Liebe braucht keinen Ort - Susan Waggoner - E-Book

Liebe braucht keinen Ort E-Book

Susan Waggoner

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Beschreibung

Es ist das Jahr 2218. Liza McAdams ist in ihrem zweiten Ausbildungsjahr zur Empathin, als etwas passiert, das sie nicht für möglich gehalten hätte: Ein junger Mann, David, taucht im Krankenhaus auf und es ist Liebe auf den ersten Blick! Für Liza stellen sich viele verwirrende Fragen: Wer ist David wirklich? Was tut er hier? Und warum ist er immer wieder seltsam abweisend zu ihr, ja eines Tages sogar verschwunden?

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Susan Waggoner

Liebe braucht keinen Ort

Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

Impressum

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon Verlag, München 2013

Copyright © 2012 by Susan Waggoner

Titel der Originalausgabe: Neptune’s Tears

This translation of NEPTUNE’S TEARS by Susan Waggoner, first published in the United Kingdom in 2012, is published by arrangement with Piccadilly Press Limited, London, England.

© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Susan Waggoner

Übersetzung: Ulrike Seeberger

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-0154-4

ISBN Printausgabe 978-3-7607-9574-4

www.bloomoon-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1 • Abstreifen

Kapitel 2 • Begegnungen aus nächster Nähe

Kapitel 3 • Der Tag der Landung

Kapitel 4 • Die Schockbombe

Kapitel 5 • Das Mädchen mit den Wasserfallhaaren

Kapitel 6 • Die zweite Welle

Kapitel 7 • Ein Regentropfen

Kapitel 8 • Die Blackfriars-Brücke

Kapitel 9 • Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag

Kapitel 10 • Die Menschen vom anderen Planeten

Kapitel 11 • Ohne Vorwarnung

Kapitel 12 • Reisen

Kapitel 13 • Zuhause

Kapitel 14 • Der Grüne Buddha

Kapitel 15 • Federball

Kapitel 16 • Die Feuer von Montgolfier

Kapitel 17 • Alpha und Omega

Kapitel 1

Abstreifen

Liza zögerte kurz, bis nach einer Sekunde das blaue Licht auf Grün wechselte, dann ging sie durch den Torbogen und in den Wartebereich der Notaufnahme. Sie winkte Omar am Empfang zu.

»Hallo, Kiefernzapfenmädchen«, rief der ihr hinterher. Er nannte sie nun schon seit drei Monaten so, obwohl die unglückselige Frisur, für die sie sich damals entschieden hatte, schon beinahe ganz wieder herausgewachsen war. Es machte ihr jedoch nichts aus, dass er sie ein bisschen aufzog. Er hatte ein gutes Herz, und das konnte sie in allem spüren, was er sagte.

»Hallo, Omar.«

»Wieso arbeitest du denn schon wieder an einem Freitagabend?«

Liza lächelte. »Ich hab wahrscheinlich einfach Glück.«

»Mit den Jungs kann heutzutage was nicht stimmen. An einem Freitagabend, da solltest du ausgehen und dich amüsieren. Und dir fällt kein besserer Ort ein?«

»Sieht ganz so aus.« Liza ging schnell weiter, damit er ihr Lächeln nicht bemerkte. Es war ihr fast ein wenig peinlich, dass sie ihren Job so mochte. Omar konnte es nicht wissen, aber er hatte ins Schwarze getroffen: Dies hier war der beste Ort, zumindest für Liza und auch an einem Freitagabend.

Der Warteraum war voller Menschen. Liza spürte das leichte Kribbeln und die Unruhe des üblichen freitäglichen Wahnsinns um sich herum. Vielleicht mehr Wahnsinn als sonst, weil die ersten langen Frühsommertage endlich gekommen waren. Kurz vor Mitternacht würde der Wahnsinn seinen Höhepunkt erreichen und dann allmählich verebben, wenn all die Energie und die Streitereien und die wilden Aktivitäten langsam abnahmen. An Freitagen war die Arbeit immer wie ein Drahtseilakt und ging nur langsam in den Frieden des Samstagmorgens über.

