Leuchten über Blackpool - Andrew O'Hagan - E-Book

Leuchten über Blackpool E-Book

Andrew O'Hagan

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Beschreibung

In seinem neuen Roman schildert der preisgekrönte schottische Autor und zweifache Booker Prize-Nominee Andrew O'Hagan die Geschichte zweier Menschen zwischen Erinnerung und Vergessen – ein brisanter Aufschrei gegen den Krieg und die Gesellschaften, die ihn begünstigt haben, und eine vielschichtige, virtuose Erzählung über Familie, Verlust, Geheimnisse und Vergebung. In jungen Jahren war Anne Quirk eine außergewöhnliche Fotografin, heute bleiben ihr nur noch Lichtblitze von der Vergangenheit. Die fortschreitende Demenz scheint sie jedoch auch vor allzu unliebsamen Erinnerungen zu schützen. Als ihr geliebter Enkel Luke, Captain in der britischen Armee, aus Afghanistan nach Schottland zurückkehrt, reisen beide nach Blackpool – an den Ort, wo Anne einst ihre Dunkelkammer hatte. Und es ist dort, wo lang verborgene Geheimnisse allmählich ihren Weg ans Licht finden.

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Andrew O'Hagan

Leuchten über Blackpool

Roman

 

Aus dem Englischen von Anette Grube

 

Über dieses Buch

 

 

»Die Virtuosität und Brisanz dieses Romans liegt in seinem Kontrast zwischen den Welten – der der Familie, der Kunst und der des Krieges.« The Guardian

 

In jungen Jahren war Anne Quirk eine außergewöhnliche Fotografin, heute bleiben ihr nur noch Lichtblitze von der Vergangenheit. Die fortschreitende Demenz scheint sie jedoch auch vor allzu unliebsamen Erinnerungen zu schützen. Als ihr geliebter Enkel Luke, Captain in der britischen Armee, aus Afghanistan nach Schottland zurückkehrt, reisen beide nach Blackpool – an den Ort, wo Anne einst ihre Dunkelkammer hatte. Und es ist dort, wo lang verborgene Geheimnisse allmählich ihren Weg ans Licht finden.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Andrew O’Hagan, 1968 in Glasgow geboren, lebt in London. Gleich mit seinem Debüt ›Dunkles Herz‹ schaffte er es auf die Shortlist des Man Booker Prize. Seine Romane werden seitdem als Meisterwerke der Empathie gefeiert, in denen der Schotte wie kaum ein anderer mit elegantem Humor und leisem Pathos die Konturen unserer Gegenwart einfängt. Darüber hinaus hat sich der Assange-Ghostwriter und Internet-Insider mit faszinierenden Essays und spannenden Reportagen, die u.a. in »Granta«, »The Guardian« oder »The New Yorker« erschienen, einen Namen gemacht. Kein Weg ist ihm zu abseitig, kein Mittel zu unkonventionell, um mit geradezu forensischem wie unbestechlichem Blick den Dingen auf den Grund zu gehen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

1. Kapitel

Nachbarinnen

Blackpool

Harrys Museum

Der Hase

Saltcoats

Natürliches Licht

Videospiele

Flugzeuge

Jane Street

2. Kapitel

Eine Nummer zu groß

Leichtgewicht

Major Scullion

Oqab Tsuka

Der Kontrollpunkt

Armbanduhren

Sandhurst

Der Bergzug

Wir zeigen es ihnen

3. Kapitel

Ferien

Der Club der Erinnerungen

Mein Luke

Das außergewöhnliche Leben des Harry Blake

Urwald

Ihr altes Selbst

Vor dem Krieg

Immer

Chiaroscuro

Das Adressbuch

4. Kapitel

Hitze

Der Kanal

Konstitution

Die Geräusche

Das Versprechen des Erdöls

Die Hochzeitsfeier

Lufttransport

Bann River

5. Kapitel

Love Me Do

Blau

Glasgow Central

Electric Brae

Langustinen

Bobby’s Bar

Wenn du mir komisch kommst, werde ich wütend

Arran

6. Kapitel

Selly Oak

Der Tollygunge Club

Reality Show

Ariel

Der Unterschied

Sheila

Mindestens haltbar bis

Die Wodkas

7. Kapitel

Die Dunkelkammer

Winter im Sinn

Die Illuminationen

Bossa Nova

Kinder

Das Metropole

Harrys Version

Wenn

25. August 1962

Für Karl Miller

»Fotografie greift einen Augenblick aus der Zeit und verändert das Leben, indem es ihn festhält.«

Dorothea Lange

1

Nachbarinnen

Schnee fiel vor dem Fenster, und im Schlaf sah sie ein kleines Mädchen und seinen Vater in einem Eisenbahnabteil vor sich. Der Zug fuhr durch Ayrshire, und das Mädchen schaute auf das Nichts über den Feldern, verlor sich in einem Gefühl des Winters und dem Seifengeruch an den Händen seines Vaters. Es ist kalt, Mog. Sein ganzes Leben lang vergötterte er sie und bewies damit, dass sie leicht zu lieben war. Maureen öffnete die Augen und musste feststellen, dass sechzig Jahre in nur einem Wimpernschlag vergangen waren. Schneeflocken stöberten um die Straßenlampe wie Funken um ein Lagerfeuer. Die Nacht war leer, und in der Wohnung war nichts zu hören außer dem Echo der Talkshows vom Vortag.

Dieses Wetter lässt einen um Jahre altern. Der Satz ging ihr durch den Kopf, und dann rieb sie sich die Augen. Zu dieser Uhrzeit war sie langsam und konnte leicht ein Klopfen an der Tür oder jemanden, der ihren Namen rief, überhören. Die Erinnerungen hatten sie an einen anderen Ort getragen, wo der Schnee um einen verschwundenen Zug wirbelte, und jetzt lag sie zu Hause in ihrem warmen Bett und war bereits angespannt wegen der Dinge, mit denen sie der neue Tag prüfen würde. Nachts krochen die Gedanken wie Mäuse aus den Löchern, und ihr altbekanntes Kratzen weckte sie.

Wie schwer kann es sein, fünf Minuten innezuhalten und die Nummer deiner Mutter zu wählen? Ich könnte tot im Bett liegen, dachte Maureen. Man opfert ihnen die besten Jahre des Lebens, und dann kriegt man die rührseligen Geschichten und die Klagen über ungerechte Behandlung zu hören, als hätte man nicht alles Menschenmögliche für sie getan.

Sie schob die Kissen nach oben. Sie haben ein kurzes Gedächtnis. Nein, sie war nicht mit ihnen in Kunstgalerien gegangen, und nein, sie hatte nicht mit ihnen die Hausaufgaben gemacht. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Essen auf den Tisch zu bringen. Ein kurzes Gedächtnis, dachte sie noch einmal und schaute zum Fenster. Eines Tages würde sie etwas zu Papier bringen, das direkt aus ihrem Herzen kam, nur um der Wahrheit willen. Ihr Vater hatte oft gesagt, dass es gut ist, einen Brief zu schreiben, weil die Leute ihn aufbewahren können. Sie können ihn wiederlesen und über das nachdenken, was sie getan haben. Und sie können antworten und sich entschuldigen, weil sie große Stücke auf dich halten.

