Liebe mich, töte mich - Jennifer Hillier - E-Book
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Liebe mich, töte mich E-Book

Jennifer Hillier

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Beschreibung

Der Mörder hinterlässt grausame Botschaften. Und du weißt, sie gelten dir.

Vor vierzehn Jahren kehrte Geos beste Freundin Angela nach einer Party nicht nach Hause zurück. Nun wird ihre zerstückelte Leiche gefunden. Für die Polizei ist schnell klar: Angela ist das Opfer des berüchtigten Serienmörders Calvin James. Doch für Geo ist Calvin nicht nur ein Serienmörder. Für sie ist er ihre erste große Liebe. Seit vierzehn Jahren weiß sie, was in dieser einen Nacht geschah, und vierzehn Jahre lang hat sie niemandem davon erzählt. Doch dann werden weitere Frauen ermordet, auf dieselbe Weise wie damals Angela. Der Mörder hinterlässt am Tatort eindeutige Botschaften. Und diese Botschaften gelten Geo ...

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JENNIFER HILLIER hat Angst im Dunkeln – bevor sie schlafen geht, überprüft sie mehrmals, ob alle Türen gut verschlossen sind. Trotzdem ist ihr Lieblingsautor Stephen King. Mit ihrem Mann und dem gemeinsamen kleinen Sohn lebt sie in Toronto, Kanada. Liebe mich, töte mich ist ihr erstes Buch auf Deutsch.

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Jennifer Hillier

Liebe mich, töte mich

Thriller

Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Jar of Hearts bei Minotaur Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2018 by Jennifer Hillier

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Das Zitat stammt aus dem Lied Wonderwall von Oasis. Urheber von Text und Musik ist Noel Gallagher.

Das Zitat stammt aus dem Lied Closer von Nine Inch Nails. Urheber ist Trent Reznor.

Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © nienora / shutterstock; © Textures.com; © Injenerker – iStock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23372-3V001

www.penguin-verlag.de

Teil eins Verleugnung

1

Der Prozess wurde von der Presse nur am Rande erwähnt. Das ist gut, denn es bedeutet weniger öffentliche Aufmerksamkeit und weniger Journalisten. Gleichzeitig ist es auch schlecht, denn man fragt sich doch, wie scheußlich ein Verbrechen heutzutage sein muss, um es in die Schlagzeilen zu schaffen.

Verdammt scheußlich, wie’s aussieht.

In der New York Times und auf CNN wird Calvin James – auch bekannt als der Sweetbay-Würger – nur kurz erwähnt, und für die Zeitschrift People oder die Sendung The View sind seine Verbrechen nicht sensationell genug. Aber für die Menschen oben im Nordwesten, in Washington, Idaho und Oregon, ist der Prozess gegen den Sweetbay-Würger eine Riesensache. Das Verschwinden von Angela Wong vor vierzehn Jahren hatte in der Gegend um Seattle ziemlich viel Aufsehen erregt, denn Angelas Vater ist ein hohes Tier bei Microsoft und ein Freund von Bill Gates. Suchtrupps wurden zusammengestellt und alle möglichen Leute befragt, die ausgesetzte Belohnung stieg mit jedem Tag an, den Angela verschwunden blieb. Als die Leiche der Sechzehnjährigen so viele Jahre später entdeckt wurde – nur einen knappen Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt –, löste das Schockwellen in der Gemeinde aus. Daran erinnern sich die Leute. Der #GerechtigkeitfürAngela machte heute Morgen auf Twitter die Runde. Er stand zwar nur ungefähr drei Stunden lang an neunter oder zehnter Stelle der beliebtesten Hashtags, aber immerhin.

Angelas Eltern sind im Gerichtssaal anwesend. Sie haben sich ein Jahr nach dem Verschwinden ihrer Tochter scheiden lassen. Ihre Ehe, die schon zuvor jahrelang nur noch an einem seidenen Faden hing, hat den Schicksalsschlag nicht überstanden. Jetzt sitzen sie wenige Reihen hinter dem Staatsanwalt nebeneinander, mit ihren jeweiligen neuen Ehepartnern, vereint in der Trauer und dem Wunsch nach Gerechtigkeit.

Georgina Shaw kann sich nicht dazu überwinden, Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Ihre Gesichter zu sehen, die Trauer und die Wut darin, ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Sie hätte ihnen vierzehn Jahre schlaflose Nächte ersparen können. Sie hätte ihnen an dem Abend, an dem es passiert ist, alles erzählen können.

Geo hätte alles Mögliche tun können.

Vor vierzehn Jahren war Angelas Mutter eine oberflächliche, materialistisch eingestellte Frau, der ihr Status im Country Club mehr am Herzen lag als ihre heranwachsende Tochter. Ihr Vater war auch nicht viel besser, ein Workaholic, der am Wochenende lieber Golf und Poker spielte, als Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Bis Angela verschwand. Da taten sie sich zusammen, nur um sich dann zu trennen. Sie reagierten auf Angelas Verschwinden, wie es alle normalen Eltern getan hätten, die ihr Kind liebten. Sie wurden verletzlich. Sie wurden emotional. Geo erkennt Candace Wong, heute Candace Platten, kaum noch wieder. Diese Frau, die einmal extrem dünn war, hat fast zehn Kilo zugenommen, wodurch sie jedoch gesünder wirkt. Victor Wong sieht, bis auf einen leichten Bauchansatz und eine Halbglatze, genauso aus wie früher.

Geo hat einen großen Teil ihrer Kindheit bei Angela zu Hause verbracht, hat mit Angela in der Küche Pizza gegessen und bei ihr übernachtet, wenn ihr Vater mal wieder Nachtschicht in der Notaufnahme hatte. Sie hat die Wongs getröstet, als ihr einziges Kind nicht nach Hause kam, ihnen versichert, ihre Tochter würde bestimmt gefunden, sie hat ihnen Antworten gegeben, die sie beruhigten, die jedoch nichts mit der Wahrheit zu tun hatten. Die Wongs wurden zur Abschlussfeier an der Highschool eingeladen, man überreichte ihnen eine Ehrung für Angela, die Captain bei den Cheerleadern, der Star des Volleyballteams und eine hervorragende Schülerin gewesen war. Und seitdem hat Candace Wong Platten Geo jedes Jahr eine Weihnachtskarte geschickt, egal, wo auf der Welt sie sich gerade aufhielt. Ein Dutzend Karten sind es, alle mit denselben Worten unterschrieben: Alles Liebe, Angies Mom.

Jetzt hassen sie Geo. Seit sie den Gerichtssaal betreten hat, starren Angelas Eltern Geo an. Und seit sie im Zeugenstand Platz genommen hat, sind auch die Blicke der Geschworenen auf sie gerichtet.

Geo ist auf die Fragen vorbereitet, und sie beantwortet sie genauso, wie sie es geübt hat, den Blick auf eine Stelle an der hinteren Wand des Gerichtssaals geheftet. Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt hat sie gut instruiert, fast könnte man meinen, sie wäre nur hier, um Aufschluss zu geben über die Ereignisse jener Nacht, um ein bisschen Leben und Farbe in den Prozess zu bringen. Abgesehen davon ist der Fall eine todsichere Sache. Die Staatsanwaltschaft hat mehr als genug Beweise, um Calvin James für drei Morde zu verurteilen, die er lange nach dem Mord an Angela begangen hat. Doch Geo ist nur hier, um darüber zu sprechen, was in der Nacht passiert ist, als ihre beste Freundin starb. Es ist der einzige der Morde, in den sie verwickelt ist, und nachdem sie ihre Aussage gemacht hat, wird man sie ins Hazelwood Correctional Institute bringen, wo sie ihre fünfjährige Haftstrafe antreten wird.

Fünf Jahre. Es ist ein Albtraum und zugleich ein Geschenk, das Ergebnis einer raffinierten, von ihrem eleganten, teuren Anwalt eingefädelten gerichtlichen Einigung und der Not des Staatsanwalts, der unter enormem Druck stand, den Sweetbay-Würger hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Öffentlichkeit fordert die Todesstrafe für den Serienmörder, aber die wird es nicht geben. Nicht in einer so liberalen Stadt wie Seattle. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch gute Chancen, lebenslänglich für Calvin James durchzubekommen. Im Vergleich dazu sind laut einigen Kommentaren in den sozialen Medien zu #JusticeForAngela Geos fünf Jahre ein Witz. Geo wird immer noch jung sein, wenn sie freikommt, jung genug, um ein neues Leben zu beginnen. Sie kann immer noch heiraten und Kinder bekommen. Sie wird immer noch eine Zukunft haben.

Theoretisch zumindest.

Sie riskiert einen Blick auf Andrew, der stoisch neben ihrem Vater in der drittletzten Reihe sitzt. Seinetwegen sieht sie heute so gut aus; er hat ihr am Vormittag ihr Lieblingskleid von Dior und ihre Louboutin-Pumps bringen lassen. Ihre Blicke begegnen sich. Andrew deutet ein aufmunterndes Lächeln an, das sie ein bisschen tröstet, auch wenn sie weiß, dass es nicht lange halten wird.

