Liebe mich, wenn du kannst - Monica James - E-Book
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Liebe mich, wenn du kannst E-Book

Monica James

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Beschreibung

Auch wenn deine Welt in Trümmern zu liegen scheint, gibt es jemanden, der dich rettet

Ich heiße Lucy Tucker und mein Leben war perfekt. Ich hatte einen Traumjob, eine großartige Familie und tolle Freunde. Unsere Ranch in Montana war alles, was ich mir jemals erträumt hatte. Mein Verlobter Samuel Stone liebte mich bedingungslos. Ich hatte alles, was sich ein Mädchen nur wünschen kann.

Doch ein tragischer Unfall erschütterte mein perfektes Leben.

Ich dachte, Sam sei mein Für immer, doch das änderte sich an dem Tag, an dem Saxon Stone, Sams Zwillingsbruder, zurückkehrte. Vom ersten Augenblick an, stellte er meine Welt auf den Kopf. Ein Feuer begann in mir zu brennen und ich bemerkte, dass Saxon aus einem einzigen Grund da war … er war da, um mich zu retten.

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DAS BUCH

Ich heiße Lucy Tucker, und mein Leben war perfekt. Ich hatte einen Traumjob, eine großartige Familie und tolle Freunde. Unsere Ranch in Montana war alles, was ich mir jemals erträumt hatte. Mein Verlobter Samuel Stone liebte mich bedingungslos. Ich hatte alles, was sich ein Mädchen nur wünschen kann.

Doch ein tragischer Unfall erschütterte mein perfektes Leben.

Ich dachte, Sam sei der Mann meines Lebens, doch das änderte sich an dem Tag, an dem Saxon Stone, Sams Zwillingsbruder zurück nach Montana kehrte. Vom ersten Augenblick an stellte er meine Welt auf den Kopf. Ein Feuer begann in mir zu brennen, und ich bemerkte, dass Saxon aus einem einzigen Grund da war … er war da, um mich zu retten.

DIE AUTORIN

Monica James lebt mit ihrer Familie und ihren Haustieren in Melbourne, Australien. Wenn sie nicht an ihren Romanen schreibt, leitet sie ihr eigenes Unternehmen. Sie liebt es, authentische, herzergreifende und leidenschaftliche Geschichten zu erfinden, die ihre Leser begeistern. Ihre Romane waren in den USA, in Australien, Kanada und Großbritannien auf den Bestsellerlisten.

LIEFERBARE TITEL

Du gehörst mir …

… und ich gehöre dir

MONICA JAMES

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ruth Sander

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Forgetting You, Forgetting Me bei CreateSpace Independent Publishing Platform

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 01/2020

Copyright © 2017 by Monica James

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag,

München in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Shutterstock

(kak2s, Georgil Shipin, Winston Tan)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21804-1V002

www.heyne.de

Eins

»Es hat einen Unfall gegeben.«

Es ist unvorstellbar, wie ein einfaches, alltägliches Wort das Leben eines Menschen für immer verändern kann. Ein einfaches Wort in Verbindung mit anderen einfachen, alltäglichen Wörtern kann den schönsten Tag deines Lebens zu deinem schlimmsten machen.

»Lucy? Hörst du mich, Lucy?«, fragt meine beste Freundin Piper. Ihre Stimme klingt ängstlich, aber ich kann ihr nicht antworten. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich sie höre, denn in dem Moment, in dem ich das tue, akzeptiere ich, dass dies kein schrecklicher Albtraum ist.

»Komm schon, Luce, bitte … sprich mit mir!«

Es ist seltsam, an welche Dinge man sich erinnert und an welche nicht. Manchmal kommt Vergessenes durch ein einfaches Wort, einen Geruch oder eine bestimmte Situation wieder an die Oberfläche. Aber das hier werde ich leider nie vergessen können, ich werde mich immer an diesen Moment erinnern.

Dies sollte der schönste Tag meines Lebens werden. Der Tag, der es für immer verändert. Und das tut er auch. Nur nicht so, wie ich dachte.

»Schätzchen, ich bin’s, Mom. Hörst du mich? Es hat einen Unfall gegeben, und wir müssen ins Krankenhaus fahren.« Ich zucke zusammen, als sie noch ein Wort gebraucht, das ich nicht hören will.

»Simon, ich glaube, sie hat einen Schock. Kannst du sie tragen?«

»Natürlich, Maggie.« Einen Augenblick später sagt mein Vater: »Daddy hat dich.« Die Welt fängt an, sich um mich zu drehen, aber ich kämpfe nicht dagegen an. Ich möchte in diesen düsteren, gefährlichen Strudel gesogen werden und nie mehr zurückschauen. Nie mehr an den Tag denken, der alles verändert hat.

War ich zu eingebildet? Oder vielleicht undankbar? Vielleicht ist das passiert, weil ich Mrs. Goldstein nicht eingeladen habe. Wie auch immer, es tut mir leid. Ich mache es wieder gut. Bitte gib mir eine zweite Chance. Bitte gib ihm eine zweite Chance.

»Ich schnall dich an, mein Schatz.« Das Kosewort erinnert mich an glücklichere Zeiten, und ich fange an, meine sechsundzwanzig Jahre auf diesem Planeten an mir vorüberziehen zu lassen.

Voller Zärtlichkeit denke ich an die Zeit, als Simon und Maggie Tucker mich in ihr Haus aufgenommen haben. Damals war ich fünf. Obwohl die beiden nicht meine leiblichen Eltern waren, haben sie mir nicht ein einziges Mal das Gefühl gegeben, nicht ihr eigenes Kind zu sein. Sie haben mir immer echte Freundlichkeit entgegengebracht, und nachdem ich in meiner ganzen Kindheit wie ein Niemand behandelt worden war und in den Heimen nur M genannt wurde, hat ihre unerschütterliche Liebe dazu geführt, dass ich mich für das glücklichste Mädchen auf der Welt hielt. Ich fühlte mich, als wäre ich jemand. Und das war ich auch – ich war ihre Tochter. Ich war ihre Tochter und hatte endlich einen Namen.

Dann denke ich an die Zeit, in der ich Piper Green im Sportunterricht kennengelernt habe. Sie hat mir den Rücken freigehalten, als ich beim Völkerball zum Lieblingsziel wurde, und das tut sie immer noch. Ohne Piper wäre mein Leben manchmal düster.

Danach denke ich an andere Momente, kurze Szenen aus der Vergangenheit, Erlebnisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Doch eine Erinnerung überragt alle anderen, denn sie ist meine liebste. Es ist die an den Tag, an dem ich der Liebe meines Lebens begegnet bin – Samuel Stone.

Ich habe ihn vom ersten Augenblick an geliebt, und ich liebe ihn immer noch. Er war Kapitän der Basketball-Mannschaft der Highschool, während ich nur ich war, die kleine Lucy Tucker. Aber Samuel hat etwas in mir gesehen, das nicht viele Menschen gesehen haben. Nicht einmal ich. Er hat mich unterstützt, wenn ich davon geredet habe, dass ich die Welt verändern will, ganz gleich, wie ausgefallen meine Ideen waren. Ich weiß, wie es ist, hungrig, benachteiligt und ungeliebt zu sein, und deshalb war ich entschlossen, alles dafür zu tun, dass kein anderes Kind so leidet wie ich früher. Aber wenn Sam mich nicht immer angespornt hätte, hätte ich wohl nie als Beste meines Jahrgangs den Master in Human Rights gemacht. Er hat mir geholfen, meine Träume zu verwirklichen, schließlich ist auch er ein wahr gewordener Traum.

Er hat mich trotz meiner Fehler geliebt, mich nie im Stich gelassen, und nun muss ich das Gleiche für ihn tun.

Ich weiß, wo wir hinfahren, doch sein Ziel zu kennen macht es nicht einfacher, sich dem zu stellen, was dort auf einen wartet. Unter diesen Umständen wünschte ich, ich wüsste es nicht. Ich wünschte, ich könnte die Uhr nur ein paar Stunden zurückdrehen, denn wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich jeden Augenblick ausgekostet und ihn mir fest eingeprägt.

»Du siehst wunderschön aus, Schätzchen«, hat meine Mutter gesagt.

»Danke, Mom.« Die Frau, die mich aus dem Spiegel angeblickt hat, sah ganz anders aus als ich. Mein langes, honigblondes Haar war zu einem eleganten Knoten aufgesteckt. Die Friseurin hatte mir versichert, das sei genau das Richtige, um das Brautkrönchen zu halten, das sie mir auf den Kopf gesetzt hat. Aber die funkelnden Steine, die ich vorhin noch so ehrfürchtig berührt habe, sind jetzt völlig nebensächlich.

»Ihre grünen Augen sind wunderschön, Lucy, und Ihre vollen Lippen hätte ich auch gern«, hat die Kosmetikerin gemeint, als sie die letzte Schicht Mascara und einen Hauch Lipgloss aufgetragen hat. Das alles ist so oberflächlich, so unwichtig. Verächtlich reibe ich mir jede Spur davon aus dem Gesicht.