Es war noch nicht einmal fünf Uhr. Sie griff nach dem Wecker und stieß einen Stapel Hörbücher um. »Manche Leute haben zu viele Freunde, um selbst ein guter Freund zu sein«, sagte sie. Dann registrierte sie das Geräusch, das Klopfen an der Tür. Sie schwang die Füße auf den Boden und wartete, ob noch einmal geklopft würde, dann war sie auf den Beinen, zog eine Strickjacke an und schaltete das Licht ein. Maureen sagte sich, dass es schlimm auf den Straßen sein musste, außer die Lastwagen mit dem Salz waren schon unterwegs. Sie konnte ihre Hausschuhe nicht finden und ließ die Tür mit der Kette gesichert.

»Du bist es, Anne.«

Anne war ihre Nachbarin. Sie war zweiundachtzig Jahre alt und schlief schlecht. Sie wanderte nachts durch die Flure. Ihre Nachbarn sahen oft ihren Schatten an der Glastür ihrer Wohnung vorbeiziehen, doch sie waren an Unruhe gewöhnt. Es war eine Anlage für betreutes Wohnen, und keiner der Bewohner war jung. Die Wohnungen hatten eine Tür zur Straße hinaus und eine weitere, gläserne Tür, die zu den Gemeinschaftsräumen, bestehend aus Frühstückszimmer, Empfang und Waschküche, führte.

»Ich bin’s, Maureen. Bitte entschuldige.«

Maureen entfernte die Kette. Anne war vollständig angezogen und biss sich auf die Lippe. Dank der Farne in ihrem Rücken wirkte es, als käme sie gerade aus dem Wald. Doch Anne machte immer den Eindruck, als hätte sie die ganze Welt gesehen. Sie hatte wunderbare Haut. Und ihre Röcke waren aus den besten Stoffen.

»Du lieber Gott«, sagte Maureen. »Du bist ja angezogen, als wolltest du zum Maitanz gehen. Komm rein.«

»Ich will nicht reinkommen.«

»Was ist los?«

»Kannst du mir deinen Dosenöffner leihen?«

Anne hatte eine Dose Heinz Tomatensuppe in der Hand. Es hatte keinen Sinn, um diese Uhrzeit mit ihr zu streiten, Maureen machte sich auf die Suche nach ihren Hausschuhen. Als sie zurückkam, sagte Anne gerade, wie sehr sie Blackpool liebe und dass die Illuminationen, das Lichterfest, das Beste an der Stadt seien, der Abend, an dem die Lichter eingeschaltet würden. Sie wollte es noch einmal erleben. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und tippte sich rasch auf die eigene Schulter. Maureen hatte das schon öfter gesehen.

»Komm«, sagte sie.

Annes Wohnung war wie ein Palast. Maureen liebte die Geschichte, die sie erzählte, nicht, dass sie sie kannte, aber eine Person mit Geschmack hatte immer eine Geschichte. Kaum waren sie eingetreten, ging Anne zur Mikrowelle und drehte sich um. »Der Hase will sein Abendessen«, sagte sie. »Er hat den ganzen Tag nichts gekriegt.«

»Wer?«

»Der Hase.«

Anne nickte und schaute zur Frühstückstheke. Der Hase war aus Keramik, ungefähr zwanzig Zentimeter hoch, hatte grüne Augen, und zu seinen Füßen lagen Brotkrumen. Maureen sah den Schnee vor dem Wohnzimmerfenster fallen. Der Hase wirkte unheimlich. »Also, Anne«, sagte sie, »wir wollen doch keine Geschichten erfinden.«

»Ich weiß, dass es lächerlich ist«, sagte Anne. »Aber es ist schon in Ordnung. Er sitzt nur da, und draußen ist es kalt.«

»Aber, Anne …«

»Er hat schrecklichen Hunger.«

Annes Gedanken schweiften ab. Sie dachte an die warmen Bäder, die sie früher eingelassen hatte. Kinder mögen es nicht zu heiß. So wie ein Entwicklerbad für Fotos, fünfzig Grad Celsius. So soll es sein. Die Chemikalien in der aufgeführten Reihenfolge hineingeben und darauf achten, dass die Entwicklerlösung nicht zu heiß ist, sonst wird das Bild verschwommen.

Maureen schaute dem Hasen in die Augen.

»Das ist sein Lieblingsessen«, sagte Anne. »Er will immer nur Suppe zum Abendessen.« Dann wischte sie die Dose mit einem feuchten Lappen ab und gab sie Maureen. »Manche dieser Dinger haben einen Ring, an dem man ziehen kann, aber die hier hat keinen.«

Blackpool

Auf dem Foto, das über dem Wasserkocher an die Wand gepinnt war, schaute das Gesicht von George Formby durch die Tür. »Ist mal wieder gut geworden!«, stand in Tinte unter seinem Namen, einer verschnörkelten Unterschrift. Er lächelte übers ganze Gesicht. Die Steckdosen waren mit Hansaplast zugeklebt, und die Ringe des Gasherds waren ebenfalls nicht benutzbar und mit einem Kreuz aus weißem Klebeband abgedeckt. So ähnlich wie das Zeug, mit dem die Polizei in einem Krimi einen Tatort absperrt, dachte Maureen. Kein Wasserkocher, kein Gasherd. Es war die Entscheidung von Jackie gewesen, der Heimleiterin, in Absprache mit dem Sozialdienst, wie Maureen wusste. Sie bedauerten es, aber Anne durfte diese Geräte nicht mehr benutzen, weil sie sich womöglich selbst Schaden zufügen würde. Maureen erhitzte die Suppe, und Anne stand daneben und wollte etwas sagen. »Ich würde gern mit ihm nach Blackpool fahren, ans Meer, ans Meer, ans wunderbare Meer«, sagte sie in einem Singsang. »Ich habe immer geglaubt, dass ich dort leben würde.«

An den meisten Tagen ging es Anne gut, aber sie veränderte sich. Die Regeln von Lochranza Court besagten unzweideutig, dass jeder Bewohner, der nicht mehr in der Lage war, einen Wasserkocher zu bedienen, in ein Pflegeheim umziehen musste. Niemand wollte das. Alle paar Monate traf es einen Bewohner, doch Anne brauchte ihre Freunde. »Das stimmt, Maureen«, sagte Jackie. Anne trug zur Würde des Heims bei, mit ihrer Vergangenheit und ihren Fotos und ihren vielen hübschen Kissen. Deswegen machte die Leiterin gemeinsame Sache mit Maureen, die mit achtundsechzig die jüngste Bewohnerin der Anlage war. Sie taten so, als wäre es in Ordnung, dass Anne noch allein in der Wohnung lebte, aber sie durfte die Küche nicht mehr benutzen, nur noch die Mikrowelle.

Maureen schaute wieder zum Hasen.

»Früher bin ich in Restaurants gegangen«, sagte Anne. »Schicke Restaurants. In New York. Jetzt heißt es, das darfst du nicht, jenes darfst du nicht. Der Herd funktioniert nicht. Und der Hase mag keine kalte Suppe.«

»Woher weißt du das, Anne?«

»Ich lebe doch mit ihm zusammen.«

Anne hatte früher viele Bücher gelesen. Jemand hatte behauptet, dass sie vor Jahren eine bekannte Fotografin gewesen war, und Maureen konnte es sich gut vorstellen. An der Art und Weise, wie Anne die Lampen arrangierte – und an den Lampen selbst, an den wunderschönen Lampenschirmen –, erkannte man, dass sie weitgereist war. Sie hatte Teppiche, wie man sie in Saltcoats nicht kaufen konnte. Solche Teppiche gab es hier einfach nicht. Und was für ein schönes Radio neben dem Sofa stand, neben den vielen Briefbeschwerern mit Abbildungen von Blackpool in vergangenen Zeiten. Wenn Maureen in der Nachbarwohnung zu Besuch war, ging sie immer umher und betrachtete die Gesichter der Menschen in den gerahmten Fotos. Ihr gefiel, wie sie mitten in ihrem interessanten Leben festgehalten waren. Das war etwas. Menschen, die Maureen nicht kannten, hatten sofort ihren Respekt, als wäre es eine große Leistung, sie nicht zu kennen.