Liza schaute auf ihren Arbeitsplan, während sie ihren weißen Kittel überzog. Sie balancierte auf einem Fuß und las die Informationen auf dem Bildschirm an der Innenseite ihrer Spindtür. Zu ihrer Bestürzung sah sie, dass Ellie Hart, die vor einigen Monaten eine neue Lunge erhalten hatte, mit einer Infektion und extremer Erschöpfung wieder eingeliefert worden war. Die hohen Werte für die weißen Blutkörperchen und die Enzymlevels sahen auch nicht gerade gut aus. Plötzlich wurde Liza das Herz ganz schwer.

Jeder wusste, dass man keine Lieblingspatienten haben sollte, aber jeder wusste auch, dass man manchmal gar nicht anders konnte. Liza und MrsHart hatten sich sofort blendend verstanden, vielleicht weil MrsHart genau wie Liza Amerikanerin war und nun in London lebte, vielleicht aber auch, weil sie an genau dem gleichen Tag geboren waren, allerdings mit hundert Jahren Abstand. Liza glaubte allerdings, dass es mehr mit MrsHart selbst zu tun hatte. Bei ihrer ersten gemeinsamen Sitzung hatte sie aufrecht im Bett gesessen, im üblichen Krankenhausnachthemd und mit Unmengen von Diamanten behängt – am Hals, an den Ohrläppchen, an beiden Handgelenken, und Liza meinte sogar, ein Glitzern in MrsHarts Haaren gesehen zu haben.

»Ganz schön protzig, nicht?«, fragte MrsHart lächelnd. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Das sind meine Glücksbringer.«

Liza konnte sich nicht vorstellen, je so viele Diamanten zu besitzen. Vielleicht hatte MrsHart in irgendeinem Buch gelesen, dass Diamanten eine heilende Wirkung hatten, und sich welche geliehen. Die Leute kamen mit allen möglichen irrigen Ideen in die Sitzungen. Die Diamanten hatten einen strahlenden, goldenen Schimmer, als läge tief in ihnen Sonnenlicht verborgen. »Sind die echt?«

MrsHart lachte glucksend – ein gutes Zeichen, wenn jemand gerade eine Transplantationsoperation hinter sich hatte. »Großer Gott, nein. Aber die Fassungen sind echt. Ich habe sie selbst entworfen.«

»Das kann ich gar nicht glauben.«

»Doch, na klar«, erwiderte MrsHart und streckte ihr einen mit Armbändern geschmückten Arm hin. »Fass sie mal an«, forderte sie Liza auf.

Liza berührte den Schmuck und spürte sofort, wie sie von großer Freude durchflutet wurde. Von Freude und noch etwas anderem. Was war das? Sie schloss die Augen. Die Gefühle waren ziemlich kompliziert, verworren und verheddert wie ein Wollknäuel.

»Mein erster großer Erfolg als Schmuckdesignerin«, erklärte MrsHart, »und gleichzeitig mein letzter. Die Neptun-Diamanten.«

Liza zuckte zusammen und zog rasch die Hand weg. Natürlich. Der goldene Schimmer hätte es ihr eigentlich verraten müssen. Jeder wusste von den Neptun-Diamanten– Diamanten, die vom Sonnenlicht durchflutet und von Tragödien überschattet waren.

»Es ist in Ordnung, Liebes. Ich habe diese Fassungen entworfen, ehe irgendwas schiefgegangen ist. Sie sind nicht… das heißt, ich glaube nicht, dass sie… ähm… wie soll ich es sagen… sie haben nichts absorbiert… «

Neunzig Jahre vor Lizas Geburt hatte man die erste Generation von Robotern in den Weltraum geschickt. Liza erinnerte sich noch immer genau daran, wie das Hologramm von der hellblauen Rakete aus ihrem Sozialkundebuch gesprungen und in einer Dampfwolke durch die Zimmerdecke verschwunden war. Sie liebte Holos, und das war ein ganz besonders gutes gewesen, so klar und deutlich, dass sie sehen konnte, dass auf der Seite der Rakete der Schriftzug Tiffany gestanden hatte.

Der berühmte Juwelier war sich sicher gewesen, dass es da draußen im Weltraum kostbare Edelsteine geben musste, und hatte eine zwölf Jahre andauernde Mission zum Planeten Neptun finanziert. Weil Roboter nicht durch die Gebrechlichkeit des menschlichen Körpers oder durch Gefühle behindert wurden, erduldeten sie ohne Murren die Langeweile der unendlichen Reise und funktionierten auch in der giftigen Methan-Atmosphäre auf dem Neptun – einer Atmosphäre, in der es, wie die Wissenschaftler damals den Leuten von Tiffany versichert hatten, Diamanten regnen würde. Die Roboter füllten eine kleine Raumkapsel mit Edelsteinproben, schickten sie auf die Rückreise zur Erde und begannen, eine Kolonie aufzubauen, die diese Steine im großen Stil sammeln sollte.

