Lichterloh - Himmel in Flammen - Sarah M. Kempen - E-Book

Lichterloh - Himmel in Flammen E-Book

Sarah M. Kempen

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Beschreibung

Feuriger Abschluss der dystopischen Young-Adult-Trilogie ab 14 Jahren Während die Bewohner von Rußstadt Cleo und Gwynnie für tot halten, planen die Schwestern aus dem Untergrund die Befreiung der Stadt. Denn erst wenn der stetig rauchende Industrieschlot vernichtet und die Industriellen entmachtet wurden, kann sich das Leben in Rußstadt wirklich zum Besseren wandeln. Doch Toska Liebkind ist nicht bereit, kampflos aufzugeben und die Wut der Bürger auf die Schornsteinfeger wächst weiter. Als die Kohleversorgung der Stadt zum Erliegen kommt und die Ereignisse drohen, aus dem Ruder zu laufen, müssen Cleo und Gwynnie sich entscheiden: Handeln sie weiter im Verborgenen, oder geben sie sich als Rebellinnen zu erkennen – auch wenn das ihren Tod bedeuten könnte?

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für uns, weil nichts schöner leuchtet als Begeisterung.

Ein Hinweis zu Beginn

Lichterloh – Himmel in Flammen ist ein fiktives

Werk, doch es behandelt Themen, die potenziell triggernd wirken können. Eine Auflistung dieser Themen (Achtung, Spoiler!) sowie mögliche Hilfestellen findet ihr hinten im Buch.

Euer Magellan Verlag

INHALT

Prolog

1

2

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4

5

6

7

8

9

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Epilog

Danksagung

Content Note

Leseprobe

1

2

Gib mir dein Licht

Gib mir die Flamme, die dich so erhellt Bis mein Herz zu Asche fällt

»Feuergeist« – Versengold

Prolog

Die Nacht schweigt, wenn der Teufel in der Nähe ist. Auch wenn man nicht weiß, wo er sich befindet. Immerzu wirft er sich in ein neues Gewand, verteilt sich auf tausend Gesichter und kennt jedes Versteck, jede noch so kleine Nische, wo er mit der Dunkelheit verschmilzt. Und die Angst vor ihm steigt ins Unermessliche, weil man nie ahnen kann, wo er als Nächstes auftaucht.

Doch dann brennt irgendwo eine Lampe in Rot, in Gelb, in Orange und Grün. Und dann noch eine. Hunderte Lichter strahlen in der Nacht, überall, erhellen die Stadt wie Sterne, die friedlich am Firmament leuchten. Und von Sternen geht doch keine Gefahr aus? Nicht in einer Stadt, in der man nur leben kann, weil etwas brennt. Nicht in einer Stadt, wo Feuer und Angst regieren. Nicht in einer Stadt, die einen jeden Moment töten kann, nur weil man atmet. Nein, in einer Stadt, in der man sich am Tage fürchten muss, ist der nächtliche Teufel keine Bedrohung. In dieser Stadt sind die Sterne der Frieden.

Also streckst du die Hand aus nach ihrem Licht und sie empfangen dich, umschließen dich mit ihrer Wärme, diese Sterne, die aussehen wie zwei Schwestern, die dich gütig anlächeln. Und du erkennst, dass diese Stadt verloren ist und es nur einen Weg gibt, sie zu retten und in eine neue Zukunft zu führen.

Also rufen sie, rufst du, rufen wir: Macht die Feuer an, wir verbrennen alles. Lichterloh.

1

Die Kohlerutschen waren längst verstummt, als sich die Menschen auf dem Schlotplatz vor der Kohlefabrik versammelten. Rußstadt war in Feierlaune. Eine Bühne war aufgebaut, ein schwarzer Teppich ausgerollt worden und schwarze Absperrseile hielten die Bevölkerung zurück. Entlang des Teppichs wehten Banner und Wimpel mit dem Symbol der Schornsteinfegergilde darauf, einem Zylinder, unter dem eine Leiter und ein Besen sich kreuzten. Die Menschen schwenkten Fahnen und trugen selbst Zylinder, das einzige Mal im Jahr, an dem man sie dafür nicht bestrafte.

Cleo erinnerte sich noch gut an die Schornsteinfegerparade vor genau einem Jahr, als sie selbst mitten unter den Menschen gestanden und es nicht hatte erwarten können, dass die Schornsteinfeger, die Helden, die sie so bewunderte, endlich auftauchten. Wie sehnsüchtig sie sie beobachtet und wie sehr sie sich gefreut hatte, als sie einen Daumenabdruck für ihr Heft ergattern konnte. Und wie sie später von einem Schornsteinfeger, Konradin Glanzruß, auf den Platz gezerrt und kurz darauf auf der Bühne selbst zur Schornsteinfegerin erklärt worden war.

Vorsichtig strich sie über den Anstecker, den man ihr damals verliehen hatte, gut versteckt unter ihrem Umhang, direkt neben der silbernen Brosche mit den zwei Sternen und der Flamme darunter. Ein Schmuckstück, das auch alle anderen Rebellen trugen, die sich mit ihr zusammen auf dem Dach postiert hatten, von wo aus sie die Parade beobachteten. Doch den Schornsteinfeger-Anstecker, den hatte sonst niemand. Weswegen es von höchster Wichtigkeit war, dass ihn niemand entdeckte, damit sie nicht entlarvt wurde. Offiziell galt sie als tot und das sollte auch noch so lange wie möglich so bleiben. Also zog Cleo die Kapuze enger um ihren Kopf, richtete ihre dunkle Brille und zupfte das schwarze Rußschutztuch um Mund und Nase zurecht. Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Schlotplatz.

Es waren viel weniger Menschen da als noch vor einem Jahr und das entlockte Cleo ein Lächeln. Obwohl diese Veranstaltung eigentlich verpflichtend für die Bewohner Rußstadts war, waren so viele ihr ferngeblieben. Vielleicht weil sie die Industriellen und die Schornsteinfeger nicht länger unterstützen wollten. Vielleicht weil sie wütend waren und Zweifel hegten. Oder eben, weil sie wie Cleo auf den Dächern rund um den Schlotplatz herum versteckt auf ihren großen Moment warteten. Selbst von hier aus erkannte Cleo in den Gesichtern der Industriellen auf der Tribüne Unmut. Sie tuschelten miteinander und deuteten immer wieder auf die Menge.

Ganz vorne saß Toska Liebkind, die Besitzerin der Kohlefabrik, in ihrem weißen Kleid. Neben ihr saßen, wie immer, Richardis Stahlstein, Vorsitzende der Maschinenfabriken, Balthasar Brauchgut, verantwortlich für Nahrung und Gebrauchsgüter und zuletzt Amaury Neumach, Gildenvorsteher für Sicherheit und Bauangelegenheiten. Doch jetzt war da noch ein fünfter Stuhl, direkt neben Liebkind, auf dem ein Junge in Cleos Alter saß. Die Frau hielt seine Hand, nicht zärtlich wie aus Liebe oder um dem Jungen Mut zuzusprechen – es war eher, als umklammerte sie ihn, damit man ihn nicht stahl. Oder damit er nicht abhaute. Isidor, Toska Liebkinds Sohn.

Vor einem Monat, als Toska Liebkind den Tod von Cleo und ihrer Schwester Gwynnie verkündet und sie zu Feinden von Rußstadt erklärt hatte, hatte sie auch Isidor der Öffentlichkeit präsentiert, der zuvor in vollkommener Geheimhaltung gelebt hatte. Er wurde nun in ihre Geschäfte eingeführt, was Cleo schmerzte. Denn Isidor war ihr Freund gewesen, wäre es vielleicht sogar immer noch. Sie konnte nur hoffen, dass seine Mutter nicht mittlerweile ihr Gift in seinen Kopf gestreut hatte. Beide erhoben sich nun und schritten auf die kleine Bühne zu. Cleo spannte sich an. Es dauerte nicht mehr lang.

