Liebe stirbt zuerst - Edmund Crispin - E-Book
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Liebe stirbt zuerst E-Book

Edmund Crispin

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Beschreibung

Urkomisch und spannend zugleich - Ein Klassiker unter den Detektivromanen.

England Ende der 40er Jahre. In der Castrevenford School in Straford-upon-Avon steht das große Schulfest an. Mit dabei ist Gervase Fen, Englischprofessor, Exzentriker und Amateurdetektiv, dazu auserkoren einige Preise zu verleihen sowie eine Rede zu halten. Doch am Abend vor dem großen Tag nehmen ungewöhnliche Ereignisse ihren Lauf, an deren Ende zwei Mitglieder des Personals tot aufgefunden werden. Mord steht ganz offensichtlich neu auf dem Programm. Der Schuldirektor bittet Gervase Fen, sich des Falles anzunehmen. Im Laufe der verworrenen Ermittlungen muss dieser sich mit den Liebesangelegenheiten der Schüler, einer Entführung, sowie einem verschollen Shakespeare Manuskript herumschlagen …

»Edmund Crispin in der Form seines Lebens.« Observer.

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Über Edmund Crispin

Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren – hauptsächlich von Filmmusik – und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.

Informationen zum Buch

Oxford, wie es sich der Brite erträumt: Voll skurriler Gelehrter und gelehrter Skurrilität. Am Vorabend des Schulfestes verschwindet die Hauptdarstellerin der Theateraufführung. Gervase Fen, Englischprofessor und exzentrischer Gelegenheitsdetektiv, ist während der Feierlichkeiten dabei, um die Preise an die Schüler zu überreichen - auf diese Weise ist er ganz in der Nähe der sich überschlagenden Ereignisse. Mord steht ganz offensichtlich auf dem Spielplan, aber wer steckt dahinter und aus welchem Grund? Gervase Fen kommt ins Grübeln. Und darin ist er ziemlich gut.

»Edmund Crispin in der Form seines Lebens.«

Observer

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Edmund Crispin

Liebe stirbt zuerst

Roman

Aus dem Englischen von Eva Sobottka

Inhaltsübersicht

Über Edmund Crispin

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Lasciva puella

2. Suchet Mondschein!

3. Wo Diebe einbrechen und stehlen

4. Sühneopfer

5. Unter Blutbuchen

6. Liebe stirbt zuerst

7. Saturnalien

8. Tod einer Hexe

9. Gewonnene Liebesmüh

10. Überlegungen zwischen Grabsteinen

11. Denken, nur um zu irren

12. Zu grünem Traum im Schattengrün

13. Fanfare: Auftritt zweiter Mörder

14. Ab, von einem Bären verfolgt

15. Hetzjagd

16. Verfinsterung

17. Unteilbarer Friede

Impressum

Für den Carr Club

1. Lasciva puella

Der Internatsdirektor seufzte. Das hörte sich, er wusste es, klagend und unmännlich an, aber in diesem Moment gelang es ihm nicht, das Geräusch zu unterdrücken. Er entschuldigte sich.

»Die Hitze …«, erklärte er und machte mit der Hand eine matte Geste zum Fenster hin, hinter dem ein großzügig bemessenes Rasenstück in der Vormittagssonne verdorrte. »Es liegt an der Hitze.«

Als Entschuldigung klang das glaubwürdig genug. Die Hitze an diesem Tag war sengend, beinahe tropisch, und selbst in dem hohen, schattigen Arbeitszimmer, dessen Vorhänge halb zugezogen waren, um Holz und Bezüge vor dem Ausbleichen zu bewahren, war die Luft unangenehm stickig. Jedoch sprach der Direktor ohne Überzeugung, und seine Besucherin ließ sich nicht täuschen.

»Es tut mir leid, Sie mit meinen Angelegenheiten behelligen zu müssen«, sagte sie forsch, »denn mir ist bewusst, dass die Vorbereitungen zum diesjährigen Schulfest Sie voll und ganz in Anspruch nehmen müssen. Leider habe ich keine andere Wahl. Die Eltern bestehen darauf, dass der Fall in irgendeiner Form untersucht wird.«

Der Direktor nickte bedrückt. Er war ein kleiner, dünner Mann um die fünfzig, glatt rasiert, mit einer großen Spürnase, schütterem schwarzem Haar und einer Mimik, die trügerischerweise Schüchternheit und Unentschlossenheit zu verraten schien.

»Natürlich, die Eltern«, sagte er. »Man verbringt so viel Zeit damit, die überflüssigen Bedenken von Eltern zu zerstreuen …«

»Nur, dass in diesem Fall scheinbar tatsächlich etwas passiert ist«, gab seine Besucherin, die entschlossen am Thema festhielt, zurück.

Der Direktor blickte unglücklich von der anderen Seite des Schreibtisches zu ihr hinüber. Ganz entschieden fühlte er sich von Miss Parrys Hartnäckigkeit bedrängt. Hinter ihrer Person schien er eine ganze unbesiegbare Armada jener resoluten, offenherzigen und kompetenten Frauen in den mittleren Jahren zu wittern, die so typisch für die gehobenen Schichten des englischen Bürgertums sind und die Wohltätigkeitsbasare veranstalten, die Armen und Kranken besuchen, unerfahrene Dienstmädchen auf Trab bringen und großen Wert auf tadellos gepflegte Gärten legen. Irgendeine Laune des Schicksals – welche, hatte er nie herausfinden können – hatte Miss Parry veranlasst, diesen Orbit zu verlassen, um sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Trotzdem umgab sie immer noch ein Hauch ihrer früheren Existenz, eine Tatsache, die durch ihre leitende Funktion an Castrevenfords High School für Mädchen eher noch betont als heruntergespielt wurde … Der Schuldirektor begann damit, seine Pfeife zu stopfen.

»Wirklich?«, fragte er unverbindlich.

»Informationen, Dr. Stanford. Was ich am meisten brauche, sind Informationen.«

»Ach.« Der Direktor entfernte einige verirrte Tabakkrümel vom Rand seines Pfeifenkopfes und nickte erneut, diesmal mit mehr Überzeugung und Ernst. »Sie erlauben, dass ich rauche?«, fragte er.

»Ich werde ebenfalls rauchen«, erwiderte Miss Parry entschieden. Bestimmt, aber keinesfalls unfreundlich winkte sie ab, als ihr ein Päckchen entgegengehalten wurde, und zog stattdessen ein Zigarettenetui aus ihrer Handtasche. »Ich bevorzuge amerikanische Marken«, erklärte sie. »Die enthalten weniger Chemie.«

Der Internatsleiter riss ein Streichholz an und gab ihr Feuer. »Es wäre wahrscheinlich am besten«, schlug er vor, »wenn Sie mir alles von Anfang an berichten.«

Miss Parry blies eine längliche Rauchwolke aus, so als handele es sich bei dem Qualm um eine giftige Substanz, die so schnell und energisch wie möglich aus ihrem Mund entfernt werden müsse.

»Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen«, meinte sie, »dass es mit der Theateraufführung zu tun hat.«

Alles in allem erschien dem Direktor diese Information erfreulicher, als er zu hoffen gewagt hatte. Seit einigen Jahren arbeitete die Castrevenforder High School für Mädchen mit Castrevenfords Jungeninternat zusammen, um ein Theaterstück für das alljährliche Schulfest einzustudieren. Diese Tradition war im Laufe der Zeit für alle Beteiligten zu einem Quell der Ärgernisse geworden, und als mildernder Umstand konnte nur angesehen werden, dass die Ärgernisse vorhersehbar waren und immer nach dem gleichen Muster verliefen. Zumeist bestanden sie in heimlichen Umarmungen, die während der Proben zwischen den männlichen und weiblichen Ensemblemitgliedern ausgetauscht wurden – und die Strafen und vorbeugenden Maßnahmen bei derartigen Zwischenfällen waren allen so geläufig, dass sie geradezu automatisch zur Anwendung kamen. Die Stimmung des Direktors hellte sich auf. Er sagte:

»Dann spielt das Mädchen in dem Stück mit? Es tut mir leid, aber ich habe der Sache in diesem Jahr nur wenig Aufmerksamkeit schenken können. Sie studieren Heinrich V. ein, nicht wahr?«

»Ja. Diese Wahl hat meinen Mädchen nicht besonders zugesagt. Zu wenig weibliche Rollen.«

»Zweifellos waren die Jungen aus demselben Grund enttäuscht.«

Miss Parry ließ ein ehrliches, aber dennoch strenges Lachen hören; gerade so, als wolle sie mitteilen, dass Humor zwar zu einer kultivierten Unterhaltung dazugehöre, jedoch keinesfalls die wirklich wichtigen Angelegenheiten an den Rand drängen dürfe.

»Sehr bedauerlich für alle Seiten«, sagte sie. »Jedenfalls spielt das Mädchen, um das es geht, die Rolle der Katharina. Ihr Name ist Brenda Boyce.«

Der Direktor runzelte die Stirn, während er ein zweites Streichholz anriss und es an seine Pfeife hielt. »Boyce? Stammt die Familie aus der Gegend? Wir hatten hier bis vor ungefähr zwei Jahren einen Schüler desselben Namens. Ein ziemlich welterfahrener Junge, soweit ich mich erinnern kann.«

»Dass muss ihr Bruder gewesen sein«, sagte Miss Parry. »Und als welterfahren könnte man die gesamte Familie bezeichnen. Die Eltern sind von der wohlhabenden Partys-und-Chromdesign-Sorte …«

»Ich erinnere mich an sie.« Vorsichtig ließ der Direktor das abgebrannte Streichholz in einen Aschenbecher fallen, über dem ein silberner Elefant thronte. »Ganz sympathisch, wie ich fand … Wie auch immer, das ist im Moment von keinerlei Bedeutung.«

»Die Eltern sind in gewisser Weise doch von Bedeutung.« Miss Parry lehnte sich zurück und schlug ihre stämmigen, kompromisslos praktischen Zwecken dienenden Beine übereinander. »Will meinen, ihre Weltoffenheit bietet uns einen Hinweis darauf, worin das Problem nicht besteht. Wie es ihre Herkunft schon vermuten lässt, ist Brenda ein ziemlich keckes Ding – sie ist sechzehn, ganz nebenbei erwähnt, und wird uns am Ende des Schuljahres verlassen – und ein sehr hübsches noch dazu. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass sie sich durch eine Konfrontation mit … ähem … jugendlicher Erotik aus der Bahn werfen ließe.«

An dieser Stelle blickte Miss Parry ihren Gastgeber betont ernst an. »Fahren Sie fort«, sagte der Direktor. Ihm war bewusst, dass Miss Parry keine Ermunterung durch ihn brauchte; jedoch müssen Lücken in der Konversation, auch solche, die nur der Notwendigkeit des Luftholens geschuldet sind, schon aus reiner Höflichkeit irgendwie überbrückt werden.

»Wie Sie wissen«, sprach Miss Parry weiter, »fand gestern Abend hier in der Aula eine Probe von Heinrich V. statt. Und als Brenda anschließend gegen halb elf zu Hause eintraf, befand sie sich nach Aussage ihrer Eltern in einer ganz außergewöhnlichen seelischen Verfassung.«

»Was genau meinen Sie damit?«

»Unsicher. Verstört. Ja, und auch verängstigt.«

Sie hörten, wie der Sekretär des Schuldirektors im kleinen Nebenzimmer auf der Schreibmaschine tippte und wie die Fliegen verzweifelt summend gegen die Fensterscheiben stießen. Ansonsten war es sehr still.

»Selbstverständlich«, sagte Miss Parry nach einer kurzen Pause, »fragten sie, was los sei. Um es kurz zu machen – sie gab weder ihren Eltern noch mir eine Antwort, als ich sie heute Morgen befragte.«

»Die Eltern haben Sie angerufen?«

»Ja. Ganz offensichtlich waren sie in Sorge – und das, Dr. Stanford, ist es, was mir Sorgen bereitet. Was auch immer sie für Fehler haben, sie gehören nicht zu der Sorte von Leuten, die aus geringfügigem Anlass einen Aufstand machen.«

»Was hat das Mädchen selbst Ihnen erzählt?«

»Sie gab zu verstehen, dass ihre Eltern sich das alles bloß einbilden, und sie sagte, es gäbe nichts zu erklären. Ich konnte aber sehen, dass sie immer noch verstört war, und ich bin mir einigermaßen sicher, dass sie log. Sonst hätte ich Sie damit erst gar nicht behelligt.«

Der Direktor überlegte kurz, wobei er die vertrauten Gegenstände in seinem Zimmer betrachtete: den dicken blauen Teppich, die Reproduktionen von Constable und Corot an den Wänden, die bequemen, mit Leder bezogenen Sessel und den ausladenden Schreibtisch mit der schweren Platte, an dem er saß. Nachdenklich sagte er:

»Ja. Ich verstehe, warum die Sache von Bedeutung ist. Sie wollen sagen, dass, selbst wenn jemand bei der jungen Dame einen … äh … Annäherungsversuch gewagt hätte …«

Mitten in diesem plebejischen Ausspruch verstummte er, und Miss Parry beendete den Satz für ihn.

»… hätte es sie nicht weiter gestört. Exakt. Tatsächlich hätte es vermutlich genau das Gegenteil bewirkt.«

»Wirklich?« Der Direktor schien intensiv über dieses Beispiel weiblicher Frühreife nachzugrübeln. »Dann glauben Sie«, fragte er schließlich, »dass etwas Ernsteres dahinter steckt?«

Miss Parry nickte. »In gewisser Weise.«

Der Direktor beäugte sie mit einer Art Widerwillen. Zwar hatten sie schon bei früheren Gelegenheiten über sexuelle Angelegenheiten gesprochen, das aber zumeist ganz allgemein und in Umschreibungen. In diesem Moment jedoch schien Eindeutigkeit angebracht.

»Verführung?«, murmelte er unsicher.

Miss Parry nahm diesen Gedanken mutig auf. »Daran hatte ich auch schon gedacht«, gab sie zu – und lehnte sich dann nach vorn, wobei sie eine beinahe ungeduldige Handbewegung machte. »Ich tendiere jedoch dazu, das auszuschließen. Sie erlauben mir, offen zu sprechen?«

»Ich bitte Sie darum«, erwiderte der Direktor galant.

