Liebe ist so scheißkompliziert - Sabine Schoder - E-Book
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Sabine Schoder

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Beschreibung

Auf einer Party stürzt Nele mit Jerome ab, der alles verkörpert, wonach sie sich immer gesehnt hat. Als sie sich zum ersten Mal küssen, hat Nele hunderttausend Schmetterlinge im Bauch. Doch am nächsten Tag kursiert ein Video von ihr im Netz, auf dem sie eindeutig zu wenig anhat. Eigentlich kann nur Jerome dieses Video gemacht haben. Aber Nele ahnt, dass die Wahrheit viel komplizierter ist ...

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Seitenzahl: 540

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Sabine Schoder

Liebe ist so scheißkompliziert

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Ein Meter neunzigDieser riesengroße JungeDie Riesin ist wohl noch JungfrauSchnitzt du Herzen in die Äpfel?Wie sagen die Franzosen? MerdeOb er sich neben mich stellen würde?Ich bring dich jetzt nach Hause, SchatzIch muss die ganze Zeit an ihn denkenGott. Hasst. Mich.Kannst du bitte alles zurückspulen, was ich eben gesagt habe?Jungfrauen überleben immerWo ist das zauberhafte Elixier, das mich schrumpfen lässt?Für dich würde ich alles ausziehenJeder wird mal abserviertFalkensteins MeisterschlampeDer Teufel höchstpersönlichLieber Gott, unsere Tochter ist defektMein Kurs wird gestürmtWarum sollte ich so etwas tun?Heute ist kein guter Tag, um ihn zu besuchenWie nah wir uns sindWas, wenn ihm danach nichts bleibt?Willst du mich umbringen?!Du weißt es doch schonScheiß auf das KlosterDu solltest dich ausziehenWarum verprügelst du meinen Spiegel?Statistik! Straßenverkehr!Es tut mir leidLass uns von hier verschwindenWer hat dir das angetan?Ich mag dich wirklich sehrWer mir zufällig vor die Linse geraten istHeute löse ich mein Versprechen einIhr werdet dafür bezahlenDie Zeit steht stillEpilogDanke an

Für die Größten in meinem Leben.

Auch die kleinen.

Ein Meter neunzig

Vorsichtig drücke ich die Klinke meiner Zimmertür hinunter. Sie quietscht, und das Geräusch ist wie der Startpfiff auf einer Laufbahn. Bevor ich einen Fuß auf die Schwelle setzen kann, wetzt meine Schwester mit einem Aufschrei an mir vorbei – direkt auf die offene Tür des Badezimmers zu.

Sofort jage ich hinterher. Der Flickenteppich rutscht unter mir weg, mein Bein schießt nach vorne und streift gerade noch Leas Wade, ehe die Tür ins Schloss donnert und zweimal verriegelt wird.

»Du hättest mir fast den Fuß abgetrennt!« Empört raffe ich mich auf und kicke den Teppich die Treppe runter. Er rollt sich auf der obersten Stufe zusammen und streckt seine Fransen triumphierend in die Höhe. Selbst die Textilien in diesem Haus verhöhnen mich!

Ich schlage eine Faust gegen die Badezimmertür. »Beeil dich gefälligst! Ich habe mich seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr gewaschen! Der Abdeckstift verschlimmert deine Pickel nur! Du bist dreizehn, und dein Gesicht ist ein Streuselkuchen, find dich damit ab! … Hörst du mir überhaupt zu?«

Die Klospülung rauscht. »Was ist?«

Ich stöhne. »Fünf Minuten, kapiert?«

»Ja, ja.«

Ich stapfe zurück ins Zimmer und strample meine Schlafanzughose von den Beinen. Ein goldener Schimmer fällt zwischen den Vorhängen hindurch, der mich vom Schrank ablenkt und stattdessen zum Fenster zieht. Als ich den Stoff beiseiteschiebe, werde ich von grellem Tageslicht geblendet. Der März weht mir entgegen, frisch und klar, mit dem grünen Duft des ersten Rasenschnitts. Ich sauge die Mischung tief in meine Lungen und recke mich in den blassblauen Himmel.

»Guten Morgen, Klinger!«

Ich blinzle hinunter aufs Nachbargrundstück, das durch einen Zaun von unserem Garten abgetrennt wird. Tom Falk lehnt sich lässig übers Holz. Tom, mit dem ich nackt gebadet habe, als ich drei Jahre alt war. Tom, der in der Grundschule meinen Zopf angezündet hat, damit seine Kumpels ihm ein Eis kaufen. Und Tom, der trotz seiner Schandtaten mein bester Freund ist. Er steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette in den Mund, die verflucht nach einem Joint aussieht, und bläst mir den Rauch mit breitem Grinsen entgegen. »Du trägst keinen BH, oder?«

Ich reiße den Vorhang vor mich und strecke meinen erhobenen Mittelfinger durch den Spalt. Toms Lachen wird von einem Hustenanfall unterbrochen, den ich ihm mit niederträchtiger Freude gönne.

Da unser pubertierender Findling (auch bekannt als Lea, meine Schwester) immer noch das Bad besetzt, begnüge ich mich mit einem Spritzer Deo und beschließe, für den Rest des Tages heimlich zu müffeln. Entweder das, oder ich verpasse das Frühstück – eine Frau muss Prioritäten setzen.

Ich drehe mich zum Stehspiegel. Die Reflexion wird über meinem Kinn abgeschnitten, und ich muss einen Schritt zurücktreten und den Nacken einrollen, um mich vollständig betrachten zu können. Das Mädchen mir gegenüber seufzt. Sie hat langweilige braune Haare, eine platte Nase und elendslange Beine. Beine, die sie in die unbarmherzige Körpergröße von hundertneunzig Zentimetern strecken.

Das ist kein Scherz.

Ein Meter neunzig.

Ohne Schuhe.

Wie in Trance tausche ich mein Schlafoberteil mit einem extraweiten Shirt, das knapp unter meinem Bauchnabel endet und den Oberkörper optisch verkürzt. Dann halte ich inne. Eigentlich sollte ich meine alte Dreiviertelhose anziehen, die meine Größe weniger betont, aber alle Mädchen tragen dieses Jahr Shorts.

Mein Blick gleitet zu der Einkaufstüte, die seit einer geschlagenen Woche neben meinem Schreibtisch steht und mit ihrem knallbunten Aufdruck vorwurfsvoll in meine Richtung leuchtet. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Im Geschäft haben die giftgrünen Shorts mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert, jetzt verdreht allein der Gedanke, sie öffentlich in der Schule zu zeigen, meinen Magen.

Ich bin kein Vollidiot. Natürlich weiß ich haargenau, wie absurd all die Schönheitsbilder sind, die uns aufgehalst werden. Die meisten Menschen sind zu dick, zu dünn, zu klein oder, wie in meinem absonderlichen Fall, giraffenartig groß. Wir alle haben zu sprödes Haar, zu fettige Haut, zu viele Sommersprossen, zu schiefe Nasen oder zu schmale Lippen. Eine ganze Industrie lebt von unseren Komplexen und setzt alles daran, dass wir sie bloß nie vergessen (irgendwer muss den Geldstrom ja am Laufen halten). Das alles ist mir klar. Und trotzdem. Es ändert nichts daran, dass ich gerne ein paar Zentimeter normaler wäre.

Plötzlich halte ich die Einkaufstüte fest, ohne mich daran zu erinnern, sie vom Boden hochgehoben zu haben. Meine Hand gleitet hinein und zieht die Shorts heraus, an denen noch immer das Preisschild hängt, damit ich sie vielleicht doch in letzter Sekunde umtauschen kann.

Verdammt nochmal, sei nicht so ein Feigling, Nele!

Meine Finger schließen sich um das Etikett und reißen es mit einem Ruck los. Ohne hinzusehen, ohne mir bewusstzumachen, dass ich mir damit jeden Rückzieher verbaue, schmeiße ich es in den Mülleimer und würdige es keines Blickes mehr. Wenn ich schon auf Hochsteckfrisuren und High Heels verzichten muss, dann will ich zumindest etwas nackte Haut zeigen!

Ich zwänge mich in die Shorts, die verführerisch von meinem Po leuchten, und drehe mich probehalber vor dem Spiegel hin und her. Meine Schwester steckt ihren Kopf zur Tür herein, gerade als ich meinen Hintern im Stehspiegel beglotze.

»Beglotzt du deinen grünen Arsch?«

Ich wirble herum und werde knallrot. »Natürlich nicht!«

»Gibst du deinen Händen Jungennamen und streichelst damit deine Pobacken?« Leas Mundwinkel wachsen bis zu den Ohren. »O Tom, gib mir einen Klaps! Verwöhn mich mit deinen gelben Wurstfingern!«

Mein Kopfkissen verfehlt knapp Leas Gesicht und schlägt stattdessen einen Bilderrahmen von der Wand. Sie rennt lachend davon.

Lea ist dreizehn Jahre alt. Mit ihren eins siebenundsiebzig ist sie auch exakt dreizehn Zentimeter kleiner als ich. In ihrem Alter bin ich zum ersten Mal heulend nach Hause gekommen, weil auf Babs’ Geburtstagsparty kein Junge mit mir tanzen wollte. Zwei Ärzte und viele Nadelstiche später wurde mir meine perfekte Gesundheit bestätigt. Keine seltene Hormonkrankheit, die man mit Tabletten bekämpfen muss. Ich bin einfach nur groß. Eine Riesin.

Ich erinnere mich genau daran, wie meine Mutter mich damals getröstet hat. Sie lag bei mir auf dem Bett, streichelte meine Haare und erklärte mir, dass ich mich glücklich schätzen könne. Immerhin fahren alle Männer auf Modelbeine ab, richtig? Allerdings hat sie dabei nicht bedacht, dass kein Kerl auf der Welt neben seiner Freundin klein und schmächtig wirken möchte. Seit der sechsten Klasse hat es jedenfalls keiner mehr gewagt, sich bei einem Klassenfoto direkt neben mich zu stellen. (Geschweige denn, etwas anderes mit mir zu tun.)