Unter Toska Liebkinds Rock stob eine Rauchwolke hervor, ein Nebeneffekt der Luftfilter in ihrem Kragen, die dafür sorgten, dass sie die rußige Luft hier unten nicht einatmete. Auch aus Isidors Jackett wallten kleine Rauchwolken. Bis vor einem Monat waren noch keine Luftfilter in seine Kleidung eingearbeitet gewesen, aber er hatte bis dahin auch noch niemals das Viertel der Industriellen verlassen – abgesehen von den geheimen Besuchen bei Cleos bestem Freund Valentin in der Schneiderei. Mutter und Sohn postierten sich hinter dem Mikrofon.

»Verehrtes Volk von Rußstadt«, begann Toska Liebkind und breitete die Arme aus. »Es ist mir eine große Ehre, die alljährliche Parade der Schornsteinfeger zu eröffnen. Heute wollen wir die Menschen ehren, ohne die ein Leben in unserer fortschrittlichen Stadt nicht gefahrenfrei möglich wäre.«

Dieselbe Ansprache wie jedes Jahr, dieselben Worte. Wie hatte Cleo sie nur jemals nicht hohl und heuchlerisch finden können?

Liebkind fuhr fort: »Die Menschen, die jeden Tag ihr Leben riskieren, um uns zu beschützen, damit wir weiterhin die Kohle benutzen können, die unser Leben so lebenswert macht. Denn Kohle ist Licht. Kohle ist Leben. Ohne Kohle würde es kalt und dunkel werden und wir würden im Elend …«

»Lügen!«, erklang ein so lauter Ruf aus der Menschenmenge, dass er Liebkind mitten im Satz abbrechen ließ. »Die Kohle hilft uns einen Rußmist!«

Weitere fielen ein, vom anderen Ende des Platzes: »Wo sind unsere versprochenen Maschinen?«

»Ihr habt unsere genommen und uns Ersatz versprochen. Wo sind sie?«

»Die im Silberviertel haben ihre schon und wir im Bleiviertel fressen Dreck!«

Auf diese Empörungen folgten weitere, immer mehr Leute schrien nun laut durcheinander. Cleo grinste. Es funktionierte ausgezeichnet.

Nur die ersten Zwischenrufer waren Rebellen gewesen, gut getarnt unter den Menschen und sofort danach untergetaucht. Die Nachfolgenden aber waren uneingeweiht. Es brauchte nur einen Funken, um ein Feuer zu entzünden, sagte Gwynnie immer. Nur eine Person, die den Mund aufmachte, damit die anderen mitzogen. Und hier hatte der Unmut so sehr in der Luft gehangen, dass es förmlich knisterte.

Kurz vor Cleos und Gwynnies vermeintlichem Tod war ein Feuerteufel durch die Stadt gezogen und hatte scheinbar wahllos Häuser angezündet. Was niemand wusste: Er war von Toska Liebkind selbst geschickt worden, um das Volk wieder gefügig zu machen, einige ihrer Feinde auszuschalten und am Ende Cleos Schwester für diese Taten verantwortlich zu machen. Im Zuge dessen hatte sie die Schornsteinfeger angewiesen, alle Maschinen der Bewohner Rußstadts zu konfiszieren, und versprochen, diese mit neuen zu ersetzen. Das fiel ihr nun gehörig auf die Füße.

Immer wieder bat Toska Liebkind nachdrücklich um Ruhe, doch die Menschen hörten nicht darauf. Sie warf Amaury Neumach auf der Industriellentribüne einen Blick zu, der nickte und auf einen Wink von ihm stürmten Dutzende Ordnungshüter auf den Platz und umringten die Menschen. Cleo war sich ziemlich sicher, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal hier waren. Offenbar hatten die Industriellen Angst. Zu Recht. Obwohl die Ordnungshüter noch nichts unternahmen, hatte es den gewünschten Effekt und die protestierenden Stimmen erstarben. Und doch hatte es gereicht. Die Menschen waren aufgeheizt und wütend.

»Ich bedaure zutiefst, dass wir euch noch nicht alle mit neuen Maschinen ausstatten konnten«, fuhr Toska Liebkind seelenruhig fort, als hätte sie den Aufruhr nicht durch Androhung von Gewalt unterbrechen müssen. Sie deutete auf die Tribüne der Industriellen. »Richardis Stahlstein tut ihr Möglichstes, um diesen Engpass so schnell wie möglich zu beseitigen. Natürlich unter fieberhafter Mithilfe von euch, die ihr in den Maschinenwerken arbeitet.«

Wieder wurden ein paar Stimmen laut, doch diesmal stürmten die Ordnungshüter sofort in die Mengen, packten die Rufer und zogen sie heraus. Es folgten Schreie und Tumulte, dort, wo die Hüter eingriffen.

Cleo erhob sich, die Hand fest um die kleine Lampe in ihrer Tasche geschlossen. Das konnten sie nicht zulassen! Aus dem Augenwinkel sah sie jedoch, wie einer der Rebellen die Hand hob und sie so zur Ruhe ermahnte. Sie durften nicht eingreifen. Noch nicht. Sonst wäre ihr Vorhaben gescheitert. Widerwillig ging Cleo in die Hocke zurück.

»Doch heute ist ein Tag der Freude!«, fuhr Liebkind fort. »Denn wir feiern unsere Helden. Vergesst niemals, dass sie uns davor beschützen, in Flammen zu enden wie einst die Lichterlohen.«

Sie deutete auf die verbrannte Ruine am Berghang, die Ruine Lichterloh, deren Bewohner angeblich verbrannt waren, weil sie den Schornsteinfegern den Zugang verweigert hatten und durch die somit fehlende Wartung ihrer Maschinen ein Feuer ausgebrochen war. Cleo wusste mittlerweile natürlich, dass es die Industriellen selbst gewesen waren, die den Brand verursacht hatten, um sich der ersten Rebellen dort zu entledigen.

»Und sie schützen uns auch vor gefährlichen Kriminellen, die unser Rußstadt brennen sehen wollen, oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. So wie Meister Dustin Sottje, der im Kampf gegen die Verräterin Cleo Lichterloh und den Feuerteufel Gwynnevere Leuchtfeuer den Tod fand.« Nun deutete Toska Liebkind auf die verbrannten Reste des Signalturms, direkt neben der Ruine Lichterloh.

Cleo spürte einen Stich in der Brust beim Anblick der Trümmer ihres einstigen Zuhauses, welches Dustin, der wahre Feuerteufel, auf Liebkinds Geheiß angezündet hatte, bevor er selbst darin verbrannt war. Dass Toska Liebkind ihren Turm nun als weiteres Mahnmal nutzte, um die Menschen zu Gehorsam aufzurufen, sah ihr ähnlich. Und Cleo würde es ihr ganz sicher nicht verzeihen.

Nun machte Liebkind einen Schritt zur Seite und Isidor trat vor das Mikrofon. Er sah furchtbar aufgeregt aus und rieb sich nervös die Hände. Es war deutlich, dass er am liebsten woanders wäre. Mit brüchiger Stimme sagte er: »Begrüßt somit bitte mit einem lauten Applaus die Helden des Tages, unsere Schornsteinfeger!«

Cleos ganzer Körper verkrampfte sich, als die schwarz gekleideten Männer und Frauen den Teppich entlangmarschierten und sich zum Spalier aufstellten. Bis vor Kurzem noch hatte auch sie solch eine Kluft getragen, war eine von ihnen gewesen und hätte heute ebenfalls dort unten sein sollen. Etwas, wovon sie immer geträumt hatte. Das Metall der Kette unter ihrer Bluse fühlte sich mit einem Mal kühl an. Auf dem Anhänger prangte ihr eigenes Wappen, das der Schornsteinfegerfamilie Lichterloh. Sie hatte es noch nicht übers Herz gebracht, die Kette abzulegen.

Noch schlimmer war allerdings, dass unter den Schornsteinfegern so viele waren, die sie ihre Freunde genannt und seit einem Monat nicht mehr gesehen hatte. Und die sie für tot hielten. Da war Emilia Essenbrand, in der Mitte der Reihe, unverkennbar durch ihre hellblonden Haare, neben ihren ebenso hellblonden Vätern, die sie erst als Gegnerin und schließlich als Freundin anerkannt hatte.