»Hör auf, Luce. Sonst verletzt du dich noch.« Piper versteht nicht, dass es die unsichtbaren Verletzungen sind, die am meisten schmerzen.

Als ich mein eng anliegendes Hochzeitskleid übergestreift habe, haben die Kristallperlen das Sonnenlicht eingefangen und winzige Regenbögen durchs Zimmer geworfen. Die weißen High Heels haben mich größer gemacht, doch trotzdem hätte ich nie an Samuels beeindruckende ein Meter vierundneunzig herangereicht.

Das letzte fehlende Teil hat mir meine Mutter gebracht. Mit Tränen in den haselnussbraunen Augen hat sie die Seide betastet. »Ich wünschte, deine Großmutter wäre hier.«

»Das ist sie, Mom«, habe ich erwidert und ihren Arm gestreichelt.

Meine Mutter hat genickt und mir das Stück Stoff gereicht, das meine Ausstattung komplett machen und mich dem Ziel, Mrs. Samuel Stone zu werden, einen Schritt näher bringen sollte.

Die Friseurin hat den Schleier angebracht, und als ich die Welt durch seine dünne Spitze gesehen habe, wusste ich, dass ich bereit war. Nichts konnte mich noch aufhalten. Ich hätte ahnen sollen, dass etwas nicht stimmte, als ich Samuel nicht gesehen habe. Trotzdem bin ich zwischen den Sitzbänken hindurchgegangen, und ich habe mich nie im Leben schöner oder stolzer gefühlt. Dann habe ich gewartet und gewartet, aber er ist nicht gekommen. Ich habe den schlimmsten Albtraum jeder Braut erlebt. Ich bin vor dem Altar stehen gelassen worden. Und als aus zehn Minuten dreißig wurden, wusste ich, dass irgendetwas fürchterlich schiefgelaufen war. Ich habe mit allem gerechnet – nur nicht damit.

Mein zukünftiger Ehemann hat sich verspätet, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ein Betrunkener ist frontal in seinen Wagen gefahren, Samuel hatte keine Chance. Oh Schicksal, manchmal kannst du so grausam sein. Warum gerade an diesem Tag und zu dieser Zeit?

Von einem Augenblick zum andern kann dir dein Glück entrissen werden, und dir bleibt nichts als Leere – gähnende Leere. Man weiß wirklich nicht zu schätzen, was man hat, bis es einem genommen wird.

Als wir vor dem St. John Memorial Hospital vorfahren, versuche ich, mich auf meine schönen Erinnerungen zu konzentrieren, schaffe es aber nicht. Alles, woran ich denken kann, ist, dass hinter diesen Türen der Mann liegt, den ich heiraten wollte. Der Mann, der mein Lebensinhalt ist.

»Lucy, bitte, um Gottes willen, sag etwas!«, fleht Piper und schüttelt mich. Doch ich finde einfach keine Worte.

Aber als sie mich weiter schüttelt, weiß ich, dass ich mich zusammenreißen muss.

Langsam wende ich mich meiner besten Freundin zu und starre in ihre tränenfeuchten Augen. Ich muss etwas sagen, irgendetwas, also sage ich das Einzige, was mir einfällt – das Einzige, das beschreibt, wie ich mich fühle.

Während eine einzelne Träne über meine Wange rinnt, erkläre ich: »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

❊ ❊ ❊

8. April 2011

Liebes Tagebuch,

heute war der schönste Tag meines Lebens. Na ja, einer der schönsten. Samuel und ich haben es endlich getan: Wir sind zusammengezogen – nach acht Jahren!

Unser Traumhaus in Montana ist genauso, wie ich es mir gewünscht habe. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich in meinem Schlafzimmer sitze, in meinem neuen Zuhause, und das hier schreibe. Das Grundstück ist einfach toll, und ich kann es nicht erwarten, Hand in Hand mit Sam über unsere acht Hektar zu gehen. Oder besser noch, mit den Pferden in den Sonnenuntergang zu reiten. Das ist total kitschig, aber wahr!

Unsere Ranch heißt Whispering Willows und bietet großartige Ausblicke auf die Tobacco Root Mountains, und ich freue mich schon darauf, umgeben von unzähligen Blumen auf unserer Terrasse zu sitzen, Eistee zu trinken und die Ruhe zu genießen.

Pappeln, stille Zitterpappelhaine und wunderschöne Weidenwäldchen sorgen dafür, dass wir ungestört sind. Mom und Dad wohnen etwa eine halbe Stunde entfernt und Kellie und Gregory auch. Es ist perfekt. Mein Traum ist wahr geworden.

Jeden Tag, wenn ich aufwache, bin ich dankbar für das, was ich habe, und für das, was aus mir geworden ist. Ich teile mein Leben nicht gern in zwei Abschnitte, weil ich mich kaum noch daran erinnere, wie ich in L. A. von einem Heim ins andere geschickt worden bin, aber ich werde es trotzdem nie vergessen. Es hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Es hat mir gezeigt, wohin ich gehöre und zu wem.

Ich weiß, dass wir hier glücklich sein werden. Ich spüre es tief im Innern. Dies ist der Beginn unseres neuen, gemeinsamen Lebens, und ich bin überglücklich.

Ich habe immer gewusst, dass Samuel der Richtige ist, und so naiv sich das auch anhört, ich glaube an die wahre Liebe und daran, dass man ein Leben lang miteinander glücklich sein kann. Sam ist mein Seelenverwandter, und für mich gibt es keinen anderen als ihn. Er ist so eng mit mir verbunden, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen könnte. Gut, dass das niemals nötig sein wird.

Ich weiß, dass Samuel dasselbe fühlt, denn ich habe etwas gefunden, das beweist, dass er mit mir zusammenbleiben will. Ich wollte nicht schnüffeln, ich habe den Verlobungsring seiner Großmutter rein zufällig funkeln sehen. Er lag ganz unschuldig in einer Kiste, die Sam erst halb ausgepackt hatte. Ich habe circa drei Sekunden mit mir gerungen, ehe ich heimlich wie ein Dieb in der Nacht den schönsten Ring der Welt herausgenommen habe.

Ich war sehr aufgeregt, weil ich noch nie gerne Regeln gebrochen habe, aber in dem Augenblick, in dem ich über den glatten Diamanten und den breiten weißgoldenen Ring gestrichen habe, konnte ich Juwelendiebe verstehen.

Ich habe es erst nicht gewagt, den Ring überzustreifen, aber dann hat mich der Teufel geritten. Nach einem schnellen Blick zur Tür habe ich ihn mir an den Finger gesteckt. Dann musste ich weinen – so schön sah er aus. Aber genauso schnell, wie ich ihn übergestreift habe, habe ich ihn auch wieder zurückgelegt, weil ich nicht wollte, dass Sam mich erwischt.

Wir haben hin und wieder über Heirat und Kinder gesprochen, aber Sam möchte sich auf Stone and Sons, die Firma seiner Familie, konzentrieren und seinem Dad auf der Getreidefarm helfen. Wir sind jung – wir haben das ganze Leben noch vor uns, aber wenn ich an diesen wundervollen Ring denke und daran, wie er an meinem Finger ausgesehen hat, wird mir klar, dass ich möchte, dass die Zukunft eher früher als später beginnt.

Nichts wünsche ich mir mehr, als Mrs. Samuel Stone zu werden. Geduld war nie meine Stärke, aber auf Sam würde ich ewig warten.

Also, auf unser neues, gemeinsames Leben … Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, was als Nächstes kommt.

Zwei

Das erstaunte, mitleidige Tuscheln der Besucher und Patienten verrät mir, dass ich genauso schrecklich aussehe, wie ich mich fühle. Aber ich kann ihnen den Anblick nicht ersparen. Nachdem ich aufgehört hatte, mich auf mein jetzt ruiniertes Kleid zu übergeben, habe ich das dringende Bedürfnis, Sam zu sehen, und nichts, nicht einmal der Teufel in Person, hätte mich davon abhalten können, ins Krankenhaus zu stürmen.

Meine Absätze hämmern im Takt meines Herzschlags auf den Boden des langen Flurs, den ich hektisch hinunterlaufe, um meinen Verlobten zu finden. Piper und meine Eltern folgen mir und versuchen, mich zu beruhigen, aber nichts kann die Ängste, die mich treiben, zerstreuen.

Eine hübsche blonde Krankenschwester, die hinter einem großen Tresen sitzt, hebt den Kopf, als sie meine Stöckelschuhe auf das Linoleum einschlagen hört. Ihre entsetzte Reaktion bestätigt, dass ich mit meinem verschmierten Make-up, dem befleckten Kleid und dem schiefen Knoten so aussehe, als käme ich direkt aus der Hölle. Aber nichts interessiert mich weniger als mein Aussehen. An jedem anderen Tag hätte ich sie freundlich begrüßt und sie gefragt, wie es ihr geht. Aber nicht heute. Ich schniefe und bemühe mich, die Tränen zurückzuhalten. »K-können Sie mir b-bitte sagen, wo S-Samuel Stone liegt?« Meine atemlose Stimme ist schrill und ganz anders als sonst, deshalb versteht sie mich wohl auch nicht.