Ich seufze. Höchste Zeit, diese trüben Gedanken mit einer Dosis Zucker zu betäuben!

In der Küche werde ich fast von meinem Vater über den Haufen gerannt. Besser gesagt, der arme Teufel entgeht haarscharf einer Kollision mit seiner Wand von Tochter. Pa ist eins vierundachtzig, trägt seine Frisur an diesem Morgen verstrubbelt und fummelt einhändig an einer Krawatte, die ihm jeden Moment vom Hals rutschen wird.

»Hast du meine Autoschlüssel gesehen, Spatz?«, begrüßt er mich.

Ich werfe mich zur Seite, um einen Zusammenstoß zu verhindern, und zucke die Schultern.

Meine Mutter steht an der Kücheninsel und rührt in einer Schüssel. Neben ihr verraucht Öl auf dem brandneuen Crêpes-Maker, den Lea und ich ihr zum Geburtstag geschenkt haben. (Zugegeben ein nicht uneigennütziges Geschenk.)

»Hast du in der Hose von gestern nachgesehen?«, rattert sie ihre Liste herunter. »Auf der Waschmaschine im Badezimmer? Beim Spiegel am Eingang? Steckt er vielleicht noch im Auto?«

Pa hält abrupt inne, kratzt sich an der Schläfe und läuft hinaus in den Flur.

Ich gehe zu Mam und stütze mich mit gebeugtem Oberkörper auf den Tisch auf. Unsere Einbauküche wurde für Menschen gezimmert, die durchschnittlich dreißig Zentimeter kleiner sind als ich, so wie meine Mutter zum Beispiel. Auf ihrem Scheitel entdecke ich ein neues, graues Haar, während sie flüssigen Teig aufs heiße Eisen schöpft und ihn sorgfältig mit dem Löffel verteilt. Der Duft von frisch gebackenen Pfannkuchen lässt mir augenblicklich die Spucke im Mund zusammenlaufen.

Leider zieht der Geruch auch lästige Insekten an. Schwesterförmige Insekten.

»Nele betatscht ihren eigenen Hintern vor dem Spiegel.«

Ich drehe meinen Kopf zur Küchentür.

Lea trägt einen zartrosa Rock und ein enges Top, unter dem sich ihre Brüste abzeichnen wie zwei Smarties, die sie sich auf die flache Haut geklebt hat. Ihre neuerdings blond gesträhnten Haare werden von einer silbernen Spange aus der Streuselkuchen-Stirn gehalten, und auf ihren Lippen glänzt rosa Gloss, der das Frühstück nicht überleben wird. Seit sie im Basketballclub ist und mit ihren neuen, coolen Freundinnen rumhängt, hält sich die Kröte plötzlich für eine Frau.

»Wenigstens habe ich einen Hintern, den man betatschen kann.« Ich wackle vielsagend mit den Augenbrauen. »Natürlich können zwei Besenstiele, die aus dem Rumpf wachsen, auch sehr attraktiv sein. Für pädophile Pinocchios, die keinen Schwa–«

»NELE!« Meine Mutter und mein Vater gleichzeitig.

Lea beißt sich auf die Unterlippe.

Ich schnappe ihr den ersten Pfannkuchen vor der Nase weg.

Pa legt den Autoschlüssel ab und begutachtet mich. »Diese Shorts sind zu kurz für die Schule, Nele. Diese Shorts sind generell zu kurz. Für dein ganzes Leben.«

Ich setze mich an den Tisch und nehme das Besteck in die Hand. »Wenn Lea sich in diesem Rock bückt, sieht man ihre Unterhose.«

Der Kopf meines Vaters schnellt zu Lea.

Rakete erfolgreich abgewehrt und auf neues Ziel gelenkt. Ich bestreiche den Crêpe mit Schokocreme und lehne mich entspannt zurück, um den Einschlag zu beobachten.

»Stimmt gar nicht!«, protestiert Lea.

»Du bist erst dreizehn!«, ruft mein Vater. »Ist das Lippenstift in deinem Gesicht?«

»Schatz«, stöhnt meine Mutter. »Sie ist dreizehn.«

»Ich habe mit dreizehn nicht mal gewusst, was ein Hintern ist! Geschweige denn welche betrachtet!«

»So ist es.« Grinsend rolle ich den Pfannkuchen zusammen. »Pa hat Mam seine Briefmarkensammlung gezeigt und uns beide adoptiert. Der Ärmste ist noch Jungfrau.«

»NELE!« Wieder beide Eltern.

Lea tritt gegen mein Stuhlbein, als sie an mir vorbeigeht. Ich schiebe mir den Crêpe in den Mund und lasse mir die Köstlichkeit auf der Zunge zergehen.

»Lea, komm und iss dein Frühstück.« Mam häuft Gebackenes auf Leas Teller und übergießt das Ganze mit einem Gemisch aus Zitronensaft und Zucker. Gedanklich bastle ich an einem Kommentar, wie sich das Fett in neue Pickel verwandeln wird, doch bevor ich mich zwischen den Worten reifen und aufblühen entscheiden kann, schiebt Lea das Essen von sich.

»Hab keinen Hunger.« Sie wendet ihren Kopf in die andere Richtung.

»Aber du musst was essen!« Mam schaut hilfesuchend zu meinem Vater, dessen vollbeladene Gabel in halber Höhe zu seinem Mund stehen bleibt. Nach seinem erschrockenen Blick zu urteilen, wird ihm gerade klar, dass er zwischen die Fronten einer pubertierenden Jugendlichen und seiner Ehefrau gezogen wird. Statt sich auf eine Seite zu schlagen, wählt der Feigling seine übliche Flucht: Humor.

»Bist du etwa verliebt, Mäuschen?«

Das war die falsche Frage. Meine Mutter seufzt, weil er kein Machtwort gesprochen hat, und stemmt ihre Fäuste in die Hüften. Lea hingegen springt so schnell vom Tisch auf, dass alle Tassen erzittern. Sie stürmt zur Spüle, dreht den Wasserhahn bis zum Anschlag auf und hält ein Glas darunter. Die Flüssigkeit spritzt über die Arbeitsfläche.

»Ich frühstücke lieber in der Schule mit meinen Freunden«, schnaubt sie. Dabei betont sie das letzte Wort, um uns alle wissen zu lassen, dass ihre blöde Familie garantiert nicht in diese Kategorie fällt.

Unsere Eltern sind damit beschäftigt, sich verzweifelte Blicke zuzuwerfen, die vermutlich so was heißen sollen wie: Das war deine Idee mit den Kindern! Ohne weiteres lassen sie sich von Leas künstlichem Aufbrausen täuschen, doch mich führt die kleine Kröte nicht so leicht an der Nase herum. Lea setzt das Glas an und schluckt das Wasser gierig hinunter. Allerdings nicht, um ihren Durst zu löschen. Sondern um von ihren brennenden Wangen abzulenken.

Ist sie etwa tatsächlich …?

In dem Moment klingelt mein Handy.

Ich ziehe es aus der Hosentasche und entdecke Toms Foto auf dem Display. Auf dem Bild trägt er eine riesige Wollmütze, unter die er seine braunen Rastas gestopft hat. Sein Lachen ist so breit, dass es seine Augen zu Schlitzen zusammendrückt. Ich nehme beim dritten Klingelton ab.

»Der Bus kommt, Klinger.«

»Scheiße!«

»Kann es sein, dass du heute Morgen keine Hose getragen hast?«

Ich schnappe meinen Rucksack und renne los.

 

Keuchend springe ich in den Bus. Ein Junge zuckt zusammen und knallt seine Tasche auf den freien Platz an seiner Seite. Er blickt angestrengt aus dem Fenster, als ich an ihm vorbeigehe.

Ich falle auf den Sitz neben Tom. »Du riechst wie ein gutbesuchter Coffeeshop in Amsterdam. Fällt deinem Vater das nicht auf?«

Tom grinst. »Solange ich irgendwann das Abi schaffe, sieht der Herr Schulrat großzügigerweise darüber hinweg. Außerdem habe ich ihm angedroht, meine Rastas türkis zu färben. Was würde das für einen Eindruck bei seinen Kollegen machen?« Er deutet auf meine Körpermitte. »Ist diese Hose neongrün, oder habe ich zu viel geraucht?«

Ein unsicheres Gefühl rauscht durch meine Brust, doch ich beschließe, es nicht zu zeigen. Gerade als sich die Türen schließen, rennt ein Streuselkuchen in den Bus, zeigt mir den Mittelfinger und setzt sich nach vorne zu den anderen Unterstüflern. Rasch krame ich in meinem Rucksack nach Kopfhörern, um ein anderes Gesprächsthema als meine Bekleidung zu finden. Der Bus fährt bereits ab, und damit auch meine letzte Chance, zurück nach Hause zu stürmen und mich umzuziehen.

Glücklicherweise ist Toms Aufmerksamkeitsspanne so kurz wie sein Morgenjoint. Er nickt zu Lea rüber. »Habt ihr zwei euch wieder in die Haare gekriegt?«

Statt einer Antwort schiebe ich den Stecker in mein Handy und klicke die Playlist bis zu den richtig heftigen Rocksongs durch. Einen Stöpsel drücke ich in mein Ohr, den anderen halte ich Tom hin. Er greift danach, dreht ihn aber nur zwischen den Fingern. Tatsächlich sind seine Nägel vom Nikotin leicht verfärbt. Seit wann achtet Lea auf die Hände von Jungs?

