen ist mein größtes Problem. Und verdammt, ich wünschte, ich wüsste, warum.
»Reicht mir völlig.«
Sie gab einen hörbar verächtlichen Laut von sich – ein letzter, halbherziger Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, bevor sie endgültig kapitulierte. Oder so dachte ich zumindest. Valentina ließ die Schultern sinken und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Kommode. Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, endlich kam sie ein wenig runter.
Und mein Gott, sie sah umwerfend aus. Selbst jetzt. Überfordert, erschöpft vom Tag, genervt. Vielleicht auch ein bisschen von mir. Es fühlte sich irgendwie angebracht an, einer höheren Macht zu danken. Dafür, dass sie mich hierhergeführt hatte. Dafür, dass sich unsere Wege wieder kreuzten. Und vor allem dafür, dass mir in genau diesem Moment klar wurde: Wenn es etwas gab, das ich noch mehr wollte, als mein A-Game zurückzuerlangen, dann war es sie.
»Also dann.« Valentina schluckte, stieß sich von der Kommode ab, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich wirklich, mein stilles Gebet würde erhört. Dass mein Wunsch schneller in Erfüllung ging, als ich ihn überhaupt richtig ausformulieren konnte.
Als sie langsam auf mich zukam, nur eine Armlänge entfernt stehen blieb, erwog ich ernsthaft, wieder an Gott zu glauben. Vielleicht sogar an einen Wiedereintritt in die Kirche.
Ich sah zu ihr hinunter, unsere Blicke trafen sich. Ich hätte schwören können, dass alles, was damals zwischen uns gewesen war – Begehren, Faszination, diese fast schmerzhaft süße Erwartung –, wieder aufflammte. Für einen einzigen, elektrisierenden Moment. Ihre Lippen zuckten. Dann ließ sie meine Seifenblase mit drei simplen Worten platzen. »Ich schlafe oben.«
VALENTINA
Ich wachte dort auf, wo ich jeden Juli aufwachte. In der oberen Koje des Hochbetts, im Gästezimmer, in Alfies Sommerhaus, auf Oakport Island. Und ich fühlte mich auch so, wie ich mich jedes Mal fühlte: als hätte mich ein Lkw überfahren – ein sehr großer, sehr rücksichtsloser Lkw.
Und obwohl ich hier noch nie von ihm geträumt hatte, war mir Caden Callahan in meinen Nächten schon einige Male begegnet. Nur eben nie in einem Albtraum.
Wenn ich sonst an ihn dachte, dann an seine Hände auf meiner Haut, seinen Körper zwischen meinen Beinen. Und es endete immer auf dieselbe Weise: mit einem spektakulären Orgasmus. Dann erinnerte ich mich daran, dass er mir in einer einzigen Nacht drei davon beschert hatte, nachdem ich ihn gerade mal fünf Stunden gekannt hatte.
Vielleicht wäre es also gar nicht so schlimm gewesen, wenn er tatsächlich hier gewesen wäre. Wenn auch nur, um ihm für was auch immer zu danken, das er in jener Nacht mit mir gemacht hatte. Dafür, dass er meine Sichtweise auf Sex komplett auf den Kopf gestellt hatte. Dafür, dass er bewiesen hatte, dass Männer durchaus in der Lage waren, eine Frau zum Höhepunkt zu bringen. Dafür, dass sie – anders als sonst viel zu oft – keinen Orgasmus vortäuschen musste, nur um sein Ego zu streicheln und damit sie endlich fertig wurden. Eine bahnbrechende Erkenntnis.
Noch immer leicht schlaftrunken und desorientiert ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Keine Spur von ihm. Kein einziges Indiz, dass letzte Nacht mehr als nur ein Traum gewesen war. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Bedauern machte sich in mir breit. Erleichterung, weil ich mich sonst in Grund und Boden schämen müsste. Für mein Verhalten, meine Unhöflichkeit, meine scharfen Bemerkungen und – ja, nennen wir das Kind beim Namen – mein absolut unausstehliches Rumgezicke.
Denn wenn Valentina für etwas bekannt war, dann für ihre Freundlichkeit. Sie war entspannt, zuvorkommend und jemand, mit dem man gerne Zeit verbrachte. Allein die Vorstellung, etwas anderes zu sein, bereitete mir regelrecht körperliches Unbehagen. Oder vielleicht war es auch nur der Restalkohol in meinem Blut.