Miss Parry lächelte – ein kleines, schüchternes Lächeln, das so wenig zu der üblicherweise von ihr zur Schau gestellten Aufgeschlossenheit passte, dass es ihm wie eine Offenbarung erschien. Plötzlich erkannte er, dass sie derlei Gesprächsthemen nicht aus Prüderie oder Verklemmtheit mied, sondern weil eine solche Diskussion für sie einem uneingestandenen Ideal von Anstand, an das sie glaubte, Abbruch tat. Dafür mochte und achtete er sie, und er lächelte zurück.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte sie. »Sie ist vergewaltigt worden und konnte sich nicht wehren; oder sie ist verführt worden und bereut es im Nachhinein.«

Miss Parry zögerte. »Ich weiß«, fuhr sie fort, »dass es unerträglich ist, auf diese Weise über ein Mädchen von sechzehn Jahren zu sprechen, aber ich sehe kaum eine Möglichkeit, das zu vermeiden … Falls es eine Vergewaltigung war, kann ich mir kaum vorstellen, dass einer Ihrer Schüler dafür verantwortlich ist…«

»Ganz meine Meinung«, sagte der Direktor. »Meines Wissens gibt es keinen Jungen auf dieser Schule, der sich so etwas trauen würde.«

»Und was eine Verführung betrifft… Nun, erstens ist Brenda ein selbstbewusstes und gescheites Kind und sehr wohl in der Lage, auf sich aufzupassen. Und zweitens …«

»Ja?«

»Zweitens habe ich sie heute Morgen direkt gefragt, ob tatsächlich irgendetwas in der Richtung vorgefallen ist. Sie reagierte vollkommen überrascht, und ich bin mir sicher, dass ihre Verblüffung nicht gespielt war.«

»Ich bin sehr froh, das zu hören.« Der Direktor zog ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und wischte sich damit flüchtig die Stirn ab. »In dem Fall verstehe ich jedoch nicht, aus welchem Grund sich das Mädchen so aufgeregt hat – oder warum sie daraus ein Geheimnis macht.«

Miss Parry zuckte mit den Schultern. »Genauso wenig wie ich. Soweit ich sehen kann, lässt sich Sex ausschließen; und obwohl man sich eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten vorstellen könnte, gibt es doch für keine einzige davon einen Anhaltspunkt.«

»Wie kann ich Ihnen dann helfen?«

»Ich möchte nur sicherstellen – soweit das möglich ist –, dass während der Proben und auf diesem Schulgelände nichts Ungehöriges geschehen ist. Damit wäre meiner Verantwortung Genüge getan.«

»Ich verstehe. Nun, das sollte nicht allzu schwierig sein. Ich werde mit Mathieson sprechen, der das Stück inszeniert … Wenn Sie möchten, tue ich das sofort. Ich glaube, er unterrichtet gerade, sodass ich ihn ganz leicht erreichen könnte.«

»Es gibt keinen Grund zur Eile.« Miss Parry erhob sich und drückte ihre Zigarette aus. »Wahrscheinlich ist die ganze Geschichte nur ein ignis fatuus. Vielleicht könnten Sie mir später telefonisch Bescheid geben …«

»Unbedingt.« Der Direktor war ebenfalls aufgestanden. Er zeigte auf eine Statuette von Aphrodite, die neben der Tür auf einem Rosenholztischchen stand. »Ich bin sehr froh«, sagte er, »dass jene Dame nichts damit zu tun hat. Wenn es während der Proben Ärger gibt, können wir fast immer davon ausgehen, dass sie dahinter steckt.«

Miss Parry lächelte. »Die platonischen Hälften …«, sagte sie.

»Die platonischen Hälften«, entgegnete der Direktor bestimmt, »sollte man am besten trennen, bis sie die Schule abgeschlossen haben. Abgesehen von alledem macht doch so eine kleine, erzwungene Abstinenz das schließliche Aufeinandertreffen nur heftiger und aufregender …« Zu spät fielen ihm seine Verpflichtungen als Gastgeber ein. »Aber wollen Sie denn nicht zum Mittagessen bleiben?«

»Danke, nein. Ich muss zurück sein, wenn der Vormittagsunterricht zu Ende geht.«

»Wie schade. Aber Sie kommen doch morgen zu den … äh … Feierlichkeiten?«

»Selbstverständlich. Wer wird die Preise überreichen?«

»Das hätte eigentlich Lord Washburton übernehmen sollen«, sagte der Direktor, »aber der ist krank geworden, sodass ich in letzter Minute einen Ersatzmann finden musste – einen Englischprofessor aus Oxford, ein Bekannter von mir. Er wird eine interessante Vorstellung geben … tatsächlich ist meine einzige Sorge, es könnte ein wenig zu interessant werden. Ich bin mir nicht ganz sicher, dass er bei der Heuchelei durchhält, die bei einer solchen Gelegenheit erwartet wird.«

»In diesem Fall werde ich mir die Festrede nicht entgehen lassen. Wie Sie wissen, meide ich sie ansonsten prinzipiell.«

»Ich wünschte, ich könnte das auch«, sagte der Direktor. »Nicht bei diesem speziellen Anlass, sondern grundsätzlich … Nun ja. Ich nehme an, auf diese Weise kann ich mir meine dreitausend im Jahr wenigstens ehrlich verdienen.«

Er begleitete Miss Parry hinaus und widmete sich anschließend wieder seiner Post, die auf dem Schreibtisch lag. Wie es schien, hatte eine gewisse Mrs. Brodribb etwas an Henrys Zeugnisnoten zu beanstanden – eine Angelegenheit, über die der Direktor nur unzureichend informiert war. In vierzehn Tagen stand das nächste Schulleitertreffen an. Jemand hatte die Idee gehabt, für den besten Aufsatz des Jahres zum Thema »Die Zukunft des britischen Empire« einen Preis zu stiften. Der Direktor stöhnte laut auf. Es gab schon zu viele Preise. Die Jungen vergeudeten zu viel Zeit damit, sich darum zu bewerben, und die Lehrer verbrachten zu viel Zeit damit, die Schüler zu unterstützen und ihre Texte zu korrigieren. Unglücklicherweise war der Stifter in diesem Fall eine bedeutende Persönlichkeit, die man nicht beleidigen durfte. Der einzige Hoffnungsschimmer bestand darin, dass man den Spender mit ein wenig Feingefühl vielleicht dazu bringen konnte, die Aufsätze selbst zu lesen und den Preis persönlich zu vergeben.

Der Direktor überflog die übrigen Briefe und legte sie anschließend beiseite. Der Fall jener lasciva puella Brenda Boyce hatte ein wenig seine Neugier angestachelt – und da die Sache ohnehin geklärt werden musste, konnte er sie ebenso gut auf der Stelle erledigen. Er trat an einen dunkelgrünen Aktenschrank und durchsuchte den Inhalt. So ermittelte er, dass Mathieson gegenwärtig in der Untersekunda Englisch unterrichtete. Der Direktor klemmte sich Robe und Barett unter den Arm und ging zur Tür.

2. Suchet Mondschein!

»Denn ich hab gelernt«, sagte Simblefield, ein kleiner, pickliger, feiger Junge, »auf die Natur zu schaun nicht wie in Stunden argloser Jugend sondern oftmals lauschend dem traurig leisen Lied der Menschlichkeit nicht harsch nicht schrill und doch von großer Kraft zu läutern und zu bändigen.«

Er hielt inne, und auf seinem unsympathischen Gesicht erschien ein Ausdruck der Zufriedenheit. Wenn es um Gedichtrezitationen ging, bestand Simblefields höchstes Ziel darin, die ihm zugeteilten Verse herunterzurasseln, ohne dabei das eine oder andere Wort auszulassen; und genau das war ihm gelungen. Zwar war ihm selbstverständlich dunkel bewusst, dass es weit über dieses bescheidene Ziel hinausgehende Feinheiten in der Interpretation gibt, doch im Rausch seines augenblicklichen Triumphes maß er dem keine Bedeutung bei.