»Noch zwei, drei Jahre, und ich würde einen Fight der Klinger-Schwestern gerne sehen. Inklusive Bikinis und Schlammloch.«

»Das ist ekelhaft. Willst du mithören oder nicht?«

Musik hören und nebenbei quatschen gehört zu unserem morgendlichen Ritual, seit wir elf sind. Tom ist ein Jahr älter und eigentlich eine Stufe über mir, doch weil er letztes Schuljahr die Hälfte seiner Klausuren vergessen hat, sitzt er jetzt in meinen Kursen. Sein Vater nennt es freiwillige Wiederholung. Zugegebenermaßen hatte Tom die Wahl zwischen Sitzenbleiben und In-hohem-Bogen-aus-dem-elterlichen-Nest-Fliegen. Natürlich würde ich ihm das niemals sagen, aber ich bin heimlich froh darüber. Seit Tom in meinem Jahrgang ist, habe ich zum allerersten Mal einen echten Freund.

Es ist nicht etwa so, dass die anderen mich hänseln würden. Genau genommen sind die meisten nett zu mir. Nett und oberflächlich und so wenig an mir interessiert, dass ich nur zu Partys eingeladen werde, um die Gästeliste aufzufüllen. Ob ich wohl für zwei Personen zähle?

Ich drücke auf Play, und die harten Beats von Major Malfunction untermalen das allgemeine Geschnatter im Bus. Punkrock ist die einzige Art von Musik, die Tom auf nüchternen Magen verträgt; er behauptet stur, dass er von Katy Perry Durchfall bekommt. Der Sänger brüllt sich in unseren Ohren heiser, und Tom grinst dankbar zu mir hoch. Die Haut um seine haselnussbraunen Augen legt sich in unzählige Lachfalten.

In Momenten wie diesen fällt mir wieder ein, warum ich mal in ihn verknallt war. Damals war ich sieben und noch kleiner als er, dann fing ich mit dem Wachsen an und er mit dem Rauchen. Sein Vater erzählt jedem, dass Zigaretten an den überschaubaren hundertvierundsechzig Zentimetern seines achtzehnjährigen Sohnes schuld seien. Vollkommen unerwähnt lässt er dabei, dass er es ihm nie verboten hat. Weshalb konnten mir meine Eltern keine wachstumshemmenden Drogen ins Essen mischen? Ein Bauchnabelpiercing und eine Packung Marlboro – mehr hätte ich mir als Zwölfjährige nicht gewünscht.

Toms Grinsen holt mich zurück in die Gegenwart. »Stellst du dich absichtlich halbnackt vors Fenster?«

Obwohl mein Blut eine beachtliche Höhe zurücklegen muss, schießt sofort Hitze in meine Wangen. »Ich war nicht nackt, du kiffender Zaunspanner! Pickelface hat bloß das Bad besetzt.«

»Das erklärt einiges.«

»Was? Wieso?« Ich wühle nach meinem Make-up-Spiegel im Rucksack.

Er lacht. »Das war ein Scherz, Klinger!«

Ungeduldig puste ich die Puderreste vom Spiegel. In dem kleinen Kreis kann ich mich nur ausschnittsweise betrachten. Die Reflexion wandert über mein Gesicht, offenbart jedoch keine gröberen Baustellen – zumindest keine, die sich mit Schminke beseitigen lassen. An guten Tagen bezeichne ich meine Nase als flach. An schlechten Tagen nenne ich sie Lord Voldemort.

Ruckartig bleibt der Bus stehen.

Tom reckt sich über den Vordersitz. »Was siehst du?«

Ich überblicke locker alle nach oben gestreckten Köpfe. »Eine Warnblinkanlage leuchtet mit der Ampel um die Wette. Ein Auffahrunfall, es staut sich in beide Fahrtrichtungen. Die Feuerwehr streut Ölbindemittel aus.«

Tom knetet nervös den Kopfhörer. »Scheiße.«

Überrascht hebe ich eine Augenbraue. »Seit wann willst du pünktlich in der Schule sein?«

Er knallt den Hinterkopf an die Lehne. »Ich wollte vor Mathe eine Frühstückskippe qualmen. Der Terrorist lässt mich nie aufs Klo gehen, und in der Pause danach muss ich Französisch abschreiben. Bis zur dritten Stunde halte ich niemals durch.«

»Ist das deine größte Sorge? Wir bekommen heute unsere Klausuren zurück.«

Er lächelt überlegen. »Das verstehst du nicht, Klinger. Rauchen entspannt dich total. Du solltest es mal ausprobieren.«

»Ja, klingt extrem entspannend, seinen Tagesablauf nach einer Sucht zu organisieren«, murmle ich.

Tom antwortet etwas, aber meine Aufmerksamkeit schweift von ihm ab. Während die meisten Leute die zerdellten Autos durch die Fenster beobachten, nutzt Lea die allgemeine Ablenkung, um den Inhalt eines kleinen Plastikbehälters im Abfall zu entsorgen. Sie positioniert sich so vor der Müllklappe, dass man nur etwas Helles erkennt, das in der Öffnung verschwindet. Ehe der Busfahrer sie registriert, landet der leere Behälter wieder in ihrer Umhängetasche, und sie setzt sich zu ihren Freundinnen.

Tom plappert irgendetwas davon, welche Ausrede er unserer Französischlehrerin auftischen könnte, doch ich höre nicht richtig zu. Mein Blick bleibt an Lea kleben. Sie mischt ihr Gekicher unter das Lachen der anderen Mädchen, die alle ans Fensterglas klopfen und den Feuerwehrmännern Luftküsse durch die Scheiben schicken.

Es ist mir neu, dass Lea sich für Männer interessiert. Und es ist mir neu, dass sie die Pfannkuchen unserer Mutter in Mülleimern entsorgt.

 

Frau Rosenmann schiebt ihren Allerwertesten auf das Lehrerpult, und die Hälse aller männlichen Schüler knicken zeitgleich nach rechts. Sie schlägt ihre schlanken Beine übereinander und zupft am biederen Grau ihres zu kurzen Rockes. Knallrote High Heels wippen mit ihrem Enthusiasmus um die Wette.

»Alors, wir haben noch eine Minute«, flötet sie. »Wer von euch möchte mir den Unterschied zwischen le passé composé und l’imparfait wiederholen? En français, s’il vous plaît.«

Ihre Frage rollt wie ein Tsunami durch den Kurs. Eine Reihe nach der anderen zieht ihre Köpfe ein und starrt auf die Hände. Ich rutsche ein paar Zentimeter tiefer, bis mein Hintern fast von der Stuhlkante rutscht, und senke mein Kinn. Es nützt nichts. Die Welle brandet an mir ab, wie an einem hochaufragenden Leuchtturm.

»Bon, Nele!«

Verdammt. Ich bin keine schlechte Schülerin. Ich habe mir den Abschnitt über die französischen Zeiten sogar zu Hause durchgelesen, aber diese Sprache hat mir von der ersten Stunde an den Krieg erklärt. In meiner Phantasie marschiert eine Truppe schnauzbärtiger Artisten mit Baskenmützen und gestreiften Hemden auf. Sie legen ihre Baguettes an, zielen auf meinen Verstand und drücken ab.

»Äh … Ohn ompl-oje … lö passee Kompost-See …«

Die rotklebrigen Lippen meiner Französischlehrerin verziehen sich.

»Äh … pur … ün Aktion …«

Die Tür springt auf, und Tom poltert in den Raum.

Heilige Maria! Ich bin gerettet!

Seine Klopause hat über zwanzig Minuten gedauert, und Frau Rosenmann ist das nicht entgangen. Sie tippt auf die goldene Uhr an ihrem schmalen Handgelenk und schiebt ihre Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. Tom reibt sich den Bauch und versucht, krank auszusehen. Normalerweise stottert er seine Vokabeln krampfhaft heraus, aber heute hat er unserer Lehrerin (Google sei Dank) in einem so perfekten Französisch von einer üblen Magen-Darm-Grippe erzählt, die ihn seit dem Wochenende heimsucht, dass sie ihn völlig verdattert aufs Klo gehen ließ. Eine Entscheidung, die sie nun sichtlich bereut, während sie zu ihrem Laptop marschiert, um Toms Fehlminuten einzutragen. Verübeln kann ich ihr das nicht. Tom riecht nach einer abgebrannten Tabakfabrik, als er neben mir auf den Stuhl fällt und sich, wie üblich, in meinem Schatten versteckt. Tatsächlich gleitet Frau Rosenmanns Adlerblick sofort über ihn hinweg und bleibt an meinem hocherhobenen Kopf hängen. Sie scheint sich bereits zu überlegen, mit welcher Frage sie mich gerade gefoltert hat, doch diesmal rettet mich die Pausenklingel.

Frau Rosenmann schnaubt durch ihre spitze Nase und packt ihre Sachen zusammen. »Verbessert eure Klausuren bis zur nächsten Stunde«, mahnt sie uns, bevor alle aus dem Kursraum stürmen können.

Mein Blick sinkt auf das zusammengefaltete Blatt unter meinen Händen. Die rote Korrekturfarbe drückt sich bis auf die Rückseite durch, wie winzige Krampfadern im Papier. Ich kratze mit dem Fingernagel darüber.

»Das ist so genial!« Tom verliert jegliche Anzeichen seiner vorgetäuschten Magenschmerzen und strahlt mich an. »Du bist besser als jede Tarnkappe! Versprich mir, bis ans Ende unserer Schulzeit neben mir sitzen zu bleiben.«

»Kein Lehrer an dieser Schule würde mich weiter nach vorne lassen. Die Schüler hinter mir müssten alle verschimmeln.«

Er grinst. »Dein Französisch macht mich übrigens echt an. Erinnert an das Röcheln eines russischen Bauarbeiters in einem sibirischen Eissturm.«

Ich wedle mit der Klausur vor seiner Nase. »Sibirien klingt verlockend. Nehmen die Russen Schulabbrecher?«

»Die haben Snowden genommen. Du kannst politisches Asyl beantragen.«

»Der amerikanische Geheimdienst ist nichts gegen meine Mutter. Sie wird mich finden. Und dann wird sie mich richten«, stöhne ich.

