Liebe mich wie nie zuvor - Monica James - E-Book

Liebe mich wie nie zuvor E-Book

Monica James

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Beschreibung

Der dramatische Abschluss einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte

Alles, was ich mir je gewünscht hatte, war, dass sich mein Verlobter Samuel Stone an mich erinnert. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen – aber jetzt will ich nur noch, dass er mich wieder vergisst. Mit seiner Liebe hat Sams Zwillingsbruder Saxon alles für immer verändert. Doch jetzt, da Samuel sich wieder erinnert und es keine Geheimnisse mehr gibt, muss ich mich fragen, welches Leben das richtige ist. Die Entscheidung sollte mir leichtfallen. Aber in der Liebe ist nichts leicht …

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DAS BUCH

Alles, was ich mir je gewünscht hatte, war, dass sich mein Verlobter Samuel Stone an mich erinnert. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen – aber jetzt will ich nur noch, dass er mich wieder vergisst. Mit seiner Liebe hat Sams Zwillingsbruder Saxon alles für immer verändert. Doch jetzt, da Samuel sich wieder erinnert und es keine Geheimnisse mehr gibt, muss ich mich fragen, welches Leben das richtige ist. Die Entscheidung sollte mir leichtfallen. Aber in der Liebe ist nichts leicht …

DIE AUTORIN

Monica James lebt mit ihrer Familie und ihren Haustieren in Melbourne, Australien. Wenn sie nicht an ihren Romanen schreibt, leitet sie ihr eigenes Unternehmen. Sie liebt es, authentische, herzergreifende und leidenschaftliche Geschichten zu erfinden, die ihre Leser begeistern. Ihre Romane waren in den USA, in Australien, Kanada und Großbritannien auf den Bestsellerlisten.

LIEFERBARE TITEL

Du gehörst mir ...

... und ich gehöre dir

Liebe mich, wenn du kannst

MONICA JAMES

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ruth Sander

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Forgetting You, Remembering Me bei CreateSpace Independent Publishing Platform.

Das Zitat auf Seite 10 aus J. D. Salingers Der Fänger im Roggendrucken wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch.

© für die deutsche Übersetzung:

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 05/2020

Copyright © 2018 by Monica James

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Shutterstock (Creativ Travel Projects, Epic Stock)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26126-9V001

www.heyne.de

Zia Rosetta, Zia Giuseppina, Oma, Opa, Nonna, Nonno, Grandma, Grandpa –

ich werde mich immer an euch erinnern.

Eins

In der Bibel heißt es ja, die Wahrheit wird euch freimachen. Aber ich muss die Ausnahme von der Regel sein, denn ich habe mich noch nie unfreier gefühlt als in diesem Augenblick.

»Lucy!« Mein Verlobter, Samuel Stone, kniet zusammengesunken mitten auf unserem Hof, und die Verzweiflung, mit der er auf dem Boden nach Antworten zu suchen scheint, ist beinahe mit Händen zu greifen. Es ist, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht und als der Mann zu mir zurückgekommen, den ich früher kannte. Doch der Duft seines Zwillingsbruders, der noch an meiner Haut hängt, lässt mich nicht vergessen, dass ich nicht mehr die Frau bin, die ich einst war.

»Ich bin hier, Sam.« Ich renne zu ihm. Ganz allein liegt er niedergeschmettert auf den Knien. Sein Kopf schnellt hoch, und seine Augen brauchen einen Moment, um sich auf mich zu fokussieren, weil er anscheinend immer noch in einer Vergangenheit verloren ist, an die er sich nicht richtig erinnern kann.

»Was ist los? Alles ist so … verschwommen.« Das verletzt mich zutiefst, denn bei mir ist es anders … ich erinnere mich an jedes einzelne Detail.

»Komm, lass uns reingehen, dann kann ich dich säubern.« Getrocknetes Blut klebt an seiner Schläfe und seinem Hals. Er hat gesagt, er wäre gefallen und hätte sich den Kopf angeschlagen. War es das, was seinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge geholfen hat?

Sam starrt mich weiter so an, als versuche er zu begreifen, was hier eigentlich vor sich geht. »Warum ist Saxon da?« Und schon ist aus einem Sturm ein ausgewachsener Tornado geworden, der uns alle zerstören könnte.

»Ich erklär dir alles, wenn wir drinnen sind. Komm jetzt.« Ich reiche ihm meine Hand, weil er es ohne Hilfe nicht zurückschaffen wird. Er schaut zu unserem Haus und dann wieder hoch zu mir. Sam ist ziemlich starrköpfig – das hat sich nie geändert –, aber schließlich verschränkt er seine Finger mit meinen.

Sobald wir uns berühren, werden die Erinnerungen an die letzten Monate wach, und ich möchte mich sofort wieder von ihm lösen. Doch als ich seine Augen sehe, die mich nicht mehr voller Hass und Feindseligkeit anschauen, schiebe ich meine Bedenken beiseite.

Er atmet schwer aus, ehe er sich mühsam erhebt und vor mir aufrichtet. Dann streicht er mit dem Daumen über meine Fingerknöchel und mustert fragend mein Gesicht. »Ich habe das Gefühl, ich hätte dich seit Jahren nicht mehr gesehen.« In gewisser Weise liegt er damit nicht allzu weit daneben. »Irgendetwas … ist anders. Ich kann es sehen. Und spüren.«

Obwohl meine Finger mit seinen verflochten sind, ist meine Hand schlaff und der Körperkontakt weit entfernt von dem eines Pärchens, das kurz davor war, sich das Jawort zu geben.

Der Gedanke daran ist fast zu viel für mich, also konzentriere ich mich darauf, ihn zum Haus zu führen, denn ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Aber er bleibt stur. »Früher hast du mir alles erzählt. Nun kannst du mich nicht mal mehr ansehen.« Wie auf Kommando senke ich den Blick, was seine Behauptung bestätigt. »Red mit mir, Baby. Ganz egal, was passiert ist, wir stehen das durch. Ich liebe dich.«

Jetzt entreiße ich ihm doch meine Hand. Ich kann das nicht ertragen. »Ach Sam, lass das.«

»Was? Meiner Verlobten zu sagen, dass ich sie liebe?«

Ich streichle den Diamantring, den er mir geschenkt hat, und denke an all die bitteren Erinnerungen, die damit verbunden sind. Ich hätte ihm den Ring schon vor Wochen zurückgeben sollen.

»Lass uns reingehen«, wiederhole ich, kurz davor zusammenzubrechen. Die Atmosphäre ist drückend, aber schließlich stimmt er zu.

Wir gehen Seite an Seite, allerdings nicht mehr Hand in Hand, weil Sam gemerkt hat, dass da irgendetwas nicht stimmt. Er lässt mich in Ruhe, wofür ich ihm dankbar bin, doch ich weiß, dass die Atempause nicht allzu lang dauern wird.

Als wir in die Küche kommen, muss ich sofort daran denken, wie ich zum letzten Mal dort war. Aus Angst umzukippen, halte ich mich an der Theke fest. Die Unordnung vom Abendessen gestern bestätigt, dass alles real ist. Die Töpfe und Pfannen weichen in der Spüle ein, was zweifellos Piper zu verdanken ist, die genau das getan hat, worum ich sie gebeten hatte. Niemand hat Saxon und mich gefunden, sodass ich für ein paar wunderbare Stunden einmal wieder glücklich sein konnte. Das Problem ist nur, dass ich dieses Glück in den Armen eines Mannes gefunden habe, der der Zwillingsbruder meines Verlobten ist.

»Ich hol nur schnell etwas Verbandszeug. Bin gleich wieder da.« Ich warte Sams Reaktion nicht ab.

Sobald ich im Flur bin, drücke ich eine Hand auf den Mund, um mein fassungsloses Wimmern zu dämpfen. Ich muss stark sein, schließlich ist das erst der Anfang. Ich wühle in den Schubladen im Bad und suche die Erste-Hilfe-Sachen heraus, die ich brauche.

Als ich den Medizinschrank wieder schließe, sehe ich mich im Spiegel und halte einen Augenblick inne, um nachzudenken. Samuel ist zu mir zurückgekommen; er ist wieder der Mann, den ich von ganzem Herzen geliebt habe. Ich streiche mir über den Nacken – den Saxon mit Küssen bedeckt hat –, und mir wird klar, dass alles sich geändert hat.

»Frag sie, ob sie die Damen noch immer in der letzten Reihe stehen lässt …«*

* Zitat aus: J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen, übersetzt von Eike Schönfeld, Köln 2004, S. 52.

Saxons Tattoo ist die Erklärung für das, was mir immer gefehlt hat, aber das Traurige ist, dass ich bis vor wenigen Minuten gar nicht wusste, mit einer Lüge gelebt zu haben. Ich schaue mich noch ein letztes Mal im Spiegel an und entdecke, dass Sam recht hat – ich sehe anders aus, weil ich anders bin.