Auf der Erde hatte Tiffany einen Wettbewerb für das schönste Design von Ringen, Colliers, Armreifen und Ohrringen ausgeschrieben. Ellie Hart, die damals gerade frisch verheiratet war, gewann.

Einige Jahre später fingen die Dinge an schiefzulaufen. Die Roboter, die eigentlich der Atmosphäre des Neptuns hätten trotzen sollen, fielen einer nach dem anderen aus. Alle ihre Systeme versagten, aber nie alle gleichzeitig und niemals in vorhersehbaren Mustern. Anstatt ihre Aufgaben zu erledigen, bis ihre Chips abstürzten, versuchten die Roboter, einander zu reparieren. Bald wurde klar, dass sie, obwohl sie nicht darauf programmiert waren, Freundschaften und Bündnisse geschlossen hatten. Die Meldungen, die sie zur Erde zurückschickten, waren voller Trauer. Was mit ihren Freunden geschah, schien ihnen genauso viel auszumachen wie ihr eigenes Schicksal, vielleicht sogar mehr.

Es sah ganz so aus, als hätten die Roboter menschliche Züge angenommen.

»Obwohl sie natürlich keine Menschen sind!«, hatte ein Hologramm mit einem Regierungssprecher in Lizas Sozialkundebuch verkündet. »Was in unseren Augen wie Freundschaft aussieht, ist in Wirklichkeit ein Programmierfehler. Wir haben den Robotern zu viel Freiheit gegeben, sich an ihre Umgebung anzupassen. Wir müssen jetzt lediglich eine kleine Änderung im Kernprogramm vornehmen… «

Aber keine der kleinen Änderungen funktionierte. Man konnte nichts rechtzeitig unternehmen, um die Roboter zu retten. Sie rosteten einer nach dem anderen und starben. Als ihre letzte Botschaft die Erde erreichte – Wir haben unser Äußerstes gegeben und sind niemandem böse –, hatten die Leute sie beinahe als menschliche Wesen akzeptiert und betrauerten ihr Schicksal. Die Demokratien überall auf der Welt verboten jegliche weitere Entwicklung künstlicher Lebensformen.

Als endlich die erste – und einzige – Lieferung von Neptun-Diamanten die Erde erreichte, war der letzte Roboter bereits verstummt. Alle hatten die letzten Stunden ihrer Existenz damit verbracht, ihre Mission zu erfüllen, und dafür gesorgt, dass zumindest eine Lieferung Diamanten zur Erde zurückgeschickt wurde. Diese Diamanten waren nun zu Neptuns Tränen geworden. Zwei Sets von Schmuckstücken wurden nach den Entwürfen von MrsHart gefertigt. Das mit den echten Diamanten konnte man inzwischen hinter kugelsicherem Glas bewundern und es trug die Inschrift Den Helden gewidmet. Das andere Set wurde mit künstlichen Steinen bestückt und MrsHart überreicht.

Die Steine, die MrsHart trug, waren hervorragende Imitate, dachte Liza. Wer immer sie hergestellt hatte, hatte es geschafft, das einzigartige Champagnerglitzern der echten Steine nachzubilden. Die Leute versuchten immer noch ergebnislos, diesen Farbton zu imitieren. Man suchte auch in den diamantreichen Bergen des Arktischen Ozeans danach, aber bisher hatte niemand Erfolg gehabt. Liza fragte sich, wer wohl diese Imitate hergestellt hatte.

Sie schaute MrsHart an und verstand plötzlich die verworrenen Gefühle, die sie eben verspürt hatte.