»Wie bitte?«, sagt sie und weicht zurück, als ich alle Anstandsregeln missachte und sie bedränge, indem ich mich über den Tresen lehne.

»Samuel Stone«, wiederhole ich und zerre an der Perlenkette um meinen Hals, weil sie mir plötzlich die Luft abschnürt.

Als die Krankenschwester mich weiter nur anstarrt und zweifellos denkt, dass ich völlig verrückt bin, haue ich mit Tränen in den Augen auf den Tresen. »Samuel Stone! Wo ist er?« Diese Frau vergeudet kostbare Zeit.

Gerade als ich, sehr untypisch für mich, über den Tresen springen will, um sie zu erwürgen, legt sich eine warme, vertraute Hand auf meinen Arm und erinnert mich an meine Kinderstube. »Ich mach das schon, Schätzchen. Geh zu deiner Mutter.« Ich streite nicht mit meinem Vater und verabschiede mich mit einem kurzen, entschuldigenden Nicken von der verwirrten Krankenschwester. Mein Benehmen tut mir leid. Das alles ist nicht ihre Schuld.

Ich warte etwas abseits und sehe zu, wie mein Vater ruhig die Einzelheiten in Erfahrung bringt. Als er blass wird, presse ich eine Hand auf den Mund und drücke mich an meine Mutter. Es sieht schlimm aus, die Reaktion meines Vaters hat es mir verraten. »Alles wird gut, Schätzchen.« Meine Mutter weiß nicht, wovon sie redet, die falsche Beteuerung ist nur ihre Art, mir zu sagen, dass es immer Hoffnung gibt. Aber das glaube ich nicht. Ich weiß, dass nichts jemals wieder so sein wird wie früher.

Als mein Vater mit ernstem Gesicht langsam zu uns kommt, halte ich den Atem an und zähle innerlich bis fünf, ehe ich frage: »Wie geht’s ihm?«

»Er …« Die Pause sagt alles. »Lass uns einfach zu ihm gehen, ja? Kellie und Greg sind bei ihm.« Ich nicke, mein dummer Schleier lässt mich nicht vergessen, was in Reichweite war, aber nie mehr geschehen wird.

Die Krankenschwester, die höchstwahrscheinlich froh ist, uns von hinten zu sehen, öffnet uns die Tür zu einer separaten Station auf der linken Seite. Als wir schnell hindurchgehen, steigt mir der stechende Geruch der Desinfektionsmittel in die Nase, aber ich bemerke es kaum. Die Stöckelschuhe tun weh und halten mich auf, deshalb bleibe ich stehen, lehne mich an die Wand und reiße sie mir von den Füßen. Dann laufe ich hinter meinem Dad her. Er schaut auf die Schilder an der Decke, damit wir den richtigen Weg einschlagen. In dem Moment, in dem wir Gregory Stone vor der letzten Tür auf der linken Seite stehen sehen, wissen wir, dass wir am Ziel sind. Sein gesenkter Kopf, die gelockerte Krawatte und das zerzauste grau melierte Haar deuten darauf hin, dass hinter der Tür nichts Gutes auf uns wartet.

»Greg!«, ruft mein Vater, während wir uns eilig nähern.

Als Sams Vater den Kopf hebt und ich sein grimmiges Gesicht sehe, kommen mir wieder die Tränen. Seine graugrünen Augen – die denen seines Sohnes so ähnlich sind – schauen in meine, und er sagt mit zitternder Unterlippe. »Es tut mir furchtbar leid, Lucy.«

Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Werde ich jemals wieder aufhören zu weinen? »Wie geht es ihm?«, stoße ich mühsam hervor.

Greg seufzt und steckt die Hände in die Taschen seines teuren Anzugs. »Wir wissen nicht, wie schwer seine Verletzungen sind. Er liegt im Koma. Die Ärzte sagen, die Schwellung in seinem Hirn ist …« Er zögert und schüttelt den Kopf. Dann räuspert er sich und kämpft mit den Tränen. »Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen.«

Warum hat er sich unterbrochen? Was wollte er sagen?

Doch ich habe keine Zeit, ihn zu fragen, denn Kellie kommt aus Sams Zimmer. Sie trägt noch das marineblaue Chanelkleid, aber ihr langes, blondes Haar ist zerzaust. Als sie uns sieht, bricht sie in Tränen aus, was mich noch heftiger weinen lässt.

»Können wir ihn sehen?«, fragt meine Mutter für mich.

Kellie tupft sich die blauen Augen mit einem Taschentuch trocken. »Natürlich, aber es dürfen immer nur zwei Besucher gleichzeitig zu ihm. Hat der Arzt gesagt.«

Mein Vater nickt und wirft uns einen Schulterblick zu. »Dann geht ihr Mädels rein. Ich warte mit Piper draußen.« Das muss man mir nicht zweimal sagen. Hastig raffe ich mein Kleid zusammen, denn die elend lange Schleppe ist so hinderlich, dass man fast darüberfällt.

Nachdem wir unsere Hände desinfiziert haben, macht meine Mutter die Tür auf, und ich atme dreimal tief durch.

Eins …

Zwei …

Drei.

Ich setze einen Fuß vor den anderen und betrete das Zimmer, das diesen schrecklichen Albtraum wahr werden lässt. In dem Bett dort liegt der Mann, den ich heiraten wollte. Aber dieser Mann, nein, das kann nicht Samuel sein. Dieser Mann ist mehr Maschine als Mensch.

Ein lautes Piepen erfüllt das ansonsten stille Zimmer, in dem mein Herz bricht. Es ist ein unbeschreiblicher Anblick, meinen Verlobten an so vielen Maschinen hängen zu sehen. Schläuche und Kabel kommen aus seiner Nase, seinem Mund, seinem Kopf und unter seinem Kittel hervor, und in seinem Handrücken steckt eine Kanüle für den Tropf.

Wenn diese Apparate nicht wären, könnte man meinen, Sam schliefe nur. Er liegt entspannt auf dem Bett, die Arme an den Seiten, und seine Beine sind mit einem blütenweißen Laken bedeckt. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht Schrammen und Prellungen? Aber es ist so, wie mit den unsichtbaren Eisbergen, die für arglose Schiffe am gefährlichsten sind, das, was man nicht sieht, richtet den größten Schaden an.

»Schätzchen?«

Die besorgte Stimme meiner Mutter holt mich in die Gegenwart zurück. Ich merke, dass ich an der Wand lehne und ungläubig auf meinen Verlobten starre. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Tränen wegzuwischen, denn ich weiß, dass sie dann nur von neuen ersetzt werden. »I-ich will mit seinem A-arzt sprechen.«

Mit einem Nicken geht meine Mom an mir vorbei aus dem Zimmer und lässt mich mit Samuel allein. Ich brauche eine Minute, bis ich mich stark genug fühle, ohne Stütze zu stehen, barfuß in meinem Hochzeitskleid, damit ich die Liebe meines Lebens bitten kann aufzuwachen.

Sam so reglos zu sehen, macht mich körperlich krank. Normalerweise ist er sehr zupackend und lebhaft – eine Eigenschaft, die ich bewundere. Man würde ihn nie dabei ertappen, dass er herumlungert oder ein Buch liest oder sich eine DVD anschaut. Er ist lieber draußen, arbeitet auf der Ranch, geht mit unserem geliebten Border Collie Thunder spazieren oder spielt Basketball. Er sitzt höchstens so lange still, wie es dauert, die Zeitung zu lesen. Aber im Moment weiß ich nicht einmal, ob er jemals imstande sein wird, irgendetwas davon wieder zu tun.

Ich muss ihn anfassen, mich vergewissern, dass er es wirklich ist. Schwankend gehe ich zu ihm und zögere, ehe ich mit dem Handrücken über sein glatt rasiertes Kinn streiche. Er fühlt sich warm an. Sein kurzes, dunkelblondes Haar ist verwuschelt, und ich fahre sanft mit den Fingern hindurch, um es zu glätten.

»Bitte komm zu mir zurück, Sam«, flehe ich, während ich über seine leicht geöffneten Lippen streiche und erschauere, als ich den durchsichtigen Schlauch darin berühre. »Unser gemeinsames Leben hat gerade erst angefangen. Ich kann nicht ohne dich sein. Ich brauche dich. Du darfst mich nicht verlassen. Du musst bei mir bleiben.« Jedes Wort macht das Loch in meiner Brust größer, und ich habe Angst, dass mir gleich das zerbrochene Herz herausfällt.

Vorsichtig schiebe ich meine Hand in seine und denke daran, wie es sich anfühlt, wenn er sie mir drückt. Aber nichts passiert. Schnell schließe ich die Augen, lege meine andere Hand auf unsere verschränkten Hände, drücke zu und rede mir ein, das wäre von Sam gekommen. Aber ich kann mir nicht ewig etwas vormachen.