Entschlossen laufe ich durch den Flur, um das einzufordern, was mir zusteht. Samuel sitzt an der Theke und hat den Kopf in die Hände gestützt. Er wirkt völlig fertig, und das bricht mir das Herz. »Hey.«

Er schreckt hoch, als hätte meine Stimme ihn in die Gegenwart zurückgeholt.

Als er sich langsam umdreht und über die Schulter blickt, liegt der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen. »Hey.« Ich hatte fast vergessen, wie es sich angefühlt hat, von diesem Lächeln verführt zu werden. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich für dieses Gefühl gelebt habe, doch nun spüre ich nichts mehr.

Zögernd gehe ich zu ihm, lege das Verbandszeug auf die Theke und unterdrücke das Zittern meiner Hände. »Du bist also hingefallen?«

Sam nickt. »Ja, ich bin in der Dusche ohnmächtig geworden. Es war, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen, und dann wurde alles dunkel.« Seine blutigen Fäuste erinnern mich daran, wie brutal er auf Saxon eingeschlagen hat. Offenbar weiß er, was wir getan haben, hat aber keine Ahnung, was uns dazu gebracht hat.

Sanft ziehe ich seine Hände unter den Hahn und spüle das Blut ab. Ich kann es kaum ertragen zu sehen, wie sehr er Saxon wehgetan hat. Sam summt, als ich über seine Knöchel streiche und das warme Wasser seine Sünden fortwäscht. »Samuel …«

»Was ist los? Du kannst mir alles sagen.«

Unfähig, mich seinem Urteil zu stellen, konzentriere ich mich auf unsere Hände. »Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll«, gestehe ich traurig. Ich bin kurz davor zu hyperventilieren.

»Wie wär’s mit dem Anfang?« Der praktische Sam ist wieder da.

»Wie wär’s, wenn ich dich erst verarzte?« Das ist sicher die richtige Vorgehensweise. Gleich mit dem Schlimmsten zu beginnen kommt mir etwas grausam vor. Aber Sam lässt sich nicht beirren.

»Sag’s mir einfach.«

Nachdem ich seine Hände gesäubert habe, stelle ich das Wasser ab und trockne sie ab. Ich tue alles, was ich kann, um ihn hinzuhalten, denn wie soll man das schrecklichste Erlebnis seines Lebens in nur wenigen Worten zusammenfassen?

»Lucy? Bitte …« Seine Niedergeschlagenheit rührt mich, schließlich würde ich an seiner Stelle auch Bescheid wissen wollen.

Ich reiße mich zusammen und hebe langsam den Blick. In Sams sehe ich kein Urteil, bloß Neugier und … Liebe. Mir wird übel. »Also … an unserem Hochzeitstag hattest du einen Autounfall.« Samuel wird blass, doch ich fahre fort. »Du warst schwer verletzt. Die Ärzte waren nicht sicher, ob du es schaffen würdest.« Bei der Erinnerung daran schüttelt es mich. »Aber das hast du. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war, ich hatte … so große Angst, dich zu verlieren, Sam. Als du allerdings aus dem Koma erwacht bist, hattest du Amnesie.« Ich befeuchte meine Lippen. »Du hattest keine Erinnerung … an mich.«

»Was?«, fragt er ungläubig und schüttelt heftig den Kopf. »Das kann nicht wahr sein.«

»Ist es aber. Sosehr ich mir auch wünsche, ich könnte etwas anderes sagen, so war es. An manche Sachen und Menschen hast du dich erinnert, an mich jedoch nicht. Und deswegen … hast du mich gehasst. Und dass wir eine Beziehung hatten.«

»Nein.« Sam bricht in Tränen aus. »Wie ist denn das möglich? Ich weiß nicht … ich weiß gar nicht … oh nein.«

»Das habe ich mich auch jeden Tag gefragt, aber je mehr ich mich bemüht habe, deine Erinnerungen zu wecken, desto mehr hast du dich zurückgezogen. Du warst ein ganz anderer Mensch. Den ich nicht wiedererkannt habe.« Eine Träne rollt über meine Wange, und ich wische sie hastig weg. »Saxon …«

Abrupt richtet Sam sich auf, einen Ausdruck von Angst und Schrecken auf dem Gesicht. »Was hat er getan?«

Diese schnelle Schuldzuweisung ärgert mich unglaublich. »Alles, er hat alles für mich gemacht. Er hat mich in dieser schweren Zeit aufgefangen … seit dieser ganze Albtraum angefangen hat.«

»Wie lange geht das schon so?«, fragt Samuel mit fest zusammengebissenen Zähnen, ohne die Dinge beim Namen zu nennen.

»Du meinst, wie lange du so gemein zu mir warst?«, entgegne ich, weil es mich empört, dass er alles, was ich gerade gesagt habe, außer Acht lässt und mich stattdessen gleich angreift.

»Nein, ich will wissen, wie lange mein Bruder es schon mit meiner Verlobten treibt«, sagt er verächtlich grinsend und haut mit der Faust auf die Theke.

Ich zucke zusammen, will aber nicht einknicken und behaupte mich. »Wie kannst du es wagen, Sam! Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Du hast mir immer wieder das Herz gebrochen.«

»Und deshalb hast du beschlossen, mir meins zu brechen?«, entgegnet er völlig aufgebracht, steht auf und stößt den Barhocker zurück, der mit einem Poltern zu Boden fällt.

»So war das nicht.« Ich versuche, es ihm zu erklären, denn ich habe mich auf Saxon eingelassen, weil uns einige Geheimnisse verbinden und weil Sam und ich uns davor bereits voneinander entfremdet hatten. »Es ist so viel passiert. Wir haben uns beide verändert.«

»Verändert?«, schreit Sam, die Arme weit ausgebreitet. »Ich hatte verdammt noch mal mein Gedächtnis verloren! Ich wusste nicht, wer du warst, aber du wusstest, wer ich war, Lucy.«

Da irrt er sich.

Ich nehme mich zusammen und bin einfach ehrlich. »Ich dachte, das wüsste ich, aber ich habe mich getäuscht. Du hast dich nicht an mich erinnert. Du hast deine besten Kumpels aus der Highschool erkannt und sogar deine Ex-Freundin, aber wenn du mich angeschaut hast … dann mit den Augen eines Fremden. Was sagt das über unsere Beziehung aus?«

In Sam beginnt es zu brodeln. »Es tut mir leid, dass ich mich nicht mehr an dich erinnert habe. Aber das konnte ich mir ja schließlich nicht aussuchen! Du dagegen, du konntest es, und du hast beschlossen …«

Sein unbeendeter Satz führt mir wieder einmal die Wahrheit vor Augen … ich habe Sam betrogen. Und noch dazu mit seinem eineiigen Zwillingsbruder. Doch Sam ist in dieser Dreiecksgeschichte auch kein Heiliger – wir alle sind Sünder.

»Ich werde mich für das, was ich getan habe, nicht entschuldigen. Ich habe das getan, was für mich das Richtige war, und du ja auch.« Es muss sein. »Ich weiß Bescheid, Samuel … ich weiß alles.« Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Ich hatte eigentlich vor, mit dieser Enthüllung zu warten, doch ich werde nicht einfach dastehen und mich als Schlampe hinstellen lassen, denn diese Geschichte hat viele Facetten.

Sam braucht keine weitere Erklärung. Sein Geheimnis ist endlich gelüftet. »Er hat es dir erzählt?« Da ich keinen Ton mehr herausbringe, nicke ich nur. Sam verschränkt die Hände im Nacken und starrt an die Decke, als könne er dort oben Antworten finden. »Was für ein verfluchtes Durcheinander.«

So gern ich mich auch mit ihm aussprechen möchte, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich muss Sam verarzten und danach Sophia anrufen. Bei dem Gedanken daran habe ich einen Kloß im Hals. »Lass mich deinen Kopf anschauen, dann hole ich Sophia.«

»Wer ist Sophia?«, fragt Sam mit einem Seufzer.

»Deine Ärztin. Sie kann dir alles erklären.«

»Ich habe genug gehört«, blafft er und fährt sich mit einer Hand durch das wirre Haar.

Ich weiß, dass das alles hart für ihn ist, aber für mich ist es auch nicht gerade leicht. Alles, was ich zu wissen glaubte, ist auf den Kopf gestellt worden, ich weiß nicht mal mehr, wer ich bin. Der Mensch, den ich geliebt habe, hat mir etwas vorgemacht. Unsere ganze Beziehung war auf einer Lüge aufgebaut. Vielleicht hat er sich ja deshalb nicht mehr an mich erinnert. Unsere viel beschworene perfekte Beziehung war nur ein Abklatsch dessen, was hätte sein können.

