Lichterglanz & Dunkelschatten - C. I. Harriot - E-Book

Lichterglanz & Dunkelschatten E-Book

C.I. Harriot

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Beschreibung

"Wir können versuchen, sie zu verdrängen, hoffen, sie zu vergessen, sie über Jahre hinweg verleugnen, aber sie werden auf ewig ein Teil von uns sein." Tollpatsch & Freak – Begriffe, mit denen Erin Summer sich zu hundert Prozent identifizieren kann, denn ihr Leben ist alles, aber nicht normal … Unerklärliche Ohnmachtsanfälle und ihre eigenwillige Art sorgen nicht unbedingt dafür, dass sie zu den beliebtesten Mädchen der Schule gehört, aber wer braucht schon den Segen aller, wenn er eine genauso verrückte beste Freundin hat? Blöd nur, dass auch die kein Patentrezept gegen Erins plötzlich auftretende Wahnvorstellungen besitzt. Doch was ist, wenn es gar keine Wahnvorstellungen sind? Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr wie zuvor. Verfolgt von Schattengestalten und mysteriösen Männern findet sich Erin in einem tödlichen Spiel wieder – basierend auf einer Vergangenheit, von der die Waise bisher keine Ahnung hatte. Vier Generationen der Feindschaft und Annäherung, zwei Magien und ein Geheimnis, das alles besiegeln wird. Teil 1 der Dilogie

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Lichterglanz & Dunkelschatten

Magiesprung Chronik 1

C.L. Harriot

Copyright © 2019 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Lillith Korn

Korrektorat: Julia Mayer

Layout: Michelle N. Weber

Illustrationen: Maja Köllinger

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-483-3

Alle Rechte vorbehalten

Für jene,

die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden haben.

Gebt niemals auf.

Auf jede Dunkelheit folgt neues Licht.

Inhalt

Magiesprung Chronik (Januar 1890)

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Vermächtnis der Springer (März 1939)

Kapitel 3

Kapitel 4

Vermächtnis der Springer (Januar 1906)

Kapitel 5

Kapitel 6

Magiesprung Chronik (September 2001)

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil II

Kapitel 9

Kapitel 10

Magiesprung Chronik (März 1782)

Kapitel 11

Kapitel 12

Vermächtnis der Springer (Dezember 1955)

Kapitel 13

Kapitel 14

Magiesprung Chronik (April 1999)

Kapitel 15

Kapitel 16

Vermächtnis der Springer (Dezember 1939)

Kapitel 17

Kapitel 18

Vermächtnis der Springer (Juli 1955)

Kapitel 19

Kapitel 20

Magiesprung Chronik (Oktober 1996)

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil III

Kapitel 23

Kapitel 24

Vermächtnis der Springer (Juni 1875)

Kapitel 25

Kapitel 26

Magiesprung Chronik (Februar 2002)

Kapitel 27

Kapitel 28

Vermächtnis der Springer (Januar 1999)

Kapitel 29

Kapitel 30

Danksagung

Über die Autorin

Magiesprung Chronik (Januar 1890)

»Der Weg ist steinig und gefährlich,

doch irgendwann wird es leichter, ihm zu folgen.

Durch die tiefste Finsternis hindurch,

hinein in ein neues Licht.«

Magiesprung Chronik (Januar 1890)

Prolog

September 2018

Nichts durchbricht das Schweigen, das sich auf der Erde ausgebreitet hat. Es herrscht eine ewig währende Schwärze, die den Kampf mit der Sonne bereits vor vielen Jahren gewann.

Kein Sonnenstrahl wird jemals wieder den Boden berühren, der Welt Wärme schenken oder Geborgenheit geben. Vorbei sind die Tage des Lichtes, verschwunden das Lachen der Kinder. Furcht vor dem Kommenden wechselt mit Bedauern darüber, was einst als selbstverständlich galt und heute nicht mehr existiert.

Das anfängliche Chaos hat sich gelegt. Zurück blieb eine Welt, wie es sie vor tausenden Jahren gab. Infrastruktur, Handel, Nächstenliebe … Alles, was Menschen sich aufgebaut hatten und was sie einst vom Tier unterschied, ist hinfällig geworden.

Lediglich der Überlebensinstinkt ist uns erhalten geblieben, dennoch sterben wir wie die Fliegen.

Keiner von uns ist sicher oder wird es je wieder sein, denn außer sich selbst sollte man in dieser neuen Welt niemandem vertrauen.

Das Leben auf der Erde stirbt jeden Tag ein bisschen mehr. Wir werden vergehen, bis einzig die Schatten übrig sind.

Erin

Langsam laufe ich durch die ausgestorbenen Straßen Manolins. Der blasse Schein des Mondes, die einzig verbliebene und geduldete Lichtquelle, erhellt die Ruinen der ehemaligen Gebäude. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie. Groß und prächtig, so habe ich die Fassaden der Lake Street immer am meisten geliebt.

Heute ist davon, außer einem riesigen Schutthaufen, nichts übrig, genauso wie von den Menschen, die einst in Massen diese Straße entlangströmten.

Eine Bewegung lässt mich innehalten und nach rechts drehen. Bedrohliche Schwärze starrt mir aus der Gasse entgegen.

Eine Einbildung oder Überreaktion, vermute ich, gleichwohl bleibe ich wachsam und lausche. Die Schatten lauern in jedem Winkel, regungslos und tödlich.

Ein kaum hörbares Rascheln dringt an mein Ohr.

»Geh!«, befiehlt mir meine Intuition, und ich vergeude keine Sekunde. Ohne mich umzusehen, sprinte ich los. Ein verräterisches Zischen aus der Gasse bestätigt meinen Überlebensinstinkt. Doch erst, als es in ein mörderisches Lachen übergeht, lässt es jeden Milliliter Blut meines Körpers zu Eis erstarren.

»Oh, wie niedlich. Da läuft sie davon wie ein Hase vor dem Jäger«, raunt jemand hinter mir her. Weiter, Erin.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mir entkommen kannst?«, setzt die körperlose Stimme nach, und ein grollendes Gelächter erklingt. Die Nackenhaare stellen sich mir auf, doch nicht aus Angst, sondern aus Wut. Zu gerne würde ich stehen bleiben und dem Verursacher entgegentreten. Ich balle die Hände zu Fäusten. Ignoriere ihn und seine Worte. Lauf weiter, kommandiere ich mich selbst und zwinge mich regelrecht dazu, zu rennen, während der Zorn in mir lodert und meine Eingeweide sich verkrampfen. Das ist nicht die richtige Zeit oder der rechte Ort. Du bist nicht bereit, rufe ich mir in Erinnerung, und diese Erkenntnis treibt mich voran. In neuer Rekordzeit sprinte ich durch die verwaisten Straßen, nutze Abkürzungen und Seitenwege, um ihn loszuwerden, und denke fast, dass es mir wahrhaftig gelingt, als ich um eine Ecke biege und mich vor einer gesprengten Mauer wiederfinde. Der meterhohe Schutt lässt mich zwangsweise stoppen. »Mist, das war gestern nicht da!«, schimpfe ich leise und blicke mich nach einer anderen Möglichkeit um, aus der Gasse zu verschwinden. Mit pochendem Herzen stelle ich fest, dass es keine gibt. Ich drehe mich zum Eingang der Gasse und halte Ausschau nach meinem Verfolger. Der blasse Schimmer des Mondes wird immer wieder durch Wolken unterbrochen und beeinträchtigt meine Sicht, doch die kurzen helleren Momente genügen, um mir zu zeigen, dass ich allein bin. Sollte ich ihn tatsächlich losgeworden sein?