Ihr Verlobter weiß nicht, was sie getan hat. Aber er wird es bald erfahren. Geo betrachtet ihre Hände, die sie auf ihrem Schoß gefaltet hat. Ihren Verlobungsring mit dem dreikarätigen, ovalen Diamanten, eingefasst von winzigen Brillanten, trägt sie noch am Finger. Vorerst. Andrew Shipp hat Geschmack. Das gehört eben dazu, wenn man eine gute Erziehung genossen hat, einen wichtigen Familiennamen trägt und ein dickes Bankkonto besitzt. Wenn er die Verlobung löst – was er natürlich tun wird, denn das Einzige, was ihm noch wichtiger ist als Geo, ist die Firma seiner Eltern –, wird sie ihm den Ring zurückgeben.

Natürlich wird sie das tun. Weil es das einzig Richtige ist.

Eine Staffelei mit einem Foto von Angela in der Größe eines Posters ist zu den Geschworenen hin ausgerichtet. Geo erinnert sich an den Tag, an dem das Foto aufgenommen wurde, wenige Wochen, nachdem sie an der St. Martin’s Highschool in die elfte Klasse gekommen waren. Es ist ein vergrößerter Ausschnitt aus einem Foto, von dem auch Geo einen Abzug besitzt. Darauf sieht man die beiden besten Freundinnen nebeneinander auf der Puyallup Fair (die inzwischen in Washington State Fair umbenannt wurde), Geo mit einem blauen Bausch Zuckerwatte, Angela mit einem Eis in der Hand, das in der Sommerwärme schmilzt. Auf dem Ausschnitt lacht Angela in die Kamera, ihre Haare glänzen im Sonnenlicht, ihre braunen Augen leuchten. Ein hübsches Mädchen an einem schönen Tag, ein Mädchen, dem die Welt zu Füßen liegt.

Gleich daneben, auf einer zweiten Staffelei, befindet sich ein Foto von Angelas sterblichen Überresten, die im Wald hinter Geos Elternhaus gefunden wurden. Nur ein Haufen Knochen in einem Erdloch, man hat schon wesentlich Schlimmeres im Fernsehen gesehen. Der einzige Unterschied ist, dass diese Knochen echt sind und einem Mädchen gehören, das viel zu jung gestorben ist und auf eine unvorstellbar brutale Weise.

Der Staatsanwalt stellt weiter seine Fragen und entwirft ein Bild von Angela Wong für die Geschworenen, quasi durch Geos Augen. Sie beantwortet die Fragen, ohne unnötige Einzelheiten hinzuzufügen. Ihre Stimme ertönt aus den Lautsprecherboxen, und sie klingt ruhiger, als Geo sich fühlt. Ihre tiefe Trauer, die sie seit dem Mord an Angela Tag für Tag begleitet, scheint zu verblassen, hinter dem Bemühen, klar und deutlich zu sprechen.

Calvin beobachtet sie vom Tisch der Verteidigung aus, sein Blick durchdringt sie regelrecht. Es ist, als würde er sie noch einmal vergewaltigen. Geo erzählt dem Gericht von ihrer Beziehung, sie waren einmal ein Paar, damals, als er noch Calvin war und nicht der Sweetbay-Würger, als sie sechzehn war und glaubte, sie würden sich lieben. Sie berichtet davon, wie er sie misshandelt hat, sowohl verbal als auch körperlich, beschreibt den faszinierten Zuhörern im Gerichtssaal Calvins Besessenheit, seinen Kontrollzwang. Sie schildert ihre Angst und ihre Verwirrung, erzählt Dinge, über die sie noch nie vorher gesprochen hat, nicht mal mit Angela und erst recht nicht mit ihrem Vater. Dinge, die sie jahrelang verdrängt hat, tief vergraben in einer Ecke ihrer Erinnerung, an die sie sich nie herangetraut hat.

Geo ist eine Meisterin darin, ihr Leben in verschiedene Bereiche zu gliedern.

»Als Sie Jahre später die Berichte in den Nachrichten gesehen haben, haben Sie da schon geahnt, dass Calvin James der Sweetbay-Würger war?«, fragt der Staatsanwalt.

Geo schüttelt den Kopf. »Ich hab mir die Nachrichten nie angesehen. Mein Vater hatte mir zwar davon erzählt, er wohnt ja immer noch in Sweetbay, aber den Zusammenhang hab ich nicht hergestellt. Ich hab das irgendwie gar nicht mitgekriegt.«

Das stimmt tatsächlich, und als sie zu Calvin hinüberschaut, zeigen seine Mundwinkel fast unmerklich nach oben. Ein winziges Lächeln. Ihr Ex-Freund sah mit einundzwanzig gut aus, das konnte niemand bestreiten. Aber jetzt, mit fünfunddreißig, sieht er aus wie ein Filmstar. Sein Gesicht ist kantiger, von verführerisch zerzausten Locken umrahmt wie das von McDreamy aus Grey’s Anatomy; die leicht angegrauten Schläfen und die Fältchen um seine Augen tragen nur zu seiner Attraktivität bei. Er sitzt entspannt da, bekleidet mit einem schlichten Anzug und einer dezenten Krawatte, und macht sich Notizen auf einem gelben Block. Das winzige Lächeln umspielt seine Lippen schon seit sie den Gerichtssaal betreten hat. Vermutlich ist sie jedoch die Einzige, die es sieht. Vermutlich gilt es ihr.

Als ihre Blicke sich begegnen, geht ein Kribbeln durch Geos Körper. Dieses verdammte Kribbeln, selbst jetzt noch, nach allem, was passiert ist. Vom ersten Tag an, von ihrer ersten Begegnung an, bis zu dem Tag, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, war dieses Kribbeln immer da. So etwas hat sie weder vorher noch nachher jemals empfunden. Nicht mal bei Andrew. Am wenigsten bei Andrew. Ihr Verlobter – wenn sie ihn denn immer noch so bezeichnen will, denn die für den nächsten Sommer geplante Hochzeit wird sicherlich nicht stattfinden – hat dieses Gefühl nie in ihr ausgelöst.

Ihre Hände liegen immer noch in ihrem Schoß, sie dreht den Ring hin und her, fühlt sein Gewicht, die Sicherheit, die er ihr gibt. Als Andrew ihn ihr überreicht hat, war er nicht nur ein Symbol für das Eheversprechen, sondern auch für das Leben, das sie sich aufgebaut hatte. Ein BA von der Puget Sound State University, ein MBA von der University of Washington, mit dreißig die jüngste stellvertretende Vorsitzende von Shipp Pharmaceuticals. Was spielte es schon für eine Rolle, dass sie ihre Karriere zum Teil der Tatsache zu verdanken hat, dass sie die Verlobte von Andrew Shipp ist, dem CEO und Thronerben? Den Rest hat sie sich verdammt hart erarbeitet.

Egal. Dieses Leben gibt es jetzt nicht mehr.

Einerseits weiß sie, dass sie noch einmal glimpflich davongekommen ist. Ihr gewiefter Anwalt war jeden Cent wert, den Andrew ihm gezahlt hat. Andererseits: fünf verdammte Jahre. Im Gefängnis wird es niemanden interessieren, dass sie draußen studiert hat und erfolgreich war, dass sie bis zu ihrer Verhaftung ein sechsstelliges Jahresgehalt bezogen hat (plus Boni) und dass sie kurz davorstand, Mitglied einer der ältesten und bedeutendsten Familien Seattles zu werden. Wenn sie rauskommt – gesetzt den Fall, dass sie das Gefängnis überlebt und nicht in der Dusche erstochen wird –, wird sie vorbestraft sein. Wegen eines Kapitalverbrechens. Sie wird nie wieder einen normalen Job bekommen. Jedes Mal, wenn irgendjemand ihren Namen googelt, wird der Fall des Sweetbay-Würgers auftauchen, denn das Internet vergisst nie. Sie wird noch einmal ganz unten anfangen müssen. Nein, nicht ganz unten, noch tiefer. Sie wird sich aus der Grube befreien müssen, die sie sich selbst gegraben hat.

Sie berichtet weiter von den Ereignissen jener grauenhaften Nacht, bemüht sich, klar und deutlich zu sprechen. Die Geschworenen und die Zuschauer hängen ihr an den Lippen. Den Blick fest auf diese eine Stelle an der hinteren Wand des Saals geheftet, beschreibt sie alles, wie es gewesen ist. Die Football-Party bei Chad Fenton zu Hause. Das Fass Bowle, die fast zur Hälfte aus Wodka bestand. Sie erzählt, wie sie und Angela die Party früh verlassen, wie sie kichernd in ihren dünnen Kleidchen zu Calvin torkeln, sturzbetrunken. Sie beschreibt die pulsierende Musik, die aus Calvins Anlage dröhnt. Wie Angela getanzt hat. Wie Angela mit Calvin geflirtet hat. Wie sie alle noch mehr getrunken haben und die Welt angefangen hat, sich zu drehen und sich in ein Kaleidoskop aus Formen und Farben zu verwandeln, bis Geo schließlich das Bewusstsein verloren hat.

Dann, etwas später, die Fahrt im Auto zu Geo nach Hause, Calvin am Steuer, Angela zusammengefaltet im Kofferraum. Den langen, mühsamen Weg in den Wald, nur beleuchtet durch eine kleine Taschenlampe an Calvins Schlüsselbund. Die kühle Nachtluft. Der Geruch der Bäume. Der harte Boden. Wie ihr Weinen im Wald widerhallte, wie ihr Kleid mit Erde, Gras und Blut besudelt war.

»Sie haben also nicht direkt gesehen, wie Calvin die Leiche zerstückelt hat?«, fragt der Staatsanwalt. Geo windet sich. Er will Angelas Zerstückelung ins Rampenlicht zerren, will alles so grauenhaft wie möglich schildern, dabei war ihre beste Freundin da schon längst tot, was grauenhaft genug war.