»Du kannst weiterschimpfen, wenn ich dein Gesicht sauber gemacht habe.« Ich nehme ein Tuch, mache es nass und wische seine Kriegsbemalung ab. Ich bin überrascht, dass er mich nach seinen körperlichen Wunden sehen lässt, nachdem ich seinem Herzen eine viel größere zugefügt habe.

Während ich ihn stumm verarzte, komme ich ihm so nahe, dass es mir den Atem verschlägt. Dies ist das erste Mal seit vielen Monaten, dass er es mir erlaubt, ihn zu berühren, ohne dass er mich verflucht. »Ich hasse dich doch nicht, Lucy. Das könnte ich gar nicht«, gesteht er mit gesenktem Blick. »Du gehörst zu mir. Schon immer. Ganz egal, was du zu wissen glaubst, ich habe dich von Anfang an wirklich geliebt. Das ist der Grund für das, was ich getan habe.«

Was ich zu wissen glaube? Was soll das bedeuten?

»Wir können später darüber reden.« Ich brauche einen Moment, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und sicher geht es ihm genauso, denn ich habe gerade eine Bombe platzen lassen. Auch er braucht Zeit, um das zu verarbeiten, was ich gerade preisgegeben habe.

»Liebst du mich nicht mehr?«, will Sam von mir wissen Ich halte das nicht länger aus, ich fange bereits an zu schniefen. »Bitte, Baby, sprich mit mir.« Meine Hände zittern unkontrollierbar, als ich mit Tränen in den Augen seine Schläfe reinige. Dankbar drückt Sam meine Finger; die Berührung ist sehr vertraut und zugleich sehr fremd. »Liebst du mich noch?«

Das sollte nicht schwer zu beantworten sein – entweder ich tu’s oder nicht.

Ich bin ihm eine Erklärung schuldig, doch ich weiß nicht, was ich fühle. Mir ist gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und das Leben, wie ich es kannte, hat sich für immer verändert. Ich brauche einen Augenblick, um durchzuatmen.

Aber Sam bedrängt mich, genauso wie der alte Sam es getan hätte. »Vielleicht sollte ich besser fragen … liebst du ihn?« Eine Träne läuft mir über die Wange, diesmal wische ich sie allerdings nicht weg.

»Ich …« Ich komme nicht dazu zu antworten und mich der Wahrheit zu stellen, denn wir werden unterbrochen.

»Sophia ist unterwegs.« Sobald mein Blick Saxons begegnet, schöpfe ich neuen Mut.

Er steht im Türrahmen und sieht ziemlich lädiert aus, doch wie immer spielt er seine körperlichen und seelischen Verletzungen tapfer herunter. Sicher hat er gehört, was Sam mich gefragt hat. Also hat er auch mitbekommen, dass ich mit der Antwort gezögert habe, und das spricht Bände. Ich würde ihn gern anfassen, tu’s aber nicht. Sein verkniffener Mund und die vor der Brust verschränkten Arme zeigen mir, dass ich es lieber lassen sollte.

»Wir sind hier fertig.« Ich zucke zusammen, als mir klar wird, wie das missverstanden werden könnte.

Ich kann keine Sekunde länger in dieser Küche bleiben, sonst ersticke ich. Schnell sammle ich das Verbandszeug ein und werfe das blutige Tuch in den Müll. Saxon müsste ebenfalls verarztet werden, doch ich habe Angst, dass er mir sagt, ich soll zum Teufel gehen, wenn ich ihm meine Hilfe anbiete.

Seine Lippe ist aufgeplatzt, und er hat ein blaues Auge. Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Wunden er sonst noch hat, weil die ekelerregende Erinnerung daran, wie Sam auf den zusammengerollten Körper seines Bruders eingedroschen hat, mich immer noch verfolgt. »Ich, äh …« Ich habe vergessen, was ich sagen wollte.

Beide Brüder schauen mich an, als könnte ich ihnen die Antworten geben, die sie beide so dringend brauchen. Doch das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt. Saxon schluckt. Seine abgrundtiefe Traurigkeit erschüttert mich. Dass er so leidend vor mir steht, ist allein meine Schuld.

Mein Blick wandert zu Sam. Auch er wirkt gebrochen und sehr einsam. Oh Gott … was habe ich getan?

Ich dachte, nichts wäre damit zu vergleichen, dass Sam sein Gedächtnis verloren hat, aber hier zwischen den beiden Stone-Brüdern zu stehen tut so weh und überfordert mich derart, dass ich mit der Hand über dem Mund aus der Küche renne, weil ich mich übergeben muss.

Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig ins Bad.

Nachdem ich mich erleichtert habe, drücke ich die Toilettenspülung und spritze mir etwas Wasser ins bleiche Gesicht. Mein Spiegelbild sieht nicht besser aus als vor ein paar Minuten. Ich schaue mich an und wünsche mir, ich wüsste, was ich tun soll, doch ich habe keine Ahnung. Da ich völlig verwirrt bin, kann ich einfach keinen klaren Gedanken fassen.

Ganz egal, wie ich mich entscheide, einem von beiden werde ich wehtun. Und wie soll ich mit dem Wissen leben, dass ich jemanden verletzt habe, der nichts anderes getan hat, als mich von ganzem Herzen zu lieben? Wieder wird mir übel, aber diesmal, weil ich solche Gewissensbisse habe.

Als es an der Tür klopft, drehe ich mich so schnell herum, dass ich fast umfalle. Wer auch immer das ist, ich möchte ihm sagen, dass er weggehen soll, ich brauche nur etwas Zeit …

Doch als das Klopfen nicht aufhört und die Tür sich langsam öffnet, weiß ich, dass mir keine mehr bleibt. »Ich bin’s, Lucy.«

»Piper?« Erleichtert stoße ich den Atem aus, da meine beste Freundin, Piper Green, besorgt ins Bad späht, ehe sie sich hereinwagt.

Sobald sie mich sieht – die Arme um die Taille geschlungen, die Wangen nass von Tränen –, kommt sie eilig auf mich zu. »Mein Gott, Lucy. Was ist denn passiert?« Als sie mich in die Arme nimmt, fange ich hemmungslos zu weinen an.

»Was habe ich bloß getan?«, schluchze ich haltlos an ihrer Schulter.

»Schsch… alles wird wieder gut. Was es auch ist, wir finden eine gute Lösung.« Doch genau das ist ja das Problem – die gibt es nicht.

»Ich habe etwas Schreckliches getan …«, gestehe ich. Piper wartet ab. »Ich … Saxon und ich …« Mein Gott, wie soll ich das nur sagen, ohne total rücksichtslos zu wirken?

Piper reimt sich alles selbst zusammen. »Du hast mit Saxon geschlafen?« Getröstet von ihrer Umarmung, schließe ich die Augen und nicke. »Und bereust es jetzt?«

Natürlich weiß sie nicht, wie es dazu gekommen ist, also mache ich ihr keinen Vorwurf, dass sie diesen Schluss zieht. Denn ich weine, weil mir bewusst geworden ist, was ich da angerichtet habe, und nicht weiß, wie ich aus dieser Situation wieder rauskomme.

Ich reiße mich zusammen, löse mich vorsichtig aus ihren Armen und trockne meine tränennassen Wangen. Piper wirkt nicht entsetzt, nur sehr beunruhigt. Ich weiß, dass ich ihr alles sagen kann, aber meine Geschichte ist wirklich heftig.

»Woher wusstest du, dass ich dich brauche?«

Sie streicht mir über den Arm. »Saxon hat mich angerufen und mich gebeten, so schnell wie möglich zu kommen. Daher. Was ist los?«

Ich hätte es wissen müssen.

Saxon kennt mich besser als ich mich selbst, also erspare ich mir die quälenden Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. »Die Antwort auf deine Frage lautet …« Piper nickt aufmunternd. Gott, steh mir bei. »Nein, ich bereue es nicht … und das ist ja gerade das Schlimme, denn das sollte ich.«

Sofort verteidigt sie mich. »Gegen Gefühle kann man nichts machen. Das ist doch bloß menschlich.« Da wäre ich mir nicht so sicher.

»Sams Gedächtnis ist wieder zurück«, unterbreche ich sie und lege all meine Karten auf den Tisch. Ihr fällt der Kiefer herunter, weil sie weiß, was das bedeutet. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie sprachlos. »Er erinnert sich, Piper …« Ich lege jedes Wort auf die Goldwaage, schließlich kann man nichts mehr zurücknehmen, was man einmal gesagt hat. »Er ist wieder ganz der Alte. Das ist das, was ich mir die ganzen letzten Monate gewünscht habe. Nur das. Aber jetzt, wo er sich wieder erinnert …«, irgendetwas in mir stirbt, »… will ich nur noch, dass er alles wieder vergisst.«

Leise schnappt meine beste Freundin nach Luft.