»Wo willst du hin, Erin?«

»Miss Edward?« Überrascht wirble ich herum. Meine ehemalige Englischlehrerin steht oben auf den Trümmern der Mauer und sieht auffordernd zu mir hinunter.

»Sie leben?« Ich bemerke selbst, dass es nach einer ungläubigen Feststellung statt nach einer Frage klingt, doch das scheint Miss Edward nicht im Mindesten zu stören.

Im Gegenteil, ein Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. »Natürlich lebe ich, das tun wir doch alle.«

Nicht ihre Worte, sondern die Art und Weise, wie sie es sagt, lassen mich frösteln, und wie eingefroren starre ich sie an. »Wie bitte?«, flüstere ich und nehme kurz darauf Bewegungen aus den Augenwinkeln wahr. Gänsehaut überzieht meinen Körper, als ich mich in die entsprechende Richtung wende, und dann vergesse ich schlagartig, Luft zu holen. Im Schatten der Mauerruine verharren weitere Personen. Warum habe ich sie vorher nicht bemerkt?

Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, als ich sie erkenne. Es sind Menschen aus meiner Vergangenheit. Jene, die ich seit ewigen Zeiten nicht gesehen habe. Dr. Thomson, Holly, Alex, Nelly … Ich erstarre. »Das ist nicht möglich. Ihr seid nicht real«, bringe ich zitternd hervor.

Sie sind nicht da, keiner von ihnen, beschwöre ich mich selbst und schüttle den Kopf in der Hoffnung, dass die Körper verschwinden mögen. »Geht weg«, flehe ich. »Geht weg. Ihr seid nicht hier. Ich war dabei. Jeden von euch habe ich sterben sehen!«Nutzlose Tränen rinnen mir die Wangen hinab. Alles in mir sträubt sich gegen das Weinen, und doch kann ich den Tränenfluss nicht unterbinden.

»Oh, haben wir dich etwa verängstigt?« Miss Edwards Tonfall klingt höhnisch und deutlich näher als zuvor. Sie klettert den Trümmerberg nach unten, doch nicht nur sie allein hat sich in Bewegung gesetzt. Langsam und unaufhaltsam kommen auch die anderen näher. Mondlicht erhellt ihre seelenlosen Gesichter. Ihre Münder zu einem kalten Lächeln verzogen, ihre Augen leer und starr, schließen sie einen Kreis um mich und verdichten mit jedem Schritt ihre Reihen.

»Erin, du bist an allem schuld. Die Welt geht zugrunde. Deinetwegen sind wir tot und der Rest der Menschen wird uns folgen!« Ihre im Chor gesprochenen Worte gleichen einem Singsang, und starr vor Angst lasse ich mich von ihnen einhüllen. »Sieh dir an, was du angerichtet hast! Fühl den Schmerz und das Leid, sie werden dir auf ewig erhalten bleiben. Deine einzigen Begleiter.«

Verzweifelt halte ich mir die Ohren zu. Ein sinnloses Unterfangen. Die Worte der Untoten hallen mir längst im Kopf wider und fressen sich tief in meine Seele.

Die Schuld liegt bei mir? Wie ist das möglich? Nervös schaue ich nach vorn und mein Blick verhakt sich mit dem meiner früheren Ziehmutter. Die ausdruckslose Maske der ehemals so herzlichen und glücklichen Holly versetzt mir einen Stich ins Herz. Sie hat mich immer wie ihre eigene Tochter behandelt, und was habe ich getan? Verzweiflung mischt sich mit Wut darüber, dass ich keine Ahnung habe, wie ich es hätte verhindern können, doch die Worte der Toten treffen mich. Sie treffen mich zu tief.

»Sieh weg! Behalte Holly in Erinnerung, wie du sie gekannt hast. Zerstöre dich nicht selbst!« Meine innere Stimme sorgt dafür, dass ich mich von der rundlichen Frau abwende, bevor ich vollends in Selbstzweifeln zerfließe.

Die Körper um mich herum kommen derweil beständig näher. Statt einen allein, fixiere ich alle gleichzeitig oder versuche es zumindest. Der Mond ist mir dabei hold, er hat die Auseinandersetzung mit den Wolken gewonnen und taucht die Gasse in sein schwaches Licht. Aufmerksam mustere ich die Untoten.

Ihre Kleidung ist zerfleddert, sie haben tiefe Wunden, Dr. Thomson fehlt sogar ein Arm. Das wichtigste Indiz jedoch ist der Modergeruch, der an ihnen haftet wie eine Klette. Allesamt sind sie mausetot, mitunter seit Wochen, und doch sprechen und laufen sie. Mein ganzer Körper schüttelt sich und angewidert weiche ich so weit wie möglich zurück. Ich fühle mich wie in einem Zombiefilm, und das, obwohl ich der Meinung war, dass mich nichts mehr schocken kann.

Die Zombiebrigade und mich trennen gut zwei Meter und ich bin noch mit der Frage beschäftigt, ob sie mich wohl fressen werden, da verharren sie und starren mich lediglich an.

»Was zum …«, keuche ich erschrocken, als die Körper kurzerhand marionettengleich in sich zusammenfallen und zerbröseln. Zurück bleibt feiner Staub, den eine aufkeimende Brise mir entgegenwirbelt. Unweigerlich muss ich niesen, als das Pulver um mich herumschwirrt. Als mir klar wird, was ich da eben eingeatmet und ausgeniest habe, muss ich würgen.

»Jetzt haben wir genug gespielt. Meinst du nicht auch?«, raunt jemand unmittelbar neben mir. Hastig mache ich einen Satz zur Seite. Ein Mann in dunklen Kleidern, groß und von muskulöser Statur, steht mir gegenüber und mustert mich. Allein seine grauen Augen würde ich unter Tausenden wiedererkennen. Er ist es. Ein teuflisches Grinsen liegt ihm auf den Lippen. »Hallo, Erin, lange nicht gesehen. Wo hast du dich rumgetrieben? Wir haben dich gesucht.«

»Ach, habt ihr das?«, bringe ich verächtlich hervor, während es in meinem Hirn zu rattern beginnt.