Willa Feuerstatt, die breit gebaute Schornsteinfegerin, mit der Cleo für das Kupferviertel zuständig gewesen war – und die Frau, in die Gwynnie sich verliebt hatte. Willa stand genauso kontrolliert und erhaben da wie sonst auch. Ob sie wohl noch manchmal an Gwynnie dachte? Und ob sie wohl an ihre Unschuld glaubte?

Dann war da Tamino Sottje und bei seinem Anblick sog Cleo scharf die Luft ein. Er und seine Familie postierten sich ganz vorne an der Bühne, und wären da nicht die charakteristischen schwarzen Locken gewesen, so hätte Cleo ihn nicht erkannt. Traditionell hatten die Sottjes immer eine graue, abgewetzte Kluft getragen, als Strafe, weil einer ihrer Vorfahren dafür verantwortlich zeichnete, dass ein ganzes Viertel abgebrannt war. Deswegen waren sie auch von den anderen Schornsteinfegerfamilien immer geächtet worden und hatten stets ganz hinten in der Reihe gestanden. Doch jetzt glänzten ihre Kehranzüge in einem erhabenen, feinen Schwarz mit blitzenden Knöpfen. Nach Dustins vermeintlichem Tod hatte man die Sottjes von ihrer Schuld befreit. Mehr noch – Tamino, als sein Bruder, war zum ersten Schornsteinfeger erhoben worden, der gleich nach seiner Ausbildung im Industriellenviertel kehren durfte. Eigentlich sollte Cleo sich für ihren Freund freuen, immerhin hatte er endlich Respekt erlangt und schließlich hatte Dustin nur als Feuerteufel agiert, um die Familienehre wiederherzustellen – doch in ihrem Mund schmeckte sie nur Bitterkeit. Wie Tamino Toska Liebkind ansah wie ein höriger Dackel. Er hatte nie Schornsteinfeger sein wollen und doch schien er dieses Privileg, das sein Bruder ihm erkauft hatte, nun in vollen Zügen zu genießen.

Die letzten Schornsteinfeger stellten sich im Spalier auf und Cleo ließ den Blick absichtlich langsamer an ihnen vorbeigleiten, zögerte den Moment heraus, während ihr Herz immer schneller, immer aufgeregter schlug. Doch irgendwann war sie bei ihm angekommen. Leander Glanzruß, verbannt ans Ende der Reihe, zusammen mit seiner Familie, die letztes Jahr noch ganz vorne gestanden hatte. Sie schluckte bei seinem Anblick und musste die Lippen fest zusammenpressen, damit ihr kein Laut entwich. Seine feuerroten Haare waren jetzt kürzer und flogen nicht mehr so leicht wie sonst im Wind. Er sah kleiner aus, schmaler und blasser, längst nicht mehr wie der stolze Schornsteinfeger, den sie kannte. So erinnerte er sie an seinen Vater, nachdem dieser seine Stellung verloren und zu einem Schatten seiner selbst geworden war. Und das lag an ihr. Auch er wusste nicht, dass sie noch lebte. Sie hatte es ihm sagen gewollt, immer wieder, egal, ob Gwynnie und Lex ihr davon abgeraten hatten. Denn Leander war auf ihrer Seite, verdiente die Wahrheit. Doch wie sollte sie ihn alleine erwischen, wie sichergehen, dass niemand sonst es mitbekam? Jede Faser in ihr sehnte sich danach, endlich wieder seine Hand zu berühren, in sein wunderschönes Gesicht zu sehen mit den tiefen braunen Augen, den kecken Sommersprossen, den weißen Strähnen in Brauen und Wimpern, das freche, schelmische Lächeln auf den Lippen. Diese Lippen, die sie nur ein einziges Mal viel zu kurz mit ihren berührt hatte. Sie schloss die Augen und wandte sich von ihm ab. Nein. Sie durfte sich nicht ablenken lassen, nicht heute, nicht von ihm. Und so verschloss sie ihr Herz. Sie würde es an einem anderen Tag wieder öffnen.

Der Gildenvorsteher Elois Kammkehrer schritt nun durch das Spalier und auf die Bühne zu. Er begrüßte Toska Liebkind mit einem Handkuss und Isidor mit einer Verbeugung, bevor er sich an das Volk wendete. »Begrüßt mit mir unsere neuen Schornsteinfeger!«

Am Ende des Ganges postierten sich nun fünf Jugendliche, der neue Jahrgang Schornsteinfeger. Letztes Jahr waren es nur drei gewesen, vier, Cleo eingeschlossen. Ein Mädchen mit feuerroten Haaren tauschte ein Lächeln mit Leander und auch Cleo konnte es sich nicht verkneifen. Seine jüngere Schwester Artemisia, die erste weibliche Schornsteinfegerin der Familie Glanzruß.

Gerade setzte Elois Kammkehrer an, um den ersten Lehrling nach vorne zu bitten, als plötzlich der Schein einer roten Lampe auf ihn fiel. Kammkehrer zuckte zurück und hielt sich die Hand vor die Augen, um nicht geblendet zu werden. Ein Raunen ging durch die Menge, doch schon erstrahlte ein weiteres rotes Licht und richtete sich diesmal auf die Lehrlinge. Alle sahen hinauf zum Dach der Kohlefabrik, wo sich die Lampen befanden, die nicht von ungefähr an die des Signalturms erinnerten.

Das war ihr Zeichen. Auf allen umliegenden Dächern erhoben sich die Rebellen und reckten ihre Lampen in die Höhe. Schließlich sprang auch Cleo auf und hielt ihre hoch, die wie alle anderen ganz ohne Kohle auskam. Ein Flutmeer aus roten Lichtern erhellte den Platz. Die Menschen unten schrien vor Schreck, die Industriellen sprangen auf und versuchten, sich vor dem Licht abzuschirmen, die Schornsteinfeger sahen sich verwirrt um und die Ordnungshüter wussten nicht, wo sie zuerst hinlaufen sollten. Doch manche Menschen blieben auch ruhig, zeigten verwundert auf die Lampen und tuschelten. Ob sie ihre Besonderheit erkannt hatten?

Ein Ruf ertönte vom Dach der Kohlefabrik – und dann änderten sie alle im gleichen Rhythmus die Farben ihrer Lampen, sendeten eine Nachricht mit einem neu entwickelten Alphabet, das dem ähnelte, das Gwynnie im Signalturm genutzt und das die Industriellen entschlüsselt hatten. Ein Flackern aus schnell wechselndem Grün, Orange, Gelb und Rot brandete auf die Anwesenden ein und viele hoben die Hände vors Gesicht und kreischten. Cleo konnte es ihnen nicht verübeln, die Vielzahl der Lampen schmerzte sie trotz der Brille in den Augen.

Gleichzeitig mit den Lichtsignalen erklang der Ruf vom Dach der Kohlefabrik: »Nieder mit den Industriellen!«

Sie alle wiederholten es im Chor, laut, Hunderte Stimmen riefen ihre Nachricht. Dann »Nieder mit den Schornsteinfegern!«. Der Chor wiederholte es. »Licht ohne Kohle! Leben ohne Kohle!« und schließlich: »Wir haben kohlefreie Maschinen! Wie diese Lampen! Wir brauchen keine Kohle!«

Auf dieses Stichwort hin entfaltete sich ein riesiges Banner an dem gigantischen Schlot der Kohlefabrik, dort, wo vor einem Jahr die Bilder der angehenden Schornsteinfeger gehangen hatten. Es zeigte das Symbol ihrer Rebellion, das sie alle als Brosche trugen. Zwei Sterne über einer Flamme. Darauf standen die Sprüche erneut: »Licht ohne Kohle. Leben ohne Kohle.«

Kaum war das erste entfaltet, rollte sich ein zweites Banner auf, direkt daneben. Es war ein Anblick, bei dem Cleo mulmig in der Magengegend wurde. Es zeigte den Signalturm. Und davor, seitlich im Profil und in unterschiedliche Richtungen blickend, die Gesichter von ihr selbst und Gwynnie. Sie in ihrer Schornsteinfegerkluft, stolz in den Himmel guckend, und Gwynnie mit ihrer Schutzbrille. Die Namen »Lichterloh & Leuchtfeuer« standen darüber und darunter der Spruch »Sie waren nicht eure Feinde«. Cleo hatte es für keine gute Idee gehalten, aber Lex hatte darauf bestanden. Wenn die Industriellen sie als Feindbild inszenieren wollten, hatte Lex gesagt, dann würden die Rebellen sie als Hoffnungsbringerinnen etablieren. Sie als Symbol nutzen, um die Menschen aufzurütteln – aber auch, um die Industriellen, besonders Toska Liebkind, daran zu erinnern, was sie getan hatten.