»Na, findest du das immer noch menschlich? Wie würdest du eine Frau bezeichnen, die dem Mann, mit dem sie vor den Traualtar treten wollte, so etwas wünscht?«

Piper wirkt wie vor den Kopf geschlagen und sucht nach den richtigen Worten. Doch ehe sie nicht die ganze Geschichte kennt, erlaube ich es ihr nicht, mich zu trösten, obwohl ich weiß, dass sie es trotzdem versuchen wird.

Ich hole tief Luft, straffe die Schultern und gestehe, was für ein Unheil ich angerichtet habe. »Ich liebe Saxon Stone … von ganzem Herzen und für immer … und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.«

Zwei

»Wow.« Dass Piper in der letzten Stunde nichts gesagt, ist gut, denn ich hatte viel zu erzählen.

Ich habe ihr alles haarklein berichtet – wie die Sache zwischen Saxon und mir sich hochgeschaukelt hat bis zu der weltbewegenden Enthüllung kurz vor dem Moment, in dem Sam sein Gedächtnis wiedererlangte. Selbst in meinen Ohren hörte sich die Geschichte fast wie erfunden an – und irgendwie wünsche ich mir, es wäre so. Aber dass ich darunter so leide, sagt mir, dass sie wahr ist.

Ich liebe Saxon. Von ganzem Herzen. Aber ich weiß nicht, was ich mit Sam tun soll … jetzt, wo er wieder vollkommen da ist. Ich kann nicht einfach vergessen, dass wir ein Paar waren, denn das würde bedeuten, dass ich mich selbst verleugne. Er war ein so wichtiger Teil meines Lebens – ich habe Angst vor dem, was nun kommt.

Nur eins weiß ich ganz sicher, nämlich dass ich mit Saxon reden muss. Er hat mich kaum angeschaut, und dass er mich weggeschickt hat, damit ich mich um Samuel kümmere, bereitet mir große Sorgen. Jedes Mal, wenn ich an Saxon denke, besonders an seinen melancholischen Blick, zerreißt es mich innerlich. Doch wie ich Piper gerade gestanden habe, sind mein Herz und mein Verstand sich nicht einig.

Ich sollte mir nicht wünschen, Saxon trösten zu können, doch ich tu’s. Ich möchte mich in seine starken Arme werfen, weil das der einzige Ort ist, an dem ich mich sicher fühle – an dem alles irgendwie einen Sinn ergibt. Aber das geht nicht. Samuel braucht mich, und sosehr mein Herz und mein Verstand auch streiten, ich muss das Richtige tun.

»Ich muss zu Sam.«

Piper nickt gedankenverloren, denn offenbar ist sie immer noch damit beschäftigt, die Neuigkeiten zu verdauen.

Ich beschließe, mich zurechtzumachen, da ich schrecklich aussehe, also kämme ich mein langes blondes Haar zurück und wasche mir die Tränen ab. Als ich wieder halbwegs wie ein Mensch wirke, hole ich tief Luft.

»Schaffst du das?«, fragt Piper.

Ich überlege, dann zucke ich die Achseln. »Ich muss.«

»Ich stehe dir bei. Immer.« Ich weiß dieses Versprechen zu schätzen, denn ich brauche jede Unterstützung, die ich bekommen kann.

Sobald ich die Badezimmertür öffne, höre ich leise Stimmen im Wohnzimmer und weiß sofort, wer gekommen ist. Ich hätte mir etwas mehr Zeit gewünscht, aber ich schätze, Je schneller, desto besser ist das beste Motto für uns alle.

Nachdem ich dreimal tief durchgeatmet habe, trete ich ein. Sophia und Saxon haben die Köpfe zusammengesteckt und sind in eine Unterhaltung vertieft. Er hat eine Hand tröstend auf ihren Oberarm gelegt, weil sie sehr gerührt zu sein scheint. Samuel sitzt auf dem Sofa und starrt ins Leere. Offenbar hat Sophia ihm die ganze Geschichte bei seinem Unfall angefangen bis heute erzählt.

Eigentlich möchte ich nicht mit ihr reden, aber ich weiß, dass sie uns die dringend benötigte Erklärung für das, was hier vorgeht, liefern kann. Sobald ich mich räuspere, um meine Stimme zu finden, drehen Saxon und sie mir die Köpfe zu. Sam rührt keinen Muskel.

»Hi, Sophia.« Als unsere Blicke sich treffen, sehe ich, dass sie es weiß. Sie weiß, was Saxon und ich getan haben, während sie höchstwahrscheinlich von Piper im Haus festgehalten wurde. Mir wird schlecht.

»Hallo«, erwidert sie knapp. Auch wenn sie mir bestimmt am liebsten die Augen auskratzen würde, bleibt sie professionell. »Ich habe gerade mit Samuel über alles gesprochen, was passiert ist. Ich denke, es wäre das Beste, wenn er mit mir ins Krankenhaus käme, damit ich ein paar Tests machen kann.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nirgendwo hingehe«, blafft Sam, während er immer noch stur geradeaus starrt. Irgendetwas an seiner Haltung ist beinahe bedrohlich. Die Hände zwischen den gespreizten Beinen fest miteinander verschränkt, sitzt er vornübergebeugt da, als plane er den Weltuntergang.

»Sam … du solltest auf Sophia hören. Wir wissen nicht genau, was vorgefallen ist, und du hast dir den Kopf ziemlich heftig angeschlagen.« Es ist, als würde man gegen eine Wand reden, denn er gibt seine starre Haltung nicht auf.

Bis jetzt habe ich es vermieden, zu Saxon hinüberzuschauen, weil ich mich davor fürchte, was ich in seinen Augen sehen werde. Piper tritt an meine Seite. Offenbar sieht man mir meine Angst an.

»Es ist Ihre Entscheidung, Samuel, aber wenn wir herausfinden sollen, was los ist, müssen Sie mit mir ins Krankenhaus fahren. Zu Ihrem eigenen Besten. Sobald wir Sie gründlich untersucht haben, kann Ihr Leben vielleicht wieder so werden, wie es war.«

Ein dicker Kloß verstopft meinen Hals.

Das ist unmöglich, da sein Leben auf einer Lüge basierte. Ich werde ihn immer unterstützen, doch sobald es ihm wieder gut geht, müssen wir über all das reden, was Saxon mir erzählt hat. Ich möchte, dass Sam mir erklärt, warum er gelogen hat. Und sicherlich möchte er sich von mir ebenfalls einiges erklären lassen.

Aber eins nach dem anderen. Also nicke ich zustimmend, als Sam mich fragend ansieht. Jedes Mal, wenn er mich anschaut, kommt es mir so vor, als betrachte er mich mit anderen Augen. Vermutlich ist es auch so ähnlich, denn die Lucy, die er früher gekannt hat, hätte niemals mit seinem Bruder geschlafen oder an unserer Liebe gezweifelt.

»Was meinst du? Was soll ich tun?«, fragt Sam mich, was mich überrascht.

Ein schweres Ausatmen erfüllt den Raum, und ich weiß, dass es von Saxon kommt. Ich sitze in der Falle, und die einzige Möglichkeit, mich dort herauszuwinden, ist, Stärke zu zeigen und zu handeln. »Ich meine, du solltest ins Krankenhaus gehen.«

Ohne den Blick von mir abzuwenden, nagt Sam an seiner Unterlippe und überlegt. Er muss das nicht für mich tun, für ihn selbst ist es allerdings wichtig herauszufinden, was passiert ist. »Also gut, ich gehe«, lenkt er schließlich mit einem Nicken ein. »Kommst du mit?«

Das hätte ich kommen sehen müssen. Dass er mich natürlich dabeihaben möchte. Er ist ängstlich und verwirrt, und ich kann mir kaum vorstellen, wie erschreckend seine Lage für ihn sein muss. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ich Sam in dieser schwierigen Zeit alleinließe. Und Saxon würde sich ebenfalls vorwerfen, seinen Bruder im Stich gelassen zu haben. »Selbstverständlich komme ich mit«, erwidere ich also mit einem erschöpften Lächeln.

Sam reagiert ähnlich. »Okay.«

Sophia streicht sich durch das unordentliche Haar, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie genauso müde ist wie ich. »Prima. Dann tätige ich jetzt schnell ein paar Anrufe.« Sie lächelt, aber das Lächeln ist aufgesetzt, weil sie offenbar noch andere wichtige Dinge zu erledigen hat. »Saxon, könntest du kurz mit rauskommen?«

Sobald Sophia seinen Namen sagt, sehe ich ihm fest in die Augen. Es kommt mir so vor, als wäre es Jahre her, dass ich in diese dunkelblauen Tiefen geblickt habe. Doch er lässt sich nicht anmerken, was in ihm vorgeht, was mich völlig fertigmacht. Ich möchte unbedingt mit ihm reden, aber da Sophia und Sam bei uns sind, ist das unmöglich, also schaue ich schnell wieder weg, ehe ich in Tränen ausbreche.