»Enttäuschung«, sagte sie. »Jetzt sind es Unglücksbringer geworden, nicht? Sie sind niemals nach New York gereist, obwohl nichts von dem, was geschehen ist, Ihre Schuld war.« Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Liza das Gewicht von MrsHarts Enttäuschung. »Das ist so ungerecht!«

»Das ist schon sehr lange her. Beinahe hundert Jahre. Diese Imitate waren die ganze Zeit über meine Glücksbringer. Mehr, als du erahnen kannst.« Sie wedelte ihre Armreifen hin und her, als könnte sie damit die Luft reinigen. »Nun, ich würde sagen, dass du hervorragend für deinen Job geeignet bist, meine Liebe. Sollen wir anfangen?«

Liza wünschte sich, sie hätte Dienst gehabt, als man MrsHart wieder eingewiesen hatte. Weil sie erst den Abstreifvorgang hinter sich bringen und sich dann noch um zwei, drei andere Patienten kümmern musste, würde sie kaum vor zwei Uhr nachts in MrsHarts Zimmer kommen.

MrsHart würde schlafen, wenn die Sitzung begann, was für die Behandlung in Ordnung war. Aber dann würde sich Liza nicht mit ihr unterhalten können.

Sie schaute sich den Rest ihrer Patientenliste an. Caroline Neville war auch wieder da. Liza musste mit ihrer Beraterin darüber reden, denn Caroline fehlte eigentlich gar nichts, außer dass sie sich an Freitagabenden manchmal einsam fühlte. Liza berührte den Bildschirm noch einmal, um nachzusehen, ob es weitere Anfragen von ihren Patienten gab.

MrsHart bat sie, an einen See in der Abenddämmerung zu denken, an dem die Eistaucher sangen. Ein anderer Patient, ein Junge, fragte, ob sie sich bitte vorstellen könnte, dass er beim Sportfest seiner Schule am 400-m-Rennen teilnahm und als Erster über die Ziellinie sprintete. Man hatte sein Bein vom Knie ab amputieren müssen, und nun wurde ein neues Bein gezüchtet, das sein fehlendes ersetzen sollte. Liza freute sich über diese Anfrage und musste unwillkürlich ein wenig lächeln.

Wegen solcher Wünsche arbeitete sie so gerne mit Kindern. Die hatten eine echte Begabung fürs Heilen. Die Eltern des Jungen hatten ihn wahrscheinlich daran erinnert, dass er erst einmal wieder gehen lernen musste, oder sie hatten ihm erklärt, dass er nur in einem Team gewinnen konnte. Der kleine Antoine mit dem gerade nachwachsenden Bein hatte sie jedoch um genau das Richtige gebeten. Manchmal musste man erst rennen, ehe man gehen konnte, zumindest im Herzen.

Als Liza fertig war, berührte sie den Bildschirm noch einmal, sodass er sich wieder in einen Spiegel verwandelte. Nun sah sie ihre beiden Augen da, wo vorher noch Namen und Diagramme angezeigt worden waren. Und natürlich ihre Haare! Sie brauchte beide Hände, um sie am Hinterkopf zusammenzufassen, und selbst dann lösten sich noch ein paar gelockte Strähnen heraus. Sie versuchte, die Ausreißer zu bändigen, allerdings ohne großen Erfolg. Die Haare waren einfach noch nicht lang genug. Dieser Kiefernzapfen-Haarschnitt war wirklich ein Fehler gewesen. Sie wickelte ein Haarband um den Zopf, hängte sich ihre ID-Karte um und achtete darauf, dass die Sensoren der Schnur die Haut an ihrem Nacken berührten. Zwei Jahre Ausbildung und ein Jahr Praktikum, und immer noch verspürte sie ein erregendes Prickeln, sobald die Sensoren Kontakt aufnahmen und ihr Namensschild mit dem weichen optimistischen Blau ihres Berufs aufleuchtete: Liza McAdams, Empathin.

Liza schob sich durch die Doppeltür mit der Aufschrift ABSTREIFRAUM und betrat den langen, ruhigen Gang, wo die Farbe des Lichts allmählich von Weiß zu schattenhaften Blau- und Grüntönen überging. Es war, als watete man in einen stillen Teich, wo einem das Blau und Grün zunächst bis zu den Knien, dann bis zur Taille und schließlich bis zu den Schultern reichten. Nach weiteren fünfundzwanzig Metern fühlte sie sich allmählich wie eine Kaulquappe, die unter einem Dach von Seerosenblättern dahinschwamm.