»Nein, ich habe nicht gesehen, wie er es getan hat«, antwortet sie. Dabei schaut sie Calvin nicht an. Es geht nicht.

»Was hat er benutzt?«

»Eine Säge. Aus dem Schuppen im Garten.«

»Eine Säge Ihres Vaters?«

»Ja.« Sie schließt die Augen. Sie sieht immer noch den glänzenden Stahl im Mondlicht aufblitzen. Den hölzernen Griff, das gezackte Sägeblatt. Später war alles voller Blut, Haut und Haaren. »Der Boden war zu … steinig. Wir konnten kein Loch graben, das groß genug war für … für ihren … ganzen Körper.«

Eine Bewegung geht durch den Saal. Ein Rascheln, dann leises Murmeln. Andrew Shipp ist aufgestanden. Er schaut Geo an; ihre Blicke begegnen sich. Er nickt ihr zu, deutet mit einer Kopfbewegung eine Entschuldigung an, dann verlässt ihr Verlobter den Gerichtssaal durch die schwere Doppeltür am hinteren Ende.

Möglicherweise wird sie ihn nie wiedersehen. Es schmerzt mehr, als sie erwartet hat. Wütend dreht sie ihren Verlobungsring an ihrem Finger, dann schiebt sie den Schmerz vorerst beiseite.

Walter Shaw, der jetzt neben einem leeren Platz sitzt, rührt sich nicht. Geos Vater ist nicht gerade für seine Emotionalität bekannt, und der einzig sichtbare Ausdruck seiner Gefühle ist die Träne, die ihm über die Wange läuft. Er hat diese Geschichte auch noch nie gehört, und sie wird es ihm nicht übel nehmen, falls er Andrew durch die schwere Tür folgt. Aber ihr Vater geht nicht. Gott sei Dank.

»Wie lange hat es gedauert? Sie zu zerstückeln?«, fragt der Staatsanwalt.

»Ziemlich lange«, sagt Geo leise. Ein Schluchzen ertönt in der Mitte des Saals. Candace Wong Plattens Schultern beben, ihr Ex-Mann legt einen Arm um sie, obwohl er sich selbst kaum noch beherrschen kann. Die jetzigen Ehepartner der beiden sitzen stumm vor Entsetzen neben ihnen und wissen nicht, wie sie reagieren, was sie tun sollen. Es geht nicht um ihre Tochter, aber auch sie empfinden den Schmerz. »Es kam mir vor, als hätte es sehr lange gedauert.«

Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Auch Calvins. Ganz langsam hebt Geo den Kopf, und endlich begegnen sich ihre Blicke. Zum ersten Mal, seit sie den Gerichtssaal betreten hat, hat sie Blickkontakt mit ihm. Kaum merklich, sodass nur sie es wahrnehmen kann, weil sie es erwartet, nickt er. Sie wendet sich ab und konzentriert sich wieder auf den Staatsanwalt, der gerade einen Schluck Wasser trinkt.

»Sie haben sie also dort zurückgelassen«, sagt der Staatsanwalt, stellt das Glas ab und tritt wieder an den Zeugenstand. »Und dann haben Sie einfach weitergelebt, als wäre nichts geschehen. Sie haben die Polizei belogen. Sie haben Angelas Eltern belogen. Sie haben diese Eltern vierzehn Jahre lang leiden lassen, vierzehn lange Jahre, in denen sie nicht wussten, was mit ihrem einzigen Kind passiert ist.«

Er hält inne. Schaut demonstrativ erst Geo, dann Calvin, dann die Geschworenen an. Als er weiterspricht, flüstert er fast, sodass alle im Saal sich anstrengen müssen, um ihn zu verstehen. »Sie haben Ihre beste Freundin im Wald vergraben, keine hundert Meter von Ihrem Elternhaus entfernt, nachdem Ihr Freund sie zerstückelt hatte.«

»Ja«, sagt sie und schließt wieder die Augen. Sie weiß, wie grässlich das klingt, weil sie weiß, wie grässlich es war. Aber die Tränen wollen nicht kommen. Sie hat keine mehr übrig.

Jemand im Saal weint leise. Eigentlich ist es eher ein Wimmern. Die Brust von Angelas Mutter hebt und senkt sich, sie hat das Gesicht in den Händen verborgen, ihr knallroter Nagellack ist abgesplittert, das kann Geo selbst von ihrem Platz aus sehen. Victor Wong neben ihr weint nicht, aber seine Hand, mit der er ein Taschentuch aus der Brusttasche zieht, um es seiner Ex-Frau zu reichen, zittert stark.

Der Staatsanwalt hat keine weiteren Fragen. Der Richter ordnet eine Mittagspause an. Die Geschworenen verlassen den Saal, die Zuschauer stehen auf und strecken sich. Es wird telefoniert. Journalisten hacken auf die Tastaturen ihrer Laptops ein. Der Gerichtsdiener führt Geo aus dem Zeugenstand, und sie geht langsam am Tisch der Verteidigung, an dem Calvin sitzt, vorbei. Er steht auf, packt sie an der Hand und hält sie fest.

»Schön, dich zu sehen«, sagt er. »Selbst unter diesen Umständen.«

Ihre Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt. Seine Augen sind noch genauso, wie sie sie in Erinnerung hat, leuchtend grün mit einem goldenen Rand um die Pupillen. Manchmal sieht sie diese Augen im Traum, hört seine Stimme, spürt seine Hände an ihrem Körper, dann ist sie schon häufig schweißgebadet aus dem Schlaf gefahren. Doch jetzt steht er vor ihr, so real wie eh und je.

Sie sagt nichts, denn es gibt nichts zu sagen, erst recht nicht vor all den Leuten, die sie beobachten und mithören. Sie schüttelt seine Hand ab. Der Gerichtsdiener schiebt sie vorwärts.

Sie spürt den Zettel, den Calvin ihr in die Hand gedrückt hat und steckt ihn unauffällig in die Tasche ihres Kleids. Sie bleibt stehen, um sich von ihrem Vater zu verabschieden und ihm den Verlobungsring zu geben, den einzigen Schmuck, den sie trägt. Walter Shaw umarmt sie unbeholfen. Dann lässt er sie los und wendet sich ab, damit sie nicht sieht, wie sich sein Gesicht vor Kummer verzerrt.

Die Verhandlung ist noch nicht zu Ende, Geos Rolle dabei schon. Sie wird ihren Vater erst wiedersehen, wenn er sie im Gefängnis besucht. Der Gerichtsdiener führt sie zurück in die Zelle. Sie setzt sich auf die Bank hinten in der Ecke, und während die Schritte des Gerichtsdieners langsam verklingen, nimmt sie Calvins Zettel aus der Tasche.

Es ist ein Stück von einer Seite seines gelben Notizblocks. Darauf hat er in seiner kleinen, sauberen Handschrift geschrieben:

Gern geschehen.

Neben die zwei Worte hat er ein kleines Herz gezeichnet.

Sie knüllt den Zettel zu einer winzigen Kugel zusammen und verschluckt ihn. Weil das die einzige Möglichkeit ist, ihn loszuwerden.

Geo hockt allein in ihrer Zelle, tief in Gedanken versunken. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft fließen ineinander, die inneren Stimmen plappern zeitgleich mit den Stimmen der Polizisten im Flur, die sich über die letzte Folge von Grey’s Anatomy unterhalten. Geo fragt sich kurz, ob man im Gefängnis Grey’s Anatomy sehen kann. Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, als ein Schatten vor den Gitterstäben auftaucht.

Als sie aufblickt, steht Detective Kaiser Brody da. Er hält eine Papiertüte von einem Hamburger-Imbiss und einen Milchshake in den Händen. Einen Erdbeer-Milchshake. Die Papiertüte strotzt vor Fettflecken, und Geo läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie hat seit dem Frühstück, einer kleinen Schale Haferflocken mit kalter Milch, die ihr auf einem schmuddeligen Blechtablett hier in der Zelle vorgesetzt wurde, nichts mehr gegessen.

»Wenn das nicht für mich ist, bist du echt grausam«, sagt sie.

Kaiser hält die Tüte hoch. »Das ist für dich. Und du bekommst es auch … wenn du mir sagst, was Calvin James dir im Gerichtssaal zugesteckt hat.«

Geo betrachtet die Tüte. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Er hat deine Hand gepackt, und er hat dir was zugesteckt.«

Sie schüttelt den Kopf. Sie riecht gebratenes Hackfleisch. Röstzwiebeln. Fritten. Ihr Magen knurrt laut. »Er hat mir nichts gegeben, Kai, ich schwör’s. Er hat mich an der Hand gepackt, gesagt, schön, dich zu sehen, und ich hab mich losgerissen, ohne ihm was zu antworten. Mehr war da nicht.«

Der Detective glaubt ihr nicht. Er gibt dem Wachmann ein Zeichen, und der schließt die Tür auf. Kaiser überprüft ihre Hände, dann überprüft er den Fußboden. Er bedeutet ihr, sie soll aufstehen, und sie gehorcht. Er tastet sie ab, überprüft ihre Taschen. Resigniert gibt er ihr die Tüte. Sie reißt sie auf.