Tom zuckt die Schultern und schwingt seinen Rucksack auf den Rücken. »Ich könnte dich in meinem Keller einsperren. Nach zwanzig Jahren bringen wir deine Tagebücher raus, verkaufen die Filmrechte und werden stinkreich.«

Keine schlechte Idee, das würde mir zumindest etwas Aufmerksamkeit einbringen. Meine Ängste, dass sich die anderen über meinen gewagten Kleidungsstil lustig machen könnten, haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Sie haben einfach gar nicht darauf reagiert. Mit keinem Wort. Nicht mal ein Lächeln oder Kompliment flatterte in meine Richtung. Bedeutet das nun, dass mir die Shorts stehen? Oder zeigt es, dass ich längst über die Wahrnehmung meiner Mitschüler hinausgeschossen bin?

Tom und ich verlassen den Kursraum und schlendern zum Pausenhof. Der März ist mild genug, um auf dem Fußballfeld zu picknicken. Ob das einem wohlgesinnten Petrus zu verdanken ist oder eher den Abgasen, mit denen wir seit Jahrzehnten unser wichtigstes Lebensmittel verpesten, kann ich nicht sagen. Jedenfalls sehen wir von weitem, dass wir nicht die Einzigen sind, die den wärmsten Frühling aller Zeiten auskosten wollen: Die Glastür zum Hof ist mit drängelnden Schülern verstopft.

Tom blafft einen Unterstüfler an, der mitten im Weg steht. »Geh schon weiter!«

Der Junge dreht sich verärgert um, reißt seinen Schnabel auf und erstarrt. Sein Blick rutscht über meine gesamte Länge hoch. »Du hässlicher Stangensellerie!«

Damit hätte ich wohl meine langersehnte Reaktion auf die Shorts.

Tom springt auf ihn zu, aber der Junge rennt lachend davon. Also bläht er nur seine Nasenlöcher. »Die kleine Mistratte erwische ich noch!«

Bevor ich etwas erwidern kann, schlägt uns Lärm entgegen. Ein paar Leute schreien im Hof, andere stoßen sich gegenseitig an und zeigen in die Luft. Wir treten nach draußen und heben die Köpfe.

In Toms Stimme mischt sich eiskalte Aufregung. »Dieser Tag scheint immer interessanter zu werden.«

Erschrocken schlage ich eine Hand vor den Mund.

Weit oben auf dem Baugerüst der neuen Sporthalle steht ein Selbstmörder.

Dieser riesengroße Junge

»Es ist zu grell.« Tom streckt sein Handy in die Höhe und sucht nach einem Fleckchen Schatten im strahlend blauen Himmel. »Wer zum Teufel will vormittags von unserer Sporthalle springen? Ich kann nicht richtig reinzoomen.«

»Hochauflösende Aufnahmen sind bestimmt nicht seine größte Sorge«, murmle ich.

»Wieso steht er wie angewurzelt da oben vorm Geländer? Hat er nicht mit der Pause gerechnet?« Tom hält sich die Hand über die Augen und stellt sich auf die Zehenspitzen. Weiter vorne, direkt unterhalb des Bauzauns, wäre die Sicht für mich besser, aber mit seiner Körpergröße würde er zwischen den anderen Leuten untergehen.

Ich klemme mir die Finger unter die Achseln, da es mich trotz der prallen Sonne fröstelt. »Keine Ahnung, vielleicht hat er plötzlich Zweifel?«

Der Selbstmörder steht vollkommen reglos auf ein paar losen Brettern, die vor dem Gerüst angebracht worden sind, um das Glasdach der Pausenhalle zu schützen. Mit über zehn Metern ist er zu weit oben, um seine Gesichtszüge erkennen zu können, doch seine Körperhaltung lässt mich zweifeln, ob es sich dabei wirklich um einen Kerl handelt. Seine linke Hand liegt graziös in der Hüfte, und sein schmales Kinn ist selbstbewusst angehoben, er sieht beinahe so aus, als würde er für die Schaulustigen hier unten posieren. Ich schüttle mich.

Jemand hat den Direktor informiert. Breitenschlag platzt aus der Tür, mit zwei Lehrern und einer Sekretärin auf den Fersen. Er marschiert über den Platz, schwenkt seine Arme wie bei einer Militärparade und ortet den Fremdkörper unterm Dachfirst seiner neuen Sporthalle. »Frau Wahl, rufen Sie die Polizei und einen Krankenwagen. Die anderen kommen mit mir!«

Die Sekretärin zückt ein Handy und wendet sich erleichtert ab. Während die beiden Lehrer die gaffenden Schüler zurücktreiben, verschafft sich Breitenschlag Zutritt zur Baustelle. Er stellt sich unter das Gerüst und bellt mit gebieterischer Stimme hoch. »Bewegen Sie sich nicht! Wir holen Sie da sicher wieder runter!«

Der Kerl reagiert nicht. Selbst als Breitenschlag ihn ein zweites und drittes Mal anspricht, starrt er einfach reglos in die Luft.

Der Tumult ruft einen Bauarbeiter auf den Plan, der aus dem Inneren der Halle kommt und sich den Mund abwischt. Mit wild fuchtelnden Armen erklärt er, dass seine Arbeiter sich vor einer halben Stunde zur Pause in den Schatten zurückgezogen haben. »Und da stand, verfluchte Scheiße, noch keiner da oben!«

Breitenschlag packt seinen Oberarm und zieht ihn in den Rohbau.

Tom hebt die Augenbrauen. »Sollte nicht mal einer nach dem Typen sehen? Was treiben die da drinnen? Sich auf eine Aussage einigen?«

Eine hohe Stimme hallt über den Platz. Der Rest unseres Kurses hat den Weg nach draußen gefunden, darunter auch Du-kannst-mit-mir-reden-Babs, die als Skandalquelle für ihren Blog eine Telefonseelsorge mit ihrer Privatnummer eingerichtet hat.

»Vor drei Tagen hatte ich einen anonymen Anruf!«, kräht sie in voller Lautstärke, damit niemand sie überhört. Nicht mal die Leute, die es gerne würden. »Da war einer dran, der nicht mehr leben wollte! Ich habe aufgelegt, nachdem er wissen wollte, ob ich einen Slip trage. Vielleicht war es dieser verzweifelte Junge?«

Tom wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Ich muss sofort einen rauchen.«

Ich zeige mit dem Daumen hoch und zische: »Doch nicht, solange der da oben steht!«

»Selbstmörder machen mich nervös«, protestiert Tom. »Ich brauche das, um meine sensiblen Nerven zu beruhigen. Komm mit rüber zum Torpfosten, da riecht es keiner.«

Widerwillig folge ich Tom auf die angrenzende Fußballwiese, wo er sich abgeschirmt durch meine Körpergröße eine Tüte baut. Der vorbeiwehende Qualm dreht mir beinahe den Magen um, deshalb wende ich mich ab und beobachte stattdessen das Treiben auf dem Pausenhof.

Lea taucht nun ebenfalls in der Menge auf, hält sich jedoch vornehm im Hintergrund. Die aufgetakeltste ihrer Freundinnen bricht beim Anblick des Selbstmörders in Tränen aus, und die anderen umsorgen sie wie aufgescheuchte Hühner. Nur Leas Aufmerksamkeit klebt etwas zu lange an der Sporthalle. Sie öffnet den Mund, als würde sie vielleicht ihre eigene Meinung zur Situation äußern wollen, und wird zur Strafe von hinten angerempelt. Hastig kramt sie ein Taschentuch aus ihrer Jacke und reicht es der Heulsuse.

Ich rolle die Augen. Ihre neue Clique ist ja wirklich reizend.

Während Blogger-Babs sich mit hochgehaltenem Handy vor der Sporthalle positioniert, um sich für einen Live-Bericht zu filmen, erscheint der Direktor wieder. Der Bauarbeiter pfeift seine Jungs zur Stelle, und zwei der jüngeren Männer werden ausgewählt, um den armen Teufel herunterzuholen.

»Halten Sie sich am Gerüst fest!«, brüllt Breitenschlag hinauf. »Wir wollen nur mit Ihnen reden!«

Noch immer keine Reaktion. Der Kerl da oben zuckt nicht mal mit der Wimper, soweit ich das aus dieser Entfernung beurteilen kann. Plötzlich durchfährt mich eine eiskalte Vorahnung. Was, wenn er schon tot ist? Wenn er vor Schreck gestorben ist und nur durch das Geländer in seinem Rücken noch aufrecht steht?

So ein Unsinn, tadelt mich eine innere Stimme. Die Totenstarre setzt erst nach ein paar Stunden ein; kein Mensch könnte sich nach einem Herzinfarkt oder was Vergleichbarem auf den Beinen halten. Geschweige denn sich wie ein Fotomodell in Pose werfen.

Natürlich nicht. Wie konnte ich so was denken.

Und was, wenn es gar kein Mensch ist?

Die Bauarbeiter steigen nach oben. Die Metalltreppe, die im Zickzack an der Baufassade hochführt, wirkt nicht besonders vertrauenerweckend. Allein vom Zuschauen wird mir schwindelig. Dabei ist es nicht das Klettern, mit dem ich ein Problem habe, sondern der Gedanke ans Ausrutschen, Herunterfallen, Aufprallen und AN INNEREN BLUTUNGEN STERBEN.

Ein Riesenmädchen mit Höhenangst.