Harrys Museum

Anne sprach über ihn mit einer Hochachtung, die sie den Lebenden vorenthielt. Es gab niemanden, der klüger war als Harry. Und er sah wirklich aus wie ein kompetenter Mann, so wie er aus den Urlaubsschnappschüssen von der Isle of Arran blickte. Es waren eigentlich keine Schnappschüsse, sondern sorgfältig komponierte Fotos, mit Liebe entwickelt, abgezogen und gerahmt, und meistens war ein Stück Himmel zu sehen oder das Meer oder eine wunderschöne Kombination von beidem. Auf dem Foto, das über dem Telefontischchen hing, war am Ende einer Wiese mit Glockenblumen der Leuchtturm von Pladda zu sehen, und neben ihrem Bett saß Harry am Ufer eines Sees. Er rauchte Pfeife und schaute auf ein Modellflugzeug in seinen Händen. Sein Lächeln war eine private Mitteilung an Anne. Vielleicht hatten sie sich vor der Welt versteckt.

»Ich verdanke ihm alles«, hatte sie einmal gesagt.

»Wirklich?«

»Meine Geschichte fängt mit Harry an.« Sie schien glücklich, als sie es sagte.

»Das kann nicht sein«, sagte Maureen. »Was ist mit allem anderen? Deiner Kindheit und deiner Karriere?«

»Auch die hat mit ihm angefangen. So hat es sich angefühlt.«

Maureen wusste nicht, was genau sie auf diesen Fotos sah, aber sie war sicher, dass sie Zufriedenheit zum Ausdruck brachten. Sie selbst war nie mit einem so geduldigen Mann zusammen gewesen. Je länger sie die Fotos betrachtete, umso überzeugter war sie, dass Harry ein großzügiger Mann gewesen war, der Annes Intelligenz hatte fördern wollen. Maureen hatte so etwas im Fernsehen gesehen, und es war ein schöner Gedanke. Sie schaute zum Fenster hinaus und stellte sich die Küste mit Harry vor.

Er hatte nie in Saltcoats gelebt. Offenbar war er in den 1970er Jahren gestorben, die Einzelheiten waren skizzenhaft, und Maureen glaubte, dass es Annes Geduld auf die Probe stellen würde, nach mehr Informationen zu fragen. Es war nicht wichtig. Es war schön zu wissen, dass es solche Männer auf der Welt gab. »Das ist mir das Liebste.« Maureen nahm eine Schwarzweißfotografie aus den fünfziger Jahren in die Hand. Darauf saß ein Mann in einem kurzärmeligen Hemd an einer Bar, vor ihm eine Flasche Bier und ein leeres Kameragehäuse. Ein Affe aß Nüsse aus seiner Hand. »Exotisch«, sagte Maureen. Der Mann auf dem Bild war jung, ebenso wie die Queen auf dem Plakat, das an der Wand hinter ihm hing.

»Das ist mein Harry in Bestform«, sagte Anne. »Er war mit der Armee in Singapur.«

»Aber das ist eine englische Bierflasche.«

»Das ist Singapur, Mrs Ward.«

Maureen wusste, wann sie etwas auf sich beruhen lassen musste. Eine mit Suppe gefüllte Schale stand zwischen ihnen, und Anne starrte sie an, als würde sie sich an etwas Wichtiges erinnern. »Fahr heute Abend nicht mit dem Auto«, sagte sie. Und als Maureen erwiderte, dass sie kein Auto habe, blickte Anne ausdrucklos vor sich hin und sagte: »Das stimmt.«

Um Neujahr war Maureen zum ersten Mal aufgefallen, dass Anne Daten durcheinanderbrachte. In Lochranza Court erlebten sie oft den Beginn der Demenz, doch bei Anne war es anders, weil sie scheinbar versuchte, aus sich selbst herauszufinden, bevor es zu spät wäre. In welchem Schiff auch immer Anne ihr ganzes Leben gesegelt war, es begann abzutreiben, und das war der Anfang. Sie versank in einer Dunkelheit, in der alles Alte plötzlich neu war, und wenn sie wiederauftauchte, trieb der Stoff ihres Lebens neben ihr auf den Wellen. »Wir schleppen alle Ballast mit uns herum, Mama«, sagte Esther am Telefon. (Esther war Therapeutin.) »Sosehr wir ihn auch beschweren und im Boden verankern, irgendwann reißt er sich los. Und das passiert gerade der netten Dame im Zimmer neben deinem.«

Der Hase

Maureen goss die Suppe in die Spüle, und ihre Nachbarin kam zu ihr und starrte auf die leuchtend roten Spritzer. Anne sagte etwas über ein Buch, das sie und ihr Enkel einst gelesen hatten. Er las es fürs Studium, und sie kaufte sich eine Ausgabe. Sie konnte sich nicht an seinen Titel erinnern, doch der Mann in der Geschichte hieß Sergeant Troy, und er trug eine hübsche rote Uniformjacke. Maureen spülte die Schale und staunte insgeheim.

Anne setzte sich aufs Sofa und schaute zum Fenster, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. »Der Hase war draußen in der Kälte«, sagte sie. »Er saß ganz allein mitten auf der Straße.«

»Wann?«

»An Weihnachten. Es hat geschneit. Schön, wenn man Schnee mag. Aber Hasen mögen keinen Schnee.«

»Nein?«

»Nein. Überhaupt nicht. Und die Dunkelheit mögen sie auch nicht. Sie sind gern draußen, um mit den anderen Bengeln zu spielen.« Anne sagte, dass sie einfach am Fenster gestanden und nichts getan, nur auf die Straße geschaut habe, und da hatte sie den Hasen vom Strand auf die Straße hoppeln sehen. »Er ist vom Pavillon gekommen, wo das Kasperltheaterding gewesen ist.«

»Gleich da, neben dem Strand?«

»Genau«, sagte sie. »Und er ist einfach auf die Straße gehoppelt. Ich hab ihm zugesehen. Und weißt du, was, Maureen? Er ist stehen geblieben und hat mich angeschaut. Einfach nur angeschaut. Und dann ist er weiter. Er ist verschwunden.«

»Einfach so?«

»Einfach so durch den Schnee.«

Maureen war fertig mit dem Spülen und stützte sich mit beiden Händen auf die Frühstückstheke. »Denk nicht drüber nach«, sagte sie. »Du solltest besser schlafen, sonst bist du morgen fix und fertig.«

»Aber jetzt geht es ihm gut. Es gefällt ihm hier.«

Maureen brachte ihre Freundin ins Bett und ließ die Jalousien herunter. Anne wollte, dass sich der Hase in den Korbstuhl setzte, aber Maureen lehnte ab und bekam einen unglücklichen Blick dafür. »Das hast du nicht zu bestimmen«, sagte Anne und legte sich zurück. Sie starrte auf die alten Koffer in der Ecke und erinnerte sich an den Tag, als einer der Koffer auf dem Bahnsteig in Preston gestanden hatte. Das war vor langer Zeit gewesen. Es regnete. Sie stand da an diesem Nachmittag und schaute zurück zum Park Hotel, wo sie mit Harry gerade gegessen hatte und er ihr von seinem anderen Leben erzählt hatte. Er fuhr zurück nach Manchester, und sie wartete auf den Zug nach Blackpool, ihr Herz raste, der Koffer voller Negligés und Filmrollen.