»Du brauchst gar nicht auf Zeit zu spielen. Keiner wird dir helfen. Du hast uns lange genug an der Nase herumgeführt. Der einzige Weg hier raus ist dein Tod.« Der Klang seiner Worte ist genauso kalt wie der Ausdruck in seinen Augen, doch so leicht lasse ich mich nicht einschüchtern.

»Euch? Ich kann bloß eine einzige Person ausmachen, und die bist du. Ihr Schoßhündchen.«

»Wirklich, Erin? Bist du tatsächlich der Meinung, dass es dir hilft, mich zu provozieren?« Er macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche aus, bis ich mit dem Rücken auf die Mauer, oder zumindest die Reste davon, treffe.

»Nun denn.« Mit einem Furcht einflößenden Grinsen kommt er näher und reibt die Hände aneinander. Doch nicht die menschliche Hülle und ihre Handlung fordern meinen Respekt, sondern das, was sich tief darunter verbirgt. Die Umrisse seines Körpers verändern sich, werden unscharf und verschwimmen zu etwas Großem. Mit aller Macht zwinge ich mich dazu, ihn nicht anzuschauen. Egal, was da kommt. Um keinen Preis der Welt will ich die Furcht in mir weiter nähren und ihm die Genugtuung meiner Angst verschaffen.

So will ich nicht sterben. Krampfhaft durchforste ich mein Gedächtnis nach einem positiven Gedanken. Einen, ich brauche lediglich einen einzigen. Einen, der es wert ist, für ihn zu kämpfen und ihm am Ende ins ewige Nichts zu folgen, doch der Blick, den ich auf meiner Haut spüre, scheint mir alles Gute und Schöne aus den Erinnerungen zu reißen. »Hör auf damit, beende es einfach!«, flehe ich und fasse dabei all meinen Mut, um den Kopf zu heben. Eine Fratze, die rein gar nichts mit einem menschlichen Gesicht zu tun hat, starrt mir entgegen, und die Ausweglosigkeit meiner Situation wird mir mit einem Mal vollends bewusst. Es ist vorbei.

»Erin! Erin! Um Gottes willen, wach auf. Es war ein Traum! Bloß ein Traum! Beruhige dich!«

Langsam dringt die vertraute Stimme zu mir durch. Verwirrt öffne ich die Augen und höre damit auf, um mich zu schlagen und zu schreien. »Nelly?«, erkundige ich mich ungläubig und blinzle des hellen Lichtes wegen, während ich mich aufrappele.

»Na klar bin ich es. Wer soll es sonst sein?«, antwortet sie lässig und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Wir sitzen auf ihrem Bett und ich schaue mich unsicher um. »Was ist geschehen?«

»Das fragst du mich? Wir wollten Hausaufgaben machen. Hast du das vergessen? Ich war kurz unten, um meiner Mum zu helfen, und als ich wiederkam, hast du geschlafen. Kurz danach ging hier das große Kino los. Ich habe bestimmt zehn Minuten gebraucht, um dich wach zu bekommen. Hast du eine Ahnung, wie schwer es war, meine Mutter zu überzeugen, dass du dich für den Theaterkurs eingetragen hast und deine Rolle als Gretchen in Faust übst? Sie will übrigens zur Premiere kommen.«

»Du hast was?« Völlig entgeistert starre ich meine beste Freundin an, die eiskalt mit den Schultern zuckt. »Hättest du eine bessere Idee gehabt? Wäre dir vollkommene Geisteskrankheit lieber gewesen?«

Ich schniefe und lasse mich kraftlos auf ihr Bett zurückfallen.

»Das nehme ich als ein Nein.«

Finley

»Wir haben sie gefunden. Endlich.« Die Erleichterung in seinen Worten ist greifbar, die Anspannung meines Körpers löst sich jedoch keinen Millimeter.

»Eine Verwechslung ist vollkommen ausgeschlossen?«

»Ja, es hat lange gedauert, doch es gibt keine Zweifel. Sie ist es. Was sagst du dazu, nach so vielen Jahren? Alistair wird über diese Nachricht sehr erfreut sein.«

»Nicht bloß er. Wir alle werden endlich aufatmen können, wenn sie aus dem Weg geschafft ist. Wann soll ich los?« Ich erhebe mich während des Sprechens vom Stuhl und angle nach meiner Jacke.

»Warte, warte, mein Freund. Nicht so schnell mit den jungen Pferden.« Beschwichtigend hebt er die Hände und bedeutet mir, dass ich mich wieder setzen soll. »Nach allem, was du durchgemacht hast, ist dein Tatendrang verständlich.« Ein wissender Ausdruck spiegelt sich im Gesicht des Nachrichtenüberbringers wider. Eine Geste, die ich beflissen ignoriere. Der Höflichkeit halber folge ich trotzdem seiner wortlosen Aufforderung und setze mich wieder.

»Du weißt doch, wie sehr Alistair zuletzt unter der Angst litt, dass er alle Springer ausgemerzt hat.«

»Es wäre besser, wenn er sie alle ausgemerzt hätte.«

»Ich verstehe dich wirklich und versichere dir, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Auch die Letzte von ihnen wird sterben, doch nach wie vor sind wir auf das Mädchen angewiesen. Du kennst den Grund.«

»Er versteht gar nichts«, knurrt der Schatten in mir und fleht darum, hervortreten zu dürfen, um ihm die lose Zunge herauszureißen. Doch meine Wut nützt in diesem Moment niemandem. Am allerwenigsten mir selbst, daher begnüge ich mich damit, ihm ein gefährliches Lächeln zuzuwerfen.

»Ich stelle fest, du bist vernünftig, Finley. Wenn wir haben, was wir wollen, gehört sie dir.«

»Gut, dann eben so.« Ich falte die Hände. »Und wie geht es dann weiter?«

»Der Plan ist simpel«. Mein Gegenüber lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Du wirst ihr folgen. Werde zu dem Schatten, der du sowieso bist. Finde heraus, was sie weiß, was sie tut und mit wem. Früher oder später wird sie uns unbewusst die gewünschte Information geben.«

»Dann hoffen wir wohl besser früher, oder? Ich meine mich zu erinnern, was geschieht, wenn sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht, und ich würde sie gern zuvor aus dem Weg haben.«

»Dem kann ich nur beipflichten. Dann solltest du dich besser anstrengen, nicht wahr? Und jetzt geh. Wir haben genug Zeit verloren.«

Ich, nicht wir, schießt es mir durch den Kopf. Warum sollte es auch anders sein? Als ich nicht sofort auf die Aufforderung reagiere, entlässt mich mein Gesprächspartner mit einer überheblich wirkenden Handbewegung. Genervt verdrehe ich die Augen, während ich ruckartig aufstehe. Meine Reaktion scheint ihm nicht entgangen zu sein.