Ich wette, Gott lacht noch immer.

Die Arbeiter erklimmen Stock für Stock das Gerüst, bis sie auf der Ebene des Selbstmörders angekommen sind. Auf den letzten Metern halten sie kurz inne. Dann schreitet einer – zum Schrecken aller Zuschauer – nach vorne und schubst den Selbstmörder von hinten an. Der Kerl gerät aus dem Gleichgewicht und kippt vornüber, bevor Breitenschlag einen Warnruf ausstoßen kann.

Der Selbstmörder stürzt in die Tiefe, ohne mit den Armen zu rudern oder auch nur ein Haar zu bewegen. Selbst als er hinter dem Bauzaun auf den Beton kracht, stehen seine Gliedmaßen unbewegt vom Rumpf ab.

Tom wirft seine Tüte weg, und wir stürzen gleichzeitig mit den anderen Schülern hin. Er hüpft hinter der dritten Reihe auf und ab, weicht einer entblößten Achselhöhle aus und stößt mich vor. »Was siehst du?«

»Ich sehe den Direktor«, berichte ich. »Er geht auf den Körper zu und tippt ihn mit dem Schuh an. Die Nasenspitze des Toten ist abgebrochen und eines seiner Augen kullert heraus.«

»WAS?!« Toms Kiefer klappt nach unten.

»Es ist nur eine Puppe.« Ich atme erleichtert auf. »Jemand hat eine Schaufensterpuppe aufs Baugerüst gestellt.«

Die Neuigkeit rast durchs Publikum. Einige grinsen und finden den Spaß gelungen, mindestens genauso viele wenden sich angewidert ab und schütteln sich. Die meisten verlieren nach wenigen Minuten das Interesse, und der Platz vor dem Bauzaun leert sich. Ich trete näher ran und schiebe meine Nase durchs Gitter.

Auf den Betonplatten liegt eine weibliche Schaufensterpuppe, die abgetragene Männerklamotten trägt, vielleicht um ihr Geschlecht zu verschleiern oder sie einfach realistischer wirken zu lassen. Ihr Kapuzenpullover ist an den Ärmeln löchrig und die Jeans an mehreren Stellen fast durchgewetzt. Nur ihre Schuhe sind neu; knallpink leuchten sie von den Füßen. Jemand hat in derselben Farbe eine Botschaft quer über ihren Pulli gepinselt:

Ihr werdet dafür bezahlen

»Meine Güte!« Tom schlägt sich theatralisch eine Hand auf die Brust. »Es ist Michelle aus Kunstraum A! Dabei hat sie immer alle angelächelt!«

Er blickt zu mir hoch, hält seinen ernsten Ausdruck kaum eine Sekunde lang durch und prustet dann los. »Das nenne ich mal eine sinnvolle Art und Weise, die halbe Physikstunde zu verbringen! Wir können zum Schularzt gehen und uns wegen des Schocks für den Rest des Tages freistellen lassen, was meinst du?«

»Das wäre keine so gute Idee.«

»Komm schon, sei kein Spielverderber! So eine einmalige Gelegenheit dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen!«

Mein Gesicht erstarrt zu einer Maske, und ich zische durch zusammengebissene Zähne. »Halt sofort die Klappe.«

Hinter Tom baut sich ein Schatten auf, wie auch ihm gerade klarwird. Sein Lächeln rutscht von den Wangen, und er dreht seinen Kopf in Zeitlupe über die Schulter. Direktor Breitenschlag lauert auf der anderen Seites des Bauzauns und schnaubt seinen Stieratem durch die Lücken.

»Amüsiert Sie das, Herr Falk?«, knurrt er.

»Herr Direktor!« Toms fröhliche Stimme wackelt.

»Ich schlage Ihnen eine sinnvolle Art und Weise vor, wie sie den zweiten Teil Ihrer Physikstunde verbringen werden.« Breitenschlag entblößt die untere Reihe seiner Schneidezähne, wodurch er wie eine Bulldogge aussieht. »Nämlich in meinem Büro. Bei einem ausführlichen Gespräch darüber, was Sie über diese Schaufensterpuppe wissen.«

»Kann ich vorher aufs Klo?«, wimmert Tom.

Der Direktor lässt sich nicht erweichen. Er weist die Lehrer an, sich um die Schaufensterpuppe zu kümmern, und stapft um den Bauzaun herum. Tom hat gerade noch Zeit, etwas aus seiner Hosentasche zu fummeln und mir in die Hand zu drücken, bevor Breitenschlag ihn mit einem ungeduldigen Wink auffordert, ihm auf der Stelle zu folgen.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre den beiden hinterher, bis sie im Gebäude verschwunden sind. Meine Finger krampfen sich um das Tütchen, das Tom mir zugesteckt hat, und ich wage es nicht hinzusehen. Erst als die Lehrer alle Beweisstücke eingesammelt haben und ebenfalls hineingehen, riskiere ich einen Blick. Wie vermutet, ist das durchsichtige Plastiktütchen mit etwas gefüllt, das Mamas getrocknetem Oregano verflucht ähnlich sieht.

Für eine Sekunde spiele ich mit dem Gedanken, das Zeug einfach im nächsten Mülleimer zu entsorgen. Würde der Hausmeister es entdecken? Könnte mich jemand beobachten und später damit in Verbindung bringen? Tom wäre garantiert stinksauer.

Rasch linse ich über meine Schultern und verstecke das Gras im Rucksack.

 

Normalerweise fahre ich nachmittags mit dem Bus heim. Meine Eltern sind beide berufstätig und stottern Monat für Monat den Kredit für unser kleines Haus am Stadtrand ab. Nur Leas spontanem Anruf sei Dank, habe ich heute ein Taxi.

Unser Auto steht mit laufendem Motor hinter dem letzten Schulbus; das Beifahrerfenster surrt herab, und Mam lehnt sich quer über den Sitz. Ihre Wangen sind fleckig. Sie hatte wohl Stress, früher von der Arbeit wegzukommen.

»Wo ist Lea?«, fragt sie mich.

Ich spähe zum Eingang. Die meisten Schüler sitzen in ihren Bussen, nur ein paar tummeln sich auf dem Vorplatz. Ein Kerl dreht mit seinem Motorrad waghalsige Runden um die Fahrradständer. Seine Freunde jubeln, und die Busfahrer hupen ihm warnend hinterher, was ihn vermutlich noch mehr anfeuert. Kein Streuselkuchengesicht weit und breit. »Keine Ahnung. Du hast doch mit ihr gesprochen.«

»Könntest du sie bitte holen?«

»Ich weiß überhaupt nicht, wo sie steckt! Sie wird den Weg nach draußen schon alleine finden.«

»Nele, bitte, werd langsam mal erwachsen!« Mam wirft einen nervösen Blick auf den Motorradfahrer, der viel zu dicht an uns vorbeisaust. »Ich kann hier nicht stehen bleiben. Deiner Schwester geht es nicht gut. Bitte geh rein und hol sie.«

Genervt rolle ich die Augen und stapfe zurück ins Gebäude.

Eigentlich hat Lea heute keinen Nachmittagsunterricht. Aber seit unsere Schule letzten Sommer die Juniorenmeisterschaft im Basketball gewonnen und damit ein noch nie dagewesenes Sportfieber in allen Jahrgängen ausgelöst hat, bildet sich die Kröte ein, der nächste Michael Jordan zu werden. Sie dürfte im Training einen Ball abbekommen und eine filmreife Ohnmacht an den Tag gelegt haben. Jedenfalls ist meine Mutter davon überzeugt, dass ihr Baby sterben muss, und will sie zum Arzt schleppen. Wenigstens springt eine Mitfahrgelegenheit für mich dabei raus.

Ich stürme in die Pausenhalle, direkt auf die Schwingtür zu, die zu den Turnsälen führt. Die Sonne brennt sich ungehindert durch die Fensterfront, für ein paar Sekunden bin ich vollkommen geblendet und erkenne zu spät den Schatten hinter der Glastür. Sie schwingt auf und schlägt mir voll ins Gesicht.

Prickelnder Schmerz rast in meine Stirn. Ich stolpere rückwärts und presse meine Hand auf die Nase.

»Sorry, das war keine Absicht!« Jemand berührt meine Schulter.

Ich blinzle die Tränen weg und begreife zuerst nicht, was ich da vor mir sehe.

Es ist ein Mund.

Ein Mund in der Höhe meiner Augen.

Über dem Mund befindet sich eine schmale, gerade Nase. Darüber leicht zusammengekniffene graue Augen, die mich intensiv mustern. Ein schwarzes Bandana hält die langen Haare hinten. Ich trete einen Schritt zurück, und seine Hand rutscht von meiner Schulter.

Ich habe ihn noch nie gesehen – diesen riesengroßen Jungen im knallgelben Trikot, das seine muskulösen, braungebrannten Oberarme umschmeichelt.

Okay, das ist eine Lüge.

Es ist Jerome Tessmer. Unser zwei Meter sechs großes Basketballwunder, das vor einem Jahr an unsere Schule wechselte und von seinen Fans nur Jet genannt wird. Die Fotos der fünf Kernspieler haben hier letzten Sommer jeden Quadratzentimeter bedeckt, inklusive Spülkasten im Mädchenklo. Wüsste Tom, dass ich den Kerl auf meine geheime Top-List der vier Jungs gesetzt habe, die tatsächlich größer sind als ich, würde er mir die Füße abhacken.

»Zeig mal.« Tessmer zieht meine Hand weg, beugt sich herab und inspiziert meine Nasenlöcher. »Blutet nicht. Wenn deine Nase vorher schon so ausgesehen hat, ist alles in Ordnung.«

Er grinst mich an.