Vom oberen Bett herunterzuklettern, während ich noch leicht betrunken war – ohne mir dabei das Genick zu brechen oder mich über die Bettkante zu übergeben –, war schwieriger, als ich es in Erinnerung hatte. Aber ich meisterte auch diese Herausforderung. Mein Koffer lag halb ausgepackt vor der Kommode. Mir war schleierhaft, welcher Geist der Produktivität mich gestern Nacht heimgesucht hatte, dass ich überhaupt angefangen hatte auszupacken – und warum genau er mich dann mittendrin im Stich gelassen hatte.
Ich wühlte mein eigentlich für die Nacht gedachtes T-Shirt hervor. Die betrunkene Valentina hatte es offenbar für überflüssig gehalten. Señorita Margarita – aka Valentina Rhodes – hatte es für eine grandiose Idee befunden, sich in ihren durchgeschwitzten, nach Alkohol stinkenden Klamotten ins Bett zu legen. Morgens fühlte sich diese Entscheidung dann nicht mehr ganz so grandios an.
Ich zog meine Klamotte vom vergangenen Abend aus, streifte das viel zu große Shirt über und startete in meinen ersten Morgen auf Oakport so, wie ich es immer tat.
In die Küche gehen, die Schränke nach etwas Essbarem durchsuchen und dann aus allem, was ich in die Finger bekam, ein halbwegs passables Frühstück zaubern. Als Erste wach zu sein bedeutete automatisch, dass ich zur inoffiziellen Frühstücksfee befördert wurde – aber das störte mich nicht. Im Gegenteil.
Hier zu stehen, in dieser großzügigen Küche mit ihren endlosen Arbeitsflächen, den professionellen Geräten und der riesigen Kochinsel in der Mitte, fühlte sich jedes Mal wie ein kleines Geschenk an. Vor allem nach den Wochen bei Mom, wo ich mit einem einzigen funktionierenden Kochfeld für drei Leute kochen musste – immer mit der bangen Frage im Hinterkopf, ob der Strom überhaupt noch lang genug lief, damit das Essen fertig wurde. Hier war es anders. Hier gab es Platz. Hier musste sich niemand Gedanken über unbezahlte Stromrechnungen machen.
Die Küche war zum Wohnzimmer hin offen. Goldene Griffe, weiße Marmorplatten, tiefblaue Schränke, die farblich perfekt zu den Fensterläden draußen passten. Die Couch war weiß, die Kissen dunkelblau, und die goldenen Vasen und Lampen setzten noch ein paar Farbakzente.
Der Fernseher hing über einem Kamin, gegenüber der Couch, hinter der sich der Esstisch erstreckte.
Ich schaute mich kurz um, sog das Gefühl von Zuhause in mich auf – und machte mich an die Arbeit.
Erst nach drei großen Gläsern Wasser fühlte ich mich körperlich imstande, die Eier aus dem Kühlschrank zu Rührei zu verarbeiten. Noch ein Glas später traute ich mir bereits zu, mit einem Messer zu hantieren, um Obst zu schneiden.
Von oben vernahm ich allmählich die ersten Geräusche. Erst ein müdes Schlurfen, dann ein gequältes Stöhnen, gefolgt vom Fluchen eines Menschen, der sich offensichtlich genauso elend fühlte wie ich. Perfektes Timing. Ich warf die letzten zwei Scheiben Toast in den Toaster und schlug zwei Eier auf – meine beste Freundin war schließlich ein großer Fan von Spiegeleiern. Keine zwei Minuten später tapste Iris in die Küche.
Wimmernd und schimpfend taumelte sie hinter mich und schlang ihre Arme um meine Mitte, mit der Energie von jemandem, der noch nicht sicher war, ob er diesen Tag überleben würde.
»Du bist ein Engel«, murmelte sie, während ich gerade die Spiegeleier auf ihren Teller legte. »Ich liebe dich. Sag mal, wie, glaubst du, wird mein zukünftiger Ehemann reagieren, wenn ich ihm beichten muss, dass unser Hochzeitstag niemals mit dem Gefühl mithalten kann, verkatert auf Oakport Island aufzuwachen – halb tot, halb lebendig –, nur um dann Valentina Rhodes am Herd stehen zu sehen?«
»Und wie, glaubst du, wird mein Ehemann reagieren, wenn ich ihm dasselbe erzähle?« Alfie tauchte im Türrahmen auf – und warf mir das nächste Kompliment zu, bevor ich das erste überhaupt richtig auskosten konnte.