Cleo blickte nach unten, in die Gesichter der Leute. Das Banner verfehlte seine Wirkung nicht. Isidor starrte es mit großen Augen an, Emilia schlug sich die Hände vor den Mund, Tamino betrachtete es wütend. Willa und Leander waren noch ein wenig blasser geworden, und während sie sich alle Mühe gab, ihren Schmerz zu überspielen, sah er aus, als würden ihm gleich die Beine wegknicken. Zu gerne wäre sie zu ihm gerannt und hätte ihn in den Arm genommen.

Toska Liebkind jedoch tobte. Wutentbrannt und schwer atmend starrte die Industrielle, die niemals die Fassung verlor, das Banner an, die Fäuste geballt, und Cleo war sich nicht sicher, ob sie oder ihr Luftfilter rauchte. »Schnappt sie!«, kreischte sie in das Mikrofon. »Lasst keinen von ihnen entwischen!«

Die Ordnungshüter stoben in alle Richtungen davon und in die Häuser hinein. Die Person, die auf dem Dach der Kohlefabrik stand, sendete das Signal zum Rückzug und sofort ließen sie alle ihre Lampen sinken, schalteten sie aus und rannten zu den Rändern der Dächer.

Alle Häuser, auf denen sie sich befanden, hatten eines gemein: Die Kohlerutschen, die Rußstadt mit täglicher Kohle versorgten, reichten bis aufs Dach. An allen hingen motorbetriebene Gleiter, kleine Sitze an Ketten, genauso viele, wie sich Rebellen auf dem Dach befanden. Nun schwangen sich alle routiniert auf die Sitze und schossen an den Kohlerutschen entlang davon, unter den staunenden Augen der Bevölkerung. Auch Cleo setzte sich auf einen Gleiter und klammerte sich an den Ketten fest. Sie hasste diese Form der Fortbewegung. Aber es war der schnellste und sicherste Weg der Flucht.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war ihr Gleiter an den Häusern vorbeigesaust und raste immer tiefer nach unten, ins Herz von Rußstadt und in die allertiefsten, untersten Viertel.

2

Cleo folgte den Rebellen durch die große Metalltür in ihr Hauptquartier, das sich in der ausgebrannten Ruine Lichterloh befand, ein Ort, wo niemand sie jemals vermuten würde. Kaum hatten sie die riesige Halle von dem Tunnelsystem aus betreten, das unter ganz Rußstadt verlief, rissen sich die anderen Rebellen die Schals und Kapuzen ab und klopften sich feierlich auf die Schultern.

»Das war der Wahnsinn!«, rief ein junger Mann und legte einer Frau den Arm um die Schulter. »Wie die gekreischt haben. Und die Gesichter!«

»Hab mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt«, stimmte die Frau zu. Sie liefen davon und wurden von weiteren Rebellen fröhlich umschwärmt.

Auch Cleo zog ihre Verkleidung ab, das Adrenalin rauschte noch immer in ihren Ohren. Die Rebellen hatten sich zum ersten Mal öffentlich gezeigt und nun war abzuwarten, welche Folgen das mit sich ziehen würde.

In der Halle waren in jedem Winkel kleine Arbeitsplätze aufgebaut, mit Schmelzöfen, Werkbänken und Schraubstätten. Überall standen Maschinen für unterschiedliche Gebräuche – Waschtrommeln und Lampen, Heizungen und Musikabspielgeräte, Öfen und Kaffeekocher. Die meisten stammten von der Deponie der Maschinenfabrik, andere waren hier vor Ort komplett neu gebaut worden. Immerhin gab es viele Rebellen, die in den Maschinenwerken arbeiteten und somit das nötige Wissen dafür besaßen. Allen Geräten gemein war, dass der Kohlemotor ausgebaut und mit einer nachhaltigen Alternative ersetzt oder gleich von vornherein weggelassen worden war. Gewöhnlicherweise half auch Cleo dabei, und wenn hier reges Treiben an den Werkbänken herrschte, fühlte sie sich bisweilen wie bei ihrer alten Arbeit am Fließband in der Maschinenfabrik.

Ein Wagen wurde an ihr vorbeigeschoben, auf dem sich einige der fertiggestellten Geräte befanden – sicherlich eine Lieferung für die Menschen der Stadt. Hatte Gwynnie noch vor ein paar Wochen gesagt, dass sie es nicht überstürzen durften und die neuen Mechaniken noch nicht so weit waren, so brachten sie nun beinahe täglich heimlich Maschinen zu den Bewohnern Rußstadts. So wie sie es bei der Parade eben versprochen hatten. Natürlich wurden die Leute eindrücklich gewarnt, dass niemand davon erfahren durfte, damit man sie nicht bestrafte. So sollten sie immer noch hin und wieder Kohle verbrennen, Ruß im Haus verteilen und bei Rundgängen durch die Schornsteinfeger eine Attrappe eines Kohlemotors in die Maschinen einsetzen. Die jahrelange Übung, die Cleo und Gwynnie in diesen Dingen hatten, kam nun allen zugute.

Ein lautes, metallisches Scheppern tönte durch den Raum und hallte von den Wänden wider, sodass alle sofort verstummten. Mephista, eine Kohlediebin mit spitz gefeilten Zähnen, marschierte umher und schlug dabei auf einen großen Schild. »Herhören, Lex und Gwynnie wollen etwas verkünden!«

Sofort scharten sich alle um die Treppe in der Mitte der Halle, Hunderte Rebellen, nicht unähnlich der Menschen auf dem Schlotplatz. Nur dass keine Absperrbänder sie von den beiden Personen trennten, die auf der mittleren Treppenstufe standen und zu ihnen sprachen.

Lex Diamantkuss, Kopf der Kohlediebe, klein, muskulös, mit langen Flechtzöpfen an den Seiten des Kopfes. Und Cleos ältere Schwester Gwynnie mit den dunkelblonden Zottelhaaren, der Schutzbrille auf dem Kopf und dem Handschuh aus Kunstleder und Metall, der die vier fehlenden Fingerglieder ihrer rechten Hand versteckte.

»Unsere Aktion war ein großer Erfolg!«, verkündete Lex. »Die Industriellen und Schornsteinfeger sind ordentlich aufgerüttelt worden. Ein Hoch auf unsere mutigen Freiwilligen.« Lex begann zu klatschen und alle fielen johlend mit ein.

Cleo stand ein wenig weiter hinten und applaudierte ebenfalls, doch nicht so ausgelassen wie die anderen. Viele hier waren wütend auf die Industriellen und auch auf die Schornsteinfeger. Zu Recht. Sie hatten sie grausam behandelt, sie ihrem Elend überlassen oder sich sogar noch an ihnen bereichert. Für sie war es einfach, die Schornsteinfeger als machthungrige, verabscheuungswürdige Monster zu betrachten, die ihre Stellung ausnutzten. Aber Cleo wusste, wie sie wirklich waren und dass auch sie von der Obrigkeit nur wie Marionetten benutzt wurden.