»Gibt es noch etwas zu sagen?«, fragt er und mustert mich streng.

»Nein, alle offenen Fragen sind geklärt«, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen und verlasse den Raum, bevor ich erneut etwas Dummes hervorbringen kann.

Teil I

Kapitel Eins

3. März 2019

Erin

»O Mist!«, fluche ich leise und trete von einem Fuß auf den anderen. Ein weiteres Mal hat mein kleiner Zeh zielsicher den Rahmen der Zimmertür gefunden. Der pulsierende Schmerz kratzt an meiner Selbstbeherrschung. Krampfhaft unterdrücke ich einen Aufschrei und gehe dazu über, wilde Verrenkungen zu vollführen, um mich abzulenken.

»Sag mal, geht das ganze Gehopse ein Stück leiser? Ob du es glaubst oder nicht: Mitten in der Nacht plus Licht aus, bedeutet normalerweise Schlaf«, meckert meine Mitbewohnerin und knipst ihre Nachttischlampe an. »Was machst du da überhaupt?«

Geringschätzig mustert sie mich und ich behalte mir vor, nicht zu antworten, in der irrwitzigen Hoffnung, dass sie die Lampe wieder löscht und weiterschläft. Den Gefallen tut sie mir jedoch nicht.

»Übt das Nilpferd neuerdings für das Ballett? Diese Karriere solltest du definitiv streichen, das wirkt nicht sonderlich grazil. Das ist dir doch bewusst, oder?«

»Hm«, gebe ich von mir und schlucke eine entsprechende Bemerkung herunter, während ich wie ein geprügelter Hund zu meinem Bett humple.

Reg dich nicht auf, Erin, jetzt nimmst du dank der Lampe wenigstens nicht zusätzlich den Schreibtisch mit. Atme den Schmerz weg, geh ins Bett und lass das Miststück links liegen, beschwöre ich mich selbst und versuche krampfhaft, an diesem Mantra festzuhalten.

»Hallo? Erde an das Trampeltier? Ich rede mit dir!« Am liebsten würde ich mich der Quelle dieser Worte zuwenden und ihr gehörig die Meinung geigen, doch irgendwie schaffe ich es tatsächlich, über der ganzen Situation zu stehen und mich still auf mein Bett zu setzen.

Seit ich denken kann, teile ich mir das Zimmer mit Alex, und mindestens genauso lange hasse ich sie.

Die kleine blonde Elfe, die alles kann und die jeder gernhat, und ich … Eine schlaksige Brünette, die mit einem wundervollen Tollpatschigkeitsgen und ebenso grandiosen Ohnmachtsanfällen um die Ecke kommt. Eine perfekte Zimmerkombination.

Doch gibt es für mich überhaupt einen Grund, zu meckern? Ich habe ein Zimmer, ein Bett und Menschen, die einigermaßen gern mit mir zusammenleben, und dafür sollte ich dankbar sein.

Was für die meisten der Normalfall ist, ist für mich keine Selbstverständlichkeit, denn mein richtiges Zuhause und meine Eltern werde ich niemals kennenlernen. Sie starben bei einem Autounfall, als ich ein Jahr alt war. Holly, eine rundliche nette Frau im mittleren Alter, ist seither meine Ziehmutter. Sie adoptierte mich ein halbes Jahr nach dem Unfall und ersparte mir dadurch das Heim oder, die in meinen Augen schlimmere Variante, das Herumreichen durch eine Vielzahl an Pflegefamilien. Dank ihr durchlebte ich eine größtenteils normale Kindheit. Zumindest, wenn ich die Anfälle außen vor lasse. Als ich alt genug war, erzählte sie mir die ganze Geschichte mit meiner Adoption, und auch dafür bin ich ihr dankbar.

Seit mittlerweile fünf Jahren weiß ich darüber Bescheid und mein Leben ist seitdem ein anderes. Ich bin eine andere geworden. Unstetig und getrieben verbringe ich die Tage damit, mir über meine Vergangenheit Gedanken zu machen. Im Kopf stelle ich mir gerne meine Eltern vor und es macht mich traurig, nichts über sie zu wissen. Kein einziges Foto existiert von ihnen, keine Erinnerung. Im Grunde weiß ich gar nichts, außer, dass es sie gab und dass sie tot sind.

»Wenn ich volljährig bin, will ich meine Vergangenheit suchen. Ich möchte herausfinden, wer ich bin«, habe ich damals zu Holly gesagt und ihr damit ein trauriges Lächeln entlockt.

Ich seufze. In zwei Wochen erreiche ich besagtes Alter, und es ist fraglich, ob ich wirklich den Mut aufbringen werde, mich meiner Herkunft zu stellen, oder ob ich aus Angst vor dem Scheitern gar nicht erst mit der Suche beginne.

»Das ist mal wieder typisch für dich! Erst bis spät in die Nacht wegbleiben und mich dann bei deiner Rückkehr wecken! Das war doch volle Absicht! Denkst du überhaupt mal an deine Mitmenschen?«, keift es von der anderen Seite des Raumes. Die schrille Tonlage holt mich unsanft aus meinen Überlegungen zurück und ich stelle fest, dass mir im Moment nicht allein die Vergangenheit das Leben schwer macht, sondern vor allem meine Gegenwart, und zwar in der Gestalt von Hollys herzallerliebster leiblichen Tochter. Sie ist ein Jahr älter als ich und ein wahrer Sonnenschein.

»Beruhige dich, Alex. Ich habe mich nicht darum gerissen, mir den halben Zeh zu amputieren. Es tut mir leid, zufrieden?«

»Ist das dein Ernst? Einen Teufel werde ich tun! Du hättest mich schlafen lassen sollen, dann wäre ich zufrieden gewesen. Aber nein, du musst ja mal wieder grazil wie eine Dampfwalze die gesamte Aufmerksamkeit auf dich ziehen. Genügt dir deine ständige Anfallshow nicht? Soll ich dir so ein Schild mit blinkenden Neonlichtern besorgen? Das kannst du dir dann um den Hals hängen, damit dich auch wirklich jeder wahrnimmt!«

Ich beiße mir auf die Lippen, um eine Bemerkung zurückzuhalten, die unsere Debatte bloß zusätzlich anheizen würde. Möglichst unbeteiligt mustere ich meine Umgebung, während es tief in mir brodelt. Erin, du wirst dich jetzt nicht auf ihr kindisches Niveau herunterziehen lassen!, ermahne ich mich und begnüge mich stattdessen mit einem betont freundlich herausgepressten: »Wärst du so nett, das Licht wieder auszumachen, Alex?«

Ihr Gesichtsausdruck ist unbezahlbar.