Ich weiche zurück. »Sollten Sportler nicht bessere Reflexe haben? Oder hast du dein Spiegelbild in der Tür angehimmelt?«

»Dein Sprachzentrum scheint ja noch zu funktionieren. Ich muss weiter.« Er tätschelt meine Schulter und schreitet in einer Geschwindigkeit durch die Halle, die meine Kondition gerne als Jogging bezeichnen würde.

Ich seufze innerlich. Wie tief bin ich gesunken, dass ich Jungs allein ihrer Größe wegen interessant finde? Dabei gibt es so viele andere wichtige Eigenschaften. Wie zum Beispiel seinen süßen Haarzopf, der von einem Gummiband zusammengehalten wird, oder seinen Hintern, der mit jedem Schritt den lockeren Stoff der Shorts spannt … Ohne Vorwarnung dreht er sich um und entdeckt meinen Blick auf besagtes Hinterteil.

Ehe ich rot anlaufen kann, klappe ich den Mund auf: »He, du bist Basketballer, oder? Weißt du zufällig, wo meine Schwester steckt? Lea Klinger? Unterstufe?«

»Die Unterstufe trainiert im kleinen Saal.« Er sieht mich ein paar Sekunden länger an als nötig. Kurz bevor er um die Ecke verschwindet, könnte ich schwören, dass er mich auslacht.

Ich reibe Lord Voldemort. Hätte ich mir die Nase doch bloß gebrochen, dann könnte ich zumindest eine Schönheits-OP rausschlagen. So wird sie nur immer flacher.

Seufzend mache ich mich auf den Weg.

Tatsächlich finde ich Lea im Umkleideraum des letzten Turnsaals. Sie sitzt auf einer Bank und tupft sich ein blütenweißes Taschentuch unter die Nase, das sie im Sekundentakt auf nicht vorhandene Blutspuren überprüft. Neben ihr tänzeln drei überschminkte Freundinnen, die abwechselnd ihre Arme streicheln.

»Mama wartet«, begrüße ich sie. »Sie kann da nicht lange mit dem Auto stehen bleiben.«

Lea blickt auf. Das gelbe Trikot lässt ihren rot angelaufenen Hals geradezu leuchten. Was auch immer vorgefallen ist, muss ihr peinlich gewesen sein. Sie erhebt sich mit der Unbeholfenheit eines neugeborenen Fohlens und wird von ihren Freundinnen zur Tür hinausgeführt (die mir natürlich keiner aufhält). Ich latsche den Girlies hinterher und versuche, bei ihrer übertriebenen Fürsorglichkeit nicht zu kotzen.

»Du bist ja ganz zittrig! Isst du genug Fleisch?«

»Aber nur Entenbrust, die hat wenig Kalorien.«

»Dabei ist deine Figur sooo spitze!«

»Ich wünschte, ich wäre sooo dünn wie du!«

»Ihr seid alle sooo wahnsinnig nett!«

Kotz! Würg!

Ich falle weiter zurück, damit niemand uns zusammen sieht.

Das Quartett biegt um eine Ecke, und ihre Piepsstimmchen sagen nacheinander »Hallo!« »Hallo!« »Hallo!« »Hallo!« wie ein heliumgetränktes Echo. Eine Männerstimme erwidert den Gruß. Die vier brechen in vergnügtes Gekicher aus.

Mr Basketball von eben tritt hinter der Wand hervor. Er hält eine Luftpumpe in den Händen und lächelt abwesend vor sich hin. Als er mich entdeckt, hebe ich beide Augenbrauen in einer stummen Frage: Stehst wohl auf kleine Mädchen?

Er läuft knallrot an und dreht sein Gesicht zur Fensterfront.

Wir gehen wortlos aneinander vorüber.

Draußen auf dem Busparkplatz hole ich die Kröten ein. Meine Mutter musste umparken und winkt uns hektisch von der anderen Straßenseite aus zu. Trotzdem beeilt Lea sich nicht, im Gegenteil, sie bewegt sich noch lahmarschiger als gewöhnlich. Vermutlich um ihre Schwäche zu betonen und aus der Mitleidsnummer irgendeinen Vorteil zu ziehen: Geld oder Klamotten oder Schminkkram in Pastelltönen.

Die Girlies tuscheln aufgeregt miteinander.

»Jet ist ja so süß!«, flötet Teenie Nr. 1.

Dicht gefolgt von: »Gott, er ist der Wahnsinn!«

»Ausgerechnet heute sitzen meine Haare überhaupt nicht!«

»Und ich Trampel hielt ein Taschentuch vor meine Nase! Wie peinlich!«

Ich hauche in Leas Nacken: »Der sollte dich erst mal sehen, wenn du dein Gesicht vor dem Spiegel auspresst.«

Vier tödliche Blicke über dünne Schultern.

Ich grunze zufrieden und schiebe meine Hände in die Hosentaschen.

Leider ist mein Amüsement nur von sehr kurzer Dauer. Die Freundinnen meiner Schwester haben ihren Bus verpasst, weil sie bei Lea geblieben sind, und müssen selbstverständlich nach Hause gefahren werden. Ich weise die Hühner an, auf der Rückbank zusammenzurutschen, aber Mama stellt sich dagegen.

»Nele, das Auto ist nur für fünf Personen zugelassen. Wenn uns die Polizei aufhält, bekomme ich eine Anzeige.«

Ich glotze sie an. »Mein Bus ist auch weg!«

Lea feixt vom Beifahrersitz. »In vierzig Minuten kommt der nächste.«

Meine Mutter kramt einen Zehner aus ihrem Portemonnaie und hält ihn mir hin. »Hol dir in der Zwischenzeit was zu essen, okay? Ich möchte gleich zum Arzt fahren, die Wartezeiten sind sowieso schon unmöglich. Du kannst die Schultasche hierlassen, wenn du keine Aufgaben hast.«

Ich werfe den Rucksack auf Lea, die übertrieben aufschreit, und schnappe mir den Geldschein. »Keine Hausaufgaben. Vielleicht mache ich nie mehr welche. Ich könnte die Schule schmeißen und unter die Brücke zu den Pennern ziehen. Für zehn Euro krieg ich eine Flasche Schnaps!«

»Nele, bitte, mach kein Theater.«

Ohne ein weiteres Wort wende ich mich ab. Als das Auto an mir vorbeifährt, starre ich absichtlich in die andere Richtung.

 

Es gibt ein Wundermittel gegen allerlei Sorten von Wut: Horrorfilme.

Ich fläze auf der Couch und fülle meinen Mund abwechselnd mit Kartoffelchips und Erdnussbutterkeksen, während auf dem Bildschirm ein Zombie an spontaner Kopflosigkeit stirbt. Zum zweiten Mal stirbt, meine ich. Pa hockt sich neben mich und nutzt eine wilde Schießszene, um sich an mein Knabberzeug zu pirschen. Ich drehe meinen Kopf zu ihm, gerade als seine Hand in der Tüte verschwindet.

»Die hab ich gekauft. Von meinem Taschengeld.«

Pa kontert mit der allmächtigen Logik eines Erwachsenen: »Du meinst, von dem Geld, das deine Mutter und ich täglich für dich verdienen?« Grinsend stopft er sich eine Handvoll Chips in den Rachen.

»Lass sie dir schmecken. Es klebt mein Blut daran.«

»Hmpf?«

»Wusstest du, dass Mama mich in einer schäbigen Imbissbude essen lässt, nur um den Fanclub unseres Pickelgesichts heimzufahren? So ein schmieriger alter Sack mit Hornbrille hat mich die ganze Zeit begafft. Er hielt sich hinter dem Getränkeautomaten versteckt und streichelte dabei die eigenen Pfoten.«

»Armer Spatz. Erinnerst du dich an unser Training? Ellbogenhebel und den Angreifer zu Boden zwingen. Ein oder zwei Finger brechen. In die Eier treten, während er mit dem Bruch abgelenkt ist. Davonlaufen und nach Hilfe rufen.«

Ich höre auf zu kauen und betrachte meinen Vater. »Es gibt Leute, die behaupten, ich bin kein normales Mädchen. Es gibt Leute, die behaupten, ich wurde von einem Tier großgezogen.«

Er formt seine Hand zur Raubtierklaue und knurrt.

Ich muss lachen.

In der Tat existiert ein weiteres Wundermittel gegen Wut: die Arme meines Vaters. Ich kuschle mich zu ihm und küsse seine stachelige Wange. Die zarten Stiche versetzen mich jedes Mal zurück in meine Kindheit, als wir gemeinsam Polsterburgen gebaut haben und ich noch klein genug war, um auf seinem Rücken zu reiten. Er legt seinen Arm um mich und streichelt meine Haare.

Das Leben könnte so schön sein.

Aber wie immer habe ich die Rechnung ohne meine Schwester gemacht. Ich stöhne laut, als ich den Schlüssel in der Haustür höre und Leas nervtötende Stimme durch den Flur dröhnt.

»Neleee! Mama will mir dir reeeden!«

Lea steckt ihren Kopf ins Wohnzimmer und sucht meinen Blick. Ein dunkler, entzückter Ausdruck überspannt ihr Gesicht. »Du sollst zu Mama kommen. Sie wartet in der Küche auf dich.«

»Keine Zeit.«

»Es wäre besser, wenn du kommst.« In ihrem Ton schwingt der Wunsch mit, dass ich es nicht tue. Die Vorfreude auf eine Standpauke, die ich mir dann anhören darf. Was zur Hölle hat sie nun schon wieder angerichtet?

Ich drehe mich zu Pa. »Können wir gemeinsam das Land verlassen?«

»Wird schon nicht so schlimm sein.« Er zwinkert mir zu und schiebt mich von der Couch. Der Verräter wartet nicht mal, bis ich von der Bildfläche verschwunden bin, um sich meine Chipstüte zu krallen.

Ich stapfe an Lea vorbei in die Küche.