Ich bin hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Verlangen.

»Klar«, erwidert Saxon und geht mit schweren Schritten vom Wohnzimmer in die Küche.

Sam beobachtet mich aufmerksam, als ich den Blick wieder hebe und auf den Punkt richte, an dem sein Zwillingsbruder gerade gestanden hat. Sofort fühle ich mich schuldig, dass ich meine Gefühle nicht besser unter Kontrolle habe, denn das ist das Letzte, was er braucht. Ich muss mich darauf konzentrieren, ihn ins Krankenhaus zu bringen, damit wir erfahren, was geschehen ist. Alles andere muss warten.

Sam steht auf, immer noch mit nacktem Oberkörper, und ich muss wegschauen. Er bemerkt es und lächelt schief. »Dann sollte ich mir wohl besser was überziehen«, sagt er sarkastisch, und ich verstehe, warum er so verbittert ist.

Doch alle Pläne werden durchkreuzt, als die Haustür aufspringt und Kellie hereinstürmt. Ein ziemlich dramatischer Auftritt, aber von einer Frau, die das Leben ihrer Söhne zerstört hat, ist nichts anderes zu erwarten. Das ist das erste Mal, dass bei ihr nicht jedes Haar an seinem Platz ist und sie keine Designerklamotten trägt. Anscheinend kommt sie direkt von ihrem wöchentlichen Yogakurs. Greg folgt ihr auf dem Fuße.

»Sammy!«, schreit Kellie und stößt alles beiseite, was ihr im Weg steht, mich eingeschlossen.

Sam lächelt, allerdings nur schwach. Das scheint Kellie nichts auszumachen. Sie wirft die Arme um ihn und erdrückt ihn beinahe. »Du bist zu mir zurückgekommen. Wie sehr ich darum gebetet habe.«

Wieder schüttelte es mich unangenehm, so wie damals, als sie Saxon wie Dreck behandelt hat. Jetzt, wo ich weiß, was sie getan hat und wie sie ist, kann ich sie nicht anschauen, ohne mir zu wünschen, ihr gründlich die Meinung sagen zu dürfen.

Greg macht keinen Hehl daraus, dass er mich neugierig mustert, doch meinetwegen können die beiden zur Hölle fahren. »Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet …«

Erst da scheint Kellie mich zu bemerken, was mich nicht überrascht, da sich für sie schon immer alles bloß um Sam gedreht hat. Früher habe ich ihre Liebe zu Sam süß gefunden, aber jetzt weiß ich, dass sie ungerecht und völlig übertrieben ist.

»Lucy, Darling, wo willst du denn hin?«

In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter, die mich an meine guten Manieren erinnert. Ganz egal, wie gern ich Kellie und Greg aus dem Haus werfen möchte, ich schlucke meine Wut herunter und setze ein Lächeln auf.

»Ich möchte mich umziehen. Sam muss gleich ins Krankenhaus.«

Kellie streichelt Sam und fährt ihm mit einer Hand durch das wirre Haar. »Ich komme auch mit.« Es hat keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren, daher nicke ich nur.

»Kannst du meine Eltern anrufen?«, frage ich Piper, die ihr Handy schon in der Hand hat.

Ich halte mich nicht damit auf zu warten und verlasse den Raum, doch Kellies lautes Schluchzen verfolgt mich durch den Flur bis in mein Schlafzimmer. Dort angekommen lehne ich mich an die Tür, schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken, atme zittrig aus und unterdrücke meine Tränen.

Worüber reden Saxon und Sophia? Er hat mir gesagt, sie würden nicht miteinander ausgehen, aber ihr vor Zorn funkelnder Blick hat mir verraten, dass sie in Saxon verliebt ist. Auch wenn er behauptet, sie seien nicht zusammen, sie so ins Gespräch versunken zu sehen, seine Hand auf ihrem Arm, macht mich ganz krank.

Das ist kleinlich und unter den gegebenen Umständen wirklich bedeutungslos, doch während ich die Halskette berühre – die eigentlich Saxon und nicht Sam mir geschenkt hat –, überkommen mich Trauer und Verlustangst.

Ich versuche, stark zu sein, wie kann man allerdings mit so etwas umgehen und nicht alles infrage stellen, was man einmal geglaubt hat? Als Letztes hat Saxon zu mir gesagt, dass er mich liebt, aber wenn das alles vorbei ist, liebt er mich dann immer noch, oder ist unsere Liebe gestorben?

Weil ich mich so gut wie möglich von meinen Sünden befreien möchte, schnappe ich mir hastig ein paar Kleidungsstücke und gehe kurz unter die Dusche. Dass Saxons Duft noch an mir hängt, lässt mich nicht vergessen, was ich getan habe und dass es kein Zurück mehr gibt, nur ein Vorwärts. Doch die Frage lautet: Vorwärts wohin? Was wartet am Horizont?

Während ich mein verknotetes Haar ausbürste, kann ich es nicht vermeiden nachzudenken – wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich dann dasselbe getan? Oder hätte ich mich dann anders entschieden, ohne mich um die Folgen dieser großen Kehrtwende zu scheren?

»Lucy …«

Als ich diese Stimme höre, diesen rauen, kräftigen Tenor, der meine Ängste und Zweifel immer wieder zerstreut hat, weiß ich die Antwort. Und sie lautet »Ja«. Liebe ist nur ein Wort … doch der Mann, der gerade hereingekommen ist – dieser zuverlässige, tapfere Mann –, hat mir gezeigt, was damit gemeint ist.

Unfähig, irgendwo anders hinzusehen, begegne ich Saxons Blick im Spiegel. Nun da wir endlich allein sind, kann die Welt mir gestohlen bleiben, denn er ist das Wichtigste für mich. Dafür sollte ich mich schämen, tu’s aber nicht. Wie sollte ich das auch anstellen, nachdem ich weiß, dass dieser Mann mich bedingungslos liebt?

Er ist so großartig. Ein echter Hingucker. Sein dunkelblondes Haar ist zurückgekämmt, und die längeren Strähnen locken sich in seinem Nacken. Er strahlt Kraft aus und zieht in jedem Raum, den er betritt, durch sein außergewöhnliches Charisma sofort alle Blicke auf sich.

»Ich habe geklopft«, sagt er endlich, um das Schweigen zu brechen. Er glaubt, ich sage nichts, weil ich ihn nicht bei mir haben möchte. Dabei muss ich meine ganze Willenskraft aufbieten, um mich nicht in seine Arme zu werfen – so wie vor ein paar Monaten.

Doch als er die Stirn in Falten legt, bin ich mir nicht sicher, ob er mich genauso offen und freundlich auffangen würde.

»Ich wollte mit dir reden … nachsehen, ob es dir gut geht«, korrigiert er sich eilig, kommt langsam herein und schließt die Tür. Plötzlich ist meine Kehle wie zugeschnürt, und es fällt mir schwer zu atmen. »Ist alles in Ordnung?«

Er füllt den ganzen Raum und die Leere in meinem Herzen. Sein lädiertes Aussehen erinnert mich daran, dass er jeden Schlag von Sam hingenommen hat, als hätte er die Strafe verdient. Wir machen uns beide Vorwürfe wegen dem, was wir getan haben, also warum fühlt es sich so gut an, in seiner Nähe zu sein?

»Ich gehe wieder … ich wollte nur wissen …«, er schluckt und seine Unterlippe bebt, »… ob du zurechtkommst.« Er steht ein Stück entfernt und wartet auf meine Antwort.

Ich sitze an meinem Toilettentisch, die Bürste noch in der Hand, und kann den Blick nicht von seinem lösen. Ich weiß, dass ich etwas sagen sollte, aber irgendwie … traue ich mich nicht. Ich denke daran, wie schön unsere gemeinsame Nacht war, und erkenne, dass ich bloß eins tun kann.

Langsam stehe ich auf und drehe mich zu ihm um. Er ist meine Kraftquelle, mein Fels in der Brandung. Und ich weiß, was er denkt. Er fürchtet, dass das, was wir erlebt haben, nichts mehr bedeutet, nachdem Sam wieder ganz der Alte ist.