»Langsam.« Er setzt sich neben sie auf die kalte Metallbank. »Da sind zwei Burger drin. Einer ist für mich.«

Geo hat ihren schon ausgewickelt. Sie beißt kräftig zu, Fett tropft auf ihr Designerkleid. Es ist ihr egal. »Ist das erlaubt?«

»Was? Der Burger?« Kaiser hebt den Deckel seines Burgers an, legt ein paar Fritten auf das Fleisch, klappt den Burger wieder zu und beißt ebenfalls kräftig hinein. »Du hast die gerichtliche Einigung unterschrieben, es interessiert niemanden, ob ich mit dir rede.«

»Ich fass es nicht, dass du das immer noch machst.« Sie betrachtet gespielt angewidert seinen Burger. »Fritten in den Burger. Das ist dermaßen Highschool.«

»In manchen Dingen hab ich mich geändert«, sagt er, »in anderen nicht. Ich wette, das ist bei dir auch nicht anders.«

»Also, was machst du hier?«, fragt sie ein paar Minuten später, nachdem sie ihren Burger halb aufgegessen hat und ihr Magen nicht mehr schmerzt.

»Weiß nicht. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich dich nicht hasse.«

»Du hättest allen Grund dazu.«

»Jetzt nicht mehr«, sagt Kaiser, dann seufzt er. »Ich hab den Fall endlich abgeschlossen. Jetzt kann ich loslassen. Ich kann dir nur raten, dasselbe zu tun. Du hast dieses Geheimnis lange genug mit dir rumgeschleppt. Vierzehn Jahre … Ich wage kaum, mir vorzustellen, was das mit dir gemacht hat. Das allein ist ja schon eine furchtbare Strafe.«

»Ich glaub nicht, dass Angelas Eltern das genauso sehen.« Trotzdem freut sie sich, dass er das gesagt hat. Dadurch fühlt sie sich weniger wie ein Monstrum. Aber nur ein bisschen.

»Dafür kommst du ja ins Gefängnis. Um deine Strafe abzusitzen. Und wenn du rauskommst, kannst du noch mal von vorne anfangen. Du wirst es überleben. Du bist schon immer stark gewesen.« Kaiser legt seinen Burger ab. »Weißt du, es ist schon komisch. Als ich rausgefunden hatte, was du getan hast, hätte ich dich am liebsten umgebracht. Für das, was du Angela angetan hast. Für das, was du allen zugemutet hast. Was du mir zugemutet hast. Aber als ich dich wiedergesehen hab …«

»Da?«

»Da ist mir wieder eingefallen, wie es früher war. Wir waren doch alle dicke Freunde, verdammt noch mal. So was geht nicht weg.«

»Ich weiß.« Geo schaut ihn an. Unter seiner harten Polizistenschale sieht sie sein gutes Herz. Kaiser hatte schon immer ein gutes Herz. »Ich hätte dir damals gern erzählt, was passiert war, du glaubst gar nicht, wie oft ich das wollte. Du hättest gewusst, was zu tun war. Du warst immer mein …«

»Dein was?«

»Mein moralischer Kompass«, sagt sie. »Ich hab viel Scheiße gebaut, Kai. Zum Beispiel, dass ich dich von mir weggestoßen hab.«

»Du warst sechzehn.« Kaiser stößt noch einen tiefen Seufzer aus. »Du warst noch ein Kind. Genau wie ich. Und wie Angela.«

»Aber alt genug, um es besser wissen zu müssen.«

»Im Nachhinein ergibt vieles einen Sinn. Wie du drauf warst, nach der Nacht. Wie du dich von mir zurückgezogen hast. Dass du den Rest des Jahres nicht mehr zur Schule gegangen bist. Calvin hat dich echt fertiggemacht. Ich hab damals bloß nicht geblickt, wie schlimm.« Kaiser berührt ihr Gesicht. »Aber heute hast du die Wahrheit gesagt. Es ist vorbei. Endlich.«

»Endlich«, wiederholt sie und beißt noch einmal kräftig von ihrem Burger ab, obwohl sie gar keinen Hunger mehr hat.

Mit vollem Mund lügt es sich leichter.

2

Im Gefängnis gibt es drei verschiedene Währungen: Drogen, Sex und Informationen. Letztere sind am wertvollsten, aber Crystal Meth und Blowjobs sind zuverlässiger. Und da Geo nicht mit Drogen dealt, muss es Bargeld tun. Es gibt Dinge, die sie braucht, um das Gefängnis zu überleben, und die will sie sich möglichst schnell besorgen, sobald sie eine Zelle und einen Job hat.

Alle neuen (oder zurückgekehrten) Insassinnen des Hazelwood Correctional Institute, das von manchen auch Hellwood genannt wird, durchlaufen die ersten zwei Wochen ein Aufnahme- und Einweisungsverfahren, bei dem sie einer eingehenden Beurteilung unterzogen werden. Reihenweise psychologische Tests und Hintergrundprüfungen werden durchgeführt, bevor festgelegt wird, wo die Gefangene wohnen und arbeiten wird. Geo hofft auf die Unterbringung in einer Abteilung der mittleren Sicherheitsstufe und einen Job im Friseursalon. Nach ihrem ersten Gespräch mit der Sozialarbeiterin weiß sie allerdings, dass sie realistischerweise auf nichts Besseres hoffen kann als drei Jahre lang Unterbringung bei höchster Sicherheitsstufe und einen Job in der Putzkolonne.

»Das ist gar nicht so schlecht«, sagt die Sozialarbeiterin, um sie zu beruhigen. Auf dem Namensschild auf ihrem Schreibtisch steht P. MARTIN. »In der Abteilung für Hochsicherheit gibt es mehr Personal. Wenige Vergünstigungen, aber dafür viel Schutz.«

Das klingt in Geos Ohren nach ziemlichem Blödsinn, aber da sie noch nie im Gefängnis war, kann sie nichts dazu sagen. Sie ist vor drei Stunden in Hazelwood angekommen, und die Sozialarbeiterin ist die erste Person ohne Uniform, mit der sie gesprochen hat. P. Martin – Pamela? Patricia? Es gibt im Zimmer keinen Hinweis auf den Vornamen der Frau – scheint ehrlich um das Wohlergehen der Insassinnen besorgt zu sein. Geo fragt sich, was die Frau hierhergeführt hat. Geld kann es nicht sein. Sie trägt einen billigen Hosenanzug, das Jackett spannt unter den Achseln, und an den Nähten hängen lose Fäden.

»Wie sieht Ihre Unterstützung aus?«, fragt die Beraterin. Als Geo nicht antwortet, formuliert sie ihre Frage anders. »Wer wird Sie hier besuchen? Auf wen freuen Sie sich, wenn Sie rauskommen? Denn der Tag wird kommen, und an die Leute, auf die Sie sich freuen, sollten Sie jeden Tag denken, den Sie hier verbringen. Sie brauchen ein Ziel vor Augen.«

»Mein Vater«, sagt Geo. Sie hatte nie viele Freunde, und seit dem Prozess geht sie davon aus, dass sie gar keine mehr hat. »Ich war verlobt … aber das mit der Hochzeit hat sich ja jetzt erledigt.«

»Was ist mit Ihrer Mutter?«

»Die ist gestorben, als ich fünf war.«

»Eine letzte Frage«, sagt Martin. »Welcher Ethnie fühlen Sie sich zugehörig? Sie sehen aus wie eine Weiße, aber in Ihrem Aufnahmeformular haben Sie ›andere‹ angekreuzt.«

»Andere ist korrekt«, antwortet Geo. »Meine Mutter war halb Philippina, und mein Vater ist zu einem Viertel Jamaikaner. Ich bin ein Mischling.«

Die Sozialarbeiterin lässt ihren Kuli klicken, nickt und notiert etwas in ihrer Akte. »Die Insassinnen hier sind zu fünfundsechzig Prozent Weiße, und da Sie weiß aussehen, werden Sie da gut reinpassen. Aber wenn Sie auch schwarze Anteile haben, können Sie sich mit Schwarzen anfreunden, das ist gut.«

»Ich bin ja auch zu einem Viertel asiatisch.«

»Wir haben hier weniger als ein Prozent Häftlinge aus Asien. Das wird Ihnen nicht helfen.« Die Sozialarbeiterin sieht sie durchdringend an. »So, und wie fühlen Sie sich? Deprimiert? Aufgeregt? Haben Sie Selbstmordgedanken?«

»Wenn ich Ja sage, kann ich dann nach Hause?«

Die Sozialarbeiterin lacht. »Gut. Sie haben Humor. Bewahren Sie sich den.« Sie klappt ihren Ordner zu. »Also gut, meine Liebe. Wir sind hier erst mal fertig. In einer Woche sehen wir uns wieder. Falls Sie mich vorher brauchen, sagen Sie jemandem vom Wachpersonal Bescheid.«

Die ersten zwei Wochen vergehen ohne besondere Ereignisse. Allerdings werden alle Neuzugänge streng auf Selbstmordabsichten hin beobachtet, denn das Gefängnis ist ein verdammt deprimierender Ort. Geo hält sich bedeckt, redet nur, wenn sie angesprochen wird, und verbringt die meiste Zeit allein. An dem Morgen, an dem sie mit den anderen Gefangenen zusammengebracht werden soll, ist sie schon lange vor dem Schrillen der Glocke wach.