In der Stille, die auf seine atemlose Intonation folgte, konnte man hören, wie im Nebenraum Mr. Hargrave, der strengste Verfechter von Disziplin an der Schule, seine verschreckte und ihm demütig ergebene Klasse auf Lateinisch andröhnte. Erwartungsvoll sah Simblefield Mr. Mathieson an, der mit verschränkten Armen dastand und zum Fenster des Klassenzimmers hinausstarrte. Da er ein außergewöhnlich naiver und einfältiger Junge war, nahm Simblefield an, Mr. Mathieson suche nach den passenden Worten, um seinen Vortrag zu würdigen. Mit dieser Annahme lag Simblefield jedoch falsch, denn tatsächlich war Mr. Mathieson in einen flüchtigen und unzusammenhängenden Tagtraum verfallen und hatte noch gar nicht bemerkt, dass Simblefield geendet hatte. Mr. Mathieson war ein ungepflegter, kräftiger Mann mittleren Alters, plump in seinen Bewegungen. Er trug ein altes Sportjackett mit Lederflicken an den Ellbogen und ausgebeulte graue Hosen.

Getuschel weckte ihn auf, und seine Träumereien vermischten sich auf das Ernüchterndste mit der trostlosen Realität des Klassenzimmers. Es handelte sich dabei um einen großen, schachtelartigen Raum, dessen Wände in ihren unteren Partien nach Herzenslust mit Tintenklecksen und Fingerabdrücken dekoriert worden waren. Das Lehrerpult, schwer und antik, stand neben einer zerschrammten, abblätternden Wandtafel auf einem Podium. Ringsum hingen einige freudlose Bilder mit undefinierbaren ländlichen und klassischen Szenen. Eine dünne Kreideschicht bedeckte alles. Und an die zwanzig Schüler saßen an ihren eigensinnigen Klapppulten und nutzten die kurze Unterbrechung, um sich verschiedenen, mehr oder minder destruktiven und sinnlosen Zeitvertreiben zu widmen.

Mathieson bemerkte, dass Simblefield nicht mehr sprach, sondern ihn stattdessen selbstgefällig ansah.

»Simblefield«, sagte er, »hast du überhaupt irgendeine Vorstellung von der Bedeutung dieses Gedichtes?«

»Oh, Sir«, sagte Simblefield kraftlos.

»Was genau kennzeichnet denn in den Stunden unserer arglosen Jugend unsere Einstellung zur Natur, Simblefield? Du müsstest doch qualifiziert sein, diese Frage zu beantworten.«

Höhnisches Gelächter erhob sich. »Blödmann Simblefield«, sagte jemand.

»Nun, Simblefield? Ich warte auf eine Antwort.«

»Oh, Sir, ich weiß nicht, Sir.«

»Natürlich weißt du es. Denk nach, Junge. Du schenkst der Natur nicht viel Beachtung, was?«

»Oh doch, Sir.«

»Nein, tust du nicht, Simblefield. Für dich dient sie lediglich als Hintergrund deiner Person.«

»Ja, Sir, jetzt verstehe ich, Sir«, sagte Simblefield ein wenig zu bereitwillig.

»Ich hege große Zweifel daran, ob du wirklich verstehst, Simblefield. Aber vielleicht tun es ja einige der anderen.«

Augenblicklich wurden Rufe laut. »Ich verstehe, Sir.« »Nur ein Dummkopf wie Simblefield versteht das nicht.« »Sir, es ist so, als ob man spazieren geht, Sir, und die Bäume gar nicht richtig bemerkt.« »Sir, wozu müssen wir Wordsworth lesen, Sir?«

»Ruhe«, sagte Mr. Mathieson streng. Betretenes Schweigen machte sich breit. »Nun, das ist genau die Art und Weise, auf die Wordsworth die Natur nicht betrachtete.«

»Wordsworth war ein doofer Blödmann«, meinte einer sotto voce.

Mr. Mathieson überlegte kurz, ob er diese Bemerkung bis an ihren Quell zurückverfolgen solle, entschied sich dagegen und fuhr fort:

»Ich will damit sagen, dass die Natur für Wordsworth mehr war als bloße Kulisse.«

»Sir!«

»Ja?«

»Wurde Wordsworth während der Französischen Revolution nicht beinahe geköpft, Sir?«

»Zumindest hat er Frankreich kurz nach der Revolution besucht. Wie ich eben sagte …«

»Sir, wieso werden die Leute in Frankreich geköpft und in England gehängt?«

»Und in Amerika auf den elektrischen Stuhl gesetzt, Sir?«

»Und in Russland erschossen, Sir?«

Erneut erhob sich ein babylonisches Stimmengewirr. »In Russland erschießt man die Leute nicht, du Blödmann, man schlägt ihnen mit einer Axt den Kopf ab.« »Sir, ist es wahr, dass das Herz eines Erhängten noch weiterschlägt, wenn er schon längst tot ist?« »Ach Bagshaw, was bist du für ein Idiot.« »Ja, du Blödmann, wie soll er denn tot sein, wenn sein Herz noch schlägt?«

Mathieson schlug auf sein Pult.

»Wenn noch irgendeiner redet, ohne aufgerufen worden zu sein, werde ich den Betreffenden seinem Hausleiter melden.«

Das wirkte sofort – war es doch tatsächlich ein unfehlbares Mittel gegen jede Form von Durcheinander. Dem Hausleiter gemeldet zu werden war in Castrevenford eine ernste Angelegenheit.

»Und jetzt«, sagte Mr. Mathieson, »wollen wir uns wieder dem eigentlichen Thema zuwenden. Was, Simblefield, meinte Wordsworth deiner Ansicht nach mit dem traurig leisen Lied der Menschlichkeit?«

»Oh Sir.« Simblefield war über diese erneute Anforderung an seine mageren intellektuellen Ressourcen eindeutig verzweifelt. »Nun, Sir, ich glaube, er meinte … Sehen Sie mal, Sir, angenommen ein Berg oder ein Vogel oder sonst was…«

Simblefield, dessen Unfähigkeit, sein Unwissen zu verbergen, vom Rest der Klasse zu Recht mit Verachtung gestraft wurde, brauchte zu seinem großen Glück nicht weiterzusprechen, denn just in diesem Moment betrat der Direktor den Raum.

Eilig sprangen die Schüler auf, wobei Pulte verschoben und Stühle umgeworfen worden. Nur selten besuchte der Direktor eine Klasse während des Unterrichts, und die Neugier der Jungen wurde von einer eilig und mit großer Angst zusammengestellten gedanklichen Auflistung kürzlich begangener Missetaten gedämpft.

»Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte der Direktor wohlwollend. »Mr. Mathieson, könnte ich Sie für einen Moment sprechen?«

»Natürlich, Herr Direktor«, sagte Mathieson, und an die Jungen gewandt: »Lest weiter, bis ich wiederkomme.«

Die beiden Männer traten nach draußen auf den Korridor. Er war kahl, und es hallte laut; der Holzfußboden war uneben. Außerdem war die Beleuchtung aufgrund der Tatsache, dass der Trakt mit den Klassenzimmern nicht zu seiner gegenwärtigen Verwendung erbaut worden, sondern eigentlich ein umfunktioniertes Irrenhaus war (ein Umstand, der immer wieder Anlass zu mäßigen Scherzen bot), nur unzureichend. An diesem Tag hatte der Korridor jedoch den Vorteil, vergleichsweise kühl zu sein.