Das Biest hat gehofft, dass du sie anfährst, damit sie zu ihrer Mutti rennen und petzen kann, stellt meine innere Stimme trocken fest, und ein wenig schockiert es mich, dass Alex nach all den Jahren weiterhin so leicht zu durchschauen ist. Man müsste meinen, dass auch sie dazugelernt hat …

Wenn Blicke töten könnten, müsste ich direkt umkippen und wäre auch in der Vergangenheit mindestens hundert Mal gestorben. Gegenwärtig erwarte ich fast, dass sie mich im nächsten Moment anbrüllt oder mir gar eine reinhaut. Erstaunlicherweise scheint sie sich jedoch gefangen zu haben. »Wozu? Ich bin wach.«

»Weil es, wie du eben so vortrefflich festgestellt hast, mitten in der Nacht ist?« Verdammt, ist es denn so schwer, diese blöde Funzel auszumachen, die Augen zu schließen und zu schlafen?

»Hast du mich gefragt, als du mich aufgeweckt hast? Nein! Das Licht bleibt an.« Mit einem Ruck wirft sie die Decke zur Seite und steht schwungvoll auf.

»Was wird das?«, frage ich irritiert, als sie damit beginnt, neben ihrem Bett merkwürdige Verrenkungen zu vollführen.

»Oh, bitte, Erin, sag nicht, dass du nie etwas von Yoga gehört hast?«

»Haha, sehr witzig!«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während Alex ihrer neu entdeckten Leidenschaft frönt. Voller Überzeugung geht sie dabei in eine Position, die mich stark an einen Hund erinnert, der schnellstmöglich nach draußen gelassen werden sollte. Ohne es zu wollen, entweicht mir ein Kichern.

»Statt zu lachen, solltest du das auch mal ausprobieren. Dann wird aus dem Trampeltier mit etwas Glück vielleicht eine Ente«, gibt sie mir voller Verachtung zu verstehen.

Der wenig effektvolle Versuch, mich zu reizen, prallt an mir ab wie ein Vogel, der gegen ein geschlossenes Fenster fliegt. Statt einer Antwort entlockt sie mir lediglich ein Schnaufen. O Mann, ich dachte wirklich, dass ihre Beleidigungen mit dem Alter besser werden würden.

Anscheinend habe ich mich getäuscht. Das Einzige, bei dem sie stets die vorderen Plätze belegt, ist Hochnäsigkeit, offenbar ist die angeboren.

Wenigstens sind die Schmerzen in meinem Zeh inzwischen Geschichte, denke ich und strecke mich aus. An der Decke bemerke ich ein riesiges Spinnennetz und fixiere es, als würde ich das spannende Spiel irgendeiner Fußballmannschaft verfolgen.

»Hat es dir etwa die Sprache verschlagen oder nimmst du dir meine Worte endlich zu Herzen? Mal komplett unter uns: Jeder Dickhäuter bewegt sich eleganter als du.«

»Ach, ehrlich?« Langsam treibt sie ihr Spiel zu weit. Ich nehme meinen Blick von der Decke und sehe ihr direkt ins Gesicht. »Soll ich dir mal was sagen? Ich bin tausendmal lieber ein Elefant mit Freunden als so gehässig, dass sogar Hyänen einen riesigen Bogen um mich machen …«

»Freunde? Dass ich nicht lache. Das sind Außenseiter, die keiner sonst kennen will. Du mit deinen ständigen, nach Aufmerksamkeit heischenden Zusammenbrüchen passt da perfekt rein. Ihr seid alles Freaks!« Boshaft starrt sie mich an, während ich mühsam meine Wut herunterschlucke. »Du bist sogar so freaky, dass nicht mal deine eigenen Eltern es mit dir ausgehalten haben! Sie sind lieber gestorben.«

Im Nu bin ich auf den Beinen und stürme auf sie los. »Das hättest du nicht sagen dürfen!«, schreie ich, doch bevor ich sie erreiche, wird mir schwarz vor Augen. Ich verliere das Gleichgewicht, spüre, wie ich falle, und dann ist die Welt um mich herum verschwunden.

Halleluja, willkommen Ohnmacht.

Finley

Ich beobachte die Szene von der Feuertreppe des gegenüberliegenden Hauses. Ihre Schübe werden stärker, stelle ich fest und laufe nervös auf und ab. Mir bleibt nicht viel Zeit. Grob überschlage ich die Daten in meinem Kopf. Maximal zwei Wochen, wird mir bewusst. Zwei Wochen, in denen ich schaffen muss, was mir das ganze letzte halbe Jahr nicht gelungen ist.

»Verdammter Mist!«, brülle ich und trete mit voller Wucht gegen die Treppe. Das Metall klirrt und an der Stelle, die mein Fuß berührt hat, ist es verbogen. Die Wut ist überall in mir. Sie bringt mein Blut in Wallung und will die Kontrolle ergreifen, mein Gehirn ausschalten. Ich umfasse das Geländer, muss mich abreagieren, um jeden Preis verhindern, dass ich meinem Drang nachgebe und ins Nachbarhaus gehe. Denn wenn ich es betrete, wird sie sterben. Ich muss – Ein fader Druck breitet sich in meinem Kopf aus. Er kündigt etwas an, auf das ich liebend gern verzichten würde.

Sinnloserweise versuche ich, einen Schutzschild um meinen vor Zorn geschwächten Geist zu legen. Zu spät und zu schwach. Jäh ist er da und ein dröhnendes Lachen füllt meinen Schädel.

»Das war alles? Erbärmlich. Wenn du versuchst, dich gegen mich zu wehren, gib dir gefälligst Mühe!«

»Verschwinde aus meinen Gedanken!«, fauche ich. Es ist sehr selten, dass er mich aufsucht, und der Zustand macht mich jedes Mal rasend.

Wieder ertönt ein Lachen. »Was ist los? Seit wann bist du so verklemmt? Versteckst du neuerdings Geheimnisse vor mir?«

»Nein, das würde ich nie wagen, und das weißt du!«

»Nein? Dann sollte es dir auch nichts ausmachen, dass ich hier bin. Hast du Neuigkeiten für mich, außer, dass du sie am liebsten umbringen willst?« Seine Worte lassen mich erstarren, denn sie bedeuten, dass er den Zeitpunkt seines Besuches ganz bewusst gewählt hat. Er überwacht meine Gefühle, stelle ich mit Schrecken fest.

»Du liegst ganz richtig. Wir möchten doch nicht, dass du etwas furchtbar Dummes tust, oder? Und jetzt raus mit der Sprache, gibt es neue Erkenntnisse?«

Statt einer Antwort entfleucht mir ein Knurren und mein Gedankenpartner lacht. »Das werte ich als ein Nein. Das ist enttäuschend. Du bist genauso nutzlos wie die anderen. Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht gleich töten sollte.«

Die körperlose Stimme hat einen drohenden Unterton, doch ich nähre mich von meiner Wut und knicke nicht ein, wie ich es sonst tue. »Wir beide wissen genau, warum du mich nicht umbringen wirst.«

»Touché.« Ich spüre das Lächeln in seinem Tonfall. »Du schlägst mich mit meinen eigenen Waffen.«

Überrascht stelle ich die Anerkennung fest. Auf alles Mögliche bin ich gefasst gewesen, nur nicht darauf.

