you are the darkness - C.I. Harriot - E-Book
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you are the darkness E-Book

C.I. Harriot

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Beschreibung

Vor anderthalb Jahren ist Grace Lynch nach Dublin gezogen und jagt seitdem Dämonen. Längst sind die Wesen fester Bestandteil der modernen Gesellschaft, dumm nur, dass sich Grace so gar nicht mehr an sie erinnern kann. Auch der Kerl mit den türkisfarbenen Augen, auf den sie eines Morgens trifft, ist ihr völlig unbekannt. Während dieser Rían ihr gegenüber seltsam distanziert wirkt und kaum Anstalten macht, ihr zu helfen, ihr Gedächtnis wiederzuerlangen, greift Grace nach jedem kleinen Strohhalm. Mit jeder Erinnerung kommen jedoch auch neue Fragen: Was hat es mit Ríans Verhalten auf sich? Woher kommen die Dämonen, und was wollen sie? Und was zum Teufel hat Social Media mit all dem zu tun? Die Uhr für die Antworten tickt, denn der Wettlauf mit der Zeit hat längst begonnen.

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you are the darkness

PREIS DEINER SEELE

C. I. HARRIOT

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan R. Bellem

Umschlagdesign: Giessel Design

Bildmaterial: Shutterstock

Anfassen von Johannes Oerding – Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Nicolas Gundel

ISBN 978-3-95991-811-4

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Anfassen - Johannes Oerding

Prolog

1. Grace

2. Grace

3. Rían

4. Grace

5. Rían

6. Grace

7. Rían

8. Grace

9. Rían

10. Grace

11. Rían

12. Grace

13. Rían

14. Grace

15. Rían

16. Grace

17. Rían

18. Grace

19. Rían

20. Grace

21. Rían

22. Grace

23. Rían/Dämon

24. Grace

25. Rían

26. Grace

27. Rían

28. Grace

29. Rían

30. Grace

31. Rían

32. Grace

33. Rían

34. Grace

35. Rían

36. Grace

37. Rían

38. Grace

39. Rían

40. Grace

41. Rían

42. Grace

43. Rían

44. Grace

45. Rían

46. Grace

47. Rían

48. Grace

Danksagung

Drachenpost

Für Charlotta und Elena

Wir wissen alles überall,

doch viel zu wenig über uns

und dieses bisschen wird dann noch geteilt.

Was einmal echt war, ist jetzt kalt,

Heute künstlich, früher Kunst.

Wer Grenzen nicht bemerkt, geht oft zu weit.

Wir haben Tausende von Freunden,

doch haben sie jedoch noch nie gesehen,

denn viel zu grell blendet der bunte Schein.

Wir haben Tausende von Träumen,

doch verlieren das echte Leben.

Es zerfällt zu Staub aus Nullen und Einsen.

Oerding, J. (2020). Anfassen. Konturen. Sony Music

Prolog

GRACE

Erschöpft sinke ich auf den nächstbesten Stuhl und werfe einen Blick auf die Uhr. Es dauert noch gute drei Stunden, bis meine Doppelschicht im Darkey Kelly’s offiziell endet, und ich bin völlig platt. Meine Füße sind taub und mein Kopf fühlt sich an, als würde er jede Sekunde platzen. Nicht mal die Aussicht auf ein üppiges Trinkgeld lockt mich wieder nach vorn. Zumindest nicht aus freien Stücken …

Wie hypnotisiert folgt mein Blick der unbarmherzigen Wanderung des Sekundenzeigers. Bald wird diese Pause vorbei sein, doch ich werde den Teufel tun und eher als nötig zur Arbeit zurückkehren.

Mit einem leisen Stöhnen schlüpfe ich aus den unbequemen Arbeitsschuhen und strecke die Beine aus. »Ich brauche nur fünf Minuten Ruhe«, wispere ich und ziehe gewohnheitsmäßig mein Handy aus der Tasche. Zwei Klicks genügen, und die gewohnten Farben von The Social Pic recken sich mir entgegen. Ohne den Inhalt zu fassen, scrolle ich mich durch die zahllosen Beiträge meines Feeds, ehe ich zu den Storys switche. Zwischen den alltäglichen Posts meiner Freunde befinden sich vermehrt geteilte Beiträge. Sie alle stammen von einem Urheber, dem Account Pic. Statt Foodporn und Haustieren sehe ich Bilder von protestierenden Fremden. Die entsprechenden Hashtags kennzeichnen sie als großes Ganzes. »Je suis Prof« und »Je suis enseignant«, murmle ich die Worte leise, doch sie berühren mich kaum. Im Gegenteil, wenn ich sie lese, würde ich am liebsten laut auflachen und den Posterstellern und Verbreitern »Heuchler« entgegenschreien.

Es ist nicht so, dass mich die Geschehnisse auf der Welt nicht kümmern. Dieses Attentat in Frankreich will ich nicht unter den Teppich kehren oder gar herunterspielen. Ein Mensch ist tot. Er wurde von jetzt auf gleich auf grausamste Art und Weise aus dem Leben gerissen. Das ist furchtbar und mit reinen Worten gar nicht zu fassen, doch diese Welle in den sozialen Medien, die immer wieder bricht, wenn etwas Schlimmes auf der Welt geschieht, hat mich regelrecht überspült. Ich bin eine Surferin, die es nicht mehr schafft, auf ihr Board aufzusteigen. Hilflos drohe ich in dieser Masse aus Beiträgen zu ertrinken, und damit stehe ich nicht allein.

Die Menschheit hat sich verändert. Das bekomme ich tagtäglich zu spüren. Mit wenigen Klicks einen Beitrag zu teilen und im Idealfall einen passenden Smiley darunterzusetzen, soll Solidarität vermitteln. Die Realität ist jedoch, dass uns das Teilen abstumpft. Kaum jemand nimmt sich tatsächlich die Zeit, um die dazugehörigen Texte zu lesen. Die Beiträge werden stumpf geliked, und im Anschluss wird mit dem eigenen Leben weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Die Außenwirkung auf Social Media und die Anzahl der Follower ist den sogenannten Influencern und Mitläufern wichtig, nicht das wahre Weltgeschehen.

Warum ich darüber so gut Bescheid weiß? Weil ich eine von ihnen bin. Zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn im Gegensatz zu meinen Freunden habe ich (noch) Prinzipien und überspringe die geteilten Protestbeiträge beflissen.

Angefangen zu posten habe ich schon in dem kleinen Kaff, aus dem ich komme, doch interessiert haben meine Inhalte lange niemanden. Erst seit ich in Dublin lebe und neben Geheimtipps und etwas offenherzigeren Bildern auch Gutmenschendienst verrichte und dabei so tue, als würde mich das wirklich interessieren, bin ich erfolgreich.

Oder zumindest erfolgreicher. Fairerweise muss ich zugeben, dass ich anfangs Spendenaktionen generiert oder geteilt habe, weil es mich wirklich gekümmert hat. Dass meine Followerzahl dabei deutlich angewachsen ist, war ein positiver Nebeneffekt. Doch mittlerweile ist dieser Nebeneffekt zur Hauptsache geworden. Mein Account besitzt über zehntausend Follower, denen mein wirkliches Ich egal ist. Sie wollen unterhalten und hin und wieder an den richtigen Stellen daran erinnert werden, dass wir eine Gemeinschaft sind.