»Aequam memento rebus in arduis servare mentem«, sagte Mr. Hargrave im angrenzenden Raum, »bedeutet nicht: ›Vergiss nicht, auf den harten Straßen Wasser für einen Monat mitzunehmen und nur ein Dummkopf wie du, Hewitt, kann Horaz eine derart schwachsinnige Bemerkung zutrauen.«

Der Schuldirektor sagte:

»Wie lief die Probe gestern Abend, Mathieson?«

»Oh … ganz gut, Herr Direktor. Ich denke, wir werden eine ordentliche Vorstellung geben.«

»Keine Probleme oder Verzögerungen irgendwelcher Art?«

»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«

»Aha.« Der Direktor schien auf die Geräusche zu lauschen, die aus der neusprachlichen Untersekunda zu ihnen drangen – plötzliche Ausbrüche von Getuschel, die wie im Wechselgesang von panischem Zischeln unterbrochen wurden. Nachdenklich legte er seinen Zeigefinger mitten auf seine Unterlippe.

»Dieses Mädchen, das die Katharina spielt«, begann er von neuem. »Was für einen Eindruck macht sie auf Sie?«

»Sie spielt gut«, sagte Mathieson.

»Aber abgesehen davon – als Person.«

Mathieson zögerte, bevor er eine Antwort gab. »Um ehrlich zu sein, Herr Direktor, scheint sie ein ziemlich frühreifes Ding zu sein.«

»Ja. Ich bin froh, dass Sie diese Einschätzung teilen. So wie es aussieht, kehrte sie von der Probe gestern Abend in einem völlig aufgelösten Zustand nach Hause zurück, und wir können nicht herausfinden, was sie so aufgebracht hat.«

»Während der Probe war mit ihr alles in Ordnung«, sagte Mathieson. »Tatsächlich war sie ein wenig zu aufgekratzt.«

»Ja. Nun, es freut mich, das zu hören; das verringert gewissermaßen einen Teil unserer Verantwortung … Wissen Sie, ob sie … ähem … für einen unserer Schüler schwärmt?«

»Ich könnte mich vollkommen irren, aber ich hatte das Gefühl, als ob Williams …«

»Williams? Welcher Williams? Es gibt Dutzende.«

»J. H., Herr Direktor. Aus der neusprachlichen Unterprima. Er spielt den Henry.«

»Oh ja, natürlich. Ich denke, ich sollte mit ihm reden … Nebenbei gefragt, findet heute Abend nicht Ihre Kostümprobe statt?«

»Ja, Sir.«

»Ich werde versuchen vorbeizuschauen«, sagte der Direktor, »wenn ich die Zeit finde.«

So kehrte Mathieson zu der Aufgabe zurück, den leeren Köpfen seiner Untersekunda Wordsworths Metaphysik einzutrichtern, während der Direktor sich zum Büro des Hausmeisters begab, wo er Order hinterließ, dass J. H. Williams sich nach dem Vormittagsunterricht unverzüglich in seinem Arbeitszimmer zu melden habe.

Als Wells, der Hausmeister, zehn Minuten vor Schluss der letzten Stunde den Unterrichtsraum der Unterprima betrat, war Mr. Etherege gerade dabei, Praktiken der Dämonologie und Schwarzen Magie zu erläutern.

Das überraschte Wells nicht besonders. Mr. Etherege war einer jener Exzentriker, die hin und wieder an großen Privatschulen für ein wenig Abwechslung sorgen. Er war schon so lange am Internat von Castrevenford beschäftigt, dass er lediglich vor sich selbst Rechenschaft über das ablegen musste, was er lehrte und wie er es lehrte. Sein Steckenpferd war die Esoterik und alles Ausgefallene, und zu seinen jüngsten Obsessionen zählten Yogis, Notker Balbulus, ein obskurer Dichter des achtzehnten Jahrhunderts namens Samuel Smitherson, der versunkene Kontinent Atlantis sowie die künstlerische Bedeutung des Blues. Kein Schüler geriet in seine Hände, ohne sich Wissen über das Thema anzueignen, das ihn im Moment beschäftigte, sei es auch noch so abwegig und nutzlos.

Die Verfasser von Bildungsrichtlinien haben für Lehrkräfte wie Mr. Etherege wenig Verständnis; doch versagt in diesem Punkt, wie in so vielen anderen auch, ihre Wahrnehmung. Tatsache ist, dass jede große Schule einen advocatus diaboli braucht – und am Internat von Castrevenford okkupierte Mr. Etherege diesen wichtigen Posten. Er interessierte sich sträflich wenig für das Gemeinwohl. Er besuchte nie wichtige Sportveranstaltungen. Er zeigte keine Anteilnahme am seelischen Gedeihen seiner Schüler. Ihm mangelte es an Respekt der Institution Schule gegenüber. Kurz gesagt, er war ein unverbesserlicher Individualist. Und wenn diese Eigenschaften auf den ersten Blick wenig einnehmend wirken, muss man sie im Zusammenhang sehen. An einer Schule wie Castrevenford wird auf das Gemeinwohl zwangsläufig großer Wert gelegt, eine Sache, die, mangelt es an Ausgleich, zu einer lästigen Pflichtübung verkommen kann. Mr. Etherege trug dazu bei, diese Gefahr in Schach zu halten, und deswegen schätzte der Direktor ihn nicht weniger als seine pflichtbewussteren Kollegen. Seine Abweichungen vom bewährten Lehrplan waren der Preis, der dafür zu zahlen war; und außerdem hatte man den Schaden begrenzt, indem man jeden Unterricht von Mr. Ethereges Stundenplan gestrichen hatte, der die Schüler auf die wichtigen Prüfungen vorbereiten sollte.

Während er vorsichtig das dämonische Zeichen des Pentagramms umging, das mit Kreide auf den Boden gemalt war, übergab Wells die Mitteilung des Direktors an Mr. Etherege, der sie, verziert mit einem pessimistischen Gesichtsausdruck, an J. H. Williams weiterreichte. Wells verabschiedete sich wieder, und Mr. Etherege dozierte leidenschaftlich über den Grand Grimoire, bis eine elektrische Klingel, die unbarmherzig durch das gesamte Gebäude schrillte, das Ende des Vormittagsunterrichts verkündete. Daraufhin murmelte er einen Zauberspruch, der J. H. Williams, wie er erklärte, während des Gesprächs mit dem Direktor vor körperlichem Schaden bewahren sollte, und entließ die Klasse. Williams, ein dunkelhaariger, gewitzter, gut aussehender Junge von sechzehn Jahren, bahnte sich augenblicklich einen Weg durch die wuselnde, lärmende Meute seiner Altersgenossen, um sich zum Sprechzimmer des Direktors zu begeben; und obwohl Mr. Etherege ihm übernatürliche Hilfe zugesichert hatte, war ihm äußerst mulmig zumute.

Der Schuldirektor starrte aus dem Fenster und hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt.