Ich habe die Wohnung, Harry. Und alle Messbecher und Dunkelkammerleuchten sind da. Alle Lösungen. Papier. Alles, was wir brauchen. Wir können eine Dunkelkammer einrichten, aber auch dort wohnen. Sie gehört uns. Wir können dort übernachten, im Sommer.

»Schlaf jetzt, Anne«, sagte Maureen.

»Du bist nicht der Boss.«

Bevor sie die Tür schloss, betrachtete Maureen das Foto eines hübschen jungen Mannes in Uniform, das über dem Lichtschalter hing. »Das ist Luke«, sagte Anne mit leuchtenden Augen.

»Er ist ein guter Junge.«

»Er ist Captain in der britischen Armee.«

Saltcoats

Maureen ging jeden Tag Milch kaufen. Es war angenehm, draußen in der frischen Luft zu sein. Auf dem Weg zum Spar kam sie an der leeren Bootsanlegestelle vorbei und schaute hinüber nach Arran. Die Insel war deutlich zu sehen und romantisch wie eins dieser Bilder, das man sich für die Wand über dem Sofa kaufen konnte. Die Berge waren schneebedeckt, und der Gipfel des Goatfell sah gefährlich aus, als ob der Mann aus der Milk-Tray-Werbung gleich auf seinen Skiern herunterfahren würde. Sie mochte den Mann mit dem schwarzen Rollkragenpullover, der Berge hinunterraste und über Felsen sprang, um einer Dame eine Schachtel Pralinen zu bringen. Im Sommer war Arran völlig anders, weil die Berge braun und freundlich waren, und wenn der Himmel blau war, wirkte die Insel so nah, dass man meinte, sie berühren zu können.

Maureen betrachtete sich als Stellvertreterin der Heimleiterin. Es war kein richtiger Job, aber sie half den Älteren beim Wäschewaschen. Sie goss die Pflanzen und holte Milch, Aufgaben, die ihr das Gefühl gaben, nützlich zu sein, und das hatte ihr gefehlt. Als Ian, Esther und Alex Kinder gewesen waren, hatte sie kaum Zeit für sich gehabt. Wenn sie nicht Hemden gebügelt hatte, füllte sie Formulare für die Schule aus oder machte die Betten oder kochte. Aber damals kümmerten sich die Leute um ihre Kinder. Man arbeitete sich ab und genoss die frühen Jahre. Nicht wie jetzt, wo jeder genervt war und die Mütter mit ihren riesigen Jeeps vor den Schultoren standen. Ihre drei waren zu Fuß in die Schule gegangen. Doch als Esther fünfzehn wurde, war es vorbei mit erzieherischer Einflussnahme. Aus und vorbei. Und einer nach dem anderen war mit seinen LPs und T-Shirts ausgezogen. Das ist der Lauf der Dinge, dachte Maureen. So ist es. Man bringt sich halb um für sie, und dann stehen sie auf und gehen.

Sie hätte nie gedacht, dass sie an einem Ort wie Lochranza Court enden würde, aber sie war jetzt sechs Jahre hier und hatte sich daran gewöhnt. Ihr Haus in der Stobbs Crescent war zu groß gewesen, und dann hatten eines Nachts ein paar Drogensüchtige die Terrassentür eingeschlagen und ihren Fernseher gestohlen. Sie hatte schreckliche Angst gehabt. Am Morgen war der Teppich übersät mit Glasscherben, ihr Nippes lag im Garten verstreut, und die Tür war nahezu aus den Angeln gerissen. Maureen erinnerte sich, wie sie das alles gesehen und gewusst hatte, dass ihr altes Leben zerbrochen war. Ein paar Wochen später kam Esther aus Edinburgh und versuchte, die Lage ein bisschen zu beruhigen. Ihre Tochter sah die Notwendigkeit eines neuen Hauses ein, aber nicht die eines Altenheims.

»Es ist kein Heim«, sagte Alex. Sein Atem roch nach Alkohol. »Reiß dich am Riemen, Esther, es ist kein Heim. Es ist betreutes Wohnen.«

»Das stimmt«, sagte Ian. Esther wusste, dass die Sache entschieden war, als Ian den Plan unterstützte. (Ian arbeitete mit Computern, wie Maureen ihnen gern in Erinnerung rief. Sie meinte damit, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit immer recht hatte. »Und er geht regelmäßig ins Fitnessstudio.«)

»Es ist eine Anlage für betreutes Wohnen«, sagte Ian. »Sie hat eine Tür zur Straße wie normale Leute. Die andere Tür führt ins Haus, wo alle gemeinsam frühstücken können. Es gibt eine Heimleiterin. Es ist sicher. Und sie haben dort tropische Pflanzen.«

»Leute sterben da drin«, sagte Esther. »Jeden Tag. Und sie ist erst zweiundsechzig.«

»Was soll das heißen, sterben?«, sagte Alex. »Überall sterben ständig Leute.«

Ian machte ein Gesicht, als könnte er nicht verstehen, was mit den Leuten nicht stimmte. »Was?«

»Jeder muss sterben.«

»Nicht, wenn man auf sich achtet, dann nicht.«

»Es ist ein Heim«, sagte Esther. »Ich habe Patienten, Ian, und ich sehe, was passiert, wenn sie aufgeben. Sie werden immer weniger. Und Mama neigt zu Depressionen. Sie hat aufgehört zu leben, als wir Teenager waren. Nach der Trennung ist sie gebrechlich geworden, ohne Zwischenstation, und das macht mich traurig, Ian, weil ich immer auf ein bisschen Optimismus gehofft habe. Ein bisschen Hoffnung. Unsere Mutter nur ein einziges Mal glücklich zu sehen.«

»Du weißt immer alles«, sagte Ian. »Heb dir diese Scheiße für deine Patienten auf, Esther. Sie will keinen Luxus. Sie will nachts sicher sein, und dieser Ort bietet ihr das.«

Maureen hörte die Einzelheiten des Streits nicht, aber Alex gab ihr später ein paar Hinweise, und der Gedanke, dass sie nicht miteinander auskamen, beunruhigte sie. Sie wollte nicht, dass die Jungs zu hart mit Esther umgingen, nur weil sie anders war. Esther hatte eine Menge Sorgen, und manchmal gab sie anderen die Schuld dafür, das war ihr Problem, und man musste bedenken, sagte sich Maureen, dass Esther mit ihrem eigenen Leben nicht allzu glücklich war, nicht annähernd so glücklich, wie sie glaubte, und ihren Unmut manchmal an anderen ausließ. Das war nur natürlich. Wenn man einen so wichtigen Job hatte wie Esther, erwarteten die Leute manchmal zu viel von einem. So war es. Esther war ihr eigener größter Feind.