»Grace?«

Erschrocken zucke ich zusammen und verliere dabei mein Handy aus der Hand. Mit einem hörbaren Scheppern erreicht es den Boden, und mit einer Mischung aus erwischt worden und zerknirscht sein blicke ich auf und mitten ins Gesicht meines Chefs. »Was machst du hier?«

Mit ernster Miene mustert Patrick erst mich und dann das Handy am Boden. Das lange schwarze Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, verfolgt jede noch so kleine Regung seines Kopfes. Obwohl er sich wacker auf die sechzig zubewegt, ist darin kein graues Härchen zu erkennen. Auch körperlich hat sich der Inhaber des Darkey Kelly’s gut gehalten. Ein Fakt, der ihn nicht minder bedrohlich aussehen lässt, als er sich mit wartender Miene vor mir aufbaut. »Da vorn sind Leute«, knurrt er und deutet auf die Tür, die unmittelbar hinter den Tresen im Schankraum führt, »die können sich nicht selbst bedienen. Und du sitzt hier und tust was?«

Ich spitze die Lippen und will ihm einen frechen Spruch zuwerfen, als er mich unvorbereitet mit diesem Du-bist-völlig-unfähig-Blick trifft und unsanft in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Auf einmal bin ich zurück in Ballinadee, meinem Heimatort, und befinde mich inmitten eines Streitgespräches mit meiner Tante. Ich stehe ihr direkt gegenüber: jener Frau, die mich großzog und dabei keinen Funken Liebe für mich übrig hatte.

»Grace? Hast du gehört, was ich eben gesagt habe?«

Verwirrt schüttle ich den Kopf. Tatsächlich hatte ich ihm mit seiner Schimpftirade keine Sekunde weiter zugehört. Glücklicherweise reißt mich der fast väterliche Tonfall schnell zurück in die Gegenwart.

Patrick seufzt. »Du kannst nicht hiersitzen, wenn es vorn so voll ist. Dafür bezahle ich dich nicht.«

»Ich bin seit heute Morgen hier«, drücke ich auf die Mitleidstaste und deute auf meine geschwollenen Füße. »Liam hat gesagt, dass es okay sei, wenn ich …«, versuche ich mich zu rechtfertigen und werde unsanft von Patrick unterbrochen, dessen Miene eindeutig aussagt, dass ich mit meinen Worten irgendeine Grenze überschritten habe.

»Seit wann gibt Liam die Anweisungen?«

Statt des Konters, den ich ihm ursprünglich an den Kopf werfen wollte, knicke ich ein. »Gibt er nicht«, gebe ich zu und fühle mich unwohl, fast so, als wäre ich innerhalb von Sekunden geschrumpft. Ich hasse mich dafür, dass ich meinen Standpunkt nicht verteidige, aber ich kann gerade einfach nicht anders.

»Ist hier drin alles in Ordnung?« Liam steckt den Kopf durch die Tür herein und blickt von seinem Vater zu mir. Anscheinend waren Patricks letzte Worte laut genug, dass man sie im Schankraum hören konnte.

»Nein, nichts ist in Ordnung«, knurrt Patrick. »Hast du Grace erlaubt, eine Pause zu machen?«

Mit einem gelassenen Gesichtsausdruck, um den ich ihn heimlich beneide, manövriert Liam den Rest seines Körpers durch den Türrahmen. »Und wenn dem so ist?«, hakt er provozierend nach und treibt Patrick noch mehr zur Weißglut.

Ich beiße mir auf die Zunge und werfe Patrick einen vorsichtigen Blick zu. Sein Gesicht hat längst den Farbton einer überreifen Tomate angenommen, doch die Stimme, die im nächsten Moment aus seinem Mund kommt, klingt seltsam gefasst. »Ich bezahle euch fürs Arbeiten, nicht fürs Faulenzen.«

»Niemand in diesem Laden faulenzt«, hält Liam dagegen und zwinkert mir zu. »Und genau genommen bezahlst du mich außerdem nicht.«

In gewisser Art und Weise bewundere ich Liam für diese Gelassenheit, auch wenn ich davon ausgehe, dass sie seinem Vater jeden Moment einen ausgewachsenen Wutanfall bescheren wird. Eindeutig Zeit für mich, schnellstmöglich das Weite zu suchen. In diesem Vater-Sohn-Machtkampf habe ich nicht das Geringste verloren. Mag zwar sein, dass ich dieses Mal der Auslöser bin, die langfristige Ursache bin ich jedoch auf gar keinen Fall. Die liegt viel tiefer in einer zerrütteten Familie. Zwar nicht so krank und so zerfressen wie die Reste meiner Verwandtschaft, aber immerhin so tief, dass ich mich nicht freiwillig in der Nähe des Sogs aufhalten will.

Unauffällig schlüpfe ich in meine Schuhe und greife mir das Handy.

»Ich finanziere dein Leben, reicht das nicht, damit du mir ein kleines bisschen unter die Arme greifst? Dieses Geschäft ist schließlich auch mal deine Zukunft.«

Liam zuckt die Achseln. »Du willst, dass das hier meine Zukunft wird. Ich nicht, und außerdem beschwere ich mich doch gar nicht. Das habe ich längst aufgegeben. Es geht allein um Grace. Sie macht heute eine Doppelschicht, die Pausen stehen ihr zu, und da ich im Augenblick vorn ganz gut klarkomme, habe ich ihr eine Verschnaufpause gegeben. Was ist falsch daran? Warum kannst du eine meiner Entscheidungen nicht ein einziges Mal billigen?«

»Weil ich verdammt noch mal …«

Ich werfe Liam ein Lächeln zu, das eine Mischung aus Entschuldigung und Dankbarkeit beinhaltet, und schiebe mich schnell an ihm vorbei, glücklich darüber, dass mir der Rest von Patricks Tirade erspart bleibt.

Obwohl ich die Tür hinter mir sorgsam geschlossen habe und es im Schankraum recht munter zugeht, dringen die Stimmen der beiden Männer aus dem Nebenzimmer noch immer deutlich an mein Ohr. Je weiter ich mich entferne, desto dumpfer werden sie. Der eindeutige Klang verrät allerdings, dass die beiden Männer einander nicht freundlich gesinnt sind.

»Hey, Puppe, mach mir und meinen Kumpels mal sechs Pints mit Guinness fertig.« Ein schlaksiger Typ taucht unmittelbar vor mir auf und deutet auf eine Gruppe von fünf Leuten, die eben erst zur Tür reingekommen sind. Ich tippe, dass es sich bei ihnen um Collegestudenten handelt, die sich nach einer ach so harten Woche voller Vorlesungen restlos besaufen müssen.

Ich nicke dem Kerl zu, und auch wenn die Jungs nicht unbedingt meiner favorisierten Kundschaft angehören, zwinge ich mich dazu, keine Miene zu verziehen. Ein kleines bisschen bin ich, ehrlich gesagt, auch dankbar dafür, dass sie mich von den Streithammeln im Hinterzimmer ablenken.

»Okay, habt ihr sonst noch einen Wunsch?«

Das aufblitzende Grinsen im Gesicht meines Gegenübers gefällt mir nicht. Es ist dermaßen zweideutig, dass ich seine nächsten Worte schon erahnen kann, ehe er den Mund aufmacht.

»Deine Nummer wäre nett.«

»Die steht nicht zur Debatte«, gebe ich wenig beeindruckt zurück.