Mein Lächeln wurde so breit, dass mir die Wangen wehtaten. Und egal, wie sehr ich versuchte, es zu überspielen – mit einem Augenrollen, einem Kopfschütteln, einer abwinkenden Geste –, es war offensichtlich, wie sehr ich all das hier liebte. Und wie sehr ich geliebt wurde. Dieses warme, vertraute Gefühl von Wertschätzung, das mir meine Familie nie wirklich zuteilwerden ließ. Ein gelegentliches Danke hier und da, klar … das musste ich ihnen lassen. Aber echte Anerkennung? Die gab es nie. Nicht einmal, als ich meinen Bachelor an der Hall Beck University mit summa cum laude abgeschlossen hatte. Alles, was ich dafür bekam, war ein desinteressiertes Nicken. Ein knappes »Cool, Glückwunsch«.
Aber das hier – die strahlenden Gesichter meiner Freunde, ihr Lachen, ihre echten Worte der Anerkennung – ließ mich verstehen, warum ich mir all das von Mom und meiner Schwester bereits so lange wünschte. Es erinnerte mich aber auch daran, warum ich damit aufhören musste und warum ich diesen dämlichen Plan ausgeheckt hatte, in der Hoffnung, genau das zu erreichen.
Ich war umgeben von Menschen, die mich liebten. Das sollte doch eigentlich reichen, um nicht anderswo nach Bestätigung zu suchen. In einer perfekten Welt wären sie genug. Und in einer noch besseren Welt wäre ich mir genug, würde mich selbst wertschätzen, für mich selbst einstehen, Dinge für mich tun.
Aber Egoismus war noch nie meine Stärke gewesen.
Anni riss mich aus meiner Gedankenabwärtsspirale, indem sie mir einen Kuss auf die Wange drückte und mir grinsend den Teller aus der Hand nahm, den ich gerade Iris geben wollte. »Dann fragen wir doch einfach mal meinen zukünftigen Ehemann, was er davon hält.« Sie kicherte, während Iris und ich synchron die Augen verdrehten und unsere Teller, das Besteck und Frühstück auf die Terrasse trugen. »Er und Caden müssten gleich zurück sein. Ich glaube, sie wollten joggen gehen.«
Ich hielt abrupt inne – und zwar direkt vor Iris. Zum Glück trug sie nur einen Brotkorb in der Hand. Trotz Kater funktionierten ihre Reflexe einwandfrei, sie fing sich, stieß ein schrilles Quietschen aus und tänzelte irgendwie an mir vorbei nach draußen.
Ich hingegen blieb stocksteif vor der Schiebetür stehen.
Die warme Sommerbrise strich über meine Haut, das Salz der Luft lag mir auf der Zunge, das entfernte Rauschen der Wellen klang in meinen Ohren – und doch bewegte ich mich keinen Millimeter.
»Wer?«
Die Frage war überflüssig. Denn plötzlich fühlte sich alles, was ich für einen skurrilen Albtraum gehalten hatte, erschreckend real an. Unsere gesamte Unterhaltung, jedes Wort, das mir unter Einfluss von Alkohol und Überheblichkeit herausgerutscht war, krachte wie eine Tsunamiwelle über mich hinweg.
Details der vergangenen Nacht, die mir noch belanglos erschienen waren (weil es doch nur ein Traum gewesen war), versetzten mir jetzt einen heftigen Schlag in die Magengrube (weil es eben kein Traum gewesen war). Ich war völlig betrunken in dieses Zimmer getorkelt, kaum in der Lage, aufrecht zu stehen. Bilder schossen mir durch den Kopf, wie ich meine Unterwäsche vor ihm ausgepackt hatte, als wäre es das Normalste der Welt.
Du bist so schnell eingeschlafen, dass ich kaum aus dir raus war, bevor du schon tief und fest geschnarcht hast.
Meine Wangen glühten bereits, ehe ich ihm überhaupt gegenüberstand. Als hätte mich das Schicksal verhöhnen wollen, joggten Mike und Caden genau in diesem Moment über den Rasen und wurden schließlich langsamer, bis sie vor dem gedeckten Tisch zum Stehen kamen.
Caden trug schwarze Shorts und ein graues Shirt, auf dem nicht ein einziger Schweißfleck zu sehen war, obwohl sie sehr wahrscheinlich ein anstrengendes Training hinter sich hatten. Sein blonder Buzzcut verschwand unter einer rückwärts getragenen Cap, was nur dazu führte, dass mein Blick sich umso mehr auf sein Gesicht konzentrierte. Ein Gesicht, das leider genauso unverschämt gutaussehend war wie vor vier Monaten – und vergangene Nacht.
Unsere Blicke trafen sich, und das stechende Blau seiner Augen katapultierte mich endgültig aus meiner Schockstarre. Wenn auch nur, um seinen Blick zu meiden.
Scheiße. Er ist echt.