»Behalte sie im Auge. Und Finley – keine Alleingänge, wir brauchen sie. Es dauert nicht mehr lange, vertrau mir, bis wir die Quelle in unserem Besitz haben. Mit ihrer Hilfe können wir alles verändern, verbessern. Die Geschichte umschreiben oder gänzlich korrigieren. Ist es das nicht wert, noch etwas zu warten? Danach darfst du deine Rache nehmen.« Die Worte verklingen in mir undich spüre, wie er seinen Geist aus dem meinem zurückzieht. Als er vollständig weg ist, atme ich tief durch. Endlich bin ich allein mit meinen Gedanken auf der Feuertreppe.

Die Wut ist verraucht und ich kann mich wieder meiner Aufgabe widmen. Suchend schaue ich nach unten. Ein Krankenwagen biegt in die Straße und sofort weiß ich, wo die Reise hingehen wird.

Kapitel Zwei

Erin

»Alex weiß, dass sie dieses Thema unterlassen soll!«, maule ich und knautsche mit den Händen die Bettdecke zusammen.

Ich liege im St.-Marien-Hospital in meinem üblichen Zimmer. Einem Raum, den ich immer zugeteilt bekomme, wenn mich Holly in der Notaufnahme abliefert oder, wie in diesem Fall, mit dem Krankenwagen hat einfahren lassen.

Ausfälle, so bezeichnen die Ärzte mein plötzliches Wegtreten. Von einer Sekunde zur nächsten wird mir schwarz vor Augen. Es gibt keine besonderen Ereignisse, die sie hervorrufen. Sie kommen und gehen, ohne dass die Ärzte oder ich etwas dagegen unternehmen, geschweige denn sie verhindern können. Mit den Jahren habe ich mich an sie gewöhnt. Sie sind beinahe normal, doch in letzter Zeit werden sie häufiger.

Laut Alex gibt es übrigens diese ominösen Anfälle gar nicht. »Sie fällt immer um, wenn sie es gegenwärtig gebrauchen kann«, hat meine allerliebste Ziehschwester erst vor Kurzem rausgehauen. Nett, oder? Blöderweise hat sie auch irgendwie recht.

»Warum lässt du dich immer wieder von Alex provozieren? Lass die alte Schnepfe links liegen. Wenn ihre Attacken keinen Effekt haben, wird sie von allein aufhören«, reißt Nelly mich mit ihren neunmalklugen Überlegungen aus den Gedanken. Aufmerksam wende ich mich meiner besten Freundin zu, die mal wieder genau weiß, was sie sagen muss. Ich seufze, denn sie hat recht, obwohl ich es ungern zugebe.

»Erin?« Sie schaut mich durch ihre Hornbrille eindringlich an. Mit ihrem viel zu großen Pullover und dem riesigen Brillengestell wirkt sie lustig. Fast wie eine gigantische Eidechse, die in einer Dauerschleife der 80er festhängt.

»Eriiin!«

»Was?«, frage ich genervt und zwinge mich, auf meine Hände zu sehen, um mich nicht erneut von ihrer äußeren Erscheinung ablenken zu lassen.

»Hast du mir eben überhaupt zugehört? Offenbar nicht!« Ein vorwurfsvoller Ausdruck prasselt auf mich nieder, bevor sie belehrend fortfährt. »Warum lässt du dich von der ollen Kuh immer wieder provozieren?«

»Keine Ahnung«, stöhne ich und habe wenig Lust, das Thema zum hundertsten Mal durchzukauen.

»Du weißt es nicht?« Nelly schickt mir einen skeptischen Blick, der durch ihre überdimensionierten Brillengläser verstärkt wird.

Ich mache den Mund auf, um etwas zu erwidern, da kommt mir ein anderer zuvor: »Miss Summer, ich dachte, wir waren uns einig, dass wir Sie eine lange Zeit nicht im Krankenhaus sehen wollten?«

Verlegen schaue ich zu dem Arzt, der eben in das Zimmer getreten ist und sich das Klemmbrett mit meiner Akte schnappt.

»Na ja. Ich glaube, das kommt darauf an, was Sie unter lange verstehen, Dr. Thomson.«

»Jedenfalls nicht unbedingt vier Tage«, tadelt der Mann und rückt seine Brille zurecht, um die schnell dahingekritzelten Zeilen besser entziffern zu können.

»Hm«, murmele ich, weil mir keine passende Erwiderung einfällt, und setze mich im Bett auf. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Nelly ansetzt, um ihren Senf dazuzugeben, doch ich bedeute ihr, still zu sein. Das Letzte, das ich jetzt gebrauchen kann, ist eine neunmalkluge »Siehst du«-Aussage von ihr. Glücklicherweise gibt sie nach und wendet sich stattdessen stumm Dr. Thomson zu, der inzwischen mit dem Lesen fertig ist und mich prüfendend mustert.

»Erin, Ihre Zusammenbrüche werden immer akuter. Hier steht, dass Sie länger als üblich weggetreten waren. Auch Ihre Vitalwerte sind verändert, leider zum Schlechten. Ihr Blutdruck ist zu hoch, die Lungenwerte zu gering. Wie fühlen Sie sich?«

»Gut, eigentlich so wie immer.«

»Leiden Sie unter Kopfschmerzen? Tut Ihnen irgendetwas weh?«

»Ich habe doch gesagt, dass es mir gut geht.«

Dr. Thomson seufzt. »Okay, dann teilen Sie mir wenigstens mit, was genau geschehen ist, bevor Sie zusammengebrochen sind.« Er zückt seinen Stift, doch ich zucke lediglich die Schultern.

»Nichts Besonderes, es ist einfach passiert. Ich bin aufgestanden, wollte mich bewegen, und plötzlich wurde alles um mich herum schwarz.« Lammfromm schaue ich zu ihm auf. Ich will um jeden Preis verhindern, dass wir das Thema aufgreifen.

»Ach, einfach so? Erin, die Sache ist äußerst ernst. Vielleicht muss ich die ganze Situation etwas drastischer formulieren, damit es auch bei Ihnen ankommt: Wenn wir nicht bald die Ursache finden, die Anfälle beenden oder zumindest eindämmen können, werden Sie früher oder später daran sterben.«

Das hat gesessen. »Wie bitte?«, krächze ich. Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen.

Tränen.

»Ich glaube, dass Sie mich ganz genau verstanden haben. Jeder Anfall bringt Ihren Körper weiter an sein Limit. Ihre Vitalfunktionen gehen kontinuierlich zurück und Ihre Organe versagen, eines nach dem anderen. Irgendwann werden Sie nicht wieder aufwachen. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen gern etwas anderes sagen, doch mir sind leider die …«

»Dann sagen Sie mir doch verdammt noch mal etwas anderes!«, fahre ich dazwischen. Meine Angst hat sich innerhalb von Sekunden in blanke Wut verwandelt, die ich ihm hasserfüllt entgegenschmettere.