»Und wieso nicht?«

»Ich kenne dich nicht«, antworte ich schlicht und fülle das erste Glas. Gott im Himmel, warum kommen solche Typen immer dann hervorgekrochen, wenn ich nicht verschwinden kann? »Und Fremden gibt man die eigene Nummer nicht, hat dir das deine Mami nicht auch beigebracht?«

Mein Gegenüber lächelt verschmitzt. »Du hast Biss, nice. Ich bin übrigens Sean, damit wäre ich kein Fremder mehr.«

»Fein, dummerweise interessiert mich das nicht, also …«

Ich zucke theatralisch mit den Schultern und lasse den Satz offen. Stattdessen mache ich mich daran, die Gläser zu füllen, um den Kerl endlich loszuwerden.

»Och, komm schon«, säuselt der. »Lass mich nicht so lange betteln. Meine Freunde beobachten uns, und ich soll doch nicht mit leeren Händen zu ihnen zurückkehren, oder?«

»Tust du nicht«, erwidere ich und stelle ihm eiskalt das Tablett vor die Nase. »Trag dein Guinness einfach selbst. Das macht dann glatt vierundzwanzig Euro, oder bleibt ihr noch eine Weile? Dann schreib ich es auf die Rechnung von eurem Tisch.«

»Kommt drauf an«, erwidert der Kerl und macht nicht den Eindruck, als würde er es kapieren und aufgeben.

Ich seufze. »Auf was?«

»Ob du dir einen Ruck gibst.«

»Im Gegensatz zu dir muss ich arbeiten, sorry«, gebe ich ihm endgültig zu verstehen, dass ich keinen Bock auf ihn habe, und drehe mich weg.

»Ach komm schon, gib mir einfach eine Chance.«

»Du kannst auch einfach Leine ziehen«, knurrt Liam und tritt neben mich.

Der Typ wirft erst ihm und dann mir einen verwunderten Blick zu. »Sorry«, sagt er. »Ich wusste nicht, dass sie vergeben ist. Sie hat nichts in der Richtung gesagt.«

»Wahrscheinlich, weil du sie nicht gelassen hast«, brummt Liam und wirkt weiterhin bedrohlich, wie er mit aufgerichtetem Oberkörper und angewinkelten Armen zwischen mir und dem Typ steht. Entschuldigend hebt der die Hände und zieht eilig von dannen.

»Danke«, raune ich Liam zu, als der Typ endlich außer unserer Hörweite ist.

»Keine Ursache, den Tisch übernehme ich. Damit die anderen nicht auch noch auf dumme Gedanken kommen.« Ohne zu protestieren, trete ich das Tablett an ihn ab, das der Kerl bei seiner Flucht stehen gelassen hat. »Ich nehme an, sie zahlen beim Gehen?«

Ich nicke und lehne mich mit dem Rücken an den Tresen, um ihn besser betrachten zu können. Ich muss gestehen, dass er echt heiß ist und mich die reine Annahme, dass er mein Freund sein könnte, ins Schwitzen bringt, doch ich mahne mich zur Räson. Schließlich ist das hier mein Job und er ist mein Freund, nur ein Freund, ohne den ich ganz nebenbei gar nicht wüsste, wie ich meinen eigenen Weg in Dublin gefunden hätte. Prompt schlage ich mir jegliche Wunschvorstellung aus dem Kopf.

»Und danke noch mal, dass du mich vorhin vor deinem Dad gerettet hast.« Ich deute mit dem Kopf in Richtung Tür.

»Keine große Sache«, gibt er zurück und zuckt die Achseln.

»Du hättest aber nicht dazwischengehen müssen«, sage ich bestimmt.

»Doch«, erwidert er. »Du kommst zwar auch gut allein klar, dass du allerdings ständig zwischen die Fronten rutschst, das ist nicht okay. Er soll seinen Frust nicht an dir auslassen.«

Aufmerksam mustere ich ihn. »Demnach läuft es bei euch immer noch nicht besser?«

Liam schüttelt traurig den Kopf, während er eine junge Blondine bedient. »Eher schlimmer, seitdem er die Fotos von Mum und ihrem neuen Freund auf Facebook entdeckt hat.«

»Puh«, stoße ich aus. Das ist wahrlich harte Kost, besonders wenn man bedenkt, dass Patrick bisher immer darauf gehofft hatte, dass Liams Mutter zu ihm zurückkehrt.

»Genau«, murmelt Liam. »Er stalkt sie online, und mit jedem Tag wird es schlimmer. Als würden ihm diese Fotos und all die kleinen Dinge, die sie aus ihrem Leben teilt, jegliches Glück rauben. Ich wünschte wahrlich, er hätte Mum dort nur niemals gefunden, und bin schon kurz davor, mich in seinen Rechner zu hacken und die Accounts irgendwie zu sperren.«

Hätte sie mal ihre Fotos nur mit ihren Freunden geteilt, geht es mir durch den Kopf, während eine innere Stimme mir mit Bestimmtheit sagt, dass Liams Mutter es ganz bewusst so eingerichtet und den Privatsphäre-Button zu ihrem Vorteil genutzt hat.

Verständnisvoll tätschele ich Liam den Arm. »Das wird schon wieder. Gib ihm etwas Zeit.«

»Ich hoffe es«, seufzt Liam. »Meine Semesterferien sind irgendwann zu Ende, und ich lasse den Laden nur äußerst ungern mit ihm allein.«

»Du hast ja mich.« Aufmunternd stupse ich ihn an. Dafür, dass Liam mir damals geholfen hat, als ich auf dem harten Boden der Realität aufgeschlagen bin, bin ich ihm unendlich dankbar. Niemals würde ich ihn oder seinen Vater im Stich lassen.

»Genau wegen dir mache ich mir die größten Sorgen«, antwortet er und lächelt mich an.

»Wegen mir?«, wiederhole ich und runzle die Stirn. »Ich verspreche dir, das musst du nicht. Ich bin schon ein großes Mädchen«, gebe ich betont zuversichtlich zurück und unterdrücke das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend, das sich zu meinem Leidwesen in Liams Nähe immer mal wieder einstellt.

»Mag sein, und du wärst sicherlich auch mit diesem Typ klargekommen, und wenn du ihm zum Schluss eine gescheuert hättest, aber dann gibt es eben Situationen, in denen du dir zu viel gefallen lässt.«

Ich weiß genau, welche Art von Situationen er meint, und drehe mich etwas bedröppelt weg. Die Erkenntnis selbst nützt mir nicht viel, wenn es mir nicht irgendwann gelingt, den Auslöser auf stumm zu schalten. Nur wie könnte ich das tun? Ich habe mich von meiner Tante, der noch einzigen lebenden Person aus meiner Familie, und dem Rest meiner Vergangenheit losgesagt, was könnte noch endgültiger sein? Der Tod? Allein der bloße Gedanke daran lässt mich zittern.

Aufmunternd stupst Liam mich an. »Dad spürt, mit wem er so umspringen kann und mit wem nicht.«

»Ja«, gebe ich zu, registriere glücklicherweise eine winkende junge Frau am anderen Ende des Raums und schnappe mir meinen Bestellblock. »Als Außenstehender sagt sich das immer so leicht«, seufze ich, dankbar für die Unterbrechung. »Ich muss weiter. Die Arbeit ruft.«

»Okay, dann gehe ich mal zu unseren Freunden. Und es ist übrigens leicht! Lass dir ein dickeres Fell wachsen«, ruft Liam mir hinterher, doch sein nett gemeinter Rat prallt an mir ab. Stattdessen fokussiere ich mich auf die Arbeit und halte die dumpfen Gedanken in meinem Kopf klein.