Die Tür geht auf, und im Rahmen steht ein weiß bekittelter Arzt in mittleren Jahren mit einem Klemmbrett in der Hand, der leise mit meinen Eltern spricht. Als er mich in meinem schmutzigen Hochzeitskleid an Sams Bett Wache halten sieht, verzieht er mitfühlend den Mund. »Ms. Tucker nehme ich an?«

Ich nicke und hasse mich für den Gedanken, dass ich, wenn das Leben fair wäre, inzwischen Mrs. Samuel Stone wäre.

»Ich bin Dr. Kepler. Was mit Samuel passiert ist, ist sehr traurig. Wir tun alles, was wir für ihn tun können.« Stumm warten wir allesamt darauf, dass er uns erklärt, was er damit meint. »Samuel hat sehr schwere Kopfverletzungen erlitten, und dieses Trauma hat ihn in ein Koma fallen lassen, das seinem Körper Zeit gibt zu heilen. Außerdem wird es hoffentlich dafür sorgen, dass die Schwellungen im Hirn zurückgehen und wir das Ausmaß seiner Verletzungen bestimmen können. Wie Sie sehen …«, der Arzt geht zu einer Maschine, »… zeichnen wir seine Hirnströme auf.«

Ich betrachte die Maschine und die leichte Wellenlinie, die sie produziert.

Dr. Kepler folgt dem trägen Auf und Ab mit dem Finger. »Das zeigt, dass glücklicherweise noch etwas Hirnaktivität da ist, deutet aber darauf hin, dass Samuel, wenn er aufwacht, vielleicht nicht mehr der Mensch ist, der er einmal war.«

Mein Vater nimmt mich in die Arme, und ich lehne mich an seine Schulter, doch der vertraute, moschusartige Duft seines Aftershaves tröstet mich nicht.

»Wir sind noch am Anfang.« Aber ich höre die Hoffnungslosigkeit in der Stimme des Arztes. »Wie ich schon sagte, wir werden ihn genau überwachen. Wenn die Schwellung zurückgeht, können wir besser sehen, was in Samuels Kopf vorgeht. Vielleicht muss er operiert werden, vielleicht auch nicht. Er ist jung, fit und gesund; das ist ein Vorteil. Der Rest liegt bei ihm. Also, offenbar ist er AB-negativ. Eine der seltensten Blutgruppen auf der Welt, daher möchte ich rein vorsorglich passendes Blut zur Hand haben. Welche Blutgruppe haben Sie, Mr. und Mrs. Stone?«

Während meine zukünftigen Schwiegereltern mit dem Arzt reden, fängt mein Hirn an, das, was Dr. Kepler gerade gesagt hat, zu verarbeiten. Anscheinend sollen wir darauf warten, dass Sam aus dem Koma erwacht. Aber wie lange? Und wie wird er dann sein? Ich schaue noch einmal auf die fast flache Linie auf dem Monitor, und mir wird klar, dass mein Sam vielleicht nie mehr zurückkehrt.

Dann höre ich, wie Dr. Kepler das Gespräch besorgt zusammenfasst. »Da Sie Diabetes Typ 1 haben, Mr. Stone, und Sie, Mrs. Stone, auch nicht geeignet erscheinen, muss ich wissen, ob Samuel Geschwister hat. Wenn ja, wäre es gut, wenn er oder sie herkommt, nur für den Fall, dass Sam eine Transplantation braucht.«

Als sich ein betretenes Schweigen ausbreitet, löse ich mich langsam aus den schützenden Armen meines Vaters und sehe bestürzt zu, wie Greg und Kellie verlegen den Blick abwenden. Ich weiß, warum sie das tun, aber hier geht es buchstäblich um Leben oder Tod. Ihre Streitereien haben nichts mehr zu bedeuten, das Einzige, was zählt, ist, dass Samuel wieder gesund wird.

Verwirrt über das jähe Unbehagen, das er mit seiner Frage heraufbeschworen hat, hakt Dr. Kepler nach. »Hören Sie? Haben Sie noch andere Kinder?«, fragt er erneut. Kellie zupft nervös an ihrem Diamantohrring, und Greg räuspert sich.

Ich halte das nicht mehr aus. Sie verschwenden Zeit. Entschlossen trete ich vor, und alle Augen richten sich sofort auf mich. Piper und meine Mutter nicken ermutigend, also sage ich leise: »Ja, Dr. Kepler, Samuel hat einen Bruder.«

Der Arzt wirkt erleichtert, während Kellie und Greg peinlich berührt sind.

Ich beschließe, sie zu ignorieren, und füge hinzu: »Einen Zwillingsbruder. Und sie sind eineiig.«

❊ ❊ ❊

4. August 2004

Liebes Tagebuch,

heute ist in der Schule etwas Erstaunliches passiert. Samuel Stone hat endlich mit mir gesprochen! Das war für mich mit Abstand das Aufregendste in der ganzen Woche. Nachdem ich ihn monatelang von Weitem bewundert habe, habe ich ENDLICH mit ihm geredet.

Ich brauchte eine Ausgabe von Der Fänger im Roggen, um eine Hausarbeit zu schreiben, die ich natürlich bis zur letzten Minute aufgeschoben hatte. Deshalb bin ich in der Mittagspause in die Bücherei gelaufen, doch alle Exemplare des Buchs waren ausgeliehen. Meins habe ich Piper gegeben, die noch weiter zurück ist als ich, deshalb wollte ich sie nicht bitten, es mir wiederzugeben.

Plötzlich habe ich einen Duft gerochen, der so überwältigend männlich war, dass es mir den Atem verschlagen hat.

Die Frage, wer diesen Duft verströmte, wurde gleich anschließend beantwortet, denn ich stieß mit einer harten Wand aus Muskeln zusammen. Ich habe aufgeschrien und mich sofort entschuldigt, doch die Worte sind mir im Hals stecken geblieben, als ich gesehen habe, dass ich vor einem der heißesten Jungen der Schule stand. Seine Augen haben eine sehr auffällige Farbe – meergrün mit einem grauen Wirbel darin. Er ist groß – sogar noch größer, als ich dachte. Und sein Gesicht – ist unglaublich schön. Zuerst wusste ich nicht, welcher der beiden Zwillinge er war.

Samuel ist ein selbstbewusster, etwas arroganter Sportler, während Saxon eher ein ruhiger, künstlerisch veranlagter Typ ist.

Als er mich angegrinst hat, wurde mir klar, dass ich ihn anstarrte wie eine Blöde, deshalb habe ich mich schnell zusammengerissen und gelächelt. Ich wünschte, dann hätte ich etwas Vernünftiges gesagt, aber als ich gesehen habe, dass er ein zerlesenes Exemplar von Der Fänger im Roggen an seine Brust drückte, habe ich unwillkürlich gesagt: »Genau das brauche ich«.

Sofort bin ich rot angelaufen und habe mich korrigiert. »Ich meine, ich brauche dieses Buch.«

Ich hätte nie gedacht, dass ein Lachen so sexy sein kann, aber ich wurde eines Besseren belehrt, als der heiße Typ den Mund aufmachte und mir mit einem »Na dann, bitte« das Buch reichte.

Ich habe darauf heruntergeschaut und seine Hände gesehen; der Schmutz unter den Fingernägeln ließ ihn nur noch männlicher wirken. Dann hat er mit dem Buch gewedelt, um mir zu zeigen, dass ich ihn schon wieder anstarrte, als wäre ich blöd, deshalb habe ich es ihm hastig abgenommen und ihn dabei zufällig berührt. Es war, als hätte mich ein Blitz getroffen, ein elektrischer Schlag, der mich gelähmt hat, sodass das Buch zu Boden fiel.

Tief beschämt habe ich mich gleichzeitig mit ihm danach gebückt, und wir sind mit den Köpfen zusammengestoßen. Als er mich festgehalten hat, damit ich nicht hinfalle, habe ich wieder dieses Knistern gespürt, und diese Schmetterlinge im Bauch, und ich brauchte meine gesamte Willenskraft, um in seinen Händen nicht zu Wachs zu werden.

Die Begegnung war nicht so, wie ich mir unser erstes Treffen vorgestellt hatte, aber als er mich angelächelt hat, habe ich mich … wunderschön gefühlt. Das ist mir noch nie passiert. Ich weiß, dass ich erst sechzehn bin, aber Piper ist schon mit zwei Jungs ausgegangen, während ich noch nie eine Verabredung hatte.

Es war wie im Film. Wir haben uns in die Augen geschaut, als gäbe es nichts anderes als uns, und ich habe mir nervös über die Lippen geleckt, weil meine Zahnspange plötzlich an meinem trockenen Mund klebte.

»Du kannst es so lange behalten, wie du willst.«

Seine tiefe Stimme hat mich daran erinnert, wo ich war, und ich habe gelächelt. »Danke. Ich gebe es dir so schnell wie möglich zurück.«

»Keine Sorge, Lucy. Ich weiß, dass es bei dir in guten Händen ist.« Er kannte meinen Namen! Fast hätte ich an Ort und Stelle einen Freudentanz aufgeführt. Und woher wusste er, dass ich gern lese? Hat er mich beobachtet?