»Diesen Mini-Schlotkriechern haben wir ordentlich den Tag versaut!«, feixte jemand vor Cleo. »Und hast du dieses Industriellensöhnchen gesehen, wie er an Mamas Rockzipfel hing?«

Cleo versetzte es einen Stich, das zu hören. Isidor war nun wirklich kein Muttersöhnchen und hatte das hier nicht verdient. Dazu noch diese Abfälligkeit über die Parade, die den jungen Schornsteinfegern so viel bedeutete. Ihr ganzes Leben hatten sie darauf hingearbeitet, Artemisia Glanzruß war sogar in dem Glauben aufgewachsen, dass sie niemals Schornsteinfegerin werden würde, weswegen dieser Tag ihr unglaublich wichtig gewesen sein musste – und sie hatten ihr das kaputt gemacht. Auch wenn es richtig war, was sie getan hatten, konnte Cleo nicht anders, als sich schuldig zu fühlen.

Gwynnie ergriff das Wort: »Schon jetzt erreichen uns zahlreiche Anfragen aus der Bevölkerung nach Maschinen, viele, die sich uns anschließen wollen. Wir benötigen all eure Mithilfe, um sie zu überprüfen, damit keine Spione in unsere Reihen gelangen.«

Etwas, was leider nötig war. Schon mehrmals hatten die Industriellen versucht, Leute bei den Rebellen einzuschleusen, hatten herausfinden wollen, wo ihr Hauptquartier war und was sie planten. Doch jedes Mal hatten sie es geschafft, die Maulwürfe zu enttarnen, indem sie falsche Fährten gelegt hatten. Hatten ihnen falsche Orte genannt, wo sich angeblich das Hauptquartier befand, oder fehlerhafte Informationen über zukünftige Aktionen gestreut. Sie waren sehr gründlich geworden und machten keine Ausnahmen.

»Doch seid auch auf der Hut!«, fuhr Gwynnie fort. »Die Industriellen werden jetzt umso rigoroser vorgehen. Die Schornsteinfeger stürmen in diesem Moment die Wohnhäuser Rußstadts auf der Suche nach Rebellen und Leuten, die mit ihnen in Verbindung stehen. Und sollten sie jemanden erwischen, werden sie nicht zimperlich sein.«

Im Vorfeld waren alle Rebellen darüber informiert worden, dass sie sich nach dieser Aktion bedeckt halten mussten und dass die Bekämpfung der Rebellion durch die Industriellen höchstwahrscheinlich verstärkt werden würde. Cleo konnte nur hoffen, dass die Schornsteinfeger niemanden erwischten. Nicht nur wegen der Strafe für die Menschen – auch, weil es ihre nächsten Vorhaben erschweren würde.

Lex klatschte in die Hände. »Feiert heute noch ein wenig – und geht dann zurück an die Arbeit. Unsere größte Aktion steht noch bevor.«

Gleich nach der Ansprache zogen Gwynnie und Lex sich nach oben in die Kommandozentrale zurück, wo sie ihre Strategien planten. Cleo wartete, bis die Menschenmenge sich zerstreut hatte, dann folgte sie ihnen. Prinzipiell durfte jeder hier hoch, denn die Rebellenführer hielten nichts davon, sich wie die Industriellen zu verschanzen, um ihre Macht auszuüben. Dennoch blieben in der Regel alle aus Respekt und Vertrauen diesem Ort fern. Auch Lex' vorheriges Büro in der alten Kohlefabrik in den untersten Vierteln hatte niemand betreten.

Mephista grinste Cleo mit ihren spitzen Zähnen an, als sie oben ankam, und machte eine spöttische Verbeugung. »Werte Meisterin Lichterloh.« Cleo bedachte sie mit einem genervten Blick. Wie lange sie sich wohl noch solche Sprüche gefallen lassen musste?

Lex stand mit Dante bei dem Modell von Rußstadt, das in der Mitte des Raumes aufgebaut war. Gwynnie ging am Fenster mit einer Frau eine Liste durch. Florentine und ihr kleiner Sohn Dio hatten zuvor im Eisenviertel gelebt, bevor ihr Haus durch den Feuerteufel niedergebrannt war. Cleo hatte sie schon vorher kennengelernt, als Konradin Glanzruß in Begleitung der Schornsteinfegerlehrlinge willkürlich ihre Kohle und ihre Maschinen konfisziert hatte.

»Verteil die Leute auf die verschiedenen Anwärter und sei doppelt streng bei ihrer Überprüfung«, ermahnte Gwynnie sie und reichte ihr die Liste. »Gerade nach heute wird es viele geben, die nur ein paar Maschinen abgreifen wollen, sonst aber nicht hinter unserer Sache stehen. Aber seid effizent, wir sind mit den Auslieferungen jetzt schon im Hintertreffen und können nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Florentine nickte. Mit einem flüchtigen Lächeln in Cleos Richtung, was sie erwiderte, lief sie zur Treppe.

»Na, du brauchst mich ja gar nicht mehr«, stellte Cleo grinsend fest und schlenderte auf Gwynnie zu.

Ihre Schwester legte ihr den Arm um die Schulter. »Natürlich tu ich das. Dich und niemand anderen.«

Es war lieb gemeint und doch versetzte es Cleo ein unangenehmes Gefühl in der Bauchgegend. »Willa war bei der Parade«, sagte sie mit ernster Stimme und beobachtete die Reaktion ihrer Schwester auf diese Information genau.

Ein leichtes Zucken im Mundwinkel und das Zittern der behandschuhten Finger, wie immer, wenn ihre Schwester nervös war. »Natürlich war sie das, sie ist Schornsteinfegerin.« Gwynnie versuchte, es nebensächlich klingen zu lassen, konnte Cleo aber nicht täuschen.

»Sie sah nicht besonders gut aus, wenn es dich interessiert, auch wenn sie wohl versucht, sich nichts anmerken zu lassen«, bohrte Cleo weiter. »Dein Gesicht auf dem Banner muss sie ziemlich erschüttert haben.«

Gwynnie seufzte und steckte die Hände in die Taschen. »Was willst du von mir hören, Cleo? Ja, natürlich vermisse ich sie und wünschte, sie wäre hier. Aber es ist ein viel zu großes Risiko, sie einzuweihen. Die Umstände haben sich geändert und wir wussten darum, als wir uns verabschiedet haben.«

Cleo presste die Lippen zusammen und unterdrückte die Tränen, die sich den Weg in ihre Augen bahnten. »Wie erträgst du das nur?« Ihre Stimme brach mitten im Satz.

Doch Gwynnie fing sie auf, zog sie an sich, schlang die Arme fest um sie und strich ihr über den Rücken, während Cleo es sich nun erlaubte, in das Hemd ihrer Schwester zu weinen.

»Und deshalb wollte ich nicht, dass du an der Mission teilnimmst«, murmelte Gwynnie.

Es schüttelte Cleo von Neuem. Sie hatte Gwynnie angebettelt, mitmachen zu dürfen trotz der Gefahr, enttarnt zu werden. Wahrscheinlich wirklich ein Fehler, wie sie nun einsah. Aber der Wunsch, der Parade beizuwohnen, bei der sich vor einem Jahr ihr Leben verändert hatte, war zu groß gewesen. Die Menschen wiederzusehen, die sie als Freunde bezeichnet hatte, Emilia, Willa, Tamino, Isidor – und Leander. Es fühlte sich an, als würde ihr Herz schmerzhaft zusammengepresst, als sie an ihn dachte. »Es ist meine Schuld, dass es ihm so schlecht geht.«

Gwynnie löste sich von ihr und sah sie streng an. »Du kannst es ihm nicht sagen.«

Cleos Beine fühlten sich wie Butter an und sie griff nach dem Arm ihrer Schwester. »Bitte, das hat er nicht verdient! Er würde uns nicht verraten.«

»Das weiß ich doch«, sagte Gwynnie sanft und strich ihr über das Gesicht. »Genau wie Willa. Aber es geht nicht nur um uns. Die beiden werden mit ziemlicher Sicherheit beobachtet, und wenn du dich ihm offenbarst, hätte das auch für Leander furchtbare Konsequenzen. Ich verstehe deinen Schmerz, wirklich. Aber es ist unmöglich.«

Cleo wischte sich über das Gesicht und nickte. Natürlich verstand sie es, doch das machte es nicht besser. Sie blickte durch das große Fenster, durch welches man auf Rußstadt hinabblicken konnte. Die Rebellen hatten eine spezielle Folie auf den noch intakten Scheiben angebracht, sodass man zwar hinaus-, aber nicht hineinsehen konnte, die Fenster, wo das Glas zerstört war, hatten sie zugenagelt. So bot sich für alle der Anblick einer dunklen, verlassenen und ausgebrannten Ruine. Doch Cleo konnte auf dem angrenzenden Hügel die Ruine des Signalturms sehen, ihrem Zuhause. Gleich nach dem Brand war es von den Schornsteinfegern durchsucht worden, man hatte Dustins Leiche geborgen und die Maske des Feuerteufels. Gemeinsam mit den verbrannten Überresten zweier Frauenleichen, die man Cleo und Gwynnie zuordnete. Cleo wollte gar nicht wissen, wo Lex die beiden Körper herhatte. Das Wichtigste war, dass man sie zweifelsfrei für tot hielt. Denn nur das war der Grund, warum sie und auch Willa und Leander fürs Erste sicher vor Toska Liebkind waren.