Als meine Schicht endlich beendet ist und sich die Tür des Pubs hinter mir schließt, bin ich völlig allein auf der Straße. Ich werfe einen Blick auf das Display meines Handys. Kein Wunder, es ist kurz vor zwei Uhr morgens und die meisten Menschen sind bereits zu Hause und tun das, was man um diese Uhrzeit für gewöhnlich macht. Ich will es ihnen gleichtun und mache mich ebenfalls auf den Weg nach Hause. Der Wind bläst mir eisigen Schneeregen entgegen, darum ziehe ich den Mantel enger um mich. Glücklicherweise habe ich es nicht weit. Lediglich einige Querstraßen und den Fluss Liffey muss ich überqueren, dann rückt mein Wohnblock in greifbare Nähe, doch dank der ewig tristen Dunkelheit zu dieser Jahreszeit kommt mir der Weg jedes Mal wie eine kleine Ewigkeit vor.

Als ich an dem winzigen Park des the Wood Quay Venue Kongresscenters vorbeilaufe, beschließe ich kurzerhand, querfeldein zu marschieren und ihn weiter abzukürzen. Ich bin kaum einige Meter gelaufen, da regt sich ein merkwürdiges Ziehen, das mit einer bösen Vorahnung einhergeht, in meiner Magengegend.

Verunsichert nehme ich die Hände aus den Taschen und bleibe mit angehaltenem Atem stehen. Ich bin gerade so weit, dass mich die Lichter der Straße nicht mehr erreichen. Im Schutz eines mächtigen Baumes sehe ich mich aufmerksam um. Unter der Woche und selbst am Wochenende begegne ich um diese nachtschlafende Zeit eher selten irgendwelchen Menschen, und auch jetzt scheine ich allein zu sein, aber dieses ungute Gefühl weicht nicht von meiner Seite, sondern setzt sich regelrecht in mir fest.

Regungslos lausche ich, doch mehr als die gewohnten Geräusche der Stadt vermag ich nicht wahrzunehmen. Ich will weitergehen, schnell nach Hause, aber mit jedem Schritt wird das Gefühl stärker.

Erneut halte ich inne und höre dieses Mal ein Rascheln. Bereit wegzulaufen, wende ich mich zur Seite, und da sehe ich ihn: einen Mann.

Etwas versteckt sitzt er auf einer Parkbank zwischen zwei Bäumen. Die Laterne in einiger Entfernung beleuchtet gerade so seine Umrisse, doch das plötzliche Aufleuchten seines Handydisplays taucht den Mann in helles Licht. Stirnrunzelnd mustere ich ihn. In der dunklen Jacke wäre er mir unter normalen Umständen wahrscheinlich nicht mal aufgefallen, und wenn doch, wäre ich schnurstracks weitergelaufen, doch irgendwas an ihm erregt meine Aufmerksamkeit und hält mich fest. Es ist nicht das leuchtende Handy, sondern eher ein Gefühl, das ich mit dem Mann verbinde. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Sein schütteres Haar ist ordentlich gescheitelt. Die Kleidung wirkt gepflegt, wie auch sein restliches Äußeres, aber was macht so jemand um diese Uhrzeit hier?

Er wirkt nicht gefährlich, eher verloren, was mich dazu bewegt, ein paar Schritte auf ihn zu zu machen und ihm wenigstens die naheliegendste aller Fragen zu stellen. »Hallo? Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Abwartend beiße ich mir auf die Lippe und halte den Atem an, doch der Mann scheint mich nicht mal wahrzunehmen. Stattdessen betrachtet er weiter den kleinen Bildschirm, dessen flackernde Bilder ihre Schatten auf sein Gesicht werfen.

Nachdenklich betrachte ich ihn und erhasche einen Blick auf seine grünen Augen. »Kann ich Ihnen irgendwie …«

Ein Gänsehaut verursachendes Gelächter beendet die Frage von mir und lässt mich erschrocken zurückweichen. Es dringt aus der Kehle des Mannes, der plötzlich den Kopf nach oben gerissen hat und auf etwas vor sich starrt. Die Mischung aus Absurdität und Angst lässt mich aufkeuchen. Mein Hirn schreit, dass ich die Beine in die Hand nehmen und mich aus dem Staub machen soll, doch meine Nerven versagen mir ihren Dienst. Sie blockieren die Bahnen und zwingen mich zum Stillstehen, und plötzlich geht sein Blick zu mir. Das Leuchten des Handys erhellt noch immer sein Gesicht, doch dieses Mal blicken mir keine grünen Augen entgegen. Kohlrabenschwarz liegen sie stattdessen in ihren Höhlen und haben jeglichen Schimmer verloren. Der Ausdruck darin lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Es ist purer Hass.

Langsam erhebt sich der Mann und bewegt sich auf mich zu. Obwohl er bis auf jene Augen noch genauso aussieht wie vorher, hat sich seine Präsenz völlig verändert. Es fühlt sich an, als wäre eben etwas Böses geboren worden. Eine innere Stimme mahnt mich zur Vorsicht, als wäre das, was vor mir steht, gerade erst der Anfang. Ich atme tief durch und zwinge mich dazu, mich aus der Starre zu lösen.

»Was wollen Sie von mir?«, bringe ich mit fester Stimme hervor und balle die Hände zu Fäusten. Es wäre wahrlich klüger wegzulaufen, aber etwas an diesem Mann verhindert das. Es ist ein Gefühl, das mir sagt, dass ansonsten etwas Schlimmes geschehen wird.

Wie auf Zuruf erscheinen vor meinem inneren Auge Bilder. Ich sehe den Mann, der über den leblosen Körpern einer Frau und zwei Kindern steht. Sie sind bestialisch zugerichtet. Er sieht zu mir und grinst, seine Kleider blutdurchtränkt, dann kommt er auf mich zu. Die grausamen Bilder verflüchtigen sich wieder, doch der Mann bleibt real, und er kommt näher. Meine anfängliche Angst wandelt sich in Entschlossenheit.

Ich habe keine Ahnung, was das eigentlich werden soll. Ich stehe hier, mitten in einem winzigen Park an der wahrscheinlich dunkelsten Stelle, und weiß nur, dass ich diesen Mann unter keinen Umständen ziehen lassen kann. Nicht kampflos. Oder doch?

»Hallo, Kleines«, haucht er und stößt dabei ein zischendes Geräusch aus.

Unbeholfen stolpere ich zurück, und mein rationales Denken kehrt zurück. Was zum Teufel mache ich da gerade? In meinem Hirn, das wohl jetzt endlich wieder anfängt zu arbeiten, rattert es. Als ich frisch aus der Provinz nach Dublin gezogen bin, habe ich einen zweiwöchigen Intensivkurs für Selbstverteidigung besucht. Das Ganze ist inzwischen ein Jahr her. Ein Jahr, in dem ich nicht mal über die Verwendung nachgedacht habe. Die Frage ist demnach, wie gut oder schlecht ich mich noch daran erinnern kann, denn zum Weglaufen ist es längst zu spät.

»Du hast doch nicht vor, dich zu verdrücken, oder? Du warst eben doch noch so hilfsbereit. Hast du es dir anders überlegt?« Er grinst, und selbst im fahlen Licht erkenne ich die Grimasse, die er dabei zieht. Als wäre das, was da direkt vor mir steht, gar kein Mensch mehr.