Ich hätte gern herausgefunden, mit welchem Zwilling ich es zu tun hatte, aber sein Selbstvertrauen ließ mich vermuten, dass es Samuel war. Und als er seinen Rucksack geschultert hat und ich den orangen Basketball darin gesehen habe, wusste ich, dass ich recht hatte, denn Samuel ist der Kapitän der Basketball-Mannschaft.

Das Läuten der Glocke hat unsere seltsame, aber elektrisierende Begegnung beendet. »Man sieht sich, kleine Lucy Tucker.«

Er ist stehen geblieben, weil er wohl auf eine Antwort gewartet hat, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn ich war immer noch verwundert, dass er wusste, wer ich bin. Also hat er mir einfach ein Lächeln mit einem Grübchen geschenkt und sich umgedreht.

Da habe ich, ohne nachzudenken, gerufen: »Über welches Thema schreibst du?« Ich wollte ihm nichts nachmachen, ich musste nur … noch einmal mit ihm reden. Ich musste mich vergewissern, dass das wirklich passiert ist.

Er hat über die Schulter geschaut und mich angegrinst, und ich schwöre, ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen. »Frag sie, ob sie immer noch alle ihre Damen am Rand sitzen lässt.«*

* Nach der ersten Übersetzung (Zürich 1954) neu durchgesehen und bearbeitet von Heinrich Böll, aus: Salinger, J. D., Der Fänger im Roggen, Hamburg, 1966. Anm. d. Übers.

Ich kenne das Zitat gut, aber irgendwie klang es aus seinem Mund zweideutig. Eine Antwort habe ich mir gespart, denn ich bin ziemlich sicher, dass nur »Ich liebe dich« dabei herausgekommen wäre.

Zum Abschied hat er mir zugewinkt … und das geheimnisvolle Lächeln mit dem Grübchen war das Letzte, was ich von ihm gesehen habe, als er durch die Tür ging. Ich habe fast zwei Minuten gebraucht, bis ich wieder normal atmen konnte.

5. August 2004

Liebes Tagebuch,

mein Aufsatz ist fertig, aber ich möchte Sam das Buch noch nicht zurückgeben. Andererseits, je länger ich es behalte, desto mehr Mut muss ich aufbringen, um mit ihm zu reden. Am Mittag habe ich gesehen, dass er in die Bücherei gegangen ist, und bin ihm gefolgt wie eine Stalkerin.

Ich habe ihm dabei zugesehen, wie er ruhig und zufrieden den Kopf in seine Bücher gesteckt hat.

Dann ist mir Pipers Rat wieder eingefallen. »Red doch einfach mit ihm. Du liegst mir seit Monaten mit Samuel Stone in den Ohren. Jetzt hast du einen Grund, ihn anzusprechen.« Sie hat recht.

Entschlossen habe ich die Schultern gestrafft und bin durch die Bücherei geschritten, als wäre ich Cindy Crawford. Aber als Sam aufschaute und mich verwirrt ansah, bin ich abrupt stehen geblieben und war verdattert.

Er hat mich angestarrt, und ich habe verliebt zurückgestarrt. Ich hätte weggucken sollen, aber ich habe es nicht geschafft. Ich weiß nicht, wie lange ich mitten im Raum gestanden habe, denn die Zeit stand still, und ich habe meine Zukunft gesehen.

Als diese Zukunft lächelte und mir zuwinkte, habe ich mich insgeheim beglückwünscht und zurückgewinkt. Ich bin schon so weit gekommen – was sind da noch ein paar Schritte?

Ich habe mich neben Sam gesetzt und seinen Duft gerochen und musste mich sehr beherrschen, um nicht tief einzuatmen.

»Wie weit bist du mit dem Aufsatz?«, hat er mich gefragt.

Sofort habe ich mich geschämt, weil ich ihn anlügen würde, um länger bei ihm sein zu können. »Noch nicht sehr weit.«

Sam hat gelächelt und die Welt hat aufgehört, sich zu drehen. »Soll ich dir vielleicht helfen?«

»Ja«, habe ich etwas zu schnell erwidert, ohne nachzudenken.

Aber als mir klar geworden ist, dass es schwer werden würde, ihn bei einem Aufsatz helfen zu lassen, der schon fertig ist, habe ich mich hastig berichtigt. »Du bist doch auch in meinem Mathekurs, oder?«

Daraufhin hat er sein Mathebuch hochgehalten.

»Vielleicht solltest du mir lieber dabei helfen. Ich glaube, Englisch kann ich, aber bei Algebra sieht es anders aus.«

Sein tiefes, ehrliches Lachen hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. »Sicher, kann ich machen.«

Dann hat er in seinem Rucksack herumgewühlt und ein Heft und einen Stift herausgenommen. »Wo hapert es denn?«

Mit einem flauen Gefühl im Magen habe ich gesagt: »Überall.«

Da hat es zwischen uns wieder so seltsam geknistert, und als er sich vorgebeugt hat, habe ich den Atem angehalten. »Tja, du hast Glück, dass ich gerade etwas Zeit habe. Was ist deine Lieblingszahl?«

»Sieben«, habe ich gesagt.

»Gut. Dann lass uns mit etwas anfangen, was du magst.«

Als er mich angegrinst hat, konnte ich nur nicken. Ich weiß nicht, warum, aber ich möchte ständig mit ihm zusammen sein – jeden Tag.

Eine Stunde später hatte ich Algebra immer noch nicht besser verstanden, aber ich hatte begriffen, dass meine Gefühle für Sam echt sind. Ich wollte ihn unbedingt wiedersehen, deshalb habe ich etwas getan, was ich noch nie getan habe.

»Hättest du vielleicht Lust, morgen mit mir zu Mittag zu essen?«, habe ich mit hoher, total uncooler Stimme gefragt. Und gerade, als ich einen Rückzieher machen wollte, weil es mir peinlich war, dass meine romantischen Vorstellungen von der Liebe mich so weit gebracht hatten, hat Sam genickt.

»Natürlich. Gern.«

»Wirklich?« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen.

»Ja, wirklich.« Als ich das gehört habe, habe ich gestrahlt.

Ich fühle mich so wohl bei ihm. Ich glaube, das ist Liebe.

6. August 2004

Liebes Tagebuch,

jetzt ist es offiziell – ich bin verliebt in Samuel Stone!

Wir haben uns zum Mittagessen getroffen – wie verabredet. Ich weiß nicht, ob Sam das bewusst war, aber für mich war es meine erste Verabredung, und sie war perfekt.

Wir haben über Gott und die Welt geredet – na ja, ich habe geredet, und er hat zugehört. Und immer, wenn ich gedacht habe, ich langweile ihn, hat er mir eine neue Frage gestellt, so als wäre er ernsthaft an mir interessiert.

Die ganze Schule hat uns beobachtet. Alle Mädchen waren neidisch, dass jemand wie Sam mit mir redet. Aber es kam mir so vor, als hätte er es gar nicht bemerkt. Er schien ganz auf mich konzentriert zu sein.

Als die Glocke geläutet hat, war ich enttäuscht, denn ich hatte soeben die beste halbe Stunde meines Lebens erlebt, weil ich mit dem Jungen geredet hatte, von dem ich träume.

Gerade als ich dachte, der Tag könnte nicht mehr besser werden, hat Sam in seine Tasche gefasst und eine silberne Halskette herausgezogen. Und als er sie mir gegeben hat, ist mir die Luft weggeblieben.

Jetzt sitze ich hier und befingere die silbernen Kettenglieder. Ich kann nicht aufhören zu lächeln, wenn ich daran denke, wie Sam mir nervös erzählt hat, dass er an mich gedacht hat, als er sie gesehen hat. Er hat so getan, als wäre es ein Scherz, und gesagt, sie wäre ein Glücksbringer, der mir helfen soll, meine Prüfung zu bestehen, aber wir wussten beide, was diese Kette bedeutet.

Wir haben seltsame, aufregende, unerklärliche Gefühle füreinander, und nichts hat sich jemals schöner angefühlt.

Ich werde diese Kette nie wieder abnehmen. Schon möglich, dass sie (laut Sam) nur fünf Dollar gekostet hat, aber solange ich lebe, wird sie mein Glücksbringer sein.

10. August 2004

Liebes Tagebuch,

! OH MEIN GOTT Ich war mit Sam Kaffee trinken!

Ich habe ihn im Flur gesehen, mit einem Basketball unter dem Arm, und gedacht, es wäre Zeit, ihm sein Buch zurückzugeben. Die Kette war unter meinem T-Shirt, weil ich Angst hatte, dass es Sam vielleicht leidtut, sie mir gegeben zu haben. Aber als er gelächelt hat und vorschlug, ich sollte es ihm bei einem Kaffee zurückgeben, wusste ich, dass mein Leben sich ändern würde.