Sie hatte sich schneller als die meisten ans Abstreifen gewöhnt. Am Anfang konnte es bei Praktikanten stundenlang dauern, bis sie alles Störende abgestreift hatten, aber Liza hatte selten mehr als eine Stunde benötigt. Und sobald sie abgestreift hatte, fiel es ihr leicht, diesen gelösten Zustand beizubehalten. Alle in ihrer Klasse beneideten sie darum, dass sie es so schnell begriffen hatte, aber Liza glaubte, dass es wahrscheinlich nur daran lag, dass sie so jung war und noch nicht viel erlebt hatte.

Im Abstreifraum fand sie eine leere Kapsel, wählte ihre Lichtstärken und programmierte die Geräusche und Bilder. Manche Empathen legten sich zum Abstreifen gerne hin, andere zogen es vor, sich im Schneidersitz auf den Boden zu setzen. Für Liza taten es ein ganz gewöhnlicher Tisch und Stuhl. In der Kapsel ließ sie die Arme locker an der Seite hängen, schloss die Augen und ließ ihren Kopf nach vorne sinken, als wäre er eine schwere Blume. Dann begann sie die Brücke zum Heilen zu bauen, jene unsichtbaren Energiewellen zu verknüpfen, die sie mit jedem ihrer Patienten verbanden und sie im Laufe ihrer Schicht der Reihe nach zu jedem von ihnen hinziehen würden. Jeder Empath baute diese Brücken auf seine ganze eigene Weise auf. Liza fing damit an, dass sie sich vorstellte, Zauberbohnen in die Dunkelheit zu schleudern, die sich zu einem raschen Wirbel von Ranken und Blättern entwickelten – in einer anderen Farbe für jeden Patienten. Wenn die Ranken zu leuchten begannen, umwehte sie beinahe immer ein Hauch von glitzerndem Nebel. Liza spürte, wie ihre Schultern, ihre Ellbogen und ihre Handgelenke – in ihrer Visualisierung Orangen, Zitronen und Limetten – schwer wurden und wie all die Dinge, die zu ihrem alltäglichen Ich gehörten, durch ihre Fingerspitzen davonströmten.

Vierzig Minuten später, als sie sich gerade auf den Weg zur Kinderstation machte, holte Piper Simms sie ein.

»Dr.Morgan braucht dich in der Notaufnahme, Zimmer zwei«, sagte sie knapp.

Liza redete zwischen dem Ende ihres Abstreifvorgangs und dem ersten Patienten nicht gern. Dabei hätte zu viel von ihrer eigenen Persönlichkeit wieder in den Freiraum zurückströmen können, den sie in sich geschaffen hatte.

»Kann das nicht warten? Ich bin unterwegs zu einem neuen Patienten. Ein nachwachsendes Bein.« Liza konnte ihre Ungeduld kaum verbergen. Nachwachsende Beine bei Kindern hatte man eher selten zu behandeln. Sie war gespannt auf diese neue Erfahrung.

»Den Fall mit dem Bein haben sie jemand anderem übertragen.« Piper hielt ihr ihren Palmtop hin, damit sich Liza den Bildschirm mit den Patientenlisten ansehen konnte. »Mir.«

Sie hätte nicht so triumphierend schauen müssen, dachte Liza. Vor drei Jahren, als Liza mit der Ausbildung angefangen hatte, war Piper die beste Empathin in der Abteilung gewesen. Jetzt hatte sie Probleme mit Burnout und schien jede neue Klasse von Empathen, die auftauchte, mit großem Widerwillen zu betrachten, ganz besonders aber Liza. Pipers kleine gemeine Sticheleien hatten sich so sehr gehäuft, dass Liza schon mit ihrer Beraterin darüber gesprochen hatte.

»Empathenneid«, hatte die ihr erklärt. »Piper weiß genau, dass du eine ebenso gute Empathin werden kannst, wie sie einmal eine war.«

»Aber ich mache Fehler. Mir entgehen so viele Dinge.« Dann hatte Liza ein wenig gestutzt. »Warum hast du war gesagt?«

»Wie bitte?«

»War. Du hast gesagt, ich könnte so gut werden, wie sie einmal war.«

»Ah.« Die Beraterin war nachdenklich geworden. »Nun ja, Piper ist drei Jahre älter als du und leidet an einer Krankheit, die für alle Empathen gefährlich ist. Sie hat sich verliebt.«

Damals hatte Liza zum ersten Mal gehört, wie ungeheuer stark sich persönliche Bindungen auf ihre Arbeit auswirken konnten. Starke Gefühle, Hass genau wie Liebe, konnten die Fähigkeit einer Empathin, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, völlig zerstören. Piper tat Liza wirklich leid.