Falls möglich, nahm mein Gesicht einen noch tieferen Rotton an, als ich mich setzte und in eine Endlosschleife peinlicher Erinnerungen fiel. Jene schlagfertigen Antworten, die nur in meinem Kopf gut geklungen hatten. Meine schnippischen Bemerkungen. Meine dummen Worte, die mir über die Lippen gekommen waren. Nichts davon war ein Traum gewesen. Ich hatte all das wirklich gesagt.
Mein Blick huschte zu meinen Freunden – von Anni zu Alfie zu Iris –, so schnell, dass mir fast wieder schwindelig wurde. Aber niemand außer mir schien von seiner Anwesenheit überrascht zu sein.
»Oh«, meinte Iris schließlich und sah zu ihm. Gott sei Dank. Endlich würde jemand fragen, was zum Kuckuck hier verdammt noch mal geschah und warum er überhaupt hier war – genau wie ich letzte Nacht.
Ihre Augen wanderten zwischen ihm und mir hin und her. Mit ihrer Gabel deutete sie erst auf ihn, dann auf mich. »Wie läuft das mit der Zimmergenossenschaft?«
Ich blinzelte sie an wie ein Reh im Scheinwerferlicht: Mund offen, Hirn leer. »Was?«
Iris, deren Mund bereits mit dem ersten Bissen Spiegelei voll war, musterte mich, als sei ich diejenige, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. »Na ja, ihr teilt euch doch ein Zimmer, oder?« Sie kaute seelenruhig weiter, als wäre das hier die selbstverständlichste Sache der Welt. »Wie. Läuft. Das. So?« Sie sprach jedes Wort übertrieben langsam und deutlich aus, als wäre ich ein kleines Kind, das nicht verstehen konnte, dass eins plus eins gleich zwei ergibt.
Was geht hier vor sich?!
Meine Augen huschten wieder über den Tisch, diesmal fast panisch. Caden hatte es sich, wie sollte es auch anders sein, direkt gegenüber von mir gemütlich gemacht. Mike und Anni saßen neben ihm auf der Bank, Iris und Alfie auf meiner Seite. Keiner machte den Anschein, als wäre meine Verwirrung auch nur ansatzweise gerechtfertigt.
Caden räusperte sich, und ich tat mein Bestes, ihn zu ignorieren, als er die Stille zwischen uns brach. »Es wäre wahrscheinlich besser gelaufen«, sagte er und nahm sich dabei eine Scheibe Toast, »wenn man sie vorher über die Zimmeraufteilung informiert hätte.«
Alfie japste. Anni schrie – ohrenbetäubend.
Und Iris? Iris sprach wie immer das aus, was alle dachten. »Das haben wir total vergessen!«
»Oh mein Gott«, wiederholte Anni in Dauerschleife. »Oh mein Gott. Wir haben es ihr nicht gesagt. Wir haben es vergessen!«
Die Blicke meiner Freunde sprachen Bände. Alle wollten sich erklären, und natürlich fingen sie auch alle gleichzeitig damit an.
»Weil du zu spät warst …«, begann Iris.
»Das muss während des Stromausfalls bei deiner Mom gewesen sein …«, warf Anni ein.
»Du hast doch diesen einen FaceTime-Call verpasst, könnte es daran …«, überlegte Alfie.
Ich spähte zu Mike und Caden. Nicht an unsere chaotische Gruppendynamik gewöhnt, wirkten sie, als wären sie zwei Sekunden davon entfernt, sich einfach komplett auszuklinken. Doch auf Cadens Lippen lag ein kaum merkliches Schmunzeln, als sein Blick zwischen meinen Freunden hin und her wanderte. Mikes Aufmerksamkeit galt dagegen einzig und allein seiner Freundin.
»Das ist so abgefuckt«, fasste Alfie schließlich ihre improvisierte Version von »Warum wir dir nicht gesagt haben, dass du mit einem Fremden ein Zimmer teilst« zusammen.
Die Kurzfassung: Vor zwei Wochen hatte es in Moms Gegend einen Stromausfall gegeben. Kein Licht, kein Ofen, kein Akku auf meinem Handy – nichts funktionierte. Ich musste quer durch die Stadt (die zugegeben nicht groß war), um völlig überteuertes chinesisches Take-away zu holen. Lisa und Mom werden nicht begeistert sein, dachte ich – und das waren sie auch nicht. Aber alles war besser als die Mahlzeiten meiner Kindheit: ein leerer Teller. Mom, die apathisch vor dem Fernseher hockte – wahrscheinlich zu high oder zu depressiv, um Hunger zu verspüren –, hatte dabei völlig ausgeblendet, dass, nur weil sie nichts essen wollte, das nicht bedeutete, dass wir auch keinen Hunger hatten.