Als Maureen auf dem Rückweg vom Spar war, die Milch im Arm, erlosch das Licht der Straßenlampen. Im Winter war es oft noch dunkel, wenn sie losging, und es wurde hell, wenn sie zurückkehrte. Sie mochte die plötzliche Veränderung der Atmosphäre und das Gefühl, dass ein neuer Tag begann. Erst als sie die Straße zu Lochranza Court überquerte, bemerkte Maureen das Feuerwehrauto und den Rauch, der aus einem offenen Fenster drang. Jackie, die Heimleiterin, stand mit einem Clipboard auf dem Parkplatz, die ältlichen Bewohner in Morgenmänteln um sie geschart.

»Jesus, Maria und Josef, was ist los?«, fragte Maureen und stellte die Milch auf einer Bank ab.

»Das war Mr MacDonald in Nummer 29«, sagte Jackie. »Er hat wieder mal den Toast verbrannt.«

»Ach, du liebe Zeit«, sagte Maureen.

»Wir mussten räumen.«

»Der Himmel steh uns bei«, sagte Mrs Souter aus Wohnung 24. »Nennt man das Räumen?«

»Räumen hat mehrere Bedeutungen«, sagte Jackie.

Anne saß lächelnd auf der Bank. Neben ihren Füßen stand ein Koffer. »Es ist nicht so schlecht«, sagte sie und schaute aufs Meer. »Das sind wunderschöne Linien dort drüben, findest du nicht auch?« Maureen stand neben ihr, um die Milch zu holen, die sie abgestellt hatte. »Sehr hübsch, wenn man es festhält und rahmt«, fuhr Anne fort, »die Menschen und der Horizont und alles. Wenn wir lange genug warten, werden wir die Waverly vorbeifahren sehen.«

Natürliches Licht

An einem Tag wollte Anne einen Ausflug machen, und Maureen nahm es auf sich, dafür zu sorgen, dass alles gut ging. In Maureens Kopf fand ein beständiger Kampf zwischen dem Wunder der Zentralheizung und den Wohltaten der frischen Luft statt, doch sie schloss gern alle Reißverschlüsse und Knöpfe für einen Spaziergang in die Stadt. Ian schaute auf dem Weg zur Arbeit vorbei, um im Wäscheschrank seiner Mutter eine Glühbirne auszuwechseln. »Was hast du heute vor?«, fragte er. »Unfug anstellen und mit den alten Damen ein paar Bierchen trinken?«

»Das wäre nicht schlecht«, sagte Maureen. »Aber es ist zu kalt, um rauszugehen. Und wohin auch?«

»Wirklich? Du könntest ins Kino gehen. Wenn ich nicht arbeiten müsste, würde ich jeden Tag ins Kino gehen.«

»Das ist zu teuer«, sagte sie. »Außerdem müsste ich nach Kilmarnock, und in den Filmen geht es immer nur um Sex oder darum, jemanden in die Luft zu jagen.«

»Super«, sagte er.

»Außerdem habe ich zu tun. Das Wohnzimmer saugt sich nicht von allein, und die Pflanzen da draußen betteln um Wasser. Jemand muss es tun, da kann ich es auch gleich selbst machen.«

Er sollte denken, dass Vergnügen in ihrem Leben rar gesät war. Doch nachdem Ian gegangen war, half sie Anne dabei, ein Kleid und einen Mantel und vernünftige, trittfeste Schuhe auszusuchen. Anne sprach von den Kleidern, die ihre Tanten in Glasgow einst besessen hatten. »Atholl Gardens Nummer 73. Ich rede von einem Haus mit vierzehn Zimmern«, sagte Anne. »Solche Häuser gibt es heutzutage nicht mehr.«

»War es schön?«

»Ich rede von Rheuma. Krampfadern. Und Kommoden mit Schubladen voller Korsetts und was nicht noch alles.«

»Du solltest eine Strickjacke unter dem Mantel anziehen.«

»Es hatte sechs Stockwerke. Die Motten haben Feste gefeiert und ich weiß nicht wie viele Mäntel gefressen.«

»Bind dir den Schal um.«

»Ein Schal ist ein Freund, nicht wahr?«

Maureen strich Annes Haar glatt. »Ich habe immer zu ihnen gesagt, dass sie was von dem Kram loswerden sollen«, fügte Anne hinzu. »Aber das haben sie nicht getan, Maureen. Sie konnten sich nicht mal von einem Paar Strümpfe trennen.«

»Wirklich?«

»Mein Vater war ständig in der Kirche. Das war natürlich vor Glasgow. In Kanada. Er hat nach Gott gesucht, dort in der Kirche. Meiner Mutter ging’s nicht gut. Sie hatte diese Krankheit, bei der man zittert. Sie blieb im Bett, und ich glaube, sie ist in dem Bett gestorben.«

»In Kanada?«

»Genau. Ich war damals noch klein.«

Der Hase saß auf dem Sofa, ein Geschirrtuch umgebunden, und Anne schaute zu ihm.

»Ich glaube, wir lassen ihn heute zu Hause«, sagte Maureen. Anne widersprach nicht, aber sagte noch einmal, dass sie als Kind in Kanada gewesen sei, und etwas von Eis auf der Straße nach Dundas.

Manchmal schaute Anne etwas an, und man hatte das Gefühl, als würde sie in Gedanken ein Foto entwickeln. »Das war die alte Badeanstalt«, sagte sie auf dem Weg in die Stadt und berechnete die Belichtung. »Und ich glaube, hier haben die Rock-’n’-Roll-Bands in Anzügen gespielt – im Marine Theatre.«

»Bands? Das glaube ich nicht.«

»Alle Mädchen haben gekreischt«, sagte Anne. Nach ein paar weiteren Schritten blieben sie stehen. »Ich darf heute nicht wieder die Post vergessen.«

»Was?«

»Die Post. Ich schicke immer einen Scheck. Das versäume ich nie. In Blackpool warten sie auf den Scheck.«

Das war Maureen ein Rätsel. Anne hatte früher schon von Leuten in Blackpool gesprochen, die auf Geld warteten. Sie hatte es bei einem Telefongespräch mit Annes Tochter Alice erwähnt, die nur geseufzt und gesagt hatte, dass sie nichts damit zu tun haben wolle. Es war offensichtlich ein Teil von Annes Leben, der tabu oder in der Vergangenheit versunken war, doch die Demenz holte ihn hervor, und Maureen wollte mehr darüber wissen für den Fall, dass sie helfen konnte.

»Wer, Anne? Wer wartet auf den Scheck?«

»Ein netter Mann und seine Frau.«

»Und wer sind sie?«

»Egal«, sagte Anne. »Ich mache es selbst.« Sie gingen weiter, und Maureen sagte sich, dass sie es nicht persönlich nehmen durfte. Es gehörte zur Krankheit. Mehr konnte sie nicht tun. Anne hatte ihre eigenen kleinen Dinge, mit denen sie fertig werden musste, und brauchte das Postamt nicht wirklich.

Alice lebte an der Küste, und Maureen wusste, dass es ein Risiko gewesen war, als sie sie heute morgen angerufen hatte. Aber sie dachte, dass Alice vielleicht kommen und nach dem Mittagessen übernehmen wollte. Die Lage war angespannt, weil Anne ihre Tochter unterschätzte. So hatte sie die Leute im Fernsehen reden hören, und die Tochter hatte Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, und die Familie war dysfunktional. Aber zweimal falsch ergibt nicht richtig, und was einen nicht umbringt, macht einen stärker. Maureen stellte sich manchmal als weise Person in einer Talkshow vor, und dass sie die Probleme der Leute verstand, gab ihr das Gefühl, modern zu sein. »Ich finde es heilend, wie du immer versucht hast, mit deinem Enkel Schritt zu halten«, sagte sie.