3

Nach der Zerstörung des Turms und ihrem offiziellen Ableben hatten Cleo und Gwynnie Unterschlupf im Ascheviertel gefunden, wo viele der Rebellen lebten. Die alte, stillgelegte Kohlefabrik, die das vorherige Hauptquartier der Kohlediebe gewesen war, wurde nun als Versammlungsort genutzt, endeten hier doch auch die Tunnel, die zur Ruine Lichterloh führten und überall unter Rußstadt verliefen.

Unweit davon befand sich ihr kleines Häuschen, das so verfallen war, dass nur noch ein einziges Zimmer bewohnt werden konnte. Auch wenn Gwynnie es nie zugeben würde, so war es ihr doch sehr lieb, dass sie und Cleo im selben Raum schliefen. Die Schwestern hatten nun nur noch einander und sie waren froh, wenn sie die andere nachts in ihrer Nähe wussten.

Cleo klopfte an die Tür des Hauses direkt neben ihrem eigenen. Als niemand öffnete, drückte sie sie einfach auf und blieb im Türrahmen stehen. Sie blickte in ein finsteres Zimmer, die Fenster waren von Ruß verklebt, sodass nur die Lampen den Raum erhellten. Ein Luftfilter in der Wand rauschte vor sich hin, eine Erfindung, die Lex' Leute von den Industriellen kopiert hatten, weil es mit dem Ruß hier unten sonst nicht auszuhalten wäre. In der Ecke standen ein Bett, ein Tisch und eine Garderobe, die mit allerlei ausladenden und beeindruckenden Kleidern gefüllt war, die man hier unten ganz sicher nicht vermutet hätte. Davor stand eine Kleiderpuppe, die ein noch nicht ganz fertig genähtes Hemd trug, und auf einer Ablage daneben türmten sich Stoffe, Knöpfe und anderes Nähzubehör. Am Tisch saß Valentin Nadelstich, Cleos bester Freund, konzentriert über seine Nähmaschine gebeugt, mit welcher er einen Stoff bearbeitete.

Offenbar hatte er sie nicht gehört, also klopfte sie erneut, diesmal an den Türrahmen und forscher als zuvor. Es wirkte, er hielt die Maschine an und sah auf. Sein Kopf bis zur Brust hinunter war übersät mit langsam verheilenden Brandnarben. Sie waren wenige Wochen alt, es würde noch dauern, bis sie verblassten. Einige hatte er mit seinen silbernen Haaren überdeckt, im Gegensatz zu Cleo, die ihre große Brandnarbe an der rechten Seite des Kopfes stolz zur Schau stellte und sogar die restlichen Haare drum herum abrasierte. Valentin schob seine Brille zurück auf die Nase, die ihm wohl beim Nähen heruntergerutscht war. Sie besaß einen feinen Silberrahmen im Gegensatz zu seiner alten, die aus Stahl gewesen und bei dem Brand in der Schneiderei zerstört worden war. Cleo wurde schwer ums Herz. Es war ein Geschenk von Isidor gewesen, das letzte.

»Du bist wieder da!« Valentin lächelte sie an, seine Augen wirkten müde. »Lief es gut?«

»Fantastisch.« Cleo ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen. »Alle waren sehr aufgebracht. Und mein Gesicht hängt mal wieder am Kohleschlot der Fabrik, tat es zumindest, bevor wir abgehauen sind.« Sie nickte in Richtung der Nähmaschine. »Und bei dir?«

Valentin seufzte. »Frustrierend.« Er hob seinen linken Arm an. Unterhalb seines Ellenbogens befand sich eine raffinierte Prothese aus allerlei Metallteilen und einer Vielzahl Zahnräder. Sie war dünner als sein rechter Arm, aber genauso stark. Die Finger waren einzeln bewegbar und feingliedrig. Cleo hatte sie gebaut, ihr erster Versuch einer künstlichen Gliedmaße.

»Funktioniert sie nicht?«

Valentin schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Es ist nur … na ja, wenn man anderes gewohnt ist, ist es eine Umstellung. Alles ist langsamer. Und anstrengender. Jede Bewegung muss ich aktiv ansteuern, es ist nicht intuitiv. Und so ganz feine Sachen kriegt sie nicht hin, schau.«

Er nahm eine Nadel hoch und hielt sie seiner Prothese hin. Mit konzentriertem Gesicht streckte er Daumen und Zeigefinger der Hand aus und versuchte, sie um die Nadel zu schließen. Doch die Finger bekamen das kleine Metallstück nicht zu fassen, rutschten immer wieder ab, bis die Nadel schließlich zu Boden fiel und davonrollte. Valentin stöhnte.

»Soll ich vielleicht mal sehen, ob ich das verbessern kann?«, schlug Cleo vor.

Valentin stand auf. »Schon gut, du hast ja sicher Besseres zu tun, als mir eine Hand zu bauen.«

»Dafür werde ich immer Zeit finden!«

Valentin lächelte sie traurig an, sagte aber nichts. Er ging der Nadel nach, die bis zu seinem Bett gerollt war. Cleo bemerkte ein leichtes Humpeln in seinem Gang. Auch seine Beine hatten Schaden genommen, er konnte sie noch immer nicht ganz ausstrecken oder ohne Schmerzen bewegen. Dementsprechend lange dauerte es für ihn, sich hinzuknien.