Wir haben uns bei Starbucks getroffen, nicht gerade der romantischste Ort, aber ich war mit Sam zusammen, und alles andere war mir egal. Wir haben wieder über alles Mögliche geredet, und er hat gesagt, er würde gern mal mit mir reiten gehen, denn seine Familie hätte eine Farm. Da ist mir klar geworden, dass ich ihm bei unserem Mittagessen mit meinen Reitgeschichten das Ohr abgekaut habe, und plötzlich habe ich mich geschämt. Ich habe mich in seiner Gesellschaft einfach wohlgefühlt – so als könnte ich ich sein und ihm alles erzählen.

Dann hat er Saxon erwähnt, seinen Zwillingsbruder, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die beiden nicht gut miteinander auskommen. Sam hat gesagt, sie wären äußerlich identisch, aber innerlich völlig verschieden. Ich hätte gern nachgefragt und mehr erfahren, denn Saxon kommt mir echt nett vor. Er ist nur extrem schüchtern und mit niemandem richtig befreundet, aber die paar Male, die ich mit ihm gesprochen habe, war er sehr freundlich und lustig.

Nachdem Sam klargestellt hatte, dass er nicht gern über Saxon redet, hat er mir gesagt, dass es sein Traum wäre, ein Basketball-Stipendium zu bekommen, und dass er, wenn es nach ihm ginge, Montana verlassen würde, sobald er achtzehn ist. Ich habe versucht, nicht zu enttäuscht auszusehen, aber der Gedanke, dass er weggehen könnte, zerreißt mir das Herz.

Dann hat er völlig überraschend gesagt: »Aber wer weiß? Vielleicht finde ich ja einen Grund zu bleiben.«

Könnte ich dieser Grund sein? Ein Mädchen kann nur hoffen.

Drei

Nach meiner Erklärung wird es unangenehm kalt im Zimmer.

Dr. Kepler ignoriert die plötzliche Verstimmtheit. »Großartig. Sobald er hier ist, und zustimmt natürlich, kann eine der Schwestern ihm Blut abnehmen. Und wir können genauer über mögliche Eingriffe reden.«

Wieder räuspert sich Greg. »Herr Doktor, unser Sohn … will nichts mehr mit uns zu tun haben. Wir haben ihn über ein Jahr nicht gesehen. Das letzte Mal, als wir von ihm hörten, lebte er in South Carolina. Ich bezweifle, dass er bereit wäre, seinem Bruder zu helfen.« Kellie schnieft.

»Oh.« Endlich versteht Dr. Kepler, was das allgemeine Unbehagen ausgelöst hat. »Also gut, aber falls sich etwas ändern sollte, lassen Sie es mich bitte wissen.« Dann entschuldigt er sich. Höchstwahrscheinlich hat er kein Interesse daran, in einen Familienstreit hineingezogen zu werden.

Aber das ist es ja. Es hat nie einen richtigen Streit gegeben. Äußerlich gleichen Saxon und Samuel sich vielleicht bis aufs Haar, doch innerlich trennen sie Welten.

Schon als ich die beiden zum ersten Mal getroffen habe, gab es zwischen ihnen eine unterschwellige Spannung, die im Laufe der Jahre immer stärker geworden ist. Ich habe Saxon nicht mehr gesehen, seit er sein Elternhaus an Thanksgiving verlassen hat, nachdem die Familie wie üblich darüber geredet hatte, dass Saxon und Samuel die Farm übernehmen sollten. Saxon wollte sich immer von seinem Zwillingsbruder abgrenzen, als Individuum gesehen werden – schade nur, dass er, um diese Individualität zu finden, mit allen Menschen, die ihn lieben, gebrochen hat.

Sam hat nie über Saxon gesprochen, soweit ich weiß, ist das ein Thema, das er lieber meidet. Doch ich habe gemerkt, dass es ihn tief im Innern kränkt, dass sein Zwillingsbruder ihn aus irgendeinem Grund hasst. Aber trotz aller Differenzen braucht Samuel Blut, er braucht Saxons Blut. Und ich werde dafür sorgen, dass er es bekommt.

»Hast du Saxon schon Bescheid gesagt, Kellie?«, frage ich, während ich meine Trauer unterdrücke und mich auf Sams Überleben konzentriere. Meine zukünftige Schwiegermutter sieht auf und schüttelt schuldbewusst den Kopf. Normalerweise bin ich nicht so energisch, aber wenn es um etwas geht, das mir wichtig ist, gehen meine Gefühle schon mal mit mir durch. »Darf ich ihn dann mit deinem Telefon anrufen?« Kellie schaut Gregory an, der nickt.

Es mag uns nicht gefallen, aber wir brauchen Saxon. Ich beschließe zu glauben, dass er nicht durch und durch schlecht ist. Das kann er nicht sein. Schließlich ist er auf einzigartige Weise mit dem tollsten, nettesten Menschen auf der ganzen Welt verbunden. Er gehört zu Sam, und ich kann nur hoffen, dass diese Verbundenheit über seine negativen Gefühle siegt.

Alle Augen ruhen auf mir, und das macht mich nervös. Saxon und ich haben uns nie richtig kennengelernt, und wenn ich ehrlich sein müsste, würde ich sogar so weit gehen zu behaupten, dass er mich nie richtig beachtet hat. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, unsichtbar zu sein. Meine Versuche, mich mit ihm zu unterhalten, haben sich als sinnlos erwiesen, denn je mehr ich redete, desto einsilbiger wurde er. Ich weiß, dass ich nicht der Typ bin, mit dem er sich normalerweise einlässt, denn die Frauen, mit denen er früher zusammen war, waren das genaue Gegenteil von mir. Sie waren alle groß und vollbusig und hatten nicht viel an und auch nicht viel im Kopf – doch zu solchen Mädchen schien er sich hingezogen zu fühlen.

Samuel hat seinen Bruder wegen der ständig wechselnden Freundinnen nie verurteilt und ihn so akzeptiert, wie er war. Das ist typisch für Sam. Leider hat Saxon nicht das Gleiche gemacht, denn er hat mich nie richtig akzeptiert. Doch jetzt ist nicht die Zeit, sich über unser gespanntes Verhältnis auszulassen. Jetzt muss ich das tun, was der Schwur verlangt, den ich so gern geleistet hätte.

»In guten wie in schlechten Tagen«, erinnere ich mich selber, als ich auf den Flur hinausgehe, um Saxon anzurufen. Mein Herz schlägt heftig, und das Blut rauscht durch meine Ohren, während ich dem Klingelton lausche.

Bitte nimm ab, flehe ich stumm. Er muss einfach abnehmen.

Als ich Saxons tiefe, raue Stimme höre, weiß ich nicht, ob ich jubeln oder weinen soll. Sie klingt wie Samuels. »Was auch immer du mir sagen willst, ich bin ziemlich sicher, dass ich es nicht wissen will. Auf Wiedersehen, Kellie.«

»Oh nein, warte!«, schreie ich hastig. »Nicht auflegen, Saxon! Ich bin’s, Lucy.« Als es am anderen Ende still bleibt, reiße ich mir das Telefon vom Ohr, um zu überprüfen, ob die Verbindung abgerissen ist.

Nein.

»Lucy?« Man kam ihm anhören, wie überrascht er ist.

»Ja, genau. Lucy Tucker«, füge ich dümmlich hinzu.

»Ich weiß, wie du heißt«, erwidert Saxon, sodass ich mich noch dümmer fühle. »Was willst du?«

Diese schroffe Reaktion ist genau das, was ich brauche, um mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Ich beschließe, die Worte zu benutzen, die meine Mutter gewählt hat, und hole tief Luft, ehe ich sie ausspreche. »Es hat einen Unfall gegeben.«

Wieder bleibt es still am anderen Ende.

»Ist dir etwas passiert?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. »Nein, mir geht’s gut, aber Samuel ist verletzt.« Meine Stimme bricht, und schlagartig verlässt mich der Mut, während meine Augen sich mit Tränen füllen.

»Was ist mit ihm?«

An die Wand gelehnt, weihe ich Saxon traurig ein. »Er liegt im Koma. Heute war unser Hochzeitstag. Ich weiß nicht, ob du das wusstest.« Wir haben Saxon eine Einladung geschickt, aber nie eine Antwort bekommen.

»Natürlich«, erwidert er kühl.

»Ach ja?« Und ich hatte gedacht, unsere Einladung sei vielleicht in der Post verloren gegangen. »Also, er war auf dem Weg zur Kirche, als … ein betrunkener Autofahrer ihn von der Straße abgedrängt hat«, fahre ich fort und hole nach jedem Satz tief Luft. »Es steht schlecht um ihn, Saxon.«

Noch eine bedeutungsschwangere Pause.

»Dieser Mistkerl«, murmelt er schließlich.

»Wir brauchen dich hier.« Es ist mir egal, dass ich bettle.

»Warum?«, blafft Saxon, ohne seinen Unmut zu verbergen.

Erbost stoße ich mich von der Wand ab. »Warum? Hast du mich nicht verstanden? Samuel liegt im Koma.«

»Und was soll ich dagegen tun?«

Ich traue meinen Ohren nicht. »Du solltest hier sein und deinem Bruder helfen, so wie er es tun würde, wenn es umgekehrt wäre!« Meine Wut stachelt mich an, was eine schöne Abwechslung ist, da ich mich am liebsten weinend in eine Ecke verkriechen würde.