»Schritt zu halten?«

»Ja, mit Luke. Bevor er zur Armee gegangen ist.«

»Bücher«, sagte Anne. »Er hat Literatur studiert, und es waren schöne Sachen.«

»Du hast alle diese Bücher gelesen?«

»O ja. Wir haben sie bei Dillon’s gekauft. Und wenn er mich besucht hat, haben wir darüber gesprochen.«

»Es ist überraschend, dass sich so ein Junge für die Armee entscheidet.«

»Ich habe immer gedacht, dass er ein Irgendologe wird«, sagte Anne, »aber Männer werden nicht immer, was sie werden wollen.«

Als sie die Sidney Street entlanggingen, erklärte Maureen, dass es Anne guttun würde, ihre Tochter zu sehen. »Sie will mich nur in ein Heim stecken«, sagte Anne. »Sie will nur die Schlüssel zur Wohnung.«

»Das stimmt nicht, Anne. Sie würden ihr die Schlüssel nicht geben. Unser Haus ist nicht für junge Leute.«

Maureen dachte, dass stimmte, was man immer sagte: Man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Familie. Anne hakte sich bei ihr unter, und sie gingen in einen Zeitschriftenladen, wo sich Maureen Pfefferminzdrops kaufte. Die Gesichter auf den Zeitschriften im Regal kannte Maureen aus dem Fernsehen, und Anne schaute an den Männerzeitschriften vorbei zu einem Fach, das bis zur Decke mit Schachteln mit Airfix-Modellbausätzen vollgestellt war.

In der Candy Bar herrschte kaum Betrieb. Maureen lächelte und führte Anne am Arm zwischen leeren Tischen hindurch. »Wir warten auf eine Rolle in Drei Engel für Charlie«, sagte sie zur Kellnerin, »deswegen heute keinen Erdbeerkuchen für uns. Wir müssen auf unsere Figur achten.« Maureen half ihrer Freundin aus dem Mantel, und nachdem sie daran gerochen hatte, steckte sie den Schal in den Ärmel. Sie mochte das Parfum, die Essenz von Anne. Dann ging sie auf ihre Tischseite und legte ihre Handtasche auf den Tisch.

»Das geht auf mich. Ian hat mir heute morgen zehn Pfund dagelassen, deswegen darf er uns den Tee spendieren.«

Anne schaute auf das Licht, das die Teelöffel reflektierten. Für sie war es ein vertrauter Vorgang, Gegenstände und die Art und Weise zu studieren, wie das Licht sie hervorhob und veränderte. Ihre Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, als sie ihn kennengelernt hatte. Er hielt einen Vortrag über Dokumentarfotografie und das Einfangen des Lebens auf der Straße. Er sprach in der Mason’s Hall, nicht weit entfernt vom Turm, und als er auf der Bühne stand, waren seine Wangen gerötet.

Du warst ein wunderbarer Redner. Fast zwei Stunden lang hing dir das Publikum an den Lippen.

Am Abend gingen sie etwas trinken im Washington Arms, und er fing an, ihr eine Geschichte über sich zu erzählen, eine Geschichte, die nie endete. Selbst nach seinem Tod ging die Geschichte weiter und wurde zu etwas, womit sie sich selbst ergänzte. Sie dachte gern daran, wie er auf der Promenade rückwärts gegangen war, sie ansah und mit den Händen sprach.

Ein Mann namens Cotton hat für das Luftfahrtministerium gearbeitet. So war es. Er ließ Flugzeuge aufsteigen, Spitfires und Blenheims. Deine Augen haben geleuchtet, als du sie aufgezählt hast. Du warst kein schlechter Mensch, Harry. Nicht wirklich. Die Flugzeuge machten in 30000 Fuß Höhe Aufnahmen für den Geheimdienst. Es waren die ersten, die ersten ihrer Art, hast du gesagt, und ich sage, pass auf, wo du hintrittst. Beinahe wärst du gestolpert. Offenbar war es neblig über Deutschland, und es hat geschneit …

»Anne, das ist das Salz, Liebes. Nicht der Zucker.« Maureen lächelte, als wollte sie sagen, dass es nicht wichtig wäre. Anne hatte das Salz- statt das Zuckertütchen aufgerissen und seinen Inhalt in den Tee rieseln lassen.

»Kein Problem«, sagte das Mädchen, nahm den Becher mit und brachte einen neuen.

»Wir haben Eis gegessen«, sagte Anne in Gedanken bei Harry. Sie sah vor sich, wie der Wind an seinem Schal zerrte. »Drin stand eine Jukebox, und da spielte diese neue Musik.«

Maureen rührte in ihrem Kaffee und wandte ihre Aufmerksamkeit dann etwas anderem zu. Als sie sprach, hatte sich ihr Ausdruck verändert. »Ich mache mir Sorgen um meine drei. Wegen der Kinder, die sie haben. Sie sind außer Rand und Band.«

»Enkelkinder sind das Gute an der Sache«, sagte Anne. »Man kann sie lieben, muss aber nicht die ganze Schuld auf sich nehmen.«

»Und diese Kirsty. Ians Frau. Sie hat ein Au-pair-Mädchen angestellt. Ein Au-pair, nur damit sie aufs Kind aufpasst, wenn sie zum Friseur geht. Zum Friseur. Ich meine, bin ich es, die bescheuert ist, Anne? Sie sind schwach. Das haben sie von ihrem Vater: Sie können es mit diesen Frauen nicht aufnehmen.«

»Bist du geschieden, Maureen?«

»Ach, schon seit Jahren. Er ist tot, für mich jedenfalls. Lebt in Stirling mit irgendeiner Frau. Ich will es gar nicht wissen. Sie können mir nichts vormachen.«

»Du ärgerst dich gern, nicht wahr?«, sagte Anne. Die Frage klang unschuldig, und Maureen schrieb sie der Krankheit zu.

»Familien«, sagte sie. »Sie schlauchen einen. Wenn ich im Lotto gewinnen würde, dann würde ich mir in Spanien ein schönes Leben machen. Zum Teufel mit ihnen. Sollen sie kommen und mich suchen.«

»Harry hat im Krieg Flugzeuge geflogen«, sagte Anne. »Sie hießen Lysanders.«

»Wirklich?«

»Sie sind heimlich von einem Ort in Devon losgeflogen. Das war alles ganz geheim. So hat er sein Handwerk gelernt, ist in der Nacht über Deutschland und Frankreich geflogen und hat Fabriken und Häfen fotografiert. Sie haben Orden gekriegt, weil sie jede Nacht ihr Leben riskiert haben. So war Harry.«

»Das ist was, worauf du stolz sein kannst, Anne.«

»Ich glaube, dass es für die Männer nicht leicht war, mit dem zu leben, was sie getan haben. Es die ganze Zeit geheim zu halten.« Anne sprach leise.