»Bekommt sie ihre Fähigkeiten je zurück? Ich meine, wenn sie heiratet und alles wieder in geregelten Bahnen läuft, wird sie dann wieder die Beste werden?«

»Manchen gelingt das«, hatte die Beraterin geantwortet. »Manche verlieren ihre Fähigkeiten völlig, andere haben ihr Leben lang damit zu kämpfen. Man kann das nicht vorhersagen. Piper wird immer eine gute, sogar eine begabte Empathin sein. Aber so gut, wie sie einmal war? Das muss die Zukunft zeigen. In der Zwischenzeit solltest du immer versuchen, sanft mit einer Empathin umzugehen, die leidet. Eines Tages könnte es auch dich treffen.«

Das glaubte Liza allerdings nicht. Sie hatte nicht die Absicht, sich zu verlieben – ganz besonders jetzt nicht. Sie war in den Schlafsaal zurückgerannt, um den anderen zu erzählen, was sie gerade erfahren hatte. Und musste zu ihrer großen Verlegenheit herausfinden, dass es außer ihr alle anderen bereits wussten, weil alle sich auch schon einmal verliebt hatten und die Liebe, wie sie ihr erklärten, einfach die extremste Form von Durchdringung war. Liza wusste von der Durchdringung, jenem verstörenden Phänomen, wenn man sich zu einem Patienten hingezogen fühlte und so sehr von diesem Gefühl überwältigt wurde, dass man völlig den Fokus verlor. Anziehung hatte Liza bereits verspürt, aber nie dieses schmerzliche Stechen, das die anderen beschrieben. Wenn man nur noch an einen anderen Menschen denken konnte, wenn man ständig sein T-Shirt unter dem weißen Kittel tragen wollte, damit man ihn während des Dienstes immer um sich spüren konnte, dann war man wirklich durchdrungen.

»Aber das verstößt doch gegen die Regeln«, sagte Liza, als sie die Geschichte von dem T-Shirt hörte. Im Krankenhaus gab es Kleidungsregeln für alle.

»Ja, das stimmt«, hatte Mariko Sanchez erwidert. »Aber du willst es dann trotzdem machen. Daran erkennst du, dass du durchdrungen bist.«

»Gott sei Dank hält es ja nicht lange an«, hatte jemand hinzugefügt, und sie hatten alle erleichtert gelacht. Es kostete einige Anstrengung, überhaupt Empathin zu werden, und keine von ihnen wollte jetzt ihre Stelle verlieren. Wäre Piper nicht so begabt gewesen, hätte man sie wahrscheinlich schon vor einiger Zeit gebeten, das Krankenhaus zu verlassen.

Seither hatte Liza versucht, Geduld mit Piper zu haben, aber im Augenblick war das nicht gerade einfach.

»Meinst du nicht, dass du dich jetzt besser auf den Weg machen solltest?«, fragte Piper gerade. »Dr.Morgan hat ausdrücklich dich angefordert.«

Liza brachte keine Einwände vor. Wenn man einmal seine Schicht angetreten hatte, hatte man keine persönliche Meinung mehr. Und Piper würde andernfalls wahrscheinlich Bericht erstatten und Liza anschwärzen.

»In Ordnung«, sagte Liza schließlich. »Ich war seit Mittwoch nicht mehr in der Notaufnahme, da muss ich mich also auf was ganz anderes einstellen.«

Kapitel 2

Begegnungen aus nächster Nähe

Liza wusste nicht, was sie in der Notaufnahme erwarten würde. Sie hoffte nur, dass es keine abgetrennten Körperteile sein würden. Ihr wurde immer schwindelig, wenn sie Blut sah, und ein abgetrenntes Körperteil bewirkte, dass der ganze Körper wütend reagierte und sie nur unter großen Schwierigkeiten arbeiten konnte.

Dr. Morgan wartete mit finsterer Miene auf sie, aber das hatte nichts zu bedeuten, weil Dr. Morgan immer finster schaute. Außer wenn ein Problem sich als Routinesache herausstellte. Dann sah er enttäuscht aus.

»Prellung an der Stirn«, sagte er und führte Liza zu Zimmer zwei der Notaufnahme. »Er hat sich geweigert, seinen Kopf scannen zu lassen, und jetzt will er gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus verlassen.«

Gegen ärztlichen Rat. Ja, so etwas ärgerte Dr. Morgan.