Ich schüttle den Kopf und versuche die Angst zu verdrängen, als er bereits eine Hand um mein Handgelenk schließt. Panisch schaltet sich mein Körper auf Autopilot, und ich reiße postwendend den Arm nach unten. Das überrascht meinen Angreifer. Er strauchelt, und ich ramme ihm meinen Ellenbogen in die nächstbeste Körperstelle. Er stößt ein lautes Stöhnen aus, doch es endet abrupt, und ehe ich meine Umgebung realisiere, bricht er wie ein nasser Sack neben mir zusammen.

Völlig schockiert starre ich auf den röchelnden und sich windenden Körper am Boden. Ich habe ihn mitten auf den Kehlkopf getroffen. Eine gefährliche Stelle, so viel weiß ich zumindest noch. Mir wird speiübel. Mit der Situation und den auf mich einprasselnden Sinneseindrücken völlig überfordert, geben meine Beine unter mir nach.

Ich bin zwischen helfen wollen und weglaufen gefangen, doch gegen beides wehrt sich mein Körper.

»Scheiße, was ist hier los?« Ein Kerl taucht mitten aus dem Nichts auf und sieht erst mich und dann den Mann neben mir an.

»Ich …«, stottere ich. »Er hat mich angegriffen. Das wollte ich nicht«, bringe ich zitternd hervor. Der Kerl kommt näher, doch statt sich um den Verletzten zu kümmern, zieht er mich von diesem weg.

»Wir brauchen einen Krankenwagen«, höre ich mich sagen.

»Die können ihm nicht helfen«, sagt der Fremde schlichtweg.

»Aber …«

»Kein aber«, unterbricht er mich und zieht mich hoch.

»Ich kann doch nicht …« Dieses Mal unterbricht mich nicht der Kerl, sondern der letzte rasselnde Atmungsversuch des Mannes.

»Das war’s. Er ist tot«, meint mein Gegenüber ohne jede Emotion in Stimme oder Mimik.

Ich starre auf den Menschen am Boden. »O mein Gott, ich habe ihn umgebracht.« Die Erkenntnis trifft mich wie ein Faustschlag. Ich, Grace Lynch, habe soeben einen Menschen getötet. Ich fange an zu hyperventilieren und Würgegeräusche von mir zu geben.

»Beruhig dich, der ist es nicht wert«, schnaubt der Kerl.

Fassungslos wende ich mich ihm zu. Da steht er, ein groß gewachsener Typ mit durchtrainiertem Körper, dunklen Haaren, einem markanten Gesicht und den türkisfarbensten Augen, die ich jemals gesehen habe. Er wäre das Idealbild eines Boyfriends, wenn er nicht diesen gleichgültigen Blick im Angesicht des Todes draufhätte.

»Das war ein Mensch.«

»Eben nicht«, gibt er arrogant zurück und zieht mich mehr oder weniger freundlich mit sich mit.

1

Grace

EIN HALBES JAHR SPÄTER

Als ich die Augen aufschlage, dauert es keine Sekunde, bis mir klar ist, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Mein Kopf dröhnt zwar unsäglich, sodass ich die Augen am liebsten direkt wieder schließen würde, doch die Ursache für das ungute Gefühl in meiner Magengegend ist er definitiv nicht.

Um mich herum ist es dunkel, fast schon finster. Nur ein winziger und ziemlich schwacher Lichtspalt fällt ins Zimmer und gibt dessen schemenhafte Umrisse preis. Ob er durch eine Tür oder durch Vorhänge an einem Fenster einfällt, ist von meinem Standpunkt unmöglich auszumachen.

Regungslos verharre ich in der Position und versuche mich zu orientieren. Das Pochen verdrängend, bemühe ich mich, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gelingt mir allerdings nur schwer, denn schon allein die Erinnerung an das, wie ich hierhergekommen bin und was ich gestern gemacht habe, will mir nicht in den Sinn. Ich bin irgendwo, doch wo genau dieser Ort ist, kann ich nicht mal mutmaßen. Der Raum ist zumindest dunkel. Zu dunkel für mein Zimmer, das selbst in mondlosen Nächten vom Schein eines kleinen Aquariums erleuchtet wird. Demnach liege ich eindeutig nicht in meinem Bett …

Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und neige den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung und versuche, etwas im spärlichen Lichtkegel zu erkennen. Die Umrisse, die sich mir entgegenstrecken, werden zwar deutlicher, aber nicht bekannter. Wo zum Teufel bin ich, und was mache ich hier? Vorsichtig rolle ich mich auf den Bauch und lasse meine Hand über das weiche Laken gleiten, bis ich den Rand des Bettes ertasten kann. Es ist klein, um einiges kleiner als meines, und doch fühlt es sich unter mir irgendwie vertraut an. So als würde ich nicht zum ersten Mal darin liegen, doch warum erinnere ich mich dann nicht?

»Du bist wach«, erklingt eine fast schon anklagend anmutende Stimme aus dem Teil des Zimmers, der hinter mir liegt. Erschrocken richte ich mich auf und drehe mich in die Richtung. Obgleich des Schrecks und der heftigen Bewegung dröhnt mein Kopf. Er ächzt nach Ruhe, doch ich ignoriere den Schmerz und lege meinen gesamten Fokus auf die Person, deren Schemen ich nun im kargen Lichtschimmer ausmachen kann. Instinktiv stellen sich mir die Nackenhaare auf. Alles, was ich erkennen kann, deutet auf einen groß gewachsenen Mann hin und somit auf eine potenzielle Gefahr. Er muss zuvor dort im Dunkel still verharrt und mich beobachtet haben. Inzwischen ist er vorgetreten und macht sich an irgendwelchen Vorhängen zu schaffen, die kurz darauf ein wenig mehr Licht in den Raum lassen. Gerade so viel, dass ich sein dunkles Haar und die vagen Umrisse seiner Gesichtszüge erahnen kann. Was ich in ihnen lese, wirkt alles andere als glücklich.

Das ungute Gefühl in meinem Inneren keimt munter weiter.

Der Fremde räuspert sich. »Du bist endlich wach. Gott sei Dank, ich hatte schon befürchtet, dass wir noch länger hier festsitzen. Komm schon, wir müssen los. Es wird langsam gefährlich.«

»Wir? Festsitzen? Gefährlich?«, wiederhole ich stockend jene Worte, denen ich keinerlei Bedeutung zuordnen kann, und krabbele rücklings aus dem Bett. Natürlich ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, gleichzeitig suche ich fieberhaft nach einem Fluchtweg.

Als der Unbekannte erahnt, was ich vorhabe, macht er einen warnenden Schritt auf mich zu. »Wir haben keine Zeit für deine Spielchen, Grace.«

Grace? Beim Klang meines eigenen Namens schließe ich die Augen. Die Aussprache wirkt so unendlich vertraut, und gleichzeitig kommt mir mein Gegenüber kein bisschen bekannt vor.

»Hast du mir zugehört?« Der Fremde ist lauter geworden, sein Ton ist ernst. Erschrocken öffne ich die Augen und stelle fest, dass er mir dank meiner Unachtsamkeit gefährlich nah gekommen ist. »Wir müssen hier weg«, sagt er bestimmt und langt nach meinem Arm.

Geistesgegenwärtig weiche ich vor ihm zurück. »Wer bist du? Was willst du von mir?«

»Was soll der Quatsch?«, erhalte ich als Antwort. »Die Sache ist ernst, ernster als jemals zuvor, das wissen wir beide. Am besten gehen wir zurück, bevor –«

»Bevor was?«, unterbreche ich ihn. Automatisch drücke ich den Rücken durch und ignoriere den schmerzenden Kopf. »Ich gehe mit dir ganz sicher nirgendwohin. Wer zum Teufel bist du eigentlich? Und was mache ich hier?«

Mein Gegenüber hält inne und mustert mich nachdenklich. Das Licht von draußen erhellt seine Züge, und ich erhasche einen Blick in die grünsten, nein, eher türkisesten Augen, die mich jemals angesehen haben.