»Ich habe mich wohl verhört?« Dr. Thomson starrt mich perplex an.

»Nein! Sie kommen in dieses Zimmer, lesen Ihren Wisch und werfen im Anschluss mit solchen Aussagen um sich! Ärzte sollen helfen und aufmuntern und einen nicht zerstören und erneut zutreten, wenn man am Boden liegt! Denken Sie ernsthaft, mir machen diese Anfälle Spaß? Dass ich mit Vergnügen wie eine tickende Zeitbombe draußen herumlaufe und als Freak beschimpft werde? Liebend gerne hätte ich ein normales Leben ohne all das, doch mich hat nie jemand gefragt. Ich konnte mir dieses beschissene Leben nicht aussuchen!«

»Erin!«, versucht Nelly, mich zu beruhigen, beißt jedoch mit ihrer Aktion auf Granit. Der Typhat mir eben gesagt, dass ich sterben werde – und das auf eine Art und Weise, wie der Wettermann im Radio den Regen ankündigt.

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Vier-Millionen-Jackpot geknackt …

»Ihre Wut ist verständlich, Miss Summer.«

»Ach, wirklich?« Verächtlich schnaubend kralle ich meine Nägel tiefer in das Laken. Einen Hauch zu tief, denn ich höre ein hässliches Ratschen und lasse abrupt wieder los.

»Ich habe mich gegebenenfalls etwas zu drastisch ausgedrückt. Wir werden natürlich alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um es nicht so weit kommen zu lassen«, bringt Dr. Thomson ruhig hervor, und ich spüre, dass er mich beschwichtigen will, denn ich bin so laut geworden, dass der ganze Krankenhausflügel unterhalten wird.

»Und das heißt?«, schaltet Nelly sich ein. Sie hat wohl Angst, dass ich den Arzt erneut anfahre, und das nicht zu Unrecht.

Misstrauisch funkele ich den Mann, der sich mit wackligen Fingern die Brille zurechtrückt, an. Er wirkt zerstreut.

»Ich werde das weitere Vorgehen am besten mit Ihrer Erziehungsberechtigten besprechen. Ruhen Sie sich etwas aus. Am Nachmittag werden Sie entlassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiedersehen!«

Bevor ich etwas erwidern kann, hat er das Zimmer bereits verlassen.

Erschöpft sinke ich zurück in die Kissen.

»Ich glaube, den siehst du nie wieder«, bemerkt Nelly trocken.

»Finde ich nicht unbedingt schlimm. Du?«

»Ich weiß nicht.« Sie zuckt die Schultern. »Zumindest hat er es länger ausgehalten als die anderen. Nur seine Diagnose macht mir Angst.«

»Mir auch«, gebe ich zu und eine unheimliche Stille breitet sich im Raum aus.

Finley

»Was machst du hier?«

Überrascht schaue ich auf. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich jemand anspricht.

»Was ist los, Finley? Hast du aufgehört, mit mir zu reden?«

Ich starre den Mann an, der neben mir aufgetaucht ist, und jede Faser meines Körpers befindet sich in Alarmbereitschaft. »Nein, das habe ich nicht, ich wüsste jedoch nicht, was die Antwort auf diese Frage dich angeht«, gebe ich mit warnendem Unterton von mir, während ich mein neuerliches Gegenüber nicht aus den Augen lasse.

»Ganz der Alte, oder? Denkst du eigentlich selbstständig oder übernimmt Alistair das inzwischen komplett für dich?« Arrogant wie eh und je lehnt sich blonde Mann mit den hellblauen Augen gegen die Mauer und lässt sich von der Mittagssonne das Gesicht kitzeln.

»Was willst du hier, Will?«, brumme ich.

»Dasselbe wie du.«

»Das glaube ich nicht.«

»Ach, nein?« Er wendet sein Gesicht von der Sonne ab und mir zu. »Dann beobachtest du die kleine Miss Summer also nicht?«

Wütend wende ich mich ab und erspare mir eine Antwort.

»Na siehst du, und jetzt lass uns Klartext reden: Willst du nicht langsam aufhören, ihnen für alles die Schuld zu geben? Bist so geblendet, dass du die Wahrheit nicht sehen kannst, oder so ignorant, dass du das nicht willst?«

»Sei still!« Ich blecke die Zähne und mache einen gefährlichen Schritt auf ihn zu. Hoffe, dass er meine Warnung versteht, doch er zieht lediglich seine Augenbrauen nach oben und bedenkt mich mit einem verächtlichen Blick.

»Was haben sie bloß mit dir gemacht?«, murmelt Will und richtet seine Augen abermals gen Himmel. »Es gab einmal andere Zeiten. Du wirst dich kaum daran erinnern, aber sie waren um einiges besser. Ich wünschte, es wäre alles wieder so wie damals.«

»Darf ich dich daran erinnern, wer an allem schuld ist?«, entgegne ich und zwinge mich, Will, dessen Haltung sich mit jedem Wort verändert hat, nicht weiter anzustarren. Die Selbstsicherheit und die Verachtung sind einer schier unendlichen Trauer gewichen, die ihn wie ein Fünkchen Elend wirken lässt. Fast empfinde ich so etwas wie Mitleid für diesen Verräter. Fast.

»Sie sind nicht daran schuld, Finley. Nur leider stoße ich bei dir auf taube Ohren. Ihre Gehirnwäsche ist entweder zu perfekt oder dein Lebensgefühl zu schwach. Du bist Alistairs Marionette, seine geheime Waffe, sein Trumpf. Du selbst, deine Seele, der Mann, der du wirklich bist, bedeutet ihm nichts. Wann wird dir das endlich bewusst? Was muss noch geschehen?«

»Du weißt nicht das Geringste von mir!«

»Nein? Glaub mir, ich kenne dich besser als du dich selbst.«

Ich kann nicht anders, ich muss lachen. Tief und grollend, sodass es die Scheibe neben mir in leichte Schwingungen versetzt. »Du amüsierst mich, und jetzt verschwinde!«, schleudere ich ihm hasserfüllt entgegen.

»Erst, wenn du mir zugehört hast.« Wills Auftreten ist gefestigt, jeder Muskel seines Körpers angespannt. Die Spuren des schwachen Momentes sind ausgelöscht.

»Ich bin der Meinung, dass ich dir lange genug zugehört habe. Du und deine Lügen sollten besser verschwinden.«

»Finley.« Wills Tonfall stellt mir die Nackenhaare auf. »Ich bin nicht hier, um deine Einstellung oder besser gesagt deine Überzeugung zu verändern. Ich bin hier, um dir in Erinnerung zu rufen, was geschieht, wenn du Erin ein einziges Haar krümmst.« Er macht drohend einen Schritt auf mich zu und baut sich langsam vor mir auf.