»Glauben Sie, dass er eine Gehirnerschütterung hat?«, fragte sie.

»Ich denke, er hat ein subdurales Hämatom. Die Blutung könnte jeden Augenblick ausbrechen wie der Vesuv.« Seine Augen glänzten erwartungsvoll, während er mit einer Handbewegung auf den Untersuchungsraum deutete. »Schauen Sie mal, ob Sie es schaffen, ihn zum Bleiben zu bewegen.«

Liza atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen, und trat ins Zimmer. Der junge Mann, der in der Kabine saß, war nicht viel älter als sie. Man hatte Liza dazu ausgebildet, besonders die kleinen Gesten zu beachten, die in den ersten Minuten einer Begegnung Aufschluss über den Gemütszustand des Patienten und über seine Offenheit gegenüber nicht-invasiven Heilmethoden gaben. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie eine verschwommene, rasche Bewegung. Es sah so aus, als hätte sich der junge Mann mit einem kleinen Metallstück über die Stirn gerieben, aber der Gegenstand war so schnell wieder in seiner Tasche verschwunden, dass sie nicht sicher sein konnte.

Als der Patient den Kopf hob, spürte Liza ein heftiges Ziehen. Ein unwillkürliches persönliches Hingezogensein. Einen Reflex, so wie man hustet, wenn man in ein staubiges Zimmer tritt. So etwas hatte sie schon zuvor bei anderen Patienten verspürt, aber nicht ganz so stark. Als er sie anschaute, schienen seine tiefen, grauen Augen sie beinahe magnetisch anzuziehen. Sie wollte ihn nur immer weiter anschauen, genau ansehen, wie ihm ein paar Strähnen seines dunklen Haars in die Stirn fielen. Piper hatte offensichtlich mit ihren Sticheleien Lizas innere Ruhe sehr gestört. Sie hatte sich noch nie jemandem gegenüber so offen gefühlt. Sie war fest entschlossen, ihre Gelassenheit wiederzugewinnen.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Liza, die Empathin, die man dir zugeteilt hat.«

»Ich bin David Sutton und mache hiermit die Zuteilung wieder rückgängig.« Beim Lächeln zog er ein wenig die Augenbrauen hoch, als lüde er sie ein, mit ihm über seinen Scherz zu lachen. Doch als er sie dann anschaute, veränderte sich sein Lächeln und er bekam einen völlig anderen Gesichtsausdruck. Anstatt vom Krankenhausbett zu springen, blieb er sitzen. Alles an ihm schien zur Ruhe zu kommen, und dann schwebte das ganze Zimmer in eine große Stille, wie wenn ein Blatt oder eine Feder zu Boden fällt. Einen langen Augenblick starrte er sie einfach nur an, und Liza gestattete ihm das, ohne sich zu bewegen oder ihr Gesicht gegen seinen Blick zu verschließen.

Es war nicht einfach, sich von jemandem so anschauen zu lassen, aber viele Patienten schienen das zu brauchen.

»Es ist, als würde jemand mit seinem Auto eine Probefahrt machen«, hatte ihre Ausbilderin ihnen erklärt, »nur dass ihr das Auto seid.« Sie hatten alle gelacht, aber das machte die Sache nicht einfacher. Fünf in der Klasse hatten aufgegeben, weil sie es nicht schafften, sich so anschauen zu lassen, ohne zu posieren oder unruhig zu zappeln. Es war viel schwerer, als es klang. Zunächst hatte sich Liza so nackt und bloß gefühlt, wenn sie vor einem Patienten stand, dass sie sich ablenken musste, indem sie im Kopf Listen von Liedertiteln aufstellte, die mit bestimmten Buchstaben des Alphabets anfingen, oder überlegte, wieso zweihundert Jahre alte Filme wie Titanic oft so viel besser waren als die Remakes als Hologramm. Jetzt, da sie mehr Selbstvertrauen hatte, hatte sie begonnen, diese kleinen Zeiträume dazu zu nutzen, schon einmal die heilende Brücke zum Patienten aufzubauen.