Cleo sah zu dem Kleidungsstück, das er nähte, eine Hose. Das konnte Valentin eigentlich im Schlaf, doch jetzt sah sie einige winzige Löcher, wo er die Naht wieder aufgelöst und neu gesetzt hatte. Ein Zeitungsartikel blitzte unter dem Stoff hervor und sie schob ihn zur Seite. Es war eine ganze Mappe, in die verschiedene Ausschnitte des Rußkuriers geklebt waren, und wieder fühlte Cleo einen Stich in der Brust. Jeder einzelne von ihnen zeigte ein Bild von Isidor. »Toska Liebkinds Sohn wird als Nachfolger der Kohlefabrik angekündigt«, las sie die Schlagzeile von dem Tag, als Rußstadt zum ersten Mal von Isidors Existenz erfahren hatte. »Isidor Liebkind besucht das Maschinenwerk«, die nächste. Ein Artikel stammte aus einem Magazin für jugendliche Industrielle. »Zehn Fakten über den Erben der Kohlefabrik«, stand dort. Mal blickte Isidor schüchtern in die Kamera, mal lächelnd, aber niemals so strahlend, wie Cleo ihn in Valentins Nähe erlebt hatte. Die letzte Seite war ein Schnappschuss von Isidor, wie er ins Krankenhaus ging. Daneben war ein Bild von Valentin gedruckt, wie er vor dem Brand ausgesehen hatte. Die Überschrift lautete: »Isidor beim Krankenhaus gesichtet – besuchte er Opfer des Feuerteufels?« Darunter wurden jede Menge Theorien aufgestellt, warum Isidor Valentin besucht haben könnte. Weil er mit dem Volk mitfühlte? Um zu zeigen, dass die Opfer des Feuerteufels ihm nicht egal waren? Wollte er mehr über »die Verräterin Cleo Lichterloh« herausfinden, da Valentin doch mit ihr befreundet gewesen war? In einer kleinen Bemerkung wurde scherzhaft gemutmaßt, ob Isidor und Valentin aus irgendeinem Grund Freunde sein könnten. Cleo schätzte, dass der Verfasser daraufhin seine Arbeit verloren hatte, weil er der Wahrheit zu nah gekommen war. Es war dieser fatale Artikel gewesen, warum auch Valentin nun hier lebte und nicht bei seiner Familie im Zinnviertel. Als er nach seinem Krankenhausaufenthalt dorthin zurückgekehrt war, hatten die Menschen ihm aufgelauert und mehr wissen wollen über seine Verbindung zu dem Industriellensohn. Doch manche waren nicht nur neugierig, sondern auch feindselig gewesen und hatten ihn beschimpft. Andere, besonders Bessergestellte, glaubten, dass Valentin Isidor ausnutzte. Das Ganze hatte viel Aufmerksamkeit erregt und war bis in das Industriellenviertel vorgedrungen, weswegen Gwynnie Valentin nahegelegt hatte unterzutauchen. Schließlich dürfte Toska Liebkind diese Gerüchteküche sehr missfallen, und da sie für den Brand in der Schneiderei verantwortlich war, weil sie Valentin eben wegen seiner Nähe zu Isidor aus dem Weg hatte schaffen wollen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie es erneut versuchen würde. Valentin hatte sich nicht einmal von Isidor verabschiedet. Auch er sollte nicht wissen, wo der Schneiderlehrling sich versteckte in der Hoffnung, dass Liebkind von ihm ablassen würde, wenn die beiden sich nicht mehr sahen. Cleo mutmaßte, dass Isidor nicht einmal wusste, dass seine Mutter den Brand befohlen hatte.

Valentin kehrte zum Tisch zurück und legte die Nadel ab. Er strich über die Prothese. »Weißt du, das Schlimmste ist, dass mein Gehirn denkt, ich hätte noch eine Hand. Ständig will ich die Finger bewegen, will zugreifen wie früher, obwohl ich das nicht kann. Und es brennt und sticht wie Feuer, das hält mich die ganze Nacht wach.« Phantomschmerzen, davon hatte Cleo schon von vielen Amputierten gehört.

»Das tut mir sehr leid«, sagte sie.

Valentin lächelte gequält, dann bemerkte er die aufgeschlagene Mappe auf dem Tisch. Verrußt! Sie hätte es besser verstecken sollen.

»Entschuldige, ich wollte nicht …«, begann sie, da packte Valentin schon die Artikel und schob sie mit rotem Kopf zusammen.

»Schon gut, das ist nichts.«

»Schämst du dich etwa dafür?«

Valentin hielt inne und seufzte. »Ich würde ihn gerne vergessen. Aber wie soll das gehen?« Er strich über Isidors Gesicht auf dem obersten Ausschnitt, dem von seinem ersten Auftritt. »Ich sage mir ständig, dass es eh nichts hätte werden können. Dass er jetzt ein neues Leben hat, wahrscheinlich darüber lacht, dass er mich je beachtet hat, vielleicht selbst langsam so wird wie seine Mutter. Aber es tut trotzdem immer noch so weh. Ich habe ihn verlassen, obwohl er mir seine Treue zugesichert hat.«

Cleo lehnte sich mit dem Kopf an die Wand. »Wenigstens denkt er nicht, du wärst tot.«

Valentin schenkte ihr einen mitleidsvollen Blick. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Er verstaute die Mappe in einer Schublade und setzte sich zu ihr. »Wie geht's dir?«

Sie versuchte sich an einem Lächeln, spürte aber, wie ihr wieder die Tränen kamen. »Es ist so ungerecht! Leander und ich hatten nicht einmal die Chance auf Gefühle. Uns war nicht einmal eine kurze, glückliche Zeit vergönnt. Er hat so viel für mich getan, so viel aufgegeben und jetzt muss ich ihn anlügen, muss ihn so verletzen. Obwohl er schon so vieles verloren hat.«

Valentin ergriff ihre Hand und drückte sie. »Schätze, wir haben es beide schwerer, als wir sollten.«

Cleo drückte die Hand zurück. »Warum mussten wir uns auch in einen Industriellen und einen Schornsteinfeger verlieben?«

Valentin lachte. »Stell dir das mal vor, wie schön es hätte sein können, wenn wir einfach jemanden gefunden hätten, der in einer Maschinenfabrik arbeitet.«

»Oh ja!« Cleo lachte. »Voller Ruß und Bodenständigkeit.«

»Der abends in seine Wohnung im Bleiviertel zurückkehrt.«

»Sich über die Kohlerationen ärgert.«

»Und jetzt mit uns an der Rebellion arbeitet.«

»Wäre sicher auch nicht einfach, aber das größte Problem wäre dann, dass er bei unseren Aktionen sein Leben riskiert.«

»Oder sich nicht die Füße wäscht.«

Beide prusteten los und Cleo stupste Valentin an. »Vielleicht hätten einfach wir zusammenkommen sollen, das haben doch eh immer alle gesagt.«

Valentin starrte sie entgeistert an. »Um Rußes willen, nein, nicht bei deinem furchtbaren Kleidungsstil. Da könnte ich ja niemandem mehr unter die Augen treten.«

Cleo klopfte auf seine Prothese. »Vorsicht, wenn du gemein zu mir bist, stell ich sie dir so ein, dass sie dich alle zehn Sekunden ins Ohr kneift.«

Valentin presste seine Prothese an die Brust. »Siehst du und so wäre das die ganze Zeit in unserer Beziehung. Der arme, verkrüppelte Schneider muss ertragen, wie seine Freundin seine Hilfsmittel gegen ihn verwendet.«

»Dann wird dir wenigstens nie langweilig.«

Es tat so gut, mit Valentin Scherze zu machen, und das Lachen, das durch die unterirdischen Gänge hallte, machte sie ein wenig heller und freundlicher. Und sei es nur für einen kurzen, flüchtigen Moment.

4

Cleo wurde durch einen lauten Alarm aus dem Schlaf gerissen. Es war stockfinster und die Sirene schrillte aus der Wand neben Gwynnies Bett, ein Signal, das nur ihr galt. Die Angst, die Cleo durchfuhr, machte sie sofort hellwach. War der Feuerteufel zurück? Brannte es? Waren sie entdeckt worden? »Was ist los?«

»Keine Ahnung«, antwortete Gwynnie, die schon aus dem Bett gesprungen war. »Aber wenn die Wache mich informiert, muss es dringend sein.«

Cleo griff sich blitzschnell ihre Klamotten. »Ich komme mit.«

*

Lex, Mephista und Dante waren bereits in der Kommandozentrale versammelt, als Cleo und Gwynnie dazukamen. Sie hatten sich um einen Mann geschart, der sich eine blutende Wunde am Kopf hielt und auch sonst sehr ramponiert aussah.

»Was ist passiert?«, fragte Gwynnie aufgebracht.

Lex nickte in Richtung des Mannes. »Ruprecht kommt aus dem Messingviertel. Erzähl ihnen, was du uns erzählt hast.«

Der Mann atmete schwer. »Die Schornsteinfeger sind heute Nacht gekommen. Sie haben uns einfach gepackt und aus dem Haus gezerrt, alle in unserer Straße, wir konnten gar nichts tun. Sie haben gesagt, weil wir kohlefreie Maschinen benutzen, hätten wir uns strafbar gemacht. Einige Leute haben beteuert, dass sie mit der Rebellion nichts zu tun haben, aber das hat sie nicht interessiert. Sie wollten weitere Namen wissen und wo wir uns verstecken, was wir planen. Und als wir nichts sagten, haben sie auf uns eingeprügelt.«

Die Schornsteinfeger schlugen auf unschuldige Menschen ein? Cleo krallte sich in ihre Jacke. Das konnte doch nicht wirklich passieren! Alle warfen ihr verstohlene Blicke zu und natürlich erkannte sie die Vorwürfe darin. Welche Schornsteinfeger waren es gewesen? Wer würde so etwas tun?