»Alles in Ordnung, Anne?«

Sie holte tief Luft und machte eine Bewegung mit der Hand. »In Blackpool war eine schöne Zigeunerin, die einem die Zukunft vorausgesagt hat.«

Es war erstaunlich, sich mit Anne zu unterhalten. Es gab diese vielen Bruchstücke in ihrem Leben, die nicht zusammenpassten, und wenn sie gesprächig war, sagte sie Dinge, die einen glauben ließen, dass ihr Leben vollständig gewesen war. Aber alle hatten ihre Probleme. Maureen wusste nicht, worum es bei den Schwierigkeiten in Annes Familie ging, doch sie nahm sie instinktiv ernst. Alice betrat das Café, sie schien nervös, sah aus wie jemand im Fernsehen und nahm ihren schönen Schal ab, als sie auf ihren Tisch zusteuerte. Sie macht bestimmt wieder eine Diät und wird keinen Kuchen wollen, dachte Maureen.

Videospiele

Alices Arzt in Troon hatte etwas gesagt, was sie sich gemerkt hatte. Die Demenz, hatte er gesagt, halte den Erkrankten in einer Vagheit gefangen und zerstöre die Hoffnungen der Verwandten auf einen zufriedenstellenden Abschluss, vor allem wenn es ein schwieriges Verhältnis gewesen sei. Alice hatte mit einer Mutter gelebt, die glaubte, dass ihrer Tochter etwas fehlte, und Alice fragte sich jetzt, mit fünfzig, ob sie nicht einen letzten Versuch unternehmen sollte, diese Ansicht zu korrigieren.

Das Problem war nur, dass Alice die Meinung ihrer Mutter ein kleines bisschen teilte. Anne umgab etwas Geheimnisvolles, und sie hatte Phantasie, während Alice immer eine kleine realistische Teufelin gewesen war. Schon als Teenager. Alice wusste es selbst: Sie war die Erste, die verbesserte, die Letzte, die etwas glaubte, und sie leistete immer Widerstand, wenn sie gebeten wurde, sich das Unmögliche vorzustellen. Sie wollte den Beweis dafür, dass etwas wertvoll war, brauchte Bestätigung über das Wort eines Künstlers hinaus, und jahrelang war sie auf dieses Misstrauen stolz gewesen, als wäre es eine Gabe, sich nur schwerlich hinters Licht führen zu lassen. Wenn sie jetzt in den Spiegel schaute, eine Schnute zog und das Haar schüttelte, konnte sie kurz die Person sehen, die andere sahen, eine gewisse Griesgrämigkeit, einen Funken Engstirnigkeit. Alice wusste, dass sie besser war als ihr Benehmen, doch es war schwer zu beweisen.

Sie erzählte, dass sie neulich in Lukes Wohnung in Glasgow gewesen war. Er hatte eine dieser modernen Wohnungen in der Nähe des Hauptbahnhofs mit Tiefgarage, Sträuchern davor und Gegensprechanlage. Er war nicht oft da, weil er auf einem Auslandseinsatz oder in der Kaserne in England war, aber er war »über die Weihnachtszeit« dagewesen, wie Alice sich ausdrückte. »Er war nicht in Ayrshire«, sagte sie zu ihrer Mutter, »außer er hat dich besucht, ohne es mir zu sagen.« Sie zuckte die Achseln, lächelte und sah Maureen an. »Das ist durchaus möglich«, fügte sie hinzu.

Sie fuhr fort, dass er höchstwahrscheinlich mit seinen Soldatenfreunden in der Stadt durch die Kneipen gezogen und dann nach Helmand zurückgekehrt sei, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Maureen nickte. Sie glaubte, dass Männer genau das taten, sie kamen und gingen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie sehr sie andere verletzten. Auch ein so vernünftig wirkender junger Mann in einer Uniformjacke und mit einem grünen Barett. »In der Wohnung hat sich seit Jahren nichts getan«, sagte Alice. »Ihr solltet das Chaos sehen. Er hat mir den Schlüssel gegeben, aber wenn er glaubt, dass ich für ihn putze, hat er sich gewaltig getäuscht.«

Anne war irritiert. Sie trank ihren Tee. Wann immer Alice eine Rede hielt, ging ihr ein Satz durch den Kopf: »Sie kennt den Preis von allem und den Wert von nichts.« Luke war wie sie und nicht langweilig und klein wie seine Mutter. Er liebte Bilder, Muscheln und alle möglichen anderen Dinge. Er liebte es, fortzufliegen. Sie erinnerte sich, in dem Jungen Anzeichen einer künstlerischen Veranlagung erkannt zu haben und höchst erfreut darüber gewesen zu sein. Es ließ auf eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen schließen. Einmal war er von der Schule zu ihr gekommen und hatte erzählt, dass Lysander nicht nur der Name eines Kampfflugzeugs sei, sondern auch der eines Kriegers aus Sparta, und sie hatte nicht vergessen, wie er sie angelächelt hatte, wie er mit weit aufgerissenen Augen ins Wohnzimmer gelaufen war.

»Er ist besser als die gewöhnlichen Kinder, mein Enkel«, sagte sie.

»Er mag besser sein«, sagte Alice, »aber du solltest den Zustand seiner Wohnung sehen.«

Alice erwähnte nicht, ging nicht darauf ein, dass sie sich plötzlich sicher gefühlt hatte, nachdem sie die Tür zur Wohnung ihres Sohnes geöffnet hatte. Seine Post lag im Flur, und sie hob sie auf. Sie legte sie in die Küche neben ein paar leere Bierflaschen und ein Buch mit dem Titel Kim. Sie wischte Staub, räumte liebevoll die Spülmaschine ein und machte das Bett. Sie setzte Wasser auf und wählte genussvoll eine Tasse und stellte sie auf die Untertasse. Sie leerte mit Vergnügen einen Aschenbecher, ging damit auf den schmalen Balkon, rauchte eine Zigarette und schaute dabei über das gläserne Dach des Bahnhofs. Luke war in diesem Augenblick in einer Wüste und schoss wahrscheinlich mit einem Gewehr oder fuhr in einem Panzer, und sie war hier und wartete. Es war nicht das Leben, das sie sich für ihn gewünscht hatte. Und sie war überzeugt, dass genau das einer der Gründe war, warum er sich dafür entschieden hatte.

»So eine schöne Wohnung, aber was für ein Chaos«, sagte sie stattdessen zu den Frauen. »Wenn ich hingehe, ist es jedes Mal das Gleiche. Nicht nur ein Chaos, sondern ein Männer-Chaos. Socken und solche Sachen verstehe ich ja. Aber die Bierflaschen und die Kabel – o mein Gott, die Kabel.«

Als sie an jenem Tag durch die Wohnung gegangen war, hatte sich Alice gesorgt, dass ihr Sohn vielleicht nicht wirklich wusste, wie man lebt. Er gehörte zu den Menschen, in deren Wohnzimmer Reiseutensilien und Koffer herumlagen, Duty-free-Tüten, Waschzeug, als würde er nirgendwo wirklich leben und wäre immer nur auf der Durchreise. Diese Leute sind eigentlich obdachlos, dachte sie. Sie wissen nicht, wie man dazugehört oder im Frieden mit sich selbst ist. Sie leben aus Koffern, sie essen im Stehen. Und so einem Leben fehlt es an Würde und Ordnung. Nicht zu wissen, wo die sauberen Handtücher sind oder das Besteck in der Schublade liegt. Das ist nicht gut, dachte sie, es ist ein halbes Leben.

»Wofür sind die Kabel?«, fragte Maureen.