Die Pupillen weiten sich voller Unglauben. »Du verarschst mich«, sagt er tonlos, und sein doch recht ansehnliches Gesicht mit den hohen Wangenknochen verzieht er zu einer Grimasse, die sein von mir geschätztes Alter von Mitte zwanzig auf Anfang vierzig anschwellen lässt.

Wie bin ich bloß in diese Situation geraten, frage ich mich. Mit anschwellendem Puls und eingeschaltetem Fluchtinstinkt schüttle ich den Kopf. »Nein, ich meine es ernst«, antworte ich dem Mann. »Wo bin ich? Was soll ich hier, und wer bist du?« Meine Fragen lassen ihn zusammenzucken. Jede einzelne, als würde ich ihn gnadenlos ohrfeigen.

»Grace?«, haucht er erneut meinen Namen und wird kalkweiß.

Wieder schüttle ich verneinend den Kopf. »Wer bist du?«, wiederhole ich beharrlich meine Frage.

Der Ausdruck in seinem Gesicht verändert sich. Er wird undurchdringlich und hart, doch die Farbe bleibt ihm weiter fern. »Niemand«, antwortet er und wendet sich schließlich ab.

»Niemand?«, hake ich nach und massiere mit den Fingern meine Schläfen, während ich ihn nicht aus den Augen lasse. Nun hat er mein Interesse geweckt. »Du kannst nicht niemand sein.«

»Doch«, erwidert er, und der lodernde Ausdruck in seinen Augen gefällt mir gar nicht.

»Jeder ist irgendjemand. Wer also bist du?«

»Scheiße«, flucht er, statt auf meine Bemerkung einzugehen, und reißt in einem Wutanfall das nächstbeste Möbelstück zu Boden.

»So ein verdammter Mist!«

Ich zucke zusammen und weiche so weit wie möglich zurück. Als er sich wieder mir zuwendet, presse ich mich mit dem Rücken an die Wand und sitze in der Falle. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«

Eingeschüchtert sehe ich ihn an. »Ich weiß nicht.«

»Komm schon, Grace! Streng verdammt noch mal deine paar verbliebenen Hirnzellen an!«

In meinem Kopf rattert es. »Ich bin nach Dublin gezogen«, antworte ich nach einer gefühlten Ewigkeit ziemlich leise und bereite mich auf einen erneuten Ausbruch vor. Das ist tatsächlich das Letzte, was mir einfällt, und das Eheste, was ich einem Fremden von meinem Leben noch preisgeben würde.

Mein Gegenüber schnaubt, doch er scheint sich einigermaßen gefangen und seine Gefühle unter Kontrolle gebracht zu haben. Statt die Einrichtung weiter zu demolieren, atmet er tief durch und fährt sich durchs ohnehin schon zerzauste Haar.

»Warum, Grace? Warum? Warum musstest du mich in diese Lage bringen?«, raunt er anklagend in meine Richtung.

Ehe ich fragen kann, was ich denn getan habe, wendet er sich ab und lässt sich erschöpft auf einen nahe stehenden Stuhl fallen. Im beständig heller werdenden Licht, das mir deutlich macht, dass wir uns dem Morgen nähern, erkenne ich die Umrisse eines Jacketts, das über die Lehne geworfen wurde. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Mann einen Anzug, oder zumindest die Reste davon, trägt.

Ich sehe an mir selbst herunter und erkenne einen weichen, fließenden Stoff in einem hellen Farbton, den ich in der Dunkelheit nicht genau ausmachen kann. Ich trage selbst ein Abendkleid, realisiere ich, genauso wie den Fakt, dass wir augenscheinlich zusammengehören, aber wie?

Mein Gegenüber schert sich nicht um meine neu gewonnene Erkenntnis, wenn er sie denn überhaupt mitbekommen hat. Er zieht ein Telefon aus seiner Anzughose heraus und widmet sich dem Display. Kurz darauf beginnt er bereits zu telefonieren. Hastig und ohne viele Worte. In einer bedachten Lautstärke, sodass ich nicht das Geringste davon verstehen kann. Das ungute Gefühl verlässt mich nicht.

Unauffällig sehe ich mich im Raum um. Wir befinden uns in einer Art Hotelzimmer. Die Einrichtung wirkt gediegen, aber gemütlich. Mein Blick bleibt an einem kleinen Spiegel hängen. Das Bild, das mich daraus anstarrt, lässt mich stocken. Selbst im kargen Licht sind meine Haare ein völliges Durcheinander. An der Seite, an jener Stelle, die mir Schmerzen bereitet, ist es verfärbt und verklebt.

Verkrustetes Blut, stelle ich angewidert fest. Mit zusammengebissenen Zähnen taste ich den Bereich ab. Die Verletzung scheint glücklicherweise nicht sonderlich schlimm zu sein.

Mein Gegenüber hebt den Blick und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an, dann beendet er das Gespräch. »Aidan ist gleich da.«

»Aidan?«, wiederhole ich den Namen. Ich kenne ganz sicher niemanden, der so heißt.

»Ernsthaft? Ist da wirklich nichts?«, erhalte ich eine Gegenfrage, doch das Spiel kann ich auch spielen.

»Wer ist Aidan?«

Mein Gegenüber seufzt. »Ein Freund«, sagt er betont ruhig.

Ich starre ihn an und versuche in seinen Zügen zu lesen, doch dafür ist der Schmerz in meinem Kopf zu groß. Die unterschiedlichen Lichtverhältnisse im Raum machen mich wirr. Frustriert stöhne ich auf und taste mich an der Wand entlang. Ich habe weder eine Ahnung, wer der Kerl ist, noch was ich hier mache, doch ich kann etwas mehr Licht einlassen, damit sich mein Kopf vielleicht schneller an die Gegebenheiten gewöhnt.

»Was machst du da?«, faucht der Typ mich an.

»Nach was sieht das denn für dich aus?« Genervt mache ich mich weiter daran, den Vorhang zu öffnen.

»Der bleibt genau so, wie er ist!«

»Und warum? Weil nur du ihn öffnen darfst oder weil das Tageslicht die Stimmung zwischen uns zerstört?«, kommentiere ich sarkastisch.

»Weder noch«, brummt er zurück. »Man soll nicht wissen, dass wir hier sind«, erhalte ich noch leiser angefügt als Antwort.

Überrascht halte ich inne und drehe mich in seine Richtung. »Wer soll nicht wissen, dass wir hier sind?« Mein Herz setzt einen Schlag aus, und als ich endlich verstehe, in was für einer Situation ich mich befinde, beginnt es zu hämmern, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.

Ich bin mit einem fremden Mann in einem unbekannten Zimmer, und niemand soll wissen, dass wir hier sind? Die gesamte Sache war von Anfang an verwirrend, aber jetzt realisiere ich erst, wie gefährlich meine Lage wirklich ist. »Wenn du mir was tust«, beginne ich und habe keine Ahnung, wie ich diese Drohung beenden soll. Was will ich tun? Beißen? Kratzen? Moment, vielleicht ist schon etwas zwischen uns geschehen, und er hat dafür gesorgt, dass ich es vergesse. Panisch lasse ich den Vorhang Vorhang sein und weiche so weit wie möglich vor dem Mann zurück.