»Williams«, sagte er ohne Umschweife, »Sie dürfen sich nicht heimlich mit jungen Damen treffen.«

Nach einem Moment des Nachdenkens war er zu dem Schluss gekommen, dies sei für ihre Unterredung die Eröffnung, die den größten Erfolg verspreche. Er wusste, dass Williams ein ehrlicher und vernünftiger Junge war, der eine solche Anschuldigung nur zurückweisen würde, wenn sie falsch wäre.

Williams wurde rot. »Nein, Sir«, sagte er. »Es tut mir leid, Sir.«

»Drücken Sie sich treffender aus, Williams«, verbesserte der Direktor ihn nachsichtig. »Wenn es Ihnen in Ihrem Alter leid tut, sich mit einem hübschen jungen Mädchen getroffen zu haben, sollten Sie sich von einem Arzt untersuchen lassen … In einem solchen Fall sollten Sie vielmehr sagen: ›Ich bitte um Verzeihung. ‹«

»Ja, Sir«, stimmte Williams ziemlich hilflos zu.

»Und wo genau fand dieses Rendezvous statt?«

»Im Science Building, Sir.«

»Aha. Dann nehme ich an, dass die Verabredung gestern Abend während der Probe getroffen wurde?«

»Ja, Sir. Die Probe endete um Viertel vor zehn. So blieb mir eine Viertelstunde Zeit, bis ich im Haus sein musste.«

Der Direktor notierte sich im Geiste, dass es diese Spanne im nächsten Schuljahr nicht mehr geben dürfe.

»Diese Verabredung«, fragte er, »kam auf Ihre Initiative zustande?«

»Nun ja, Sir« – Williams riskierte ein entschuldigendes Grinsen – »man könnte es als ein einvernehmliches Unterfangen bezeichnen.«

»Wirklich?« Der Schuldirektor überlegte einen Moment lang. »Haben Sie etwas zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?«

»Nun, Sir, ich weiß nicht, ob Sie Brenda jemals gesehen haben, Sir…«

Der Direktor unterbrach ihn. »Natürlich ist das die einzige Rechtfertigung, die Ihnen einfällt: Vénus tout entière á son Williams attachée. Da Sie die Unterprima besuchen, sollten Sie Ihren Racine kennen.«

»In meinem Alter ist das nur natürlich«, murmelte Williams hoffnungsvoll, »das haben Sie selbst gesagt.«

»Habe ich das?«, fragte der Direktor. »Das war indiskret von mir. Wenn wir jedoch alle unseren natürlichen Impulsen nachgeben würden, wann und wo immer wir sie spüren, befänden wir uns bald wieder in der Steinzeit… Was genau hat sich während Ihres Treffens mit der jungen Dame abgespielt?«

Williams wirkte überrascht. »Nichts, Sir. Ich konnte nicht hingehen.«

»Was?«, rief der Direktor.

»Mr. Pargiton hat mich erwischt, Sir, gerade als ich den Saal verlassen wollte. Wie Sie wissen, Sir, sollen wir sofort in unsere Häuser zurückkehren, wenn die Probe zu Ende ist, auch wenn einmal früher Schluss gemacht wird … Und ich bin natürlich in die Hogg’s entgegen gesetzte Richtung gelaufen. Mr. Pargiton« – Williams Tonfall verriet beträchtlichen Ärger – »holte mich zurück und übergab mich Mr. Fry.«

Der Direktor dachte bei sich, dass Pargitons Diensteifer, so aufreibend er normalerweise war, am Ende doch sein Gutes hatte.

»Und Sie würden beschwören«, fragte er, »dass Sie das Mädchen nach den Proben nicht mehr zu Gesicht bekommen haben?«

»Ja, Sir. Das ist die Wahrheit.«

Der Direktor ließ sich abrupt in den Drehstuhl fallen, der hinter seinem Schreibtisch stand. »Wie ich schon sagte, Sie dürfen keine heimlichen Verabredungen mit jungen Frauen treffen.«

»Nein, Sir.«

»Genauso wenig dürfen Sie, nachdem Sie dieses Zimmer verlassen haben, herumgehen und sich über philisterhafte Unterdrückung gesunder menschlicher Triebe beschweren.«

»Nein, Sir, ich würde nie im Traum …«

»Ihr Kopf, Williams, ist wahrscheinlich voll von halb verdauten Freudschen Lehrsätzen.«

»Nun ja, es ist so, Sir …«

»Vergessen Sie es. Um Himmels willen, Sie sollen ja nicht für immer im Zölibat leben. Aber das Trimester dauert nur zwölf Wochen, und wenn Sie sich nicht einmal für diesen Zeitraum vom anderen Geschlecht fern halten können, ohne psychischen Schaden zu erleiden, dann ist Ihr Gehirn ein weitaus leistungsschwächeres Organ, als ich bislang vermutet hatte.«

Williams sagte überhaupt nichts. Das alles überforderte momentan sein Denkvermögen.

»Und abschließend erinnern Sie sich freundlicherweise daran«, sagte der Schuldirektor, »dass Sie in Teufels Küche kommen, wenn Sie noch einmal versuchen, sich mit der jungen Dame zu treffen … Gehen Sie jetzt.«

Und Willams entfernte sich, sowohl über die Wirksamkeit von Mr. Ethereges Zauberspruch wie auch über die offene und verständige Art des Schuldirektors höchst erfreut. Er hatte keine Ahnung, dass die offene und verständige Art des Schuldirektors auf reiner Berechnung beruhte, um auf Williams’ jugendliche Mischung aus Idealismus und Zynismus einzuwirken. Der Schuldirektor verfügte über einen beträchtlichen Schatz an Erfahrung, wenn es darum ging, ans Ziel zu gelangen.

Da er bemerkt hatte, dass Pargiton sich vor dem Unterrichtstrakt aufhielt, suchte und fand der Direktor eine Bestätigung von Williams’ Aussage. Anschließend rief er in der High School an und gab Miss Parry eine knappe Zusammenfassung der Dinge, die er in Erfahrung gebracht hatte.

»Ich verstehe«, sagte sie. »In dem Fall werde ich erneut in die Offensive gehen. Wie lange mag Brenda im Science Building gewartet haben?«

»Bis um etwa halb elf, schätze ich, dann schließt Wells ihn für die Nacht ab.«

»Gut. Haben Sie vielen Dank.«

»Übrigens«, fügte der Direktor hinzu, »dürfen Sie mich gern informieren, wenn Sie etwas herausfinden.«

»Selbstverständlich«, sagte Miss Parry. »Ich werde Sie später anrufen.«

Wie sich herausstellte, war mit ›später‹ zehn Minuten vor Beginn des Nachmittagsunterrichts gemeint.