Mit einer Hand fährt er sich durch das wirre Haar und schluckt, während ich langsam auf ihn zugehe. »Ich weiß, dass jetzt alles wieder anders ist, und das ist in Ordnung … Für mich ist nur wichtig, dass du glücklich bist, und was auch passiert, du sollst wissen, dass ich für dich da sein werde, wenn du mich brauchst …« Er schwafelt, um die Stille zu füllen, weil ich noch immer kein Wort gesagt habe. »Es tut mir leid, dass ich dich mit meinen persönlichen Problemen belastet habe. Sicher brauchst du eine Weile, um das alles zu verarbeiten, aber ich …« Ich lasse ihn den Satz nicht zu Ende bringen, denn manchmal sind Taten besser als Worte.

Überrascht schnappt er nach Luft, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und meine Hände in seinem Nacken verschränke. Dann betrachte ich seine vertrauten Züge, die ich nie mehr vergessen kann. »Schon gut …«, raune ich und lege einen Finger auf seine Lippen. Ganz sanft, da sie aufgeplatzt sind, doch das seidige Fleisch fühlt sich herrlich an.

»Lucy …« Fragend sieht er mich an und versucht verzweifelt herauszubekommen, was in mir vorgeht. Ich kann ihn beruhigen.

»Das hier soll keine Dreiecksgeschichte werden. Ich weiß, wen ich will … und zwar dich.« Es fällt mir nicht schwer, das einzugestehen. Er hat mich gefragt, ob ich ihn haben will, und ja, das will ich. In diesem Riesendurcheinander ist das das Einzige, was ich sicher weiß. Mir ist klar, was das über meinen Charakter sagt, aber ich brauche Saxon so dringend wie die Luft zum Atmen.

Es dauert einen Augenblick, bis er begreift. »Du willst mich? Und was ist mit Sam?«, fragt er verwirrt. Dafür liebe ich ihn noch mehr.

»Nichts. Ich habe nicht gesagt, dass es einfach sein wird, aber das ist Liebe nie.« So nah bei ihm zu sein und die Wärme seines Körpers zu spüren steigt mir zu Kopf und macht mich so glücklich, dass ich mich wie betrunken fühle.

»Du liebst mich immer noch? Und willst mich? Nach allem, was geschehen ist?« Ich streiche über die Narbe an seiner schön geschwungenen Oberlippe und über seine Nase, dann nicke ich stumm, als hätte die Größe unseres nicht gegebenen Versprechens mir die Sprache verschlagen. »Ich …«

»Halt die Klappe und küss mich«, flüstere ich und drücke meinen Mund auf seinen. Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Auf einmal lichtet sich der Nebel, und ich sehe einen Lichtstreifen am Horizont.

Sobald er mich in seine Arme nimmt, bin ich für ein paar wunderschöne Momente wieder ich selbst, und alles fällt von mir ab, denn nichts ist wichtiger als das hier. Wir küssen uns wie Verrückte, ziehen und zerren aneinander, als wollten wir nie wieder voneinander lassen.

Ich versuche, vorsichtig zu sein, weil Saxon verletzt ist, aber ich kann mich einfach nicht beherrschen. Es ist, als wäre ich süchtig nach ihm. Jeder Zungenschlag, jede Berührung mit seinen begierigen Lippen lindert den Schmerz, der mich aufzufressen drohte.

Er drückt mich an seine Brust und schlingt die Arme so fest um meine Taille, dass ich wohl nie wieder von ihm loskommen werde. Mein Körper sehnt sich nach ihm und wünscht sich nichts mehr, als für immer ganz nah bei ihm zu sein, aber jetzt muss es erst einmal genug sein.

Er saugt an meiner Unterlippe und legt seine große Hand an meine Wange. Dann streicht er mit zwei Fingern darüber und löst sich mit einem letzten Kuss sanft von mir. Sofort vermisse ich den Körperkontakt, aber ich weiß, dass es Zeit ist.

Er reibt seine Nase an meiner. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gibt er zu.

»Dann sag nichts.« Ich schmiege mich an seine Brust und schwelge in seinem Duft.

»Ich dachte, du würdest …«

»Was? Dich vergessen?« Das Geständnis bricht mir das Herz. »Es ist schwer, jemanden wie dich zu vergessen, Saxon Stone.«

»Ich verdiene dich nicht.« Er drückt mich fest an sich und stöhnt, als ich ihn auf den rasenden Puls an seinem Hals küsse.

»Was Sam mir – und dir – angetan hat, ist nicht zu entschuldigen … aber …«

Misstrauisch lehnt Saxon sich ein Stück zurück. »Aber was?«

Ich seufze und küsse ihn vorsichtig auf den Mundwinkel. »Aber was er auch getan hat, ich muss für ihn da sein. Das weißt du doch, oder?«

Egal, was ich fühle, ich lasse Sam nicht im Stich, wenn er mich am meisten braucht. Ja, was er getan hat … ist unverzeihlich und traurig, doch er ist immer noch der Mann, den ich heiraten wollte. Der, den ich von ganzem Herzen geliebt habe.

Selbst wenn mein Herz jetzt überfließt vor Liebe zu einem anderen, heißt das nicht, dass meine Zuneigung zu Sam über Nacht wie von Zauberhand verschwunden ist. Er wird mir immer wichtig sein, aber nach allem, was passiert ist … es war einfach zu viel. Ich kann ihn nicht ansehen, ohne mich an all die schrecklichen Dinge zu erinnern, die er zu mir gesagt hat. Und dass er mich angeschaut hat wie ein Wildfremder, hat mich nicht nur gekränkt, sondern auch total fertiggemacht.

Ich weiß, was die meisten Menschen denken würden. Dass ich mit der alten Beziehung abschließen sollte, ehe ich mich in eine neue stürze. Dass ich mir Zeit lassen sollte. Aber es ist so: Ich habe schon genug Zeit vergeudet. Meine Beziehung zu Sam war auf Lügen aufgebaut. Doch das Witzige ist, dass ich durch meinen Herzschmerz gereift und stärker geworden bin. Und zwar dank des Mannes, der mich ansieht, als wäre ich für ihn das Kostbarste auf der Welt.

Aber obwohl Saxon und ich uns einig sind, haben wir viel zu bereden. »Wir haben trotzdem noch einiges zu besprechen.«

»Ich weiß«, erwidert er und streicht mir zärtlich die Haare aus dem Gesicht.

Sofort beruhige ich mich. »Im Moment möchte ich einfach bloß wissen, ob zwischen uns alles in Ordnung ist.«

Seine Miene wird ganz sanft. Er drückt seine Stirn an meine, und sein langsames Atmen ist Musik in meinen Ohren. »Es ist alles in Ordnung. Ich liebe dich.« Noch nie haben diese drei einfachen Worte mir so viel bedeutet, ich komme mir vor wie das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt.

»Versprichst du mir etwas?«

»Alles, was du willst«, erwidert Saxon, ohne zu zögern.

»Was auch geschieht … fahr bitte nicht weg.«

»Was soll denn passieren?«, fragt er und zieht die Augenbrauen hoch.

Wir wissen beide, dass die nächsten Wochen und Monate alles andere als leicht sein werden. Aber ganz egal, wie ich mich fühle, ich werde Sam nicht alleinlassen. Und ich weiß, dass Saxon es auch nicht tun wird.

»Versprich es mir, Saxon.«

Er zögert kurz, nickt dann allerdings. »Ich verspreche es dir.« Ich werfe meine Arme um ihn und schmiege mich an seine Brust, sein ruhiger Herzschlag stimmt mich friedlich. »Aber du musst mir auch etwas versprechen.« Meine Nackenhaare richten sich auf.

»Okay«, sage ich schließlich und löse mich aus unserer Umarmung, um ihm meine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Offenbar fällt ihm das, was er sagen will, schwer. »Versprich mir, dass du Samuels Lügen nicht glaubst.«

»Was?« Aber Saxon unterbricht mich.

»Ich meine es ernst … Sam verliert nicht gerne. Der Sam, den du zu kennen glaubtest, ist nicht der Sam, den ich kenne.«

»Ich bin doch keine Trophäe«, entgegne ich leicht beleidigt. »Und das hier ist kein Spiel.«

»Das weiß ich, Lucy, aber Sam wird nicht kampflos aufgeben.« Saxons Verletzungen sind der Beweis dafür. Sanft streiche ich über seine Wunden und zucke zusammen, als ich merke, wie schlimm sie sind.

»Ich weiß, dass es schwierig werden wird, aber irgendwann wird er es verstehen. Ich habe mich zwischen euch entschieden. Ich will dich«, sage ich, blind vor Liebe.

Saxon lächelt, aber sein Lächeln ist bittersüß. Er verbirgt etwas, das zu dieser Geschichte gehört, doch ich wage es nicht, ihn danach zu fragen. »Versprich es mir einfach.«

Ich lege eine Hand an seine Wange und schaue ihm in die Augen. »Ich verspreche es dir.« Wir besiegeln das mit einem Kuss, den ich sehr genieße, weil ich weiß, dass wir uns in nächster Zeit nicht mehr oft küssen werden. Den Hauch von Dringlichkeit hinter dem Schwur führe ich auf unsere beiderseitige Anspannung zurück.