Es ist schwer zu glauben, dass sie vor nur etwas mehr als sechs Monaten von der Zeitschrift Pacific Northwest interviewt wurde, die für ihr jährliches Feature »Die 100 Top-Arbeitgeber« Shipp Pharmaceuticals vorstellte. Mit ihren dreißig Jahren war Geo die bei Weitem jüngste weibliche Führungskraft bei Shipp, und die Überschrift des Artikels lautete: »Das Schiff steuert in eine neue Richtung: Das junge Gesicht eines der ältesten Unternehmen Amerikas«. Das Begleitfoto zeigte Geo im verglasten Konferenzraum im 34. Stock am Kopfende des langen Konferenztischs sitzend, kurzer Rock, die Beine übereinandergeschlagen, die roten Sohlen ihrer High Heels gut sichtbar, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. Thema des Artikels war Diversität am Arbeitsplatz, wobei ihr ethnisches Erbe ironischerweise mit keinem Wort erwähnt wurde. Es ging einzig und allein um ihre Jugend und ihr Geschlecht – das allein machte sie schon zu einem bunten Vogel in einem von alten weißen Männern beherrschten Pharmakonzern – sowie um ihre Pläne, die Abteilung für Lifestyle & Beauty zu erweitern.

Sie vermutete, dass die meisten Vorstandsmitglieder von Shipp sich über das Foto ärgerten und vor allem darüber, dass man ausgerechnet sie als Repräsentantin des Unternehmens ausgewählt hatte, doch das sprach niemand ihr gegenüber offen aus.

Am Tag der Verhaftung redete Geo gerade in diesem Konferenzsaal. Die Tür schwang auf, und ein großer Mann in schwarzen Jeans und einer abgenutzten Lederjacke marschierte herein, begleitet von zwei uniformierten Polizisten und gefolgt von einer aufgeregten Verwaltungsassistentin, die händeringend versuchte, mit ihnen Schritt zu halten. Die zwölf Köpfe der am Tisch Sitzenden wandten sich um.

»Tut mir leid, die haben mich nicht anklopfen lassen«, sagte die junge Frau namens Penny, die erst seit einem Monat bei der Firma war, völlig außer Atem.

Der Mann in der Lederjacke schaute Geo an. Er kam ihr unglaublich vertraut vor, und sie überlegte krampfhaft, woher sie ihn kannte. Das Abzeichen an seiner Brusttasche wies ihn als Detective aus, und an der leichten Wölbung unter seiner Jacke erkannte sie, dass er eine Waffe trug. Er war groß und muskulös, ganz anders als damals in der Highschool, als er noch fünfzehn Kilo leichter und einen halben Kopf kleiner gewesen war …

Kaiser Brody. Ach du Scheiße.

Da begriff Geo, und ihr blieb das Herz stehen. Ihre Knie wurden weich, und der Raum begann sich zu drehen, sodass sie sich am Tisch festhalten musste. Plötzlich herrschte in dem Konferenzsaal, in dem es eben noch angenehm kühl gewesen war, eine erdrückende Hitze. Der Detective bemerkte ihre Reaktion und grinste.

»Georgina Shaw?«, fragte er, dabei wusste er ganz genau, dass sie es war. Unter den schockierten Blicken der Anwesenden kam er, gefolgt von den uniformierten Polizisten, auf sie zu. »Sie sind verhaftet.«

Geo protestierte nicht, sie sagte kein Wort, gab kein Geräusch von sich. Sie klappte einfach ihren Laptop zu, und ihre Präsentation verschwand von der Leinwand hinter ihr. Der Detective zog Handschellen aus der Tasche. Bei dem Anblick zuckte Geo zusammen.

»Ist Vorschrift«, sagte er. »Ich würde um Verzeihung bitten, aber du weißt, dass es mir nicht leidtut.«

Die Vorstandsmitglieder wussten nicht, wie sie reagieren sollten, und sahen stumm zu, wie der Detective Geo die Hände auf den Rücken bog, die Handschellen einschnappen ließ und sich anschickte, sie aus dem Konferenzsaal zu führen. Die Verwirrung der Männer war verständlich. Die Georgina Shaw, die sie kannten, war keine Frau, die einfach mal so verhaftet wurde. Sie war eine leitende Führungskraft des Unternehmens. Sie war verdammt noch mal Andrew Shipps Verlobte, und alles, was da passierte, wirkte vollkommen daneben.

Die Stimme des Vorstandschefs ertönte, und alle drehten sich um. Andrew Shipp hatte nicht an der Sitzung teilgenommen, aber sein Büro lag am Ende des Korridors, und offenbar hatte jemand ihn informiert. Er stand in der Tür des Konferenzsaals.

»Was zum Teufel machen Sie hier?« Andrew streckte eine Hand nach Geos Arm aus, doch ein junger Polizist stellte sich ihm in den Weg. Andrews Gesicht lief hochrot an, denn noch nie hatte es irgendjemand gewagt, sich ihm auf diese Weise zu widersetzen. »Das ist absolut lächerlich. Was wird ihr denn vorgeworfen? Nehmen Sie ihr sofort die Handschellen ab!«

Geo wollte ihm mit einem Lächeln zu verstehen geben, dass mit ihr alles in Ordnung war, doch er beachtete sie überhaupt nicht. Er durchbohrte die Polizisten mit seinem Blick, in dem diese spezielle Mischung aus Entrüstung und Selbstgerechtigkeit lag, die nur jemand haben kann, der aus einer reichen Familie stammt.

Aber die Polizisten ließen sich nicht beeindrucken. Es interessierte sie nicht, dass die Frau, der sie gerade Handschellen angelegt hatten, zwei Stockwerke tiefer ein Eckbüro hatte, oder dass ihre Hochzeitsfeier in dem vornehmen Golfclub stattfinden würde, dem die Familie ihres Verlobten angehörte, oder dass ein Abendessen dort vierhundert Dollar kostete, obwohl es eigentlich nur aus einem Steak mit Fritten bestand. Es interessierte sie nicht, dass sie rosa Pfingstrosen für ihren Brautstrauß ausgewählt hatte und dass ihr Hochzeitskleid aus New York eingeflogen werden würde. Das alles interessierte die Polizisten nicht die Bohne. Und das zu Recht. Denn all das spielte jetzt keine Rolle mehr. Und das würde es wohl auch nie wieder tun.

Der Detective führte sie aus dem Konferenzsaal hinaus. Er hatte eine Hand fest an ihren unteren Rücken gelegt. Kaiser Brody roch überhaupt nicht so, wie sie es in Erinnerung hatte. Der junge Kerl, den sie damals gekannt hatte, hatte kein Parfum benutzt. Was sie jetzt wahrnahm, war der angenehme Duft von Yves Saint Laurent, den sie sofort erkannt hatte. Sie hatte schon immer eine gute Nase gehabt. Einmal hatte sie diesen Duft für Andrew gekauft, doch er hatte ihn nie aufgelegt, angeblich, weil er davon Kopfschmerzen bekam. Es gab vieles, wovon Andrew Kopfschmerzen bekam.

Die Handschellen klapperten an ihren Handgelenken. Sie saßen so locker, dass sie es mit etwas Geduld vermutlich geschafft hätte, sich davon zu befreien. Kaiser hatte sie ihr nur angelegt, um ein Zeichen zu setzen. Er wollte eine Szene. Er wollte sie demütigen.

Andrew ging rückwärts vor ihnen her, dabei hielt Kaiser ihm den Haftbefehl vor die Nase.

»Detective Kaiser Brody, Police Department Seattle«, sagte er. »Die Anklage lautet Mord, Sir.«

Andrew riss Kaiser den Wisch aus der Hand und las ihn mit geweiteten Augen. Selbst in seinem zweitausend Dollar teuren Anzug war er mit seinen weichen Formen, dem runden Gesicht und dem schütteren Haar kein gut aussehender Mann. Andrews Stärken lagen auf einem anderen Gebiet. Aber auch wenn man mit Geld und Einfluss vieles erreichen konnte, in diesem Fall war er machtlos.

»Du sagst nichts«, wies er sie an. »Kein Wort. Ich rufe Fred an. Wir regeln das.«

Fred Argent war der Hausjurist bei Shipp. Er war zuständig für die Firmenstrategie, Verträge, Rechtsstreitigkeiten des Unternehmens. Aber Geo brauchte jetzt einen Strafverteidiger, und das war er nicht. Leider hatte sie keine Zeit für Diskussionen. Detective Kaiser schob sie unerbittlich weiter, während alle Anwesenden die Szene mit offenem Mund verfolgten.

Andrew lief die ganze Zeit neben ihnen her, bis zum Aufzug, der am Ende des Korridors hinter einer Ecke lag. Die Nachricht von Geos Verhaftung verbreitete sich schneller, als sie gehen konnten. Als sie am Schreibtisch ihrer Assistentin Carrie Ann vorbeikamen, sagte Geo: »Rufen Sie meinen Vater an. Ich will nicht, dass er es aus den Nachrichten erfährt.« Die junge Frau nickte stumm. An ihrem Rock war immer noch der Kaffeefleck vom Vormittag zu sehen, obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, ihn auszuwaschen. Noch vor weniger als einer Stunde hatten sie sich darüber ausgetauscht, wie man Kaffeeflecken rausbekam und im ganzen Büro nach einem Fleckenentferner gesucht, während Geo von dem neuen Restaurant erzählt hatte, in dem sie am Abend zuvor mit Andrew gewesen war.

Dieses Leben war jetzt vorbei. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, was sie sich aufgebaut hatte, das ganze Leben, das sie über dem schrecklichen Geheimnis errichtet hatte … all das löste sich gerade in Luft auf.