Aber heute Abend passierte das nicht. Sie hatte Schwierigkeiten damit, ihre innere Ruhe wiederzufinden, und sie fühlte sich so nackt und bloß wie damals, als sie zum ersten Mal einem Patienten gegenübergestanden hatte. Kaum hatte sie die Fundamente für ihre Brücke gelegt und begonnen, die unsichtbaren blauen Ranken durch die Luft zu werfen, da zerkrümelten sie auch schon und verschwanden aus ihren Gedanken.

David Suttons Augen ruhten noch immer auf ihr. Sie fühlte, wie ihre Haut warm wurde, und versuchte, an Liedertitel zu denken, die mit dem Buchstaben A begannen. Es gelang ihr nicht, also ging sie zum Buchstaben B über. »Bitter Poison«, »Borrowed Time«, »Been Around and Down«, »Boomdance«. Normalerweise brauchten Patienten weniger als dreißig Sekunden, bis sie zufrieden waren, aber nun war schon über eine Minute vergangen und Liza spürte seinen Blick immer noch.

Plötzlich lächelte er wieder. »Du bist eine von uns«, sagte er.

Was sollte das denn heißen? Vielleicht hatte Dr. Morgan recht, und dieser Patient hatte wirklich ein subdurales Hämatom. Sein Gehirn zeigte wohl bereits die Auswirkungen des Sauerstoffmangels. Oder meinte er damit, dass er ebenfalls ein Empath war? Das würde das vibrierende Energieband erklären, das sie zwischen sich und ihm verspürte.

Er sprach weiter. Diesmal flüsterte er beinahe, und die Worte kamen so rasch und leise, dass sie nicht einmal feststellen konnte, welche Sprache das sein mochte.

Die Sache verlief überhaupt nicht wie geplant, und Liza versuchte verzweifelt, sie wieder auf Kurs zu bringen. »Dr. Morgan meinte, wir sollten uns ein paar Minuten unterhalten.«

»Prima. Ich hole nur meine Sachen, dann können wir gehen.« Er grinste. »Zu dir oder zu mir?«

Gut. Er war also doch nicht so seltsam, er wollte nur flirten. Damit hatte sie reichlich Erfahrung.

»Dr. Morgan wollte, dass ich herausfinde, ob es dir gut geht. Laut deiner Krankenakte warst du bewusstlos, als man dich eingeliefert hat, mit einer ziemlichen Beule an der Stirn.«

Er schaute verwirrt. »Wer bist du noch mal?«

Konnte er das leuchtende Blau ihres Namensschilds nicht sehen? »Liza McAdams, Empathin. Ich kann dir mit der Prellung an deiner Stirn helfen.«

Plötzlich verspürte sie ein heftiges Rucken an dem Energiefeld zwischen ihnen. Er riss seinen gesamten Körper zurück, als wollte er sich außer Reichweite bringen. Das Licht, das sie gefühlt hatte oder zu fühlen gemeint hatte, war verschwunden.

»Du kannst Gedanken lesen?« Er wirkte verstört, beinahe wütend. »Nein, danke. Wenn ich möchte, dass mir jemand meine Zukunft voraussagt, dann kann ich auf den Jahrmarkt am anderen Ende der Stadt gehen.«

»Ich lese keine Gedanken«, erklärte sie. Sie hatte dieses Gespräch schon öfter geführt, als sie zählen konnte, aber gewöhnlich mit älteren Patienten, die glaubten, dass mit dem psychischen Heilen nur ihre Krankenhausrechnung künstlich in die Höhe getrieben werden sollte.

»Ach nein?«, erwiderte er herausfordernd.

»Nein. Ich lese Körper.« Sie hatte das Wort Körper nicht betonen wollen. Aber ihre Stimme hatte ihr einen Streich gespielt, und jetzt spürte sie, wie ihr eine leichte Röte auf die Wangen stieg. Oft legte sie ihren Patienten, wenn sie mit ihnen arbeitete, die Hände auf, mit geöffneten Handflächen, um den Energiefluss zu erleichtern. Sie fragte sich, wie es sein würde, die glatte Wärme von Davids Körper durch seine Kleidung hindurch zu fühlen. Hör auf!, mahnte sie sich. Hör auf, sonst gleitest du völlig aus der Ruhezone heraus und musst zurück und noch einmal mit dem Abstreifen anfangen.

»Aber sind Gedanken und Körper nicht eins?«, fragte er. Zu ihrer Überraschung schien er nicht mehr abweisend, sondern wirklich interessiert zu sein und wollte anscheinend auch nicht mehr flirten.