Saxon gibt einen spöttischen Laut von sich. »Das bezweifle ich. Hör mal, Lucy, es tut mir leid, dass du so durcheinander bist, aber ich kann nichts für euch tun.«

»Das stimmt nicht«, platzt es aus mir heraus. »Samuel braucht dein Blut! Und vielleicht eine Niere!« Sofort verfluche ich mich dafür, dass mir diese unsensiblen Worte über die Lippen gekommen sind. »Das wollte ich nicht …« Aber es ist zu spät.

»Ach so, wenn Samuel mich nicht bräuchte, hättet ihr mich wohl gar nicht angerufen, was?« Mein Schweigen spricht Bände. »Hat Kellie dich zu diesem Anruf angestiftet?«

»Was? Nein, natürlich nicht! Irgendjemand hätte dich bestimmt angerufen, selbst wenn Sam dein Blut nicht brauchen würde«, antworte ich und hoffe, dass ich recht habe.

»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«

Ich reibe mir die Stirn, denn ich vermute, dass seine Einschätzung richtig ist. Dass Greg und Kellie sich so gesträubt haben, ihn anzurufen, deutet darauf hin, dass sie es nicht eilig hatten, mit ihm zu reden. Wir stehen alle unter Schock, aber es war Saxons gutes Recht, umgehend über den Unfall informiert zu werden. Was er dann mit dieser Information angefangen hätte, wäre ganz allein seine Sache gewesen – und er hat auch das Recht, Nein zu sagen, wenn er seinem Bruder nicht helfen will.

»Okay, ich verstehe«, seufze ich. Ich hasse es, dass ich Samuel nicht helfen kann. »Entschuldige, dass ich dich gestört habe.«

Ich möchte treten und schreien und ihn anflehen, seine Meinung zu ändern, doch ich weiß, dass Sam das nicht wollen würde. Trotz all ihrer Differenzen hat Samuel die Wünsche seines Bruders stets respektiert. Als Saxon Samuels wiederholte Versuche, Kontakt aufzunehmen, ignoriert hat, hat Sam ihn nicht weiter bedrängt. Er hat gesagt, jeder habe das Recht, eigene Meinungen zu haben und eigene Entscheidungen zu treffen, daher könne Saxon tun, was er wolle.

»Es tut mir leid, Lucy.«

Ich weiß nicht, wofür Saxon sich entschuldigt, aber ich nehme seine Entschuldigung an. »Ich kann dir schreiben, wie es ihm geht – natürlich nur, wenn du das willst.« Während ich durch den schmalen Glasstreifen an Samuels Tür spähe, unternehme ich noch einen letzten Versuch. »Falls du deine Meinung ändern solltest, nicht wegen der Blutspende, sondern falls du ihn sehen möchtest, er ist im St. John Memorial Hospital. Ich weiß, dass er dich gern sehen würde.«

Die Leitung ist tot.

Wie um meinen tragischen Fehler fortzuwischen, fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht. Da geht die Tür auf, und Piper kommt aus dem Krankenzimmer. Sie sieht genauso aus, wie ich mich fühle. »Wie ist es gelaufen?«

»Schrecklich«, gestehe ich. Ich habe heute eine Reihe von Gefühlen durchlebt, aber im Moment fühle ich mich wie betäubt. »Ich muss zu Samuel. Er braucht mich.«

Piper nickt, doch ich spüre, dass sie etwas auf dem Herzen hat – das ist der Vorteil, wenn man jemanden fast sein ganzes Leben lang kennt. Sie hat es nie gut gefunden, dass ich mit Sam gehe, und gewöhnlich lege ich Wert auf ihre Meinung, aber heute nicht. »Luce, du solltest nach Hause gehen. Reiß mir nicht gleich den Kopf ab …«, ergeben hebt sie beide Hände, »… ich meine nur, wie wäre es mit einer Dusche, einem Happen Essen und anderen Kleidern?«

Ich weiß, dass sie es gut meint, aber ich gehe nirgendwohin. »Ich lasse Samuel nicht allein. Sollen sie mich doch rausschmeißen, dann lungere ich eben vor dieser Tür herum. Oder vor diesem verdammten Krankenhaus, wenn es sein muss.«

Piper widerspricht nicht, was mich verwundert. »Also gut, wie wäre es, wenn ich bei dir zu Hause vorbeifahre und dir ein paar Sachen zum Wechseln bringe?«

Als ich an meinem augenblicklichen Aufzug herunterblicke, begreife ich, dass sie recht hat. Und wenn Samuel aufwacht, möchte ich nicht, dass er mich so sieht. Und sich daran erinnert, was wir verpasst haben. »Oh ja, das wäre toll. Danke. Kannst du bitte genug Sachen für ein paar Tage einpacken? Und vielleicht auch welche für Sam mitbringen? Dieser Kittel ist so …« Ich kann den Satz nicht zu Ende bringen, ohne zu weinen.

»Natürlich.« Piper tupft sich die Augen, denn ihre Mascara läuft an ihren Porzellanwangen herunter.

Plötzlich fällt mir ein, dass ich ihr noch gar nicht gesagt habe, wie schön sie als Brautjungfer aussieht, und ich muss daran denken, wie aufgeregt wir waren, als wir ihr hellrosa Kleid ausgesucht haben. Als wir mit den Fingerspitzen über die weiche Seide gestrichen haben, waren wir uns einig, dass wir das richtige gefunden hatten. Pipers langes braunes Haar ist gelockt und umrahmt ihr herzförmiges Gesicht, das ich mehr als die Hälfte meines Lebens bewundert habe. Sie hat nur einen Hauch Schminke gebraucht, denn ihre natürliche Schönheit stellt alles andere in den Schatten. »Du siehst wunderschön aus, Piper. Du bist die beste Brautjungfer, die es je gegeben hat.«

Nun weinen wir beide. »Ach Lucy, du bist diejenige, die wunderschön ist.« Wir umarmen uns, ohne unsere Trauer zu verbergen und ohne uns vor der Welt dafür zu schämen. Doch diese Trauer gibt mir Kraft, Kraft für Samuel und mich, damit wir beide überleben.

❊ ❊ ❊

Leise Stimmen wecken mich aus einem äußerst lebhaften Traum. Einem Albtraum, um genau zu sein.

Ich habe geträumt, Samuel und ich hätten nicht geheiratet, weil er im Koma liegt. Er irrte in einem dichten Nebel herum, und ich konnte ihn nicht retten. Keiner konnte das. Der einzige Mensch, der dazu imstande war, war er selbst.

Gerade als ich Sams unverkennbaren Duft tief einatmen will, bevor ich ihn mit einem Kuss wecke, reden die leisen Stimmen weiter. »Das arme Mädchen, hast du gehört, dass ihr Verlobter auf dem Weg zur Kirche einen Autounfall hatte?«

Lautes Luftschnappen. »Wirklich?«

»Hm-hm. Sie ist im Hochzeitskleid hergekommen. Die ganze Familie war im Sonntagsstaat, aber es war umsonst.«

»Oh, das ist ja schrecklich. Tragisch. Hast du dir sein Kurvenblatt angeschaut?«

»Ja. Es sieht nicht gut aus. Wenn er aufwacht, wird er wohl nicht mehr der Mann sein, der er mal war.«

»Falls er aufwacht.«

Nein … nein … nein!

Ich verlange von meinem Körper, dass er aus diesem furchtbaren Albtraum erwacht, doch das kann er nicht, weil ich schon wach bin. Diese schreckliche Geschichte stimmt – sie ist wahr. Der Schlaf hat mir eine kurze Auszeit gegönnt, aber jetzt bin ich zurück – in der Hölle.

Ich tue so, als ob ich schlafe, während die Krankenschwestern weiter über Samuels Zustand reden und jedes ihrer Worte das bisschen Hoffnung zunichtemacht, das ich so dringend brauche, um das hier durchzustehen.

Als die beiden endlich gehen, hebe ich den müden Kopf von der Matratze und schaue Samuel an, der vom sanften Schein des Lichts über seinem Kopf beleuchtet wird. Dann schiebe ich eine Hand in seine reglosen Finger, und das Aufleuchten meines Verlobungsrings bekräftigt meinen Entschluss, ihm etwas zu versprechen. »Sie irren sich, Sam. Du wirst wach werden, und danach kommt alles wieder in Ordnung. Ich gebe dich nicht auf – und uns auch nicht. Ich schwöre es dir.« Meine Augen bleiben trocken, denn ich kann nicht mehr weinen.

Ich weiß nicht, ob Sam mich hört oder spürt, aber es ist mir egal. Als ich seine Finger drücke, durchströmt mich neue Entschlossenheit, und ich nehme mir vor, diesen Krankenschwestern und Ärzten zu beweisen, dass sie sich irren.