In dieser Haltung ist er gut einen Kopf größer als ich. Aber so schnell lasse ich mich nicht einschüchtern, im Gegenteil. Ich will lachen, um ihn herauszufordern und ihm zu zeigen, dass seine Drohung nicht das Geringste mit mir anstellt, kann jedoch nicht. Wie festgefroren verharre ich, dazu verdammt, ihn stumm anzusehen.

Ein Lächeln tritt auf Wills Züge. »Du bist nicht einmal ansatzweise so stark, wie alle immer sagen.«

Ein tiefes kehliges Knurren ist das Einzige, das ich meinem Körper zu entlocken vermag.

Das Grinsen auf Wills Gesicht wird breiter. »Du wärst zu so viel Größerem fähig. Er hat dich jedoch zu seinem Schoßhund erzogen. Wenn du es nicht schaffst, dich von ihm zu lösen, wirst du niemals deinen Weg finden.« Resignation schwingt in seinen Worten mit und die Lähmung weicht mir langsam aus den Knochen. Geräuschvoll atme ich durch und schaue ihm direkt in die Augen. »Meinen Weg? Spielst du auf die mir bestimmte Zukunft an? Wir wissen beide, dass mir alles genommen wurde, von ihnen, und wo warst du? In welcher Ecke dieser Hölle hast du dich versteckt, als ich dich gebraucht habe? Er war der Einzige, der sich um mich, den kleinen, austauschbaren Dunkelschatten, gekümmert hat. Alistair war da, und du?« Jedes Wort bringt mich stärker in Rage, während Will bloß dasteht und wirkt, als würde eine Welt für ihn zusammenbrechen.

»Diese Version der Wahrheit bevorzugst du also? Dann kann ich dir nicht mehr helfen.« Abrupt wendet er sich ab und entfernt sich von mir. Mit offenem Mund starre ich ihm nach.

»Will?«

Am Ende der Straße dreht er sich ein letztes Mal um. »Wenn du sie verletzt, bist du nicht besser als die Leute, die deine Eltern auf dem Gewissen haben.«

Vermächtnis der Springer (März 1939)

»Warum tust du das?«

»Weil ich muss.«

»Du musst gar nichts«,

stellt die Frau mit hauchdünner Stimme fest.

»Doch, die Schatten. Sie rufen nach mir.

Kannst du sie nicht hören?«

Vermächtnis der Springer (März 1939)

Kapitel Drei

Erin

»Du bist eine Träumerin«, hat meine Ziehmutter immer zu mir gesagt, als ich klein war, und sie weiß gar nicht, wie recht sie mit dieser Aussage hatte.

Seit ich denken kann, sind Träume meine Flucht aus der Realität. In der Schule werde ich gehänselt. Nicht wegen meines Aussehens, denn daran gibt es kaum etwas auszusetzen, sondern wegen meiner Zusammenbrüche. Sie kommen unerwartet und unaufhaltsam und sind damit der Grund, warum kaum jemand etwas mit mir zu tun haben will. Ich bin der Freak, den alle meiden. Alle, bis auf Nelly.

Mühsam reiße ich mich aus meinen melancholischen Gedanken und beobachte das Geschehen um mich herum.

Alex ist in der Schule. Ich bin allein in unserem gemeinsamen Zimmer, während meine Pflegemutter Holly in der Küche mit dem Geschirr klappert. Das vertraute Geräusch wirkt beruhigend und dennoch zittert mein ganzer Körper. Ich schaue dem Regen durch das Fenster bei der Arbeit zu, doch meine Gedanken hängen im Krankenhaus fest. Genauer gesagt bei den Worten des Arztes, die mich tiefer getroffen haben, als ich zugeben will …

Ein ungewollter Seufzer findet seinen Weg aus meiner Kehle, als ich mich auf den Schreibtischstuhl setze und zurückrolle. Dieses Zimmer ist riesig, zirka dreißig Quadratmeter groß. Nicht allein die Fläche ist für eine Mietwohnung in Manolin beachtlich, sondern ebenso die Höhe der Decke. Fast zweieinhalb Meter erstreckt es sich nach oben, bevor die Wand in eine kunstvolle Stuckdecke übergeht. Damals bot der Raum genug Platz für Alex, mich und mein Hochbett. Das Bett gibt es bereits seit Jahren nicht mehr. Es musste weichen, weil wir erwachsen geworden sind. Zumindest fast, denn einige kindliche Laster tragen wir beide noch mit uns herum. Das meiner Ziehschwester ist jedem sofort ersichtlich, der unser Zimmer betritt, denn die Wand hinter ihrem Bett ist überhäuft von Plakaten und Postern irgendwelcher Models. Nur kurz vor der Zimmerdecke, dort, wo der Stuck beginnt, findet sich eine winzige Freifläche, die die Originaltapete zeigt. An manchen Stellen bröckelt bereits der Putz. Die Decke löst sich auf, genauso wie mein Leben …

Ich kenne den Anfang meiner Geschichte, meine wahre Herkunft nicht, das baldige Ende hingegen ist mir bekannt.

Mir entweicht ein hysterisches Lachen, das jeden arbeitslosen Psychiater glücklich machen würde. Ein Lachen? Nein, ein Aufschrei. Ich werde sterben und niemand kann mir sagen, wie lange mir bleiben wird. Jahre, Monate, Wochen, Tage oder bloß Stunden?

Nervös spielen meine Finger mit der Armlehne des Schreibtischstuhls. Mein ganzer Körper ist angespannt und unruhig. Meine Anfälle werden mich das Leben kosten, wird mir bewusst, und wieder muss ich lachen, während sich Tränen in den Augen sammeln.

Sie sind das einzig Beständige in meinem Leben, das sich wirklich wie ein Teil von mir angefühlt hat, und dieser Teil wird mich umbringen.

»Erin, Liebes, ich habe hier eine Tasse Tee für Dich. Kamille, die Sorte magst du doch so gern. Hast du sonst einen Wunsch? Oder Hunger? Soll ich dir eine Kleinigkeit zu essen machen?« Überraschend steht Holly im Türrahmen. In ihrem Gesicht spiegelt sich die gleiche Unsicherheit und Angst, die auch in mir herrscht.

Der Arzt hat mit ihr gesprochen, natürlich hat er das.

»Jetzt reiß dich zusammen, Erin. Sei stark! Selbstmitleid hat bisher niemandem geholfen!«, schimpft mich mein Innerstes, und ich gebe ihm recht. Neu motiviert verbanne ich die dunklen Gedanken in den hintersten Winkel meines Kopfes, verschließe die Tür und werfe den Schlüssel weg, dann drücke ich die Schultern durch und richte den Rücken auf.