»Ein paar von uns haben schließlich nachgegeben. Ich konnte gerade noch so entkommen. Es tut mir leid.« Der Mann begann zu schluchzen.

Gwynnie klopfte ihm auf die Schulter. »Ihr könnt nichts dafür, was hättet ihr tun sollen?«

Lex' Augen huschten wild hin und her. »Wir wussten, dass das passieren würde, nur nicht so schnell. Wir müssen sofort handeln, heute Nacht noch.«

Cleo wurde kalt. Seit Wochen planten sie diesen Schlag, schon bevor sie zu den Rebellen gestoßen war, hatte sich alles nur um diese eine, alles vernichtende Aktion gedreht. Und jetzt sollte es so weit sein. So plötzlich?

»Aber nicht alle verfügen schon über kohlefreie Mechaniken!«, wandte Gwynnie ein. »Es ist zu früh.«

Doch Lex schüttelte den Kopf. »Oh nein, es ist genau richtig. Die Menschen werden ihre Maschinen bekommen, auch wenn es erst später ist. Vielleicht ist das sogar gut – dann erkennen sie erst recht, wie sehr das Kohleregime sie an der Nase herumgeführt hat.«

Gwynnie zögerte, nickte aber dann. »Ich aktiviere die Leute.« Sie rannte los.

Heute Nacht endete es also. Heute Nacht würden sie Rußstadt von der Kohle abschneiden.

In kürzester Zeit hatten sich die verschiedenen Einheiten in der Halle versammelt. Sie waren schon vor Langem instruiert worden und hatten nur auf das Signal gewartet. Da waren die Arbeiter aus der Kohlefabrik, die die Maschinen zerstören würden, welche die Kohle auf die Rutschen beförderte. Die Saboteure, die an zentralen Schnittstellen die Kohlerutschen unterbrechen würden, sodass die Kohle nicht mehr zu den Menschen gelangen konnte. Und die wichtigste Gruppe von allen: die Minenarbeiter. Sie würden die Kontrolle der Bergwerke an sich reißen, wo die Grundressourcen für die Kohleherstellung gefördert wurden, und sie dann zum Einsturz bringen. Es war gefährlich und sie wussten um das Risiko, dass sie dabei sterben könnten, doch es war der einzige Weg, um Rußstadt nachhaltig kohlefrei zu machen. Denn freiwillig würden die Industriellen die Produktion sicher nicht einstellen. Natürlich vermuteten diese längst, dass sich in ihre Betriebe Aufständische eingeschlichen hatten, weswegen es immer wieder heimliche Überprüfungen gab. Doch das hatten die Rebellen schnell durchschaut und Strategien entwickelt, um falsche Fährten zu legen. Ihr Vorteil war, dass die Abgesandten der Industriellen nicht wussten, wie die sozialen Strukturen innerhalb der Fabriken und Minen funktionierten. Und dass auch Aufseher und Vorarbeiter zu den Rebellen gehörten.

Während die Gruppen loszogen, blieb Cleo oben in der Kommandozentrale mit Gwynnie, Lex und ein paar sehr ausgewählten Mechanikern, die sich alle um das Modell von Rußstadt scharten. Denn es gab noch eine Geheimmission, von der die meisten Rebellen nichts ahnten. Lex betätigte einen Knopf – und das Modell schwang auf, sodass man einen unterirdischen Querschnitt der Stadt sehen konnte. Da waren die Leitern, die hinab in die untersten Viertel führten, und das Tunnelsystem, das alles verband. Und da waren die Rohre, die vom Industriellenviertel hinab ins Ascheviertel führten, die Cleo und Leander bei ihrer Schornsteinfegerabschlussprüfung unter der Kohlefabrik entdeckt hatten. Der Grund, warum es den Industriellen so gut und den Menschen der Viertel hier unten so schlecht ging. Der Grund, warum es die Schornsteinfeger überhaupt gab, und der Beweis, dass den Industriellen die Menschen Rußstadts egal waren. Denn mit diesen Rohren leiteten die Industriellen den Ruß ihrer Maschinen in die untersten Viertel. So konnten sie weiter in ihrer reinen Luft leben und der Bevölkerung die Schuld an der Verschmutzung geben, obwohl es die Industriellen waren, die sie verursacht hatten. Und um bloß nicht damit aufhören zu müssen, schickten sie die Schornsteinfeger, um die Symptome ihrer verschwenderischen Art zu bekämpfen.

»Es wird Zeit, dass wir den Industriellen zurückgeben, was ihnen gehört«, sagte Lex und deutete auf die Rohrmündungen unter der Kohlefabrik. »Hier enden die Rohre und spucken den Ruß nach unten.« Lex fuhr mit dem Finger weiter nach oben im Berg bis zu einer Verzweigung der Rohre. »Hier ist ein Knotenpunkt, wo die Rohre der verschiedenen Häuser und Maschinen zusammenlaufen und in größere übergehen.« Lex deutete auf das Geflecht von schmalen Rohrleitungen, die hinauf ins Industriellenviertel führten. »Wir wollen, dass der Ruß der Industriellen sich anstaut und nicht mehr nach unten fallen kann. So, dass sie es nicht sofort bemerken, aber dann, wenn sie es nicht erwarten, der Ruß aus ihren Kaminen kommt. Eine Absicherung, falls unser Hauptplan schiefgeht. Wir müssen die Rohre so weit oben wie möglich abklemmen.« Lex deutete auf die Verzweigungsstelle. »Einige unserer Leute sind von der Kohlefabrik aus durch die Rohrleitungen gekrochen und haben hier einen Hohlraum entdeckt, wo die Rohre regelmäßig gewartet werden. Es gibt im Goldviertel einen versteckten Zugang dahin. Dort können wir zuschlagen.« Wieder deutete Lex auf die kleinen Rohre unter den Villen der Industriellen. »Die Rohre liegen vergraben in der Erde, jedoch zu mehreren gebündelt in Metallkanälen, die zu Dutzenden unter dem Viertel verlaufen. Wer wendig genug ist, kann vom Wartungsraum aus in diese Metallgänge steigen und die Rohre weit oben mit einem Werkzeug so zusammenpressen, dass kein Ruß mehr durchkommt.« Zur Anschauung hielt Lex ein dünnes Rohr hoch und drückte es dann mit einer Zange in der Mitte eng zusammen. Dann nahm Lex einen Becher voller Ruß vom Tisch und kippte ihn oben in das Rohr. Nur wenige Flocken rieselten unten raus, der Rest sammelte sich oben. Der Durchfluss war unterbrochen. Lex nickte Cleo zu. »Cleo war als Einzige von uns schon einmal im Industriellenviertel. Sie hat die Maschinen von oben gesehen und die Rohre von unten. Deshalb wird sie die Mission anführen.«

Gwynnie zog eine Grimasse. Sie hatte darauf gepocht, dass die Arbeit selbsterklärend genug war, dass Cleo nicht mitkommen musste, doch davon hatte Cleo nichts hören wollen. Schon seit Monaten brannte sie darauf, etwas gegen die Rohre zu unternehmen, und nun sollte sie im Hauptquartier sitzen bleiben? Auf keinen Fall! Zumal sie es gewesen war, die das optimale Werkzeug entwickelt hatte, um den Rußfluss zu unterbrechen.

Lex reichte ihr die Zange und nickte ihr aufmunternd zu. Cleo lächelte grimmig und verstaute die Zange in der Werkzeugtasche um ihre Hüfte. Ein paar Augenblicke ließ sie die Hand auf dem Stoff ruhen. Es war ein Geschenk von Leander gewesen zu ihrem Geburtstag. Ihm hätte diese Mission gefallen und er hätte sicher liebend gerne mitgemacht, war er doch selbst fassungslos über das Rohrsystem gewesen. Durch diese Tasche war es zumindest ein bisschen so, als wäre er dabei.

*