Vier

Tag vier ist kein bisschen besser als Tag eins, zwei oder drei, besonders da sich an Samuels Zustand nichts verändert hat. Dr. Kepler hat immer wieder gesagt, das sei völlig normal, so etwas brauche Zeit, aber ich bin ungeduldig. Außerdem bin ich eine Frau mit einer Mission: Ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um Sam zu jedem noch so kleinen Fortschritt zu verhelfen.

Ich habe gelesen, dass viele Menschen, die aus einem Koma erwacht sind, berichten, dass sie hören und wahrnehmen konnten, was um sie herum vorging. Sie waren zwar nicht imstande, sich mitzuteilen, sind sich ihrer Umwelt aber sehr bewusst gewesen. Das hat mich in meinem Entschluss bestärkt.

Seit dieser Entdeckung habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, bei jeder Gelegenheit mit Sam zu reden. Und wenn ich nicht mit ihm geredet oder ihm vorgelesen oder vorgesungen habe, haben seine Eltern, meine Eltern oder seine Freunde es an meiner Stelle getan – zur Not habe ich auch Hörbücher oder meinen iPod eingesetzt. Es hat mich nicht gekümmert, dass es keine Fortschritte gab. Es hat sich einfach gut angefühlt zu wissen, dass ich etwas tue, um Sam zu helfen. Ich bin so gut wie nie von seiner Seite gewichen und habe nur dann eine Pause gemacht, wenn ich zur Toilette musste oder mir die Beine vertreten habe. Aber ich wollte es nicht anders.

Nun sitze ich auf dem unbequemsten Stuhl der Welt und löse ein Kreuzworträtsel. Meine schmerzenden Muskeln zucken protestierend zusammen, als ich ein Bein anziehe und mich auf einen weiteren langen Tag einrichte. Wie immer möchte ich Sam von unserer Zukunft erzählen, meine Träume und Ziele mit ihm teilen und ein Bild von uns in fünfzig Jahren malen. Es macht mir nichts aus, dass er nicht antworten kann, denn ich weiß, dass er dasselbe will wie ich. Ich vermeide es, über die Vergangenheit zu reden, ich will mich ganz auf unsere Zukunft konzentrieren.

»Okay, ich brauche deinen Grips bei zwei waagerecht, vierzehn Buchstaben. Phonologische Bewusstheit setzt … hmhmhm … und Phonemanalyse voraus.« Während ich über die Antwort nachgrüble, klopfe ich mit meinem Bleistift aufs Papier. Wenn es um so etwas ging, war Sam ein wandelndes Lexikon, und ich habe keinen Zweifel daran, dass dieses Rätsel längst gelöst wäre, wenn er es sich vornehmen könnte.

Hilfe suchend schaue ich auf, erstarre dann aber jäh und stoße zweifelnd die Luft aus. Ein paar schmerzliche Sekunden lang wage ich kaum zu atmen. Und ich habe definitiv zu viel Angst, um mich zu rühren. Aber als ich es wieder sehe, richte ich mich kerzengerade auf und reibe mir die Augen.

»Sam?«, flüstere ich voller Angst, dass meine Fantasie mir nur einen grausamen Streich gespielt hat.

Langsam stehe ich auf, ohne die Augen von ihm zu lösen, und flehe ihn an, es noch einmal zu tun. Ich flehe ihn an … seine Augenlider zu bewegen. Es war nur ein Flattern, aber es ist ein Hoffnungsschimmer. »Samuel, kannst du mich hören? Ich bin’s, Lucy.«

Ungläubig blinzelnd stehe ich da und schlucke meine Panik und meine unglaubliche Vorfreude herunter. Dann nähere ich mich, die Arme fest an den Seiten, vorsichtig dem Bett und bohre die Fingernägel so fest in meine Handflächen, dass sie Abdrücke hinterlassen. Aber der Schmerz ist mir willkommen, weil er mir bestätigt, dass ich nicht träume.

»Sam?« Die Atmosphäre im Raum ist so voller Erwartungen, dass sie mich fast erdrückt. Ich schnappe nach Luft und falle beinah über meine eigenen Füße. Da war es wieder. Der Hoffnungsschimmer wird heller.

Ich stürze mich auf die Ruftaste für die Krankenschwester und drücke sie, dann laufe ich über das rutschige Linoleum zur Tür. »Ich brauche einen Arzt!«, schreie ich lauter, als ich je im Leben geschrien habe. Alle Menschen auf dem Flur blicken mich an, und die Krankenschwestern, die in verschiedene Richtungen davoneilen, verstehen glücklicherweise, dass es sich um einen Notfall handelt.

Hastig kehre ich in Sams Zimmer zurück, renne zu seinem Bett und nehme seine Hand. »Sam, kannst du mich hören? Dann drück meine Hand.« Mit aller Kraft wünsche ich mir, dass er mir zu verstehen gibt, dass er mich hört. Bitte Gott, gib mir ein Zeichen.

»Was ist passiert, Ms. Tucker?«, fragt Dr. Kepler, als er ins Zimmer stürzt.

»Er hat die Augen bewegt!«, sage ich mit Sams Hand in meiner. »Dreimal, glaube ich! Aber ganz bestimmt zweimal.«

»Hat er sie auch aufgemacht?«, fragt der Arzt, während er in seine Tasche greift und eine Pupillenleuchte hervorzieht. Dann schiebt er mich höflich beiseite.

»Nein, nur seine Lider haben geflattert. Das ist ein gutes Zeichen, richtig? Ja?«, hake ich beinahe flehentlich nach, weil Dr. Kepler keine Antwort gibt.

Nägelkauend schaue ich zu, wie der Arzt sanft Sams obere Augenlider anhebt und das Licht von einer Seite zur anderen bewegt. »Samuel? Können Sie mich hören?«, ruft er bei der Untersuchung. »Samuel Stone, können Sie mich hören?« Dann klatscht er nah an Samuels Schläfe laut in die Hände.

Während des quälenden Wartens trete ich von einem Fuß auf den anderen und spähe erwartungsvoll über Dr. Keplers Schulter. Schwestern und ein weiterer Arzt stürmen herein, drängen mich an die Wand und reden hektisch über Dinge, von denen ich nichts verstehe. Ohne Rücksicht auf Sams Schamgefühl reißen sie die Bettdecke von ihm herunter und fahren ihm mit einem Ding, das wie eine Stricknadel aussieht, über die Fußsohlen.

Minutenlang herrscht im Zimmer ein wildes Durcheinander, doch als die Aufregung abklingt und Samuel wieder mit der Decke zugedeckt wird, weiß ich, dass es keine guten Neuigkeiten gibt.

»Doktor?«, frage ich dennoch hoffnungsvoll.

Der Arzt seufzt und notiert irgendetwas auf Sams Kurvenblatt. »Es hat sich nichts verändert, Ms. Tucker.«

»Nein, das kann nicht sein.« Ich deute auf Samuels Bett. »Sie müssen irgendetwas übersehen haben. Ich habe es gesehen. Seine Augen haben sich bewegt.«

Dr. Kepler steckt seine Pupillenleuchte wieder in die Tasche und schüttelt den Kopf. »Was Sie gesehen haben, war eine Muskelzuckung. So etwas kommt öfter vor.«

»Ja, aber vorher ist es noch nie passiert.« Der vernünftige Teil meines Hirns sagt mir, ich soll still sein und Dr. Kepler glauben, weil er der Arzt ist. Aber mein Herz spricht eine andere Sprache, es will das Urteil nicht annehmen. »Sind Sie auch sicher?« Meine Unterlippe zittert, aber ich schlucke meine Tränen hinunter.

»Es tut mir leid. Ich wünschte wirklich, ich hätte bessere Nachrichten. Aber Sam reagiert nicht auf Reize, weder auf Licht noch auf Geräusche. Seine Pupillen bleiben starr. Und es gibt immer noch nicht mehr Hirnaktivität.« Der Arzt senkt die Augen und seufzt.

Eine heiße Träne, die über meine Wange rollt, verbrennt meine Haut.

»Es tut mir wirklich leid.« Dr. Kepler schließt die Tür hinter sich und lässt mich mit meinen zerbrochenen Träumen allein. Ich komme mir idiotisch vor. Ich weiß, was ich gesehen habe, aber es spielt keine Rolle. Eine Muskelzuckung hat offensichtlich in der Welt der Medizin absolut nichts zu bedeuten.

Tränen strömen über meine Wangen. Ich mache mir nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Ich betrachte Sam und werde wütend auf ihn, weil er nicht aufwacht. Ich gebe mir alle Mühe, ihn dazu zu bringen, während er es anscheinend nicht mal versucht. Aber ich weiß, dass dieser absurde Vorwurf nur auf die Verzweiflung zurückzuführen ist, die meinen Verstand vernebelt.

Ich gehe zum Fenster und presse die Stirn an das kühle Glas. Dann schließe ich die Augen und denke an die letzten Worte, die Sam zu mir gesagt hat. »Ich liebe dich von ganzem Herzen. Vergiss das nie. Du bist der Grund dafür, dass ich lächelnd durchs Leben gehe.«