»Videospiele«, sagte Alice. »Sie liegen überall rum. Diese Dinger, die man in der Hand hält. Kabel, dass man es kaum glauben kann, und alle diese DVDs, die aus der Hülle gerissen sind. Ich glaube, wenn er nach Glasgow kommt, geht er nur in seine Wohnung und raucht dieses Zeug. Die Aschenbecher sind voll davon. Hasch. Und er spielt diese Spiele, auf dem Cover sind immer Soldaten.«

»Lass Luke in Ruhe«, sagte Anne plötzlich. »Er ist alt genug, um für sich selbst zu sorgen.«

»Er ist neunundzwanzig.«

»Das ist alt genug.«

Als Anne aufblickte, um ihre Tochter zu mustern, bemerkte sie, dass Alice unter den Augen etwas Helles aufgetragen hatte. Einen dieser Make-up-Stifte, die einen angeblich um Jahre jünger aussehen lassen, dachte Anne. So einen Concealer, wie man ihn jetzt kaufen kann. Sie hatte sie in Zeitschriften gesehen und es für albern befunden, die eigene Erscheinung zu retuschieren.

Flugzeuge

Die jüngeren Frauen übten Nachsicht. Maureen neigte den Kopf wie die Moderatoren in The One Show und erschuf so einen kleinen Augenblick nur für sich und Alice. »Es muss Ihnen große Angst machen«, sagte sie, »dass Luke an diesem schrecklichen Ort ist.«

»Man gewöhnt sich daran«, sagte Alice. »Ich habe das Gleiche schon mit seinem Vater durchgemacht. Ich kann nur beten, dass es ihm nicht auch passiert.«

»Ist er gestorben, Alice, Ihr Mann?«

Anne schaltete sich rasch ein. »Er hieß Sean Campbell.« Sie legte die Hände auf den Tisch und strich darüber.

»Das stimmt, Mama.«

»Ich bin nicht verrückt«, sagte Anne. »Ich weiß, wer Sean ist.«

Alice schürzte die Lippen. Sie fühlte sich gut, weil sie ihre Mutter nicht anschnauzte. Dann senkte sie die Stimme auf die Art einer rücksichtsvollen und geduldigen Person. »Mein Mann Sean ist in Nordirland ums Leben gekommen«, sagte sie. »Er hat bei den Western Fusiliers gedient, dem gleichen Regiment, bei dem Luke jetzt ist, und sie sind in Belfast patrouilliert. Und an einer Stelle, bei den Divis Flats ist eine Bombe explodiert. Dort war auch eine Grundschule, und es war eigentlich Pause, aber die Kinder waren nicht draußen, und die Bombe ist explodiert, und Sean wurde getötet.«

»Heilige Mutter Gottes«, sagte Maureen.

»Ja.«

Anne hörte, was sie sagten, aber sie wollte es nicht hören und dachte stattdessen an die Cafés, in die sie mit Harry gegangen war. Oh, diese schönen Orte. Sie dachte auch an Bomber und Dinge aus der Vergangenheit; für sie waren sie jetzt Beweise für die Person, die sie einst gewesen war. Als die Frauen am Tisch verstummten, blickte sie auf. »War das 1940?«

»Wie bitte, Mama?«, sagte Alice.

»Das mit Sean.«

»Das war 1987«, sagte Alice. »Luke war erst fünf.«

»Dann hat sie jemand anderen kennengelernt«, sagte Anne. Sie sprach gern über Alice, als wäre sie nicht da. »Einen anderen Mann.«

»Das ist nicht fair, Mama. Ich bin nicht aus dem Haus gegangen. Zehn Jahre lang bin ich nicht ausgegangen. Luke war in der Schule.«

»Haben Sie in Glasgow gelebt?«, fragte Maureen.

»In Glasgow, ja. Wir haben in der Kent Road gewohnt. In einer winzigen Wohnung, die Sean und ich gekauft haben, als wir geheiratet haben.«

»Du hast eine Pension gekriegt«, sagte Anne. Sie starrte auf die Krumen auf ihrem Teller. »Irgendjemand kriegt immer die Pension.«

»Ich war Witwe mit einem kleinen Jungen«, sagte Alice. »Witwe. Mein Ehemann war tot, und es war –«

»Ehemann.«

»Ja, Mama. Mein Ehemann, Sean.« Sie wandte sich wieder Maureen zu und wollte unbedingt ihre Geschichte zu Ende erzählen. »Ich habe Gordon erst kennengelernt, als Luke schon an der Universität war.«

»Strathclyde?«

»Genau. Luke hat an der Universität von Strathclyde studiert. Und dann hat er sich beim Militär beworben, und er hat im Süden die Aufnahmeprüfungen bestanden und ist nach Sandhurst gegangen.«

»Wann war das, Alice?«

»Das war 2001. Ich erinnere mich, dass er im September 2001 gegangen ist, weil es gleich nach der Geschichte in New York war.«

»Die Flugzeuge«, sagte Anne.

»Stimmt«, sagte Maureen. »Es war im Fernsehen.«

»Die Royal Western Fusiliers«, fuhr Alice fort. »Man entscheidet sich während der Offiziersausbildung für das Regiment, zu dem man will. Sean war gern bei den Schotten und Iren, Jungs von dort oder aus dem Norden von England. Und bei Luke ist es genauso. Ich sage Ihnen, es ist nicht, was ich mir für meinen Jungen gewünscht habe.«

»Am North Pier«, sagte Anne.

Sie ignorierten sie. Sie nahmen es mittlerweile als selbstverständlich hin, dass Anne hin und wieder mit sich selbst sprach.

»Die Flugzeuge sind über die Jane Street geflogen«, sagte Anne, versunken in ihre eigenen Gedanken. »In New York habe ich dort gelebt.«

»Mama meint, dass sie in New York gelebt hat«, sagte Alice. »Als junge Frau. Bevor sie mich bekommen hat.«

»Jane Street«, sagte Anne. »Ich habe Fotos gemacht. Für J. Walter Thompson. Colgate.«

»Das war alles vor meiner Geburt«, sagte Alice. Manchmal dachte sie, dass ihre Mutter ihr mit der Vergangenheit die Luft zum Atmen nahm. Doch sie schwieg, staunte über das Durcheinander der Zeiten, fragte sich, ob die Nachbarin ihrer Mutter tatsächlich eine Vorstellung von den Orten hatte, an denen Anne in ihrem regen Leben gewesen war. Manchmal saß Alice einfach nur so da und musste plötzlich feststellen, dass sie Schmerz empfand, ohne wirklich zu wissen, woher er rührte.

Jane Street

Es war eine verregnete Nacht, als Maureen leise Geräusche durch die Wand hörte und wusste, dass Anne irgendetwas vorhatte. »Draußen ist es matschig«, sagte sie, als sie die Tür zu Annes Wohnung öffnete. Sie hatte den Generalschlüssel benutzt und ein bisschen Lärm gemacht, um sie nicht zu erschrecken. »Richtig matschig. Bist du da, Schätzchen? Alles in Ordnung?«

Anne saß auf einem Esszimmerstuhl. Eine einzige Lampe brannte. Auf ihren Knien lag ein Hammer, ein Häufchen Reißnägel in ihrem Schoß. »Meiner Mutter ging es nicht gut«, sagte Anne und wandte sich um, als Maureen eintrat. »Sie hatte oft schreckliche Kopfschmerzen.«

»Du hast bei den Tanten gewohnt?«

»Ja, so war es. Ich bin nach Glasgow gegangen, um mich um sie zu kümmern. Um vier Tanten.«

»Du bist von New York gekommen?«