Alles wird gut,wiederhole ich wie ein Mantra.

Sam wird irgendwann einsehen, dass es so nicht weitergeht, und sich anders orientieren. Und dann gibt es ein Happy End.

Doch das Leben hat eine seltsame Art, uns zu überfallen und unsere Pläne zu durchkreuzen.

Drei

»Und Sie sagen, Sie können sich nicht mehr daran erinnern, was passiert ist, ehe Sie sich den Kopf in der Dusche angeschlagen haben?«, fragt Dr. Kepler Sam und schwenkt die Pupillenleuchte. Sams Blick folgt dem Strahl konzentriert und aufmerksam.

»Ja, genau. Als ich aufgewacht bin, hatte ich das Gefühl, ziemlich viel verpasst zu haben. Das Letzte, was ich noch genau weiß, ist, dass ich mich für meine Hochzeit angezogen habe.« Die Temperatur im Raum sinkt auf Minusgrade, und ich kaue auf meiner Unterlippe herum. »Ich habe den Eindruck, ich müsste Sie kennen, aber im Moment fühle ich mich wie in einem Traum. Alles ist so unklar.« Sam reibt sich die Stirn, seine Erschöpfung ist ihm deutlich anzumerken. Ich stehe mit dem Rücken an der Wand, während Kellie ihren Sohn bemuttert.

Ich bin schrecklich ruhig gewesen, was wohl die Alarmglocken zum Läuten gebracht hat. Der Kontrast zwischen der heutigen Szene und der vor ein paar Monaten zeigt, wie sehr sich die Lage verändert hat. Es gab eine Zeit, in der ich wild entschlossen war, mich mit Dr. Kepler anzulegen, denn ich hatte einen Muskelkrampf für ein sicheres Zeichen dafür gehalten, dass Sam wieder zu Bewusstsein kommt. Nun kann ich den Arzt nicht einmal mehr ansehen, weil ich Angst habe, dass er mich durchschaut.

Dr. Kepler steckt seine Instrumente wieder ein und seufzt gedankenverloren. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Samuels Gedächtnis zurückgekehrt ist … dank Ihnen.«

Als es im Raum still wird, begreife ich, dass Dr. Kepler mich meint. »Dank mir?«, frage ich und schüttele den Kopf, weil er sich getäuscht haben muss.

Doch der Arzt klärt mich auf. »Samuel hat etwas getan, was er kurz vor dem Unfall getan hat, und das scheint einen Schalter umgelegt zu haben. Jeder, der eine Amnesie hat, reagiert anders«, fügt er hinzu, als ich ihn weiterhin völlig ungläubig anstarre. Dann wendet er sich wieder an Sam. »Woran erinnern Sie sich jetzt?«

Die Hände tief in die Taschen seiner Jeans gesteckt, zuckt Sam die Achseln. »An fast alles, außer an die Zeit nach dem Unfall.«

Wie schön für ihn.

»Das ist normal«, sagt Dr. Kepler und vermerkt etwas auf Sams Krankenblatt. »Vielleicht erinnern Sie sich mit der Zeit wieder daran. Vielleicht aber auch nicht. Solche Blackouts sind völlig normal. Und ebenso die Kopfschmerzen, die Sie bestimmt gelegentlich haben werden.«

»Also kann es sein, dass ich mich an diese Zeit nie mehr erinnere?«, fragt Sam.

Ich streiche mir übers Gesicht. Plötzlich kommt es mir vor, als wäre ich steinalt. Ich fühle mich betrogen, weil Sam das Gedächtnis an diese Zeit verloren hat, denn deshalb ist alles so, wie es ist. Wenn er sich wenigstens an die abgrundtiefe Verachtung erinnern könnte, die er mir entgegengebracht hat, würde er vielleicht verstehen, warum ich ihn nicht einfach mit offenen Armen wieder in mein Leben aufnehmen kann.

»Richtig«, sagt Dr. Kepler. Als er sieht, wie Sam die Stirn runzelt, versucht er, optimistisch zu wirken. »Am besten versuchen Sie jetzt, ein normales Leben zu führen. Und dabei ist, glaube ich, Lucy der Schlüssel.«

Ich drehe mich derart schnell zu ihm um, dass ich fast stürze. »Wie bitte?« Mein Mangel an Begeisterung entgeht Kellie nicht. Sie kneift die Augen zusammen und überlegt bestimmt, was dahinterstecken könnte.

»Vor dem Unfall waren Sie und Sam doch glücklich. In Ihrer Nähe wird er sich wieder an sein Leben gewöhnen.«

Dr. Kepler lächelt, während mir schlecht wird. »Wie ist denn das möglich? Er hat mich vergessen, aber ich soll diejenige sein, die ihn dazu gebracht hat, sich wieder zu erinnern? Das glaube ich nicht«, sage ich schneidend. Es tut mir leid, dass der Arzt meine Verwirrung und Wut abbekommt, doch ich schlage einfach blind um mich.

Kellie rutscht auf ihrem Stuhl herum und starrt mich so wütend an, als hätte ich ihrem kostbaren Sohn gesagt, er solle sich vor einen Zug stellen.

»Das Gehirn ist ein komplexes Gebilde, Lucy. Jeder Mensch reagiert anders auf Gedächtnisverlust. Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen.« Beruhigend tätschelt Dr. Kepler meinen Oberarm, denn offenbar hat er bemerkt, wie erregt ich bin. »Jetzt können wir nur noch abwarten. Sam, ich würde Ihnen gern eine Therapie bei Dr. Yates vorschlagen und Ihnen ein leichtes Sedativum verordnen, damit Sie besser schlafen können.«

Im Zimmer wird es so still, als hätte er gerade ein Todesurteil verkündet.

»Das sind doch gute Neuigkeiten«, sagt Dr. Kepler aufmunternd und schaut uns an. Plötzlich komme ich mir sehr undankbar vor. »Natürlich sind Sie enttäuscht, dass Ihr Gedächtnis nicht vollständig zurückgekehrt ist, aber offenbar erinnern Sie sich ja an das Wichtigste.« Dr. Kepler gibt sich zuversichtlich, weil alle anderen Menschen dieses außergewöhnliche Ereignis sicher gefeiert hätten. »Das ist wirklich ein Wunder. Es gibt nicht viele, die sich nach solchen Verletzungen wieder so gut erholen. Bei eng getakteter medizinischer Überwachung können Sie meines Erachtens im Handumdrehen wieder der Alte sein.«

»Hast du das gehört, Samuel?«, tönt Kellie und tupft sich mit einem weißen Taschentuch die Augen ab, während ich ein Problem wälze – gut möglich, dass Sam wieder so wird, wie er war, aber ich bin nicht mehr die, die ich war.

»Sie sind jung und stark und haben eine sehr engagierte Verlobte und eine Familie, die Sie liebt.« Das wird ja immer schlimmer. »Das ist eine perfekte Voraussetzung für eine vollständige Genesung.« Dr. Kepler versucht, uns aufzumuntern, aber mich macht das krank. »Ich sehe Sie dann nächste Woche wieder.«

Damit sind wir entlassen, und ich bin noch nie so froh gewesen, aus einem engen Raum herauszukommen.

Leider ruft Dr. Kepler uns noch etwas nach. »Es wäre schön, wenn Sie auch dabei sein würden, Lucy.« Er bemerkt mein Zögern und runzelt die Stirn. Das Bild, das sich ihm bietet, ist so anders als das bei unserer ersten Begegnung. »Natürlich nur, wenn Sie können.«

Ich bringe bloß ein Nicken zustande, als ich mich von der Wand abstoße.

Ich wünschte, ich könnte begeisterter sein, weil Dr. Kepler sich wirklich ins Zeug gelegt hat, seit diese ganze Tortur angefangen hat, aber jedes Mal, wenn er sagt, ich wäre der Grund für Sams Heilung, möchte ich schreien.

»Sie glauben also, Lucy ist der Schlüssel?« Ich falle fast über meine eigenen Füße.

Sam scheint tief in Gedanken versunken zu sein und über alles, was er gerade gehört hat, nachzugrübeln. Als ich seine gebeugte Körperhaltung sehe, komme ich mir plötzlich sehr schlecht vor. Wenn das so weitergeht, bin ich heute Abend mit den Nerven völlig am Ende.