»Beruhige dich«, mahnt der mich. »Wir sind Freunde, okay? Also atme tief durch. Aidan ist gleich da und kriegt das hin.«

»Er kriegt das hin«, das sind die einzigen Worte, die mich erreichen. O Gott, wollen die mich etwa zum Schweigen bringen?

In diesem Moment klopft es an die Tür. Unsere Köpfe drehen wir gleichzeitig in die Richtung.

Der Kerl atmet erleichtert aus, während ich völlig verängstigt die Tür anstarre und nicht fähig bin, mich irgendwie zu rühren. Als der Fremde sich in deren Richtung in Bewegung setzt, sehe ich ihm perplex nach. Er öffnet und verschwindet nach draußen auf den hellen Flur, um jemanden hörbar zu begrüßen.

War es das jetzt? Schwer zu sagen, aber auch kein Grund, Zeit zu verlieren. Ich löse mich aus meiner Starre und hechte zum Fenster. Mit einem Ruck schiebe ich die Vorhänge auf und öffne es.

»Verdammt«, fluche ich und starre auf den gepflasterten Hof, der zwei Stockwerke unter mir liegt. Schon beim Anblick wird mir gefährlich schwindlig, dennoch beuge ich mich nach vorn und zwinge mich, einen Ausweg zu suchen. Weit und breit keine Möglichkeit, um unbeschadet nach unten zu klettern. Einen Sprung traue ich mir aus der Höhe erst recht nicht zu. Zu meinem Bedauern muss ich ebenfalls feststellen, dass das Haus von keinen anderen Gebäuden umgeben ist. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, der mir vielleicht helfen könnte.

»Das darf nicht wahr sein«, flüstere ich und ziehe mich enttäuscht wieder ins Zimmer zurück. Ich drehe mich in Richtung Tür, als mir der Stuhl des Mannes samt Jackett auffällt. In der Hoffnung, dass er sein Handy zurückgelassen hat, stolpere ich darauf zu. Mit zitternden Fingern durchsuche ich die Taschen und schließe sie um einen kühlen, glatten Gegenstand. Als ich realisiere, worum es sich handelt, lasse ich schlagartig los.

»Eine Waffe«, flüstere ich, und Kopf und Körper schalten bei mir auf Autopilot, oder besser gesagt, den optimalen Fluchtmodus. Als sich die Tür zum Zimmer öffnet, setzen sich meine Beine wie von selbst in Bewegung. Ehe die beiden den Hauch einer Ahnung davon haben, was ich vorhabe, bin ich schon an ihnen vorbeigesprintet.

Das Zimmer liegt am Ende eines langen Ganges. Ich hechte den Flur entlang und schenke dem Fluchen hinter mir sowie meinem eigenen Keuchen wenig Aufmerksamkeit. All meine Instinkte sind auf Flucht ausgerichtet, und dass ich die durchziehe, hat oberste Priorität. Darum blende ich die schweren Schritte und Rufe hinter mir aus. Nichts lässt mich stehen bleiben, nicht einmal meine Lunge, die sich schmerzhaft in meiner Brust zusammenzieht und mir kaum noch Raum zum freien Atmen gibt.

Als zu meiner Rechten ein Fahrstuhl auftaucht, kann ich kaum noch denken, geschweige denn mich vor Husten auf den Beinen halten. Wie eine Besessene tippe ich auf den Rufknopf und stütze mich an der Wand ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnen sich endlich die Türen mit einem Ping. Erleichterung überkommt mich. Ich will einsteigen, doch der Fremde packt mich am Arm und zerrt mich unsanft nach hinten.

»Loslassen. Ich will das nicht«, presse ich zwischen den Zähnen hindurch und schreie, so gut es mir mit meinen Atemproblemen möglich ist, um Hilfe.

Trotz meines Theaters öffnet sich keine der angrenzenden Türen. Der Korridor bleibt bis auf mich und den Mann neben mir leer.

Tränen treten mir in die Augen, mein Kopf schmerzt. Der Kampf gegen diesen eindeutig stärkeren Typ ist aussichtslos, aber aufgeben ist für mich keine Option. Warum hilft mir keiner? Sind wir etwa allein in diesem verdammten Gebäude?

»Grace, hör auf!«, schreit er mich an.

»Hilfe«, schreie ich zurück und blinzele die Tränen weg, während ich versuche, mich aus seinem Griff zu befreien. Statt locker wird der jedoch nur fester. »Hilfe«, rufe ich erneut, doch die Stimme versagt mir immer mehr.

»Sei vernünftig und hör auf mit der Scheiße! Du tust dir nur selbst weh«, haucht er leiser in mein Ohr.

Gänsehaut überzieht meine Haut, und mir wird schlecht, dennoch gebe ich nicht auf. Ich stemme mich mit aller Macht gegen ihn, trete und schlage unkoordiniert um mich.

»Schön, dann eben auf die harte Tour«, höre ich ihn sagen, ehe er seinen Griff verlagert und mich im nächsten Moment bäuchlings über seine Schulter wirft.

»Was soll das? Lass mich los!« Kreischend trommele ich mit den Fäusten auf seinen Rücken, kratze und reiße an dem Hemd und allem, was ich irgendwie erreichen kann, doch der Mann geht nicht darauf ein. Emotionslos wie eine Maschine schleppt er mich zurück in das Zimmer. In mein Verlies.

»Schließ die Tür ab«, raunt er jemandem zu, ehe er mich unsanft auf den Boden plumpsen lässt. Schmerzhaft verziehe ich das Gesicht.

»Was sollte das?«, fährt er mich an und reißt mich ruckartig am Handgelenk auf die Beine.

»Au«, wimmere ich und kämpfe darum, nicht endgültig in Tränen auszubrechen.

»Rían«, mahnt der andere Mann und kommt näher. »Lass es gut sein.« Er ist klein und pummelig und schon etwas älter. Ich würde ihn um die fünfzig schätzen. Zumindest beginnt der schwarze Haaransatz zu ergrauen und die Haare spärlicher zu werden. Das runde Gesicht, das sie umrahmen, ist freundlich. Doch eine gewisse Sorge spiegelt sich in den grünen Augen, deren Blick ausschließlich auf mir ruht. »Wie geht es dir?«, fragt er mich.

Ich schweige, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Antwort. Wie geht es jemandem, der anscheinend von einem Verrückten gekidnappt wurde und nicht einmal mehr weiß, wie er in diese Situation geraten ist?

2

Grace

Ich bin Aidan«, sagt der Mann und deutet auf sich. »Sagen wir, wir kennen uns schon eine Weile. Zumindest tun wir das unter normalen Umständen. Ich bin sozusagen das Mädchen für alles, aber in erster Linie bin ich Arzt«, stellt er sich vor und lächelt zaghaft. »Und dieser Sonnenschein ist Rían.« Er deutet mit einer ausladenden Geste neben sich. »Der tut zwar immer mies gelaunt und unnahbar, ist im Grunde genommen aber ein ganz Netter. Stimmt’s?«

»Hm«, grummelt der Typ, der mit verschränkten Armen am Fenster Posten bezogen hat und mich keines Blickes mehr würdigt.