Meine Mutter steht am Esstisch, eine Hand auf die Rückenlehne des Stuhls gestützt, die andere in ihren braunen Locken vergraben. Sie starrt auf einen unförmigen Haufen neben der Obstschale, den ich als meinen Rucksack identifiziere. Ich nähere mich verwirrt.

»Hast du mir was zu sagen, Nele?«

Oh. Klingt nicht gut.

Ich zucke die Schultern und greife nach einem Apfel, dabei lasse ich meinen Blick unauffällig über ihr Gesicht schweifen. Ihre Lippen sind zu einer dünnen Linie gepresst und die Augenbrauen zusammengezogen. Sie schaut absichtlich an mir vorbei. Ich stecke in Schwierigkeiten.

»Was ist denn?«, frage ich vorsichtig.

Sie nickt auf meine Sachen. »Muss ich jetzt schon Schultaschen durchwühlen, um über das Leben meiner ältesten Tochter informiert zu werden?«

Ich schnappe den Rucksack und ziehe ihn empört hinter mich. »Niemand schnüffelt in meinen Privatsachen! Was ist nur –«

Dann fällt es mir ein.

O Scheiße.

O Scheiße, Scheiße, SCHEISSE!

Das Gras.

Die Riesin ist wohl noch Jungfrau

Der Apfel fällt mir aus der Hand und rollt unter den Tisch. Ich sacke auf den Stuhl und klappe den Mund auf, nur um ihn wieder zu schließen. Ein dicker Kloß steckt in meinem Hals. »Du verstehst das vollkommen falsch!«, würge ich hervor. »Das gehört nicht mir!«

»So? Wem dann?« Die Stimme meiner Mutter zittert. Sie ist unglaublich sauer.

»Tom!«

Ihre Faust knallt auf die Tischplatte. »Für wie dumm hältst du mich, junges Fräulein? Denkst du, ich kann nicht lesen?«

Lesen? Was meint sie denn damit?

»Du hast Hausarrest. Kein Kino, kein Shopping, keine Partys.«

»Es ist echt nicht meins!«

Plötzlich erschüttert alles. Meine Mutter hat mir eine Ohrfeige verpasst, so unvermittelt, dass ich nicht mal zurückweichen konnte. Sie schlägt mich sonst nie. Die Tatsache, dass sie es eben gemacht hat, schmerzt heftiger als der Schlag selbst. Meine Finger tasten nach der pochenden Stelle auf der Wange, als müssten sie sich erst davon überzeugen, dass es wirklich passiert ist. Tränen wallen in meinen Augen auf, die ich nicht wegblinzle, damit man sie sieht.

»So eine unverschämte Lügnerin. Ich fasse es nicht.« Mam wischt sich die Augenwinkel. »Du hast versprochen, dass du dich mehr anstrengst. Du bist jetzt in der elften Klasse, bald machst du Abitur!«

»Ich hab es noch nie probiert, ehrlich!«

Sie lacht verzweifelt auf. »Was? Zu lernen?«

»Ich rauche nicht mal!«

»Und das soll deine Französischnote entschuldigen? Das ist schon die dritte verhauene Klausur in diesem Schuljahr! Diese Noten entscheiden über dein ganzes Leben!«

Ich starre sie an. Vermutlich mit offenem Mund.

»Ich wünschte, ich hätte so eine Chance gehabt, als ich jung war! In deinem Alter habe ich längst mitverdienen müssen. Denkst du, es ist toll, stundenlang Artikel über den S-Scanner zu z-ziehen?« Ihre Stimme bricht, und sie dreht sich weg.

Meine Gedanken wirbeln im Kreis. Sie hat die Französischklausur in meinem Rucksack gefunden, nicht das Gras. Jetzt denkt sie, ich hielte sie für dumm, als könnte sie nicht mal meinen Namen lesen.

»Mama, ich –«

Mein Vater steckt seine Nase zur Tür rein. »Was ist denn hier los?«

Mam räumt wie eine Verrückte Geschirr in den Spüler. Pa sieht mich fragend an. Ich schüttle hilflos den Kopf.

»Geh bitte rauf, Spatz. Deine Mutter und ich möchten reden.«

Mit tauben Fingerspitzen packe ich meine Sachen und schleiche aus der Küche.

Mamas Schluchzer folgen mir bis nach oben. Sie redet nicht darüber, aber ich habe den Verdacht, dass sie einige Entscheidungen in ihrer Jugend bereut. Obwohl sie die Klassenbeste war, haben ihre Eltern sie nach der Pflichtschule in die Lehre gesteckt, weil höhere Schulen in ihren Augen was für Faulenzer und Eingebildete waren. Das ganze Leben meiner Großeltern hat aus althergebrachter Aufgabenteilung bestanden: Großvater hat bei der Bahn gearbeitet, und Großmutter half im Krankenhaus, bis sie mit zwanzig das erste von vier Kindern zur Welt brachte, die ihre Lebensaufgabe werden sollten. Keine Ahnung, woran Leute denken, wenn sie die gute alte Zeit in den Himmel loben. An Frauen jedenfalls nicht.

In meinem Zimmer ist es dunkel, nur Mondlicht schimmert durchs offene Fenster. Ich werfe meinen Rucksack auf den Fußboden und lasse mich in den Drehsessel fallen, ohne Licht zu machen. Hier in der Finsternis zu schmoren und über meine Verbrechen nachzudenken ist genau das, was ich verdient habe. Ich wünschte, ich könnte hinuntergehen und das Missverständnis aufklären. Mam ist nicht dumm. Sie ist die schlauste Mutter der Welt, nur hat sie keinen Hochschulabschluss, um sich das zu beweisen.

Meine Stirn sinkt auf den Schreibtisch. Im selben Moment raschelt etwas auf dem Bett, und ich schrecke hoch.

Lea knipst die Leuchtblumenkette an, die ich an die Wand getackert habe. Im Schein der dunkelroten Rosenblüten wirkt sie teuflischer denn je. Sie faltet ihre dünnen Beine im Schneidersitz auf der Matratze und zieht ihre Mundwinkel bis zu den Ohren. »Hattet ihr ein interessantes Gespräch?«

Am liebsten würde ich sie packen und schütteln. Stattdessen gleite ich tiefer in den Sessel, bis meine Gesäßknochen fast von der Kante rutschen. Ich werde ihr nicht zeigen, wie sehr sie mich getroffen hat. »Du hast das eingefädelt, stimmt’s?«

»Es waren viele Leute beim Arzt. Mir war langweilig.«

»Und deshalb durchwühlst du meinen Rucksack?!«

Sie zuckt die Schultern. »Ich dachte, du hättest ein Buch dabei. Oder ein paar Liebesbriefe, über die ich mich lustig machen kann. Dass die rote Tinte auf dem Blatt Korrekturstift ist, hab ich erst gemerkt, als Mama es entdeckt hat.«

»Ich hätte es ihr sowieso gesagt. Am Wochenende, wenn sie nicht so gestresst von der Arbeit ist. Jetzt heult sie in der Küche. Ich hoffe, du bist stolz auf dich.«

Leas Lächeln fällt in sich zusammen. Ihr Blick flackert zur Tür, und sie lauscht auf die Geräusche von unten, aber nur das leise Summen der Waschmaschine ist zu hören. »Sie weint?«

»Du weißt haargenau, wie viel Angst sie davor hat, dass wir die Schule nicht packen und so enden wie sie.«

»Sie hat doch ein schönes Leben!«

»Es gibt mehr im Leben, als einen netten Mann zu haben und zwei Töchter im Schulalter. Besonders, wenn eine davon Schwindelanfälle vortäuscht, um sich vor ihren Freundinnen wichtig zu machen.«

Lea springt vom Bett. »Ich hatte einen Kreislaufkollaps!«

»Ach ja?«, fauche ich. »Nun, das kann nach exzessivem Training durchaus passieren. Vor allem auf nüchternen Magen. Das nächste Mal solltest du Mamas Pfannkuchen essen, statt sie im Bus wegzuschmeißen.«

Lea presst ihre Lippen aufeinander. Sie tappt auf mich zu, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Eine Ernsthaftigkeit brennt in ihrem Ausdruck, die ich von ihr nicht kenne. Mein Rücken drückt sich in die Sessellehne.

»Ein paar Kalorien zu sparen ist immer noch besser als das hier«, zischt sie.

Ihr Arm schwingt nach vorn. Etwas fliegt durch die Luft und landet neben meiner Hand auf dem Schreibtisch. Der rote Schein der Lichterkette färbt den Inhalt der Plastiktüte aschgrau. Meine Nackenhaare sträuben sich.

»Wir nehmen in Bio gerade Drogen durch. Ich habe gleich erkannt, was es ist. Mama war zum Glück von deiner Klausur abgelenkt, so konnte ich das Zeug unauffällig in meine Jacke stopfen. Vielleicht bin ich ein bisschen schwächer als du, Nele, aber ich bin wenigstens nicht blöd.«

 

Lea sitzt auf dem Boden des Turnsaals und hält sich die blutende Brust. Ihre Freundinnen werfen ihr herausgeschnittenes Herz wie einen Ball hin und her. Ich versuche, die kleinen Biester zu schnappen, aber sie entwischen immer wieder durch meine langen Beine. Lea keucht: »Diese Hose ist zu grün. Hast du gehört, Nele? Nele!«

»Nele, wach auf!«

Was?

Nein.

Jemand rüttelt an meiner Schulter. Ich würde die Hand gerne wegschlagen, bin jedoch zu schwach dafür. Noch hänge ich zu tief in meiner Traumwelt. Ist heute nicht Samstag? Niemand auf Gottes freier Erde kann mich dazu zwingen, samstags früher aufzustehen!