»Es wird alles gut«, sagte Andrew zu ihr, als sie vor dem Aufzug standen. »Du sagst nichts, verstanden? Nichts. Fred wird dich auf dem Polizeirevier erwarten. Wir besorgen dir den besten Anwalt. Mach dir keine Sorgen.« Er funkelte Kaiser wütend an, der ihm einen sanften Blick schenkte. »Diese Beschuldigung ist kompletter Blödsinn, Detective. Sie machen einen Riesenfehler. Chief Heron, Ihr Vorgesetzter, ist Mitglied in meinem Golfclub, und ich werde ihn persönlich anrufen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass ich Sie verklagen werde.«

Der Detective erwiderte nichts, nur seine Mundwinkel hoben sich auch diesmal kaum merklich. Noch ein Grinsen. Hatte er auf der Highschool auch schon so gegrinst? Geo konnte sich nicht erinnern.

Die Aufzugtüren schlossen sich, während Andrew seinem Assistenten zubrüllte, er solle ihm sein Handy bringen. Eine Minute lang standen Geo und der Detective reglos vor den verspiegelten Türen. Aus versteckten Lautsprechern rieselte sanfte Musik. Hinter sich hörte Geo einen der Polizisten atmen. Ein leichtes Pfeifen, begleitet von einem leisen Rasseln. Wahrscheinlich Polypen, dachte sie. Kaisers Hand lag immer noch an ihrem Rücken. Es störte sie nicht. Der Druck hatte etwas Beruhigendes.

Bei Shipp lief keine billige Hintergrundmusik in den Aufzügen, nein, hier wurde eine Auswahl zeitloser und aktueller Easy-Listening-Stücke über Spotify eingespielt. Zu den weichen Klängen von Oasis, einer Gruppe, die Geo gern gehört hatte, als sie noch auf der Highschool war, leuchteten die Nummern der Stockwerke auf dem Display auf. Einer der Polizisten, ein junger Mann, der keine Polypen zu haben schien, sang das Stück leise mit. Obwohl Geo den kompletten Text von »Wonderwall« kannte, sang sie nicht.

Today is gonna be the day

That they’re gonna throw it back to you

An den immer kleiner werdenden Zahlen konnte sie sehen, wie schnell sie sich dem Erdgeschoss näherten. Vielleicht hatte sie ja Glück. Vielleicht würde der Aufzug abstürzen und explodieren. Sechzehn, fünfzehn, vierzehn …

»Du scheinst dich gar nicht darüber zu wundern, dass ich hier bin«, bemerkte Kaiser, der sie im Spiegel beobachtete.

Geo sagte nichts, weil es nichts zu sagen gab. Sie hatte dieses Szenario tausendmal im Kopf durchgespielt, nur hatte sie sich nie ihren alten Kumpel aus der Schulzeit in der Rolle des Polizisten vorgestellt, der sie verhaftete. Sie hatte nicht mal gewusst, dass Kaiser zur Polizei gegangen war, aber er füllte die Rolle gut aus, das musste sie ihm lassen. Es war kaum noch etwas übrig von dem Jungen, den sie einmal gekannt hatte. Ein Dreitagebart hatte die Akne an seinem Kinn ersetzt. Sein Gesicht war kantiger geworden, aber sein Blick war geblieben. Gequält. Enttäuscht.

Er hatte recht. Sie wunderte sich nicht. Sie hatte lange auf diesen Tag gewartet, war überzeugt gewesen, dass er irgendwann kommen würde. Und jetzt, wo er gekommen war, konnte sie sich nicht mehr verstecken. Jetzt musste sie dieses Geheimnis, das sich mit der Zeit zu einem tonnenschweren Betonblock ausgewachsen hatte, nicht länger mit sich herumschleppen. Langsam atmete sie tief aus, nachdem sie vierzehn Jahre lang den Atem angehalten hatte. Ihre Nacken- und Schultermuskulatur konnte sich entspannen. Sie schenkte ihrem alten Freund ein zaghaftes Lächeln, und er hob eine Braue. Nein, sie wunderte sich kein bisschen.

Sie war erleichtert.

»Shaw«, sagt eine schneidende Stimme und reißt Geo aus ihren Gedanken. Zählappell. Geo blickt auf und sieht eine Wärterin in der Zellentür stehen, dunkelblaue Uniform, das Haar zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Die Frau ist klein, aber kräftig gebaut, und Geo zweifelt nicht daran, dass sie in der Lage wäre, jemanden, der doppelt so groß ist wie sie, zu Boden zu ringen. »Ihre Beurteilung ist abgeschlossen. Sie werden verlegt. Gehen wir.«

»Wo komm ich denn hin?«

»Abteilung für Hochsicherheit«, sagt die Frau, und Geo verlässt der Mut. »Aber Sie kommen in eine große Gemeinschaftszelle, weil an dem Flügel gebaut wird.«

»Große Gemeinschaftszelle« bedeutet vorübergehende Unterbringung. Geo hat neulich gehört, wie sich eine Mitgefangene bei einer Wärterin darüber beklagt hat, wie voll es dort ist, und sie sträubt sich. »In den großen Saal? Kann ich nicht einfach hier in der Aufnahme bleiben, bis …«

Die Frau lacht laut auf. »Glauben Sie etwa, Sie sind hier in einem Hotel? Dass Sie, wenn Ihnen Ihr Zimmer nicht passt, ein besseres bekommen? Setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung, Shaw, bevor ich es tue.«

Geo schnappt sich ihre wenigen Habseligkeiten: eine Plastiktüte mit billigen Toilettenartikeln und ein Sweatshirt mit dem Aufdruck DOC auf dem Rücken.

»Sie bekommen einen Job im Friseursalon«, sagt die Frau. »Darüber sollten Sie froh sein. Die meisten Neuzugänge fangen in der Küche an, aber im Friseursalon brauchen sie gerade eine, die Haare schneiden und färben kann. Haben Sie draußen in der Kosmetikbranche gearbeitet?«

»In gewisser Weise«, erwidert Geo.

»Hey.« Die Frau mustert sie mit schmalen Augen, während sie den Korridor hinuntergehen. »Ich kenn Sie doch. Sind Sie nicht die, die ihre beste Freundin zerstückelt hat? Vor langer Zeit?«

Geo antwortet nicht.

»Das ist echt krank«, sagt die Frau, und es ist schwer zu sagen, ob sie angewidert oder beeindruckt ist. »Wundert mich, dass die Sie mit Scheren hantieren lassen.«

Mich auch, denkt Geo. Mich auch.

3

Anfangs hatte Geo nicht damit gerechnet, dass sie davonkommen würde. Angela Wong war zu beliebt gewesen, zu lebenslustig, als dass irgendjemand geglaubt hätte, sie wäre abgehauen. Aber als die ersten Tage vergingen, ohne dass es an ihrer Tür klopfte, keimte in ihr die Hoffnung auf, dass vielleicht doch niemand erfahren würde, was sie getan hatte. Aus den Tagen wurden Wochen. Aus den Wochen wurden Monate. Und ehe sie es sich versah, war ein Jahr vergangen, dann mehrere Jahre, und es sah ganz so aus, als könnte die Vergangenheit ein für alle Mal begraben bleiben. Ein Wortspiel, geschmacklos, aber passend.

Als die Vergangenheit sie schließlich doch einholte, war Geo vielleicht nicht überrascht, aber gänzlich unvorbereitet. Was könnte einen auch auf das Gefängnis vorbereiten? Jedenfalls nicht die Filme, die im Fernsehen laufen, bei denen es nur um Unterhaltung und Nervenkitzel geht. Die Realität des Gefängnisses – die Trostlosigkeit, die Eintönigkeit, die unablässige Angst vor Gewalttaten – ist grauenhaft. Ihre ersten beiden Wochen in der Aufnahme, in einer Einzelzelle mit Klo und Waschbecken, kommen ihr im Vergleich zu dem Albtraum, den sie jetzt durchlebt – auch »normaler Vollzug« genannt –, wie das reinste Zuckerschlecken vor.

Willkommen in Hellwood.

Ihre Sozialarbeiterin P. Martin hatte recht, dass die Abteilung für Hochsicherheit über mehr Wachpersonal verfügt. Aber mehr Personal bedeutet nicht mehr Sicherheit, erst recht nicht, wenn man in einem überfüllten riesigen Schlafsaal nächtigt, wo alle übel gelaunt sind, vor allem die Wachleute. Zwar ist Hazelwood nicht überfüllt, aber da zur Zeit in zwei Flügeln gebaut wird, sind die anderen drei voll ausgelastet, man war gezwungen, einen großen Aufenthaltsraum in eine Gemeinschaftszelle umzuwandeln. Schlimmer kann das Gefängnisleben nicht sein.

Jede Art von Privatsphäre kann man sich abschminken. Täglich gibt es Schlägereien. Persönliche Gegenstände werden gestohlen. Gewalt liegt in der Luft wie Gewitterwolken. Dass fünfzig erwachsene Frauen auf so engem Raum schlafen, ist nicht normal. In dem Saal stehen fünfundzwanzig Stockbetten in fünf Reihen, also jeweils fünf Betten hintereinander. Der Geräuschpegel lässt den Raum kleiner wirken, als er ist, und der permanente Gestank nach Schweiß und Fürzen raubt einem die Luft zum Atmen.