Nun denn. Genau in dieser Nacht hatten meine Freunde anscheinend beschlossen, mich mit einem Fast-Fremden in ein Zimmer zu stecken. Als am nächsten Tag der Strom wieder ansprang und ich mein Handy laden konnte, war der Gruppenchat mit über dreihundert neuen Nachrichten übergequollen. Meine Frage, ob ich irgendwas Wichtiges verpasst hatte, war völlig in Vergessenheit geraten. Stattdessen wurde ausführlich Sophia Fischers neue Frisur diskutiert. Die frühere Nachricht – Hey Val, Mike will einen Freund mitbringen. Ist es okay, wenn ihr euch ein Zimmer teilt? – war komplett untergegangen.
Und genau so waren wir hier an diesem Punkt gelandet.
Alfie schüttelte den Kopf. »Wir könnten ihn ins Zimmer über der Garage umquartieren – nichts für ungut, Mann.« Erst als er sich leicht zu Caden drehte, schien ihm bewusst zu werden, was er da eigentlich vorschlug. »Das Bett ist allerdings nur eine Matratze auf dem Fußboden … die wir erst noch besorgen müssten. Aber hey, immerhin hättest du ein eigenes Bad.«
»Genau, Alfie. Wer liebt es nicht, sich unter dem Wasserdruck einer sanft plätschernden Pfütze zu duschen?« Iris’ Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht sicher, ob wir die Rohre jemals repariert haben …«, murmelte Alfie, während er sich wieder Caden zuwandte. »Wie auch immer.« Er räusperte sich. »Ich will dich nicht rausschmeißen, aber wenn Valentina …«
Noch bevor ich mich selbst bremsen konnte, hörte ich mich sagen: »Passt schon.«
Und bereute es in der Sekunde, in der die Worte meinen Mund verließen.
Aber was hätte ich tun sollen? Alfie fühlte sich ohnehin schon sichtbar schlecht, weil er vergessen hatte, mich über diese kleine Planänderung zu informieren – und weil er Caden nun, tja, in eine glorifizierte Abstellkammer ohne Bett und funktionierende Sanitäranlagen hätte verfrachten müssen. Mir ging es dabei nicht um Caden und seinen Schlafkomfort. Aber ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wenn sich einer meiner Freunde schlecht fühlte.
»Macht euch wirklich keinen Kopf. Es passt schon«, wiederholte ich. »Ein kleiner Hinweis vorher wäre nett gewesen, aber jetzt ist es halt, wie es ist. Wir haben uns letzte Nacht sogar richtig gut verstanden.« Ich kreuzte unauffällig die Finger hinter meinem Rücken, als ich hinzufügte: »Fast wie beste Freunde.«
Caden sah mich an, als hätte ich gerade einen Mord gestanden. Oder als würde er überlegen, gleich einen zu begehen. Seine Augen wurden schmal, er runzelte die Stirn leicht und hatte die Lippen zu einer schmalen Linie gepresst. Wahrscheinlich, weil unser erstes Wiedersehen alles andere als herzlich verlaufen war. Dank mir – und dieser vierten, überflüssigen Margarita, die mir den Rest gegeben hatte.
Ich musste mich entschuldigen. Nicht für den Alkohol – wobei, vielleicht auch dafür –, aber vor allem für mein unhöfliches Verhalten. Nach dem Frühstück, wenn wir gezwungenermaßen ohnehin wieder ganz unter uns in einem Zimmer sein würden, hätte ich ja die Gelegenheit, es anzusprechen. Ihn darum zu bitten – anzuflehen, wenn nötig –, die letzte Nacht einfach zu vergessen. Sodass nur noch die Erinnerung an die drei verdammt guten Orgasmen bleiben würde, die er mir beschert hatte, bevor ich selig an seine Brust geschmiegt eingeschlafen war.
Und wenn es kein böses Blut mehr zwischen uns gab, würde er dann trotzdem noch so mit mir flirten wie letzte Nacht? Mich so ansehen? Würde irgendetwas uns davon abhalten, wieder genau in jene Dynamik zu verfallen, die wir in diesen wenigen, vertrauten Stunden miteinander geschaffen hatten?
Der Gedanke an seine Hände auf mir, an seine Haut unter meinen Fingern, ließ mich eine Entschuldigung plötzlich noch schneller in Erwägung ziehen.
Doch noch bevor ich diesen Gedanken weiter nachhängen konnte, wurde ich von Iris’ schallendem Lachen förmlich aus ihnen gerissen. Sie prustete lautstark und hielt sich den Bauch. Offenbar hatte Caden etwas gesagt, das sie köstlich amüsierte, denn sie zeigte mit ihrer Gabel auf ihn.