»Könntest du bitte aufwachen? Es ist wirklich wichtig!«

Dagegen sollte es ein Gesetz geben! Und wenn schon kein Gesetz, dann zumindest eine Art Tierschutzgruppe, die sich für unlimitierten Schlafgenuss an Wochenenden einsetzt. Mit belagerten Betten vor dem Parlament oder so was … Weichen Betten … Mit dicken Kissen …

»NELE!«

Ich blinzle ins Licht. Über mir schwebt ein Mond, auf dem Haare wachsen. Der Mond hat rosa Lippen, eine Streuselkuchenstirn und ist kurz davor, auf Planet Nele abzustürzen.

»Das ist ein Albtraum«, bringe ich hervor.

»Papa ist nicht da! Er wollte mich zum Spiel begleiten!«

»Geh weg«, stöhne ich. »Du bist nicht real.«

»Ich hab ihn angerufen, aber er musste dringend zur Arbeit. Mama kommt erst um zwei, und Kati hat mir gerade geschrieben, dass sie es auch nicht schafft! Du musst mir helfen, Nele, bitte! Ich muss die belegten Brote machen!«

Ich drehe mich auf den Bauch und ziehe mir das Kissen über den Kopf. »Das ist einfach. Du nimmst ein Brot. Und dann belegst du es. Fertig. Hau ab, du Nervensäge, bevor ich zu wach werde, um wieder einzuschlafen.«

»Das ganze Team wird davon essen! Das Meisterschaftsteam! Nele! NELE!«

»JA!« Ich raffe mich auf. Der Raum dreht sich. In der Mitte des Kreisels steht meine Schwester mit roten Flecken auf den Wangen. Ich reibe meine Augen, um das Trugbild zu vertreiben, doch sie verschwindet nicht. Der verzweifelte Ausdruck auf ihrem Gesicht ist unübersehbar. »Was zum Teufel ist denn nur los?«

»Falkenstein gegen St. Georg!«

»Sprich eine Sprache, die ich verstehe, Gestalt!«

Lea packt mit beiden Fäusten ihr Schlafshirt und presst es unter die Brust. »Das Freundschaftsspiel. Unsere Schule gegen St. Georg. Das Unterstufen-Team organisiert alles. Kati und ich sollten die Brote machen. Alle Jungs werden die probieren! Hilf mir!«

Ich sacke in mich zusammen und blinzle zu meinem Radiowecker. Sieben Uhr! Sieben Uhr an einem schulfreien Samstag! Ich wusste nicht, dass diese Uhrzeit auch an Wochenenden existiert. »Das sind Männer, Lea. Die fressen alles, solange es aus Fett besteht und ungesund ist.«

In den Augen meiner Schwester schwimmen Tränen. »Bitte, Nele! Ich kann da nicht völlig alleine auftauchen!«

Unter schweren Lidern blicke ich auf und schnaube geschlagen.

 

Samstag. Elf Uhr vormittags im Turnsaal. Ich wusste nicht, dass diese Schule an Wochenenden existiert. Und Gott bezeuge, ich wollte es niemals herausfinden. Wäre da nicht der Bandwurm von kleiner Schwester, die sich mit Kulleraugen in mein Herz hineingebohrt hat, würde ich mich jetzt in Richtung meines Weckers drehen, die Uhrzeit checken und mich für eine weitere Stunde im Bett einrollen.

Stattdessen stehe ich in Jeans und T-Shirt, mit ungewaschenen Haaren und ohne Make-up vor einem Biertisch am Rande des Spielfelds und stopfe unschuldige Kümmelbrötchen mit Leberkäse aus.

Moment. Dieses Bild bedarf mehr Ausschmückung: Nele Klinger, überzeugte Vegetarierin seit über zwei Jahren, angehende Abiturientin und Freizeitfeministin, präpariert gemahlene Tierinhalte, um sie einem Haufen aufgeblasener Typen nach der Schlacht darzubringen.

Tom würde sich anpissen vor Lachen.

»Wo ist die fleischlose Alternative?«, zische ich.

Lea beugt sich über ein Schneidbrett und atomisiert saure Gurken. Wie sich herausgestellt hat, ist das die einzige Aufgabe, die man dem Schussel übertragen kann. Nicht, dass es mich kümmern würde, was diese Halbaffen nach ihrer Show in sich hineinstopfen, doch an der Art, wie ihre dünnen Händchen zittern und Angstschweiß ihre Haare an die Pickelhaut klebt, erkenne selbst ich die unfassbare Bedeutung dieser Brötchen. Ich weiß nur noch nicht, wie diese Bedeutung heißt. Oder welche Spielernummer sie trägt.

»Brot und saure Gurken«, zischt Lea.

»Das ist kein richtiges Essen!«

»Das erklären wir dir schon seit Jahren, aber du willst es ja nicht ändern.« Lea füllt die Brothälften mit Gurkenkrümeln und wickelt sie in Alufolie, damit sie bis zum Spielende warm bleiben. Das übrigens jede Sekunde da sein dürfte.

»Sogar Albert Einstein hat gesagt, dass nichts die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern würde wie der Schritt zur vegetarischen Ernährung.«

»Hitler war auch Vegetarier«, erklärt Lea trocken.

»Hitler hat sich von Rohkost ernährt, weil er unter Bauchkrämpfen litt. Die kann man leicht bekommen, wenn man ein Arschloch ist.«

Der Schlusspfiff ertönt.

Getöse und Jubel brechen aus. Ich mustere die Zuschauer und sehe reihenweise bekannte Leute mit freudigen Gesichtern und hochgeworfenen Armen. Schätze also, wir haben gewonnen.

»Gewonnen, gewonnen!« Lea hüpft im Kreis wie ein Cheerleader auf Speed. »Niemand will deine Weisheiten hören, Nele! Sei bitte normal, wenn die Jungs herkommen.«

»Du meinst, ich soll lächeln und nicken? Zu allem ja und amen sagen, ohne meinen Verstand einzuschalten?«

»Genau!«

Ich packe die schmutzigen Messer aufs Schneidbrett und werfe meiner Schwester einen finsteren Blick zu. »Nele kümmert sich um den Abwasch, während die Männer den Sieg feiern. Danach ziehe ich mich in die Kammer zurück und stopfe Socken oder erledige eine andere niedrige Tätigkeit.«

Die ersten Leute treffen an unserem Imbissstand ein und stapeln silberne Knödel auf ihren Armen, um sie in die Reihen der Gewinner zu tragen. Ein Kerl mit kahlrasiertem Schädel stolpert fast über seine schlaksigen Füße, als er sich zu meiner Schwester dreht und nach Ketchup grunzt. Lea glüht vor Freude.

»Ist gut! Bis später, Nele!«

Ich rolle die Augen und eile zu den Duschen.

 

Die alte Sporthalle stammt aus den Siebzigern, und so sehen auch die Duschräume aus. Putz blättert von den Wänden, gewagte Muster in Orange und Kackbraun zieren die Fliesen, und die gewaltigen Armaturen sind von jahrzehntealten Kalkablagerungen versteinert worden. Ich probiere drei Waschbecken nacheinander aus, doch kein Hahn lässt sich aufdrehen.

Frustriert puste ich mir eine Strähne aus der Stirn und werfe einen Blick in den angeknacksten Spiegel vor mir. Meine Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen und die Haut darunter zu Polstern geschwollen. Soll noch mal einer behaupten, Frühaufsteher leben länger! Hier steht der Gegenbeweis: Nele Klinger, Zombie, Tod durch Schlafentzug.

»Denkst du ernsthaft, du kommst so einfach davon?«

Ich wirble herum. Die Stimme dringt aus dem Raum nebenan, dessen Tür nur angelehnt ist.

»Du hast es geschworen! Sonst kannst du gleich von diesem Scheißdach runterspringen!«

Mein Puls donnert in der Kehle. Da wird jemand fertiggemacht. Richtig fertiggemacht, auf die übelste Art und Weise. Ein Spieler, der heute nicht genug Punkte gebracht hat? Keine Ahnung, wer das sein könnte, ich war zu müde, um dem Spielverlauf zu folgen.

Ein Krachen. Es hört sich nach etwas Schwerem an, das gegen einen Spiegel geschleudert wird.

Warum wehrt sich das Opfer nicht? Aus Scham? Aus Angst?

Bevor ich weiß, was ich tue, packe ich das Gurkenmesser und stürme zu den Duschen. Sie werden mir nichts tun, schießt es mir durch den Kopf, nicht in aller Öffentlichkeit. Ein Schrei und die halbe Turnhalle wäre hier drin.

Eine Tür knallt. Ich zucke zusammen und bleibe wie angewurzelt stehen.

Plötzlich lachen die Jungs, eine Duschbrause wird aufgedreht, und jemand grölt We are the Champions. Weitere Stimmen fallen in den Gesang ein, und das Mobbing scheint schlagartig beendet zu sein.

Völlig unerwartet schwingt die Tür vor mir auf. Ich springe zurück und halte abwehrend die Hände hoch. Auch die Hand, die noch das Messer umklammert.

»Willst du mich abstechen?« Jerome Tessmer hebt beide Arme. Er trägt kein Shirt, nur Trainingsshorts und Armbänder an den Handgelenken. Seine Muskeln wölben sich unter schimmernder Haut, Schweißperlen gleiten an seinem Schlüsselbein entlang, an seinem Hals trocknen Salzränder …

»Hallo?« Er wedelt mit den Fingern vor meinem Gesicht.

Verdammt. Rasch drehe ich mich um, damit er den Ozean von Blut nicht bemerkt, der in meine Wangen rauscht und sie fast platzen lässt. Ich stolpere zum Waschbecken und keuche: »Der Wasserhahn! Ich bekomme ihn nicht auf! Ich muss die Brettchen abwaschen!«

Krieg dich wieder ein, Nele!