Die Wärterin führt Geo quer durch den Saal zu einem Stockbett in der hinteren Ecke. Die Frauen beäugen sie unverhohlen, und sie bemüht sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, damit niemand denkt, sie sei schwach oder aggressiv – hier drinnen ist beides gleich gefährlich. Geo ist sich bewusst, dass sie sich äußerlich von den anderen Frauen unterscheidet. Ihr dunkles Haar ist von teuren Strähnchen durchzogen, sie hat perfekte weiße Zähne. Sie hat keine Tattoos im Gesicht – und auch sonst nirgendwo. Sie gehört draußen keiner Gang an, sie hat nichts mit Drogen zu tun. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen hier hat sie bisher noch nie im Gefängnis gesessen. Sie trägt zwar die gleiche graue Gefängniskleidung, aber sie ist ganz anders als alle anderen hier, und das ist nicht zu übersehen.

Sie ist zum ersten Mal im Gefängnis. Das riechen die anderen.

»Da wären wir«, sagt die Frau und bleibt vor einem Stockbett stehen.

Auf dem oberen Bett liegt ein Sweatshirt und auf dem unteren ein paar zerfledderte Zeitschriften. Geo ist sich nicht sicher, welches Bett frei ist. »Schlafe ich oben oder unten?«, fragt sie.

Die Frau zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Fragen Sie nach.«

Eine dicke Weiße undefinierbaren Alters – Geo schätzt sie auf irgendwas zwischen dreißig und fünfzig – kommt angewatschelt. Sie wiegt bestimmt an die hundertfünfzig Kilo, und Geo steigt ihr saurer Körpergeruch in die Nase, als die Frau sich nähert. Das spröde wasserstoffblonde Haar hat sie sich zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, der eingerahmt wird von einem mehrere Zentimeter breiten dunkelbraunen Ansatz. Wo einmal ihr Hals gewesen ist, schwabbelt ein Doppelkinn. Ihre schwarz aufgemalten Augenbrauen ziehen sich zusammen, als sie Geo erblickt. Auf jeden ihrer Wurstfinger ist ein Buchstabe tätowiert. Auf ihrer rechten Hand steht FUNS, auf der linken OVER.

Fun’s over. Der Spaß ist vorbei. Kann man wohl sagen.

Die Frau setzt sich auf das untere Bett. Neben dem Stockbett steht ein kleiner Spind, an dessen Tür fünf oder sechs Fotos kleben. Darauf ist die Frau ein kleines bisschen jünger und ein kleines bisschen schlanker. Auf einem Foto stehen ein hagerer Schwarzer und ein kleiner Junge neben ihr. Der Junge ist genauso dünn wie sein Vater, aber sein rundes Gesicht ist eine gute Mischung der beiden, er hat große Augen und kaffeebraune Haut, sein Lächeln entblößt riesige Zähne. Alle drei wirken auf dem Foto glücklich.

Die Frau, so einschüchternd sie auch sein mag, ist also Mutter. Gut. So schlimm kann es ja dann nicht werden.

»Ich bin Bernadette«, sagt die Dicke. Sie hat eine tiefe Stimme und einen leichten Akzent. Irgendwas Osteuropäisches. Vielleicht Polin. Oder Tschechin. Sie zieht eine Tüte Lakritzschnecken unter ihrer Matratze hervor. Sie bietet Geo keine Lakritzschnecke an, deutet jedoch ein Lächeln an. »Alle nennen mich Bernie.«

»Georgina«, sagt Geo und erwidert das Lächeln. »Alle nennen mich Geo.«

»Willkommen.« Bernie schaut zu ihr hoch, und Geo sieht Schmutzstreifen an ihrem Hals, die vorher unter dem Doppelkinn verborgen waren. »Da wir uns ein Bett teilen, sag ich dir am besten gleich, dass ich drei Regeln hab.«

»Okay.« Geo steht immer noch, ihre Sachen an die Brust gedrückt, weil sie nicht weiß, wohin damit. Da Bernie auf dem unteren Bett sitzt, vermutet sie, dass das obere ihr zugedacht ist, andererseits liegt da immer noch Bernies Sweatshirt. Geo wagt nicht, es wegzunehmen.

»Regel Nummer eins: Rühr mein Essen nicht an. Niemals.« Die Dicke beißt ein Stück von ihrer Lakritzschnecke ab und kaut mit halb offenem Mund darauf herum. »Falls du irgendwas Essbares auf meinem Bett siehst, ist das keine Einladung, dir was davon zu nehmen. Frag mich nicht mal, ob ich dir was abgebe.«

»Kapiert.«

»Regel Nummer zwei: Ich schnarche. Laut. Falls du dich deswegen beschwerst, so wie meine letzte Bettnachbarin, schlag ich dich zusammen, genauso, wie ich’s mit ihr gemacht hab. Falls mein Schnarchen dich stört, besorg dir Ohrstöpsel.«

»Kein Problem.« Vermutlich wird Bernies Geruch sie mehr stören als ihr Schnarchen, denkt Geo.

»Nummer drei: Ich schlaf oben, du schläfst unten.«

»Wirklich?« Sie dachte, die unteren Betten seien begehrt. Außerdem kann sie sich nicht vorstellen, wie diese dicke Frau aufs obere Bett klettert.

»Ja, da oben ist die Luft besser. Hier wird die ganze Zeit gefurzt und gerülpst, und bis Mitternacht stinkt’s wie auf dem Klo. Ich hab ’ne empfindliche Nase«, sagt Bernie und sieht Geo mit ihren kleinen Augen herausfordernd an. »Hast du ’n Problem mit dem unteren Bett?«

»Nein, überhaupt nicht«, antwortet Geo und fragt sich unwillkürlich, ob schon mal jemand zu Tode gekommen ist, weil eines der oberen Betten heruntergekracht ist. Im Schlaf unter einem Bett begraben zu werden, wäre ein scheußlicher Tod.

Als könnte sie Gedanken lesen, sagt Bernie: »Keine Sorge. Das Bett kracht nicht zusammen. Falls du das grade gedacht hast.«

Geo schüttelt hastig den Kopf. »Nein, nein, überhaupt nicht.«

»Zum ersten Mal in Hellwood?« Ihre Bettnachbarin zieht noch eine Lakritzschnecke aus der Tüte und steckt sie sich halb in den Mund. Ihre Zähne sind schon ganz rot von der Lebensmittelfarbe. Sieht fast aus wie Blut.

»Ja«, sagt Geo in der Annahme, dass es besser ist, ehrlich zu sein. »Irgendwelche guten Ratschläge für mich?«

Bernie zuckt die Achseln. »Hazelwood ist nicht so schlimm wie sein Ruf. Man gewöhnt sich dran. Das hier ist natürlich scheiße.« Sie macht eine Bewegung mit dem Arm, die den ganzen Saal einschließt. »Aber irgendwann kommen wir ja wieder in unsere Zellen, dann wird’s besser. Ich war schon überall. Dieser Knast hier ist nicht der beste, aber auch nicht der schlimmste.«

Geo nickt. Sie fragt nicht, warum Bernie hier einsitzt. Sie hat gehört, dass das nicht höflich ist. Sie bittet Bernie auch nicht, ein Stück zu rücken, damit sie sich auf ihr Bett setzen kann, auch das wäre unhöflich. Stattdessen zeigt sie auf die Fotos an der Spindtür. »Deine Familie?«

»Jep«, sagt Bernie und grinst. »Die hängen da, um mich daran zu erinnern, was mich erwartet, wenn ich hier rauskomm.« Endlich steht sie auf. Auf der Matratze bleibt ein Abdruck ihres Hinterns und ihrer Oberschenkel zurück.

Die Laken haben Bernies Geruch bereits angenommen, doch Geo zwingt sich, das Lächeln zu erwidern, während sie ihre Sachen auf dem Bett ablegt. Der Metallrahmen ächzt, als Bernie die Leiter zum oberen Bett hochklettert und sich langsam hinlegt. »Hast du einen Mann, der draußen auf dich wartet?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Es ist die ehrlichste Antwort, die sie geben kann. »Dürfen wir hier drinnen telefonieren?«

»Ja, aber ’ne halbe Stunde bevor das Licht ausgeht, ist Schluss«, sagt Bernie. »Die Telefone hängen im Flur bei den Klos. Du musst ’nem Wachmann Bescheid sagen, wenn du rauswillst, die müssen die Tür für dich aufmachen.«

Auf dem Weg zur Kabine des Wachpersonals hört Geo die Frauen flüstern, aber niemand spricht sie an. Sie fragt sich, ob sie neugierig sind, weil sie sie im Fernsehen gesehen haben, oder einfach, weil sie neu ist. Wahrscheinlich beides.

Vor den Telefonen hat sich eine lange Schlange gebildet, und die Wachfrau klärt Geo darüber auf, dass sie nur jeweils fünfzehn Minuten sprechen darf und sich für ein weiteres Gespräch wieder hinten anstellen muss. Geo wartet eine gefühlte Stunde, bis endlich ein Telefon frei ist. Sie holt tief Luft und wählt Andrews Nummer. Es klingelt fünfmal, dann ist sie bei der Mailbox.

Sie überlegt, ob er vielleicht nicht rangegangen ist, weil er die Nummer nicht kennt, und ruft ihn im Büro an. Seine Assistentin nimmt den Anruf entgegen, das heißt, sie muss die 1 gedrückt und damit die Kosten übernommen haben.