»Ja, ich glaube, sie hat eine entscheidende Rolle gespielt. Sie ist Ihnen nie von der Seite gewichen.« Ich senke den Blick, denn obwohl das stimmt, muss ich zugeben, dass es mit meiner Treue am Ende nicht weit her war. »Manche würden wohl behaupten, dass ihre Liebe Sie zurückgeholt hat.«

Oh Gott, ich halte das nicht mehr aus. »Vielen Dank, Dr. Kepler.« Ich renne aus dem Zimmer, da ich keine Sekunde länger dort bleiben kann. Der bittere Desinfektionsgeruch im Flur kann nichts für den Brechreiz, der mich überfallen hat.

Ich stütze die Hände auf die Knie, hole dreimal tief Luft und frage mich, ob dieser Druck auf der Brust jemals nachlassen wird.

Dann sehe ich aus den Augenwinkeln etwas seidiges Schwarzes und weiß, wem das glänzende Haar gehört. Es ist das Letzte, was ich tun möchte, aber ich muss mit ihr reden. »Sophia!«, rufe ich und winke in der Hoffnung, dass sie mich auf ihrem Weg durch den Flur sieht. Und sie erkennt mich.

Mein Mund wird trocken, denn mir ist klar, dass das kein angenehmes Gespräch werden wird. Fast wünschte ich mir, wir würden Klartext reden, weil das früher oder später passieren muss. Ich habe ihr etwas weggenommen, das ihrer Meinung nach ihr gehörte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mir deutlich sagt, wie wütend sie auf mich ist, und ich hätte es auch verdient.

Sie bleibt stehen und mustert mich abschätzig. »Sophia, ich muss mit Ihnen reden …«

Aber sie lässt mich auflaufen. Als Antwort auf mein Friedensangebot schüttelt sie nur langsam den Kopf und durchbohrt mich mit einem tödlichen Blick.

Ich schäme mich für das, was ich getan habe, also möchte ich es ihr erklären. »Es tut mir wirklich leid …«

»Wehe, Sie entschuldigen sich, denn wir wissen beide, dass es Ihnen nicht leidtut.«

Ich mache mir nicht die Mühe, ihr zu widersprechen, weil sie recht hat. »Ja, kann sein, aber es tut mir leid, dass ich Sie verletzt habe. Ich hatte nie die Absicht …«

»Oh bitte«, ruft Sophia dazwischen, die Augen und die Lippen zusammengekniffen. »Sie flirten doch schon seit Wochen mit ihm. Ich habe bloß gehofft, dass er Sie durchschaut.« Flirten? Ich? Das wäre mir neu.

Ich schlucke, weil ich weiß, was jetzt kommt. »Was soll das heißen?«

Sophia grinst und legt mir gegenüber ihr professionelles ärztliches Mitgefühl ab. »Dass Sie eine Schlampe sind.« Ich blinzle entsetzt. »Ein Bruder hat Ihnen einfach nicht gereicht. Sie wollten beide haben.«

Das trifft mich. »Nein, das wollte ich nicht. Was zwischen Saxon und mir passiert ist, hat sich einfach so ergeben. Ich habe das nicht geplant.« Das ist eine lahme Entschuldigung, aber schlichtweg die Wahrheit.

»Sparen Sie sich das. Oder erzählen Sie es jemandem, den es noch interessiert.« Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht, bis ich bemerke, wie sie mit eisigem Blick über meine Schulter sieht.

»Lucy, was geht hier vor?« Kellie scheint völlig verwirrt zu sein, allerdings bin ich sicher, dass sie eins und eins zusammenzählen kann. Sie ist mitschuldig an dem ganzen Desaster, trotzdem fühle ich mich wie die Böse.

Sophia ist betrogen worden, und das wird sie mir niemals verzeihen. »Wegen Samuel rufe ich Sie noch an. Aber ich denke, von jetzt an sollten wir uns besser hier treffen.«

»Warum?«, fragt Kellie, kommt zu mir und sieht mich fragend an, während ich nur auf meine alten Turnschuhe hinunterblicke.

»Lassen Sie sich das von Lucy erklären«, erwidert Sophia und geht mit erhobenem Kopf so dicht an mir vorbei, dass ich auf meinen wackligen Beinen rückwärtstaumle.

Sam fängt mich auf. »Ich habe dich«, sagt er und stützt mich. Das kann alles Mögliche bedeuten.

»Danke«, flüstere ich mit einem Blick über die Schulter.

Die hellen Leuchtstoffröhren betonen die grauen Punkte in seinen Augen, aber da es mir jetzt gelingt, ihm länger als fünf Sekunden in die Augen zu schauen, sehe ich, dass er genauso kaputt ist wie ich. Sein dunkelblondes Haar ist furchtbar wirr, weil er in seiner Verzweiflung immer wieder mit den Fingern hindurchstreicht. Und die Bartstoppeln komplettieren das traurige Bild. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so verwahrlost gesehen. Auch die Augenringe und seine Blässe passen dazu.

Ich kann nicht mehr.

»Lucy, würdest du mir bitte erklären, worum es hier geht?«

Kellies Tonfall und ihre Hochnäsigkeit geben mir den Rest, und ich zische: »Nein, ich habe keine Lust dazu. Ich bin müde und will nach Hause.« Kellie fällt der Kiefer herunter, dann bewegt sie sich stumm.

So habe ich noch nie mit ihr gesprochen, und wahrscheinlich auch niemand anders. Aber ich bin auch noch nie in so einer Situation gewesen.

Gerade als Kellie sich zu fangen scheint, sagt Sam: »Ich fahre mit Lucy.« Natürlich hat seine Mutter ihn ins Krankenhaus gebracht. Greg wurde auf der Farm gebraucht, hat allerdings versprochen, so bald wie möglich nachzukommen. Meine Eltern sind zu einem Blitzurlaub in New York, doch ich habe nicht lange gebraucht, um ihnen den zu versauen, da ich meine Mutter bei mir haben möchte.

»Samuel?« Nervös legt Kellie eine Hand auf ihr Herz.

Die Finger immer noch um meinen Oberarm geschlossen, steht er unverrückbar neben mir. Ich unterdrücke meine Wehmut, weil das genau das ist, was der alte Sam getan hätte. Er wäre mit mir durch dick und dünn gegangen. »Fahr nach Hause, Mom. Du brauchst nicht auf mich aufzupassen. Ich bin ein großer Junge. Außerdem muss ich mit meiner Verlobten reden.« Mir kommt die Galle hoch.

Sam gibt ihr nicht allzu diskret zu verstehen, dass sie uns in Ruhe lassen soll, Kellie ist allerdings nicht besonders beeindruckt. Sie konnte den fremden Sam herumkommandieren, doch jetzt, wo der alte wieder da ist, erkennt sie, dass sie so nicht mehr weiterkommt. Erstaunlicherweise erleichtert mich das.

»Na gut, aber heute Abend komme ich zu euch rüber.« Wir beide wissen, dass das der beste Kompromiss ist, den wir vereinbaren können.

Sie küsst Sam auf beide Wangen und verbirgt nicht, dass sie sich darüber ärgert, dass er mich ihr vorgezogen hat. Das hat er zwar nicht offen gesagt, doch ich kann es ihr ansehen. Und nun da ich das alte, dunkle Geheimnis der Familie kenne, kann ich mir gut vorstellen, wie sehr sie es hasst, nicht Sams Nummer eins zu sein.

Sie macht sich auch nicht die Mühe, uns etwas vorzuspielen. »Du wirst mir einiges erklären müssen.«

Ich habe es satt, immer die Böse zu sein. Ich straffe die Schultern und wehre mich. »Ich glaube, das müssen wir alle.« Ihre Wut auf mich wird noch größer, doch das ist mir egal. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehe ich mich auf dem Absatz um, weil ich weiß, dass ich am Abend noch eine Menge zu hören bekommen werde.

Die frische Luft draußen fühlt sich himmlisch an. Die Holzbank, die so viele Wochen mein Zufluchtsort war, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Landschaft ist immer noch üppig grün, und die bunten Wildblumen stehen in voller Blüte. Ich weiß noch, wie ich überlegt habe, wie viele Tage, Stunden, Minuten und Sekunden ich dort wohl sitzen würde, und hoffe und bete, dass alles wieder gut wird.

Ich kann diesen Ausblick nicht betrachten, ohne an Saxon zu denken, der von Anfang an für mich da gewesen ist. Ich war total am Boden und untröstlich, aber er hat mir Kraft gegeben, als ich sie am nötigsten brauchte.

Ich muss einen Moment allein sein, um mich zu beruhigen, und schlendere, in Erinnerungen versunken, zu der Bank. Mit den Fingerspitzen fahre ich über das raue Holz, schließe die Augen und rufe mir ins Gedächtnis, wie ich meine Wange an Saxons Brust gepresst habe, als ich sterben wollte und er mir eindringlich zuredete. Damals hat er mir versprochen, dass alles gut werden würde, und er hatte recht.