»Hören Sie«, sagte Miss Parry, »sind Sie sicher, dass der Junge die Wahrheit erzählt?«

»Ganz sicher«, antwortete der Direktor. »Warum?«

»Brenda streitet ab, auch nur in der Nähe des Science Building gewesen zu sein.«

»Ach du lieber Gott… Nun, könnte das nicht einfach bedeuten, dass sie Williams an der Nase herumgeführt hat?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«

»Bestreitet sie, sich mit Williams verabredet zu haben?«

»Nein. Zunächst schon, aber ich glaube, das hat sie nur getan, um den Jungen zu decken. Sie behauptet, sich eines Besseren besonnen zu haben und stattdessen nach Hause gegangen zu sein.«

»Ich verstehe … Keine weiteren Informationen?«

»Keine. Das Mädchen ist so störrisch wie ein Esel … Sicher bin ich mir nur über eine Sache.«

»Und die wäre?«

»Irgendetwas«, sagte Miss Parry, »hat sie dermaßen erschreckt, dass sie beinahe den Verstand verloren hätte.«

3. Wo Diebe einbrechen und stehlen

Das Gelände des Internats von Castrevenford hat die Form eines riesigen Rechtecks, das im Westen vom Fluss Castreven und im Osten von der Hauptstraße begrenzt wird. Andernorts ist die Demarkationslinie weniger eindeutig: Gen Norden gehen die Spielfelder in Farmland über, während auf der Südseite ein unübersichtlicher Komplex von Unterrichtsgebäuden neben einer unüberschaubaren Ansammlung von Wohnhäusern namens Snagshill steht, die sowohl einen Vorort von Castrevenford bilden als auch, was viel offensichtlicher ist, zur Schule gehören. Das zentrale Schulgebäude – ein weitläufiges, aber unwirtliches Backsteingebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, das von Efeu umrankt und eine Art Schutzreservat für Mäuse ist – steht abgesondert an der westlichen Grenze, überschattet von einem kupfergedeckten Glockenturm mit starker Patina. Von hier führt ein sanfter, mit Ulmen und Buchen bewachsener und mit Kaninchengängen durchzogener Abhang zum Flussufer hinunter. Dort befindet sich das Bootshaus der Schule sowie ein großer Landungssteg. Am anderen Ufer liegen Felder, Wälder und ein entlegener Gutshof; und weit dahinter, fünf Kilometer flussaufwärts, kann man die Türme und Zinnen der Stadt Castrevenford erkennen.

Die Wohnhäuser sind sieben an der Zahl, in unregelmäßigen Abständen über das Randgebiet des Schulgeländes verteilt. Im nordöstlichen Winkel steht die Kapelle, ein ungewöhnlich hässliches Relikt aus spätviktorianischen Zeiten, das in solcher Hast und mit so knappen Mitteln hochgezogen wurde, dass die Behörden stündlich mit seinem Absinken oder komplettem Einsturz rechnen. Das Schultor liegt an der Hauptstraße. Von ihm führt eine lange, von Eichen gesäumte Auffahrt zum Schulgebäude hinauf, das hier der Bequemlichkeit halber Hubbard’s Building heißt. Gleich am Schultor steht das Gebäude, welches die Aula beherbergt, streng, kastenförmig und zweckmäßig. Das Science Building, in dem die naturwissenschaftlichen Labors untergebracht waren, die Pfadfinderhütte, die Waffenkammer und die Bibliothek stehen zusammen an der Südseite nahe dem Davenant’s, dem größten der Wohnhäuser. Dort befindet sich auch das Arbeitszimmer des Schuldirektors, dessen Privathaus einen knappen Kilometer vom Schulgelände entfernt liegt.

Über den Rest des Geländes verteilt befinden sich die Spielfelder, Plätze für Squash und Fives, die Turnhalle, das Schwimmbad, der Kiosk und die Tischlerei. Das Areal ist durchzogen von asphaltierten Wegen, die nach Ansicht der Jungen so angelegt sind, dass die Schüler möglichst weite Strecken zurücklegen müssen, um von ihren Wohnquartieren zum Hubbard’s Building zu gelangen.

Es war dieses Panorama – oder zumindest ein Ausschnitt davon –, welches der Schuldirektor betrachtete, als er am Fenster seines Arbeitszimmers stand und über den Problemfall Brenda Boyce sinnierte. Um fünf Minuten vor zwei begann die Schulglocke zu läuten, was den Direktor, der mit seinen Grübeleien nicht weiterkam, darüber nachdenken ließ, ob man ihrem unerträglichen Scheppern nicht ein für alle Mal ein Ende bereiten sollte, selbst gegen den Willen der konservativeren Mitglieder des Kollegiums. Natürlich sollte das Ding für Pünktlichkeit sorgen; jedoch hatte man die Glocke während der Kriegsjahre nicht benutzt, und die Wiederaufnahme des täglichen Geläutes hatte zu keiner merklichen Dezimierung der eingeschworenen Minderheit von Bummlern geführt. Insgesamt gab es in Castrevenford zu viele Glocken. Da waren die Turmuhren, die die vollen, halben und Viertelstunden mit mürrischer Beharrlichkeit schlugen; die Glocken im Science Building; die elektrische Klingel, die den Beginn und das Ende jeder Unterrichtsstunde anzeigte; die Klingeln in den Wohnhäusern; die Kapellenglocke, der offenbar schon während ihres Gusses ein schreckliches Unglück widerfahren war …

Mittlerweile hatte sich das Gelände mit gemächlich flanierenden Gruppen von Jungen gefüllt, die mit Büchern und Ordnern unter dem Arm auf Hubbard’s Building zuschlenderten. Und dazwischen entdeckte der Schuldirektor Mr. Philpotts, der über den vertrockneten Rasen auf Davenant’s zurannte.

Mr. Philpotts war Chemielehrer, und seine markanteste Eigenschaft war eine Art zielloser Vehemenz, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Folge eines angeborenen Überschusses an Energie war. Er war ein kleiner, sehniger Mann von etwa fünfzig Jahren, der eine riesige Hornbrille trug und eine lange, gekrümmte Nase und einen ausgeprägten Hang zu zusammenhanglosem Gerede hatte. Seine momentane Eile stellte keinen Grund zu Besorgnis oder Aufregung dar; anscheinend zog er das Laufen dem Gehen grundsätzlich vor. Doch leider war er sehr empfindlich veranlagt. Schon der kleinste Anlass genügte, und er fegte, voller Zorn und verletztem Ehrgefühl, zum Arbeitszimmer des Direktors hinüber. Der Direktor beobachtete sein Herannahen und war überzeugt, dass Mr. Philpotts ihm in wenigen Augenblicken mit einer neuen Leidensgeschichte in den Ohren liegen würde.

Diese Aussicht bekümmerte ihn nicht übermäßig, waren doch die Ungerechtigkeiten und Kränkungen, die Mr. Philpotts zu erdulden hatte, in den meisten Fällen mit ein wenig Taktgefühl aus der Welt zu schaffen. Deswegen rief der Schuldirektor Mr. Philpotts mit fröhlicher Stimme herein, als der an die Tür des Arbeitszimmers klopfte.

Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass Mr. Philpotts etwas von größerer Bedeutung als sonst zu berichten hatte.

»Ein Skandal, Herr Direktor«, keuchte er. »Eine vollkommen leichtsinnige und böswillige Tat.«

Ihm wurde ein Stuhl angeboten, doch er lehnte ab.

»Der Übeltäter muss gefunden und bestraft werden«, sprach er weiter. »Auf das Schärfste bestraft werden. In meiner gesamten Laufbahn als Lehrer ist mir kein …«

»Was ist los, Philpotts?«, unterbrach ihn der Direktor mit einiger Strenge. »Fangen Sie von vorn an, bitte.«

»Ein Diebstahl«, sagte Mr. Philpotts mit Inbrunst. »Nicht mehr und nicht weniger als ein Diebstahl.«

»Was wurde gestohlen?«

»Das ist es ja«, platzte Mr. Philpotts heraus. »Ich weiß es nicht. Es gibt keine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich kann ja nicht ständig Inventur machen. Dazu habe ich nicht die Zeit. Und dann noch der Tag der offenen Tür, das Schulfest, die Zwischenzeugnisse …«

»Dann wurde also etwas aus dem Chemielabor entwendet?«, fragte der Direktor als Ergebnis einer blitzschnellen Analyse.