»Sei nicht beleidigt.« Aidan grinst und verdreht die Augen. »Wenn du in ihrer Lage wärst, hättest du mindestens dreimal so viele Ausbruchsversuche unternommen. Aber im Ernst …« Er wendet sich an mich. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Niemand wird dir etwas tun. Zumindest niemand von uns.«

Gegen das hysterische Auflachen bin ich machtlos. Es kommt einfach aus meiner Kehle, als wäre ich gar nicht in der Lage, es zu steuern.

Wortlos kreuzen sich Ríans und Aidans Blicke. »Weißt du, wer du bist?«, erkundigt sich Letzterer behutsam.

»Grace Lynch«, erwidere ich.

»Okay, das ist schon mal etwas. Kannst du dich an diesen Ort erinnern?«

Stumm schüttle ich den Kopf.

Der Ausdruck in Aidans Augen wird ernst. »Was ist mit gestern?«, erkundigt er sich und deutet auf meine Kleidung. »Ist davon irgendwas hängen geblieben?«

Erneut schüttle ich den Kopf, ehe ich tief Luft hole und betreten auf meine Hände hinabsehe. Egal wer von beiden mich fragt, die Antwort ist die gleiche, und sie wird ihnen nicht gefallen.

»Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist meine Ankunft in Dublin«, flüstere ich. »Und die lief nicht in Abendkleidung ab. Stattdessen bin ich mit meinen wenigen Habseligkeiten Hals über Kopf in Ballinadee in den nächstbesten Bus gestiegen und ein paar Stunden später in Dublin wieder ausgestiegen.«

In meinem Hirn beginnt es zu rattern. Ich erinnere mich dunkel an ein paar Einzelheiten meiner Reise. Die Ernüchterung bei meiner Ankunft in Dublin. Ein junger Mann mit rotem Haar und hellbraunen Augen, der mich freundlich gefragt hat, ob ich weiß, wohin ich will, und der mir geholfen hat, als uns beiden klar wurde, dass das nicht der Fall ist. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mit Sicherheit kann ich sagen, dass dieser Rían nicht jener Mann gewesen ist.

Doch welche Rolle spielt er dann in meinem Leben?

»Verfluchter Dreck«, keucht Rían. »Sie ist vor anderthalb Jahren hergekommen.« Seine Schritte verraten, dass er sich uns schnell nähert. »Sag mir nicht, dass sich anderthalb Jahre einfach so ausgelöscht haben«, knurrt er und bedenkt mich mit einem vernichtenden Blick. »Und das nur wegen einer Unsinnigkeit. Was zum Teufel ist nur in dich gefahren? Diese Welt ist gefährlich, und das ändert sich nicht, nur weil du nichts mehr weißt«, keift er mich an.

Schockiert reiße ich die Augen auf. »Anderthalb Jahre? Das ist nicht möglich. Ich … O mein Gott«, keuche ich und bekomme es zunehmend mit einer nie gekannten Angst zu tun.

»Rían, beruhig dich, und Grace, du atmest tief durch«, mahnt Aidan. »Die Erinnerung wird wiederkommen«, bleibt er zuversichtlich und tätschelt mir den Arm, dann fügt er nur an mich gewandt »Mach dir keine Sorgen« hinzu.

Ich soll mir keine Sorgen machen? Verständnislos blicke ich in das rundliche Gesicht des Mannes, der sich mir als Aidan vorgestellt hat. Ich kenne ihn nicht, ich erkenne ihn nicht, und auch wenn er mich betont freundlich anlächelt, ändert sich nichts daran. »Und …«

»Und wie lange wird das dauern?«, kommt Rían mir zuvor und verschränkt angriffslustig die Hände vor der Brust.

»Schwer zu sagen. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht einige Tage oder mitunter sogar Wochen und Monate.«

Von den ganzen Worten und ihrem Inhalt wird mir regelrecht schlecht. Mühsam stütze ich mich an der Lehne des Stuhls ab.

»Wie ist das passiert?«, flüstere ich, doch ich höre selbst kaum meine eigene Stimme. Wenig erstaunlich, dass es die anderen auch nicht zu tun scheinen.

»Vielleicht? Das nützt uns im Augenblick herzlich wenig. Die Alte wird uns den Kopf abreißen«, zetert der Typ mit den türkisen Augen weiter und sieht kopfschüttelnd von mir zu Aidan.

»Wie sollen wir das erklären?«

Der Arzt zuckt mit den Schultern. »Sag die Wahrheit oder denk dir was aus. In erster Linie ist es schließlich dein Verdienst.«

Sein Verdienst? Hellhörig betrachte ich den ruppigen Kerl, der mich beflissen ignoriert.

»Sehr nett. Aber im Ernst, wenn ich mir was ausdenke, verstricken wir uns immer weiter in irgendwelchen Geschichten. Sie ist nicht dumm. Es ist besser, wenn sie es gar nicht erst erfährt.«

»Sie?«, hake ich nach, doch statt einer Antwort werde ich nur nachdenklich betrachtet.

»Nicht erfahren?«, meldet sich Aidan zu Wort. »Und wie bitte schön willst du das anstellen? Grace hat ihr Gedächtnis verloren! Das ist keine Kleinigkeit.«

»Du bist Arzt, du findest sicher eine Ausrede für ihr sonderbares Verhalten.«

»Wir haben die perfekte Ausrede, und die lautet, dass sie gestürzt ist und ihr Gedächtnis verloren hat, und ganz nebenbei ist das sogar die Wahrheit. Das ist sie doch, oder?« Fragend mustert der Arzt den jungen Kerl. Ich lasse keinen von beiden aus den Augen.

»Ja«, antwortet Rían, doch sein kurzzeitiges Zögern macht mich stutzig.

»Ich bin also gestürzt?«, hake ich deswegen nach. Erleichtert, doch endlich mal eine Antwort zu bekommen, und zugleich irritiert, denn eine gewisse Spannung ist zwischen den beiden Parteien greifbar.

»Ja.«

»Und wieso?«

Statt erneut zu antworten, ignoriert mich Rían, und ich registriere, dass er mir keine ausführlichere Antwort geben wird. Fragend blicke ich Aidan an, doch der hat die Stirn in Falten gelegt.

»Okay, wenn du das wirklich willst, dann sollten wir die Geschichte kurz durchgehen«, meint er. »Bisher weiß Fiona nur das Offensichtliche. Nämlich dass Grace zu viel getrunken hat und du sie aus Sicherheitsgründen aus der Schusslinie gebracht hast. Das mag nicht unbedingt ihrem normalen Verhalten entsprechen, aber als einmalige Ausrede kann es durchaus glaubhaft sein. Wir könnten beispielsweise sagen, dass sie einen schlechten Tag hatte, irgendwelche Nachrichten von zu Hause oder so.«

»Das klingt doch nach einem Plan.« Rían nickt zufrieden.

»Ich belüge sie ungern«, fügt Aidan mit einem Seitenblick auf Rían hinzu.

»Nimm es nicht als Lüge, sondern als Aufschub.«

»Wer ist Fiona? Und weswegen darf sie nicht die Wahrheit erfahren?«, werfe ich ein und trete nervös von einem Fuß auf den anderen.

Dass die beiden über mich reden, als wäre ich nicht da, gefällt mir ganz und gar nicht. »Was wird hier verdammt noch mal gespielt?«

»Nichts, was dich was angehen würde.«

Wütend visiere ich die türkisen Augen an. »Ach ja? Es geht hier um mich! Ihr redet über mich, und auch wenn ihr so tut, als ob ich nicht anwesend bin, muss ich euch enttäuschen: Ich bin hier, und ich will ein paar Antworten!«