»Hallo, Bonnie«, sagt Geo. »Ist Andrew da?«

»Miss Shaw«, raunt die Assistentin. Sie klingt nervös. Geo weiß sofort, dass sich alles geändert hat. Sie hatte immer einen guten Draht zu Bonnie, und die hat sie, seit Geo mit Andrew zusammen ist, auch noch nie anders als mit dem Vornamen angesprochen. »Tut mir leid, aber Mr. Shipp möchte nicht mit Ihnen sprechen.«

Geo schließt die Augen. Miss Shaw. Mr. Shipp. Sie macht die Augen wieder auf. »Hat er das so gesagt?«

»Ja, Ma’am, das hat er so gesagt. Ich darf nur dieses eine Mal mit Ihnen sprechen.«

Geo atmet langsam aus, während sie versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich sagt sie mit gepresster Stimme: »Was soll ich mit dem Ring machen?« Ihr Verlobungsring liegt in einer Kiste mit ihren übrigen Habseligkeiten, und die steht im Haus ihres Vaters, da ihr eigenes Haus zum Verkauf steht. »Soll ich ihm den zuschicken, oder möchte er ihn lieber abholen?«

»Er hat gesagt, Sie sollen ihn hierher ins Büro schicken.« Der Assistentin versagt kurz die Stimme. Offenbar ist ihr das Gespräch genauso peinlich wie Geo.

»Bonnie …«

»Geo, ich darf nicht mit dir sprechen«, flüstert Bonnie jetzt. »Es tut mir wirklich furchtbar leid. Die ganze Firma steht kopf. Hier klingeln ständig die Telefone. Alle wollen mit Andrew über seine ehemalige Verlobte reden, eine verurteilte Mörderin und Ex-Freundin eines Serienmörders.«

»Ich wurde nicht wegen Mordes verur…«

»Aber das denken die Leute«, sagt Bonnie so leise, dass Geo sie kaum verstehen kann. »Und du weißt doch, wie es hier zugeht, Geo. Alle kümmern sich nur um den Ruf der Firma. Wir mussten sogar eine Presseerklärung rausgeben.«

»Und was stand darin?« Als die Assistentin nicht gleich antwortet, sagt Geo: »Bitte, sag’s mir, Bonnie.«

»Dass wir dein Verhalten nicht billigen und dich in keiner Weise unterstützen, dass wir tiefes Mitgefühl für die Familie des Opfers empfinden. Andrew …« Bonnie schluckt. »Andrew hat sie selbst geschrieben. Tut mir leid.«

»Er hat meinen Anwalt bezahlt.« Selbst in Geos eigenen Ohren klingt ihre Stimme hohl.

»Ich weiß. Darüber hat sein Vater sich ziemlich aufgeregt, aber da warst du schließlich noch seine Verlobte. Geo, es tut mir leid, aber ich muss jetzt auflegen.« Bonnie klingt ehrlich bedrückt. »Bitte … bitte, ruf nicht mehr hier an.«

Dann ist die Leitung tot.

Das war’s also. Kein Abschied, keine Chance, sich zu erklären oder um Verzeihung zu bitten. Andrew hat die Beziehung beendet und überlässt es auf die feige Tour seiner Sekretärin, ihr den Todesstoß zu versetzen. Zwei Jahre Beziehung zu Ende, einfach so. Sie legt den Hörer auf die Gabel und tritt zur Seite, um die nächste Gefangene ans Telefon zu lassen. Doch nicht schnell genug. Ihre Schultern streifen sich.

Die Augen der Frau werden schmal. Sie ist kleiner als Geo, aber in ihrem Gesichtsausdruck liegt keine Angst. »Sieh dich vor, du Schlampe.«

»Sorry«, sagt Geo, um einen aufrichtigen Ton bemüht, obwohl die andere sie angerempelt hat. Eine Schlägerei ist das Letzte, was sie gebrauchen kann, aber falls die Frau auf sie losgeht, wird ihr nichts übrig bleiben, als sich zur Wehr zu setzen, wenn sie nicht als Schwächling dastehen will. Sie hat genug Filme im Fernsehen gesehen und weiß, dass sie, falls sie sich ein blaues Auge holt und ein Wachmann hinterher fragt, wer es gewesen ist, nichts sagen darf. Irgendjemanden bei den Wachleuten anzuschwärzen, geht gar nicht. Die Einzigen, die im Gefängnis auf der Rangliste noch unter Pädophilen stehen – und die sind eigentlich schon das Allerletzte –, sind Zinker. Und einmal Zinker, immer Zinker. Die anderen Gefangenen werden so einem nicht mehr trauen und ihm das Leben zur Hölle machen.

Bernie ist guter Dinge, als Geo zurückkommt. Sie liegt immer noch auf dem oberen Bett, ein Berg von Frau. Die Lakritztüte, mittlerweile leer, baumelt am Bettrand. Die Dicke rollt sich auf die Seite, sodass sie, da Geo steht, beinahe auf Augenhöhe sind.

»Wie war das Gespräch?«, erkundigt sich Bernie.

»Du hast mich eben gefragt, ob ich einen Mann hab, der draußen auf mich wartet. Ich kann dir jetzt offiziell erklären, dass ich keinen habe.«

Bernie streckt die Hand aus und schiebt Geo eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Macht nichts. Hier drinnen brauchen wir keine Kerle. Wir können uns auch gut ohne sie amüsieren.«

Geo weicht zurück. Es gelingt ihr, sich nicht so zu schütteln, dass man es sehen kann. Aber innerlich dreht es ihr den Magen um. Die Gefangene im Nachbarbett linst herüber, etwas wie Mitleid liegt in ihrem Blick, bevor sie sich wieder abwendet. Oder vielleicht hat Geo sich das auch nur eingebildet. Vielleicht ist sie einfach paranoid.

In dieser Nacht passiert nichts, und auch nicht in der nächsten, trotzdem liegt Geo stundenlang mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen wach, auf das Schlimmste gefasst. Jeden Abend vor dem Einschlafen denkt sie, das kann nicht ihr Leben sein. Jeden Morgen, wenn sie wach wird, denkt sie, das kann nicht ihr Leben sein. Dann wird ihr klar, dass das die Depressionen sind, von denen P. Martin gesprochen hat. Sie kann nichts anderes denken, als dass sie nicht hierhergehört – dass es sich um einen Riesenirrtum handelt. Aber die Verleugnung der Realität hilft ihr kein bisschen. Im Gegenteil, sie wirkt eher erstickend. Sie macht sie verletzlich. Es fühlt sich an, als hätte jemand ihr Leben in winzige Teile zerschlagen und dann ganz schief wieder zusammengesetzt. Die Teile sind wiedererkennbar, aber sie sitzen alle an den falschen Stellen.

Am dritten Tag im großen Schlafsaal ist Geos Bettnachbarin besonders gut gelaunt. Sie gehen gemeinsam zum Abendessen, setzen sich einander gegenüber an einen Sechsertisch. Bernie ist ausgesprochen redselig und erzählt allen am Tisch begeistert, dass sie am Morgen Besuch von ihrem Sohn hatte, und wie schön das war. Jedes Mal, wenn sie lacht, legt sie eine Hand auf Geos. Die Geste wirkt ziemlich harmlos.

Eine sehr dunkelhäutige Frau mit extrem kurzem Haar starrt Geo von einem der Nebentische aus an. In ihrem Blick liegt nichts Feindseliges, nur Neugier. Die anderen an ihrem Tisch scheinen ihr eine gewisse Ehrfurcht entgegenzubringen, auch sie schauen ab und zu herüber und tuscheln miteinander. Geo fragt sich, was diese Frauen sehen, wenn sie sie anschauen. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine Weiße, aber auf den zweiten fallen der karamellfarbene Grundton ihrer Haut und ihre mandelförmigen Augen auf. Ihre Haare allerdings sind glatt. Es sind die Haare ihrer Mutter.

Nach dem Essen fängt die Schwarze Geo an der Geschirrrückgabe ab. Die anderen Frauen von ihrem Tisch stehen hinter ihr, so weit entfernt, dass sie nicht hören können, was gesprochen wird, aber nah genug, um schnell reagieren zu können, falls etwas passiert. Das sind offensichtlich die Bodyguards.

»Bist du schwarz?«, fragt die Frau. Die Art, wie sie spricht, hat fast etwas Aristokratisches. Ihre Stimme ist wohlklingend, ihre Aussprache korrekt. Aus der Nähe betrachtet ist ihr Gesicht schön, glatt und faltenlos, mit hohen Wangenknochen. Ihre Augen sind beinahe schwarz.

»Zu einem Achtel«, antwortet Geo aus einem Bedürfnis heraus, präzise zu sein, spart sich jedoch nähere Erläuterungen.

»Wie ich sehe, hast du dich mit Bernadette angefreundet.« Die Frau linst zu Bernie hinüber, die noch am Tisch sitzt und isst. Dann schaut sie Geo wieder an, lässt den Blick über ihre Haut, ihre Augen, ihr Haar wandern. »Sie wird das Mammut genannt.« Das bedarf keiner weiteren Erklärung.

»Wir sind nicht befreundet. Wir teilen uns nur ein Stockbett.«

Die Frau nickt. »Sag mir Bescheid, wie du mit dieser Regelung zurechtkommst. Falls du dich nicht wohlfühlst, können wir dich vielleicht woanders unterbringen.«