»Ein Schrank wurde aufgebrochen«, erklärte Mr. Philpotts empört. »Aufgebrochen und geplündert. Aber eines sage ich Ihnen, Herr Direktor, mich kann man dafür nicht zur Verantwortung ziehen. Wie oft habe ich gesagt, die Schlösser seien nicht ausreichend? Wie oft habe ich …«

»Niemand will Ihnen einen Vorwurf machen, Philpotts«, sagte der Direktor besänftigend. »Was befindet sich in dem Schrank?«

»Säuren«, war Mr. Philpotts ungewöhnlich direkte und sachdienliche Antwort. »Zum größten Teil Säuren.«

»Also jede Menge giftiges Zeug?«

»Genau. Deswegen handelt es sich hier um ein ernstes Vergehen.« Wie um sein Missfallen auszudrücken, atmete Mr. Philpotts geräuschvoll ein. »Sie erkennen doch, wie ernst?«

»Selbstverständlich erkenne ich das, Philpotts«, gab der Direktor ziemlich barsch zurück. »Wie durch ein Wunder ist mein Urteilsvermögen noch intakt… Sie haben keinen Verdacht, was fehlen könnte – falls überhaupt etwas fehlt?«

»Ich gehe schon davon aus, dass etwas fehlt«, antwortete Mr. Philpotts pikiert. »Andernfalls würde es wenig Sinn machen, den Schrank aufzubrechen … Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass keine größere Menge einer bestimmten Substanz gestohlen wurde.«

Der Direktor sagte:

»Nun gut. Ich muss darüber nachdenken, was jetzt am besten zu tun ist. Würden Sie zwischenzeitlich dafür sorgen, dass das Chemielabor abgeschlossen wird, wenn es nicht gerade in Benutzung ist? Für solche Vorsichtsmaßnahmen scheint es reichlich spät, aber wir wollen uns nicht zum zweiten Mal hereinlegen lassen … Nebenbei gefragt, wann haben Sie die Sache bemerkt?«

»Heute Morgen während der letzten Stunde, Herr Direktor. Da begann mein Unterricht. Außerdem kann ich mich dafür verbürgen, dass der Schrank gestern Nachmittag um fünf noch in Ordnung war, als ich dort eine Apparatur verstaute.«

»Also gut, Philpotts«, sagte der Direktor. »Ich werde Sie informieren, sobald ich entschieden habe, welche Maßnahmen zu ergreifen sind.«

Mr. Philpotts nickte bedeutungsvoll, verließ das Zimmer und bewegte sich in Richtung des Science Building davon. Als der Schuldirektor wieder an seinen Fensterplatz zurückkehrte, hörte die Schulglocke gerade auf zu läuten. Die Jungen, die jetzt noch unterwegs waren, begannen zu rennen. Wenige Augenblicke später, es schlug soeben zwei, hörte der Direktor, wie in der Ferne die elektrische Klingel im Hubbard’s Building losschrillte. Ein erhitzter und verzweifelter Zuspätkommer eilte vorbei und verschwand mit einem letzten heftigen Sprint außer Sichtweite. Ruhe kehrte ein.

Die konnte der Schuldirektor jedoch kaum genießen. Ein Giftdiebstahl, auch nur ein vermuteter, war, wie Mr. Philpotts so originell bemerkt hatte, eine ernste Angelegenheit. Darüber hinaus war es alles andere als leicht, sich jetzt auf eine effektive Handlungsweise festzulegen. Die schuldige Person musste nicht zwangsläufig ein Schüler sein – in der Tat neigte der Direktor dazu, diese Annahme aufgrund fehlender Beweise zu verwerfen. Da waren noch die Platzwarte, die Lehrkräfte, Besucher (die sich relativ ungehindert auf dem Schulgelände bewegen konnten) und natürlich Brenda Boyce, die sich Williams’ Aussage zufolge am vorangegangenen Abend definitiv im Science Building aufgehalten hatte …

Gereizt biss er auf seinem Pfeifenstiel herum. Obwohl er nicht gewillt war, die Polizei zu informieren, war es seine offenkundige Pflicht, genau das zu tun. Widerwillig griff er zum Telefonhörer.

In diesem Augenblick verließ Mr. Etherege gemeinsam mit Michael Somers das Lehrerzimmer. Weil sie denselben Weg hatten, begannen sie eine Unterhaltung.

Somers war das jüngste Mitglied des Lehrerkollegiums in Castrevenford – ein schlanker, großer, drahtiger Mann, der gut, wenn auch aufgrund der Feinheit und Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge ein wenig weich aussah. Er hatte glattes schwarzes Haar und eine Tenorstimme, die in ihrer angenehmen Modulation eine Spur zu gekünstelt und aufgesetzt klang. Er unterrichtete Englisch, und das mit bemerkenswerter Kompetenz; dennoch war er bei den Schülern nicht beliebt, und der Direktor, der für die unfehlbaren Instinkte der Jüngeren einen gewissen Respekt hegte, neigte insgeheim dazu, ihm aus diesem Grund zu misstrauen. Seine Erfahrung hatte den Direktor gelehrt, dass der wichtigste – wenn auch nicht der einzige Grund für die Unbeliebtheit einer Lehrkraft Falschheit war. Strenge machte den Jungen nichts aus, es sei denn, sie ging mit Heuchelei und Phrasendrescherei einher; Nachsichtigkeit hingegen – und Somers war für seine Nachsichtigkeit bekannt – war eine Form der Bestechung, die für sich allein genommen nicht ausreichte, um die Zuneigung der Schüler zu gewinnen.

Somers’ Kollegen beobachteten ihn mit gemischten Gefühlen. So versteckt sein Hang zur Eitelkeit auch war, jedermann konnte ihn wahrnehmen. Mr. Etherege jedoch, der sich bekanntermaßen sowohl für Fragen der Moral als auch für menschliche Regungen wenig interessierte, beurteilte seine Mitmenschen ausschließlich nach deren Eignung als Zuhörer seiner eigenen Ausführungen; und weil Somers aufgeschlossen und aufmerksam war, hielt er ihn für tadellos.

»Und wie«, fragte Mr. Etherege, »sieht es mit Liebe aus?« Dabei bezog er sich nicht auf jene Leidenschaft, die Leander den Tod brachte, sondern auf einen seiner älteren Kollegen.

Somers wirkte überrascht. »Wie es aussieht?«, fragte er. »Ich wusste gar nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Wie meinen Sie das?«

Offensichtlich war Mr. Etherege von dieser Antwort enttäuscht. Zusätzlich zu seinen übrigen Marotten fungierte er als eine Art zentraler Umschlagplatz für den Castrevenforder Klatsch. Auf unentrinnbare Art und Weise gelang es ihm, sich die intimsten Informationen über alles und jeden zu beschaffen, und er war stets bereit, sie weiterzugeben. Nun bekümmerte es ihn ein wenig, eine potentielle Quelle versiegen zu sehen. Denn wenn selbst Somers das Ungleichgewicht in Liebes Gefühlshaushalt nicht auffiel, würde kaum jemand anderes etwas Erhellendes darüber zu sagen haben. Liebe war in Merfield Somers’ Hausvorsteher gewesen, und er hatte Somers in hohem Maße als seinen Schützling betrachtet. Mr. Etherege seufzte.