Lieber Schwiegervater - Tibor Déry - E-Book

Lieber Schwiegervater E-Book

Tibor Déry

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Beschreibung

Seinem Ich-Erzähler gibt Tibor Déry zum Teil offensichtlich eigene Züge. Dies gibt ihm die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen, persönliche wie allgemeine, ironisch distanziert zu einem Roman zu verknüpfen. Schwierigkeiten beim Schreiben und gewisse Schwierigkeiten eines alt gewordenen Mannes jungen, schönen Frauen gegenüber, vor allem aber mit ihnen, gehen fast nahtlos ineinander über: Die gedankliche Konzentration ist dem Erzähler mit den Jahren ebenso schwieriger geworden wie die körperliche – so spiegelt sich in der Erzählung das Erotische im Ironischen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 200

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Tibor Déry

Lieber Schwiegervater

Roman

Aus dem Ungarischen von Hildegard Grosche

FISCHER Digital

Inhalt

In Budapest Ende der [...]

In Budapest Ende der neunziger Jahre geboren, müßte ich heute, wenn meine Rechnung aufgeht, den siebzig näher sein als den achtzig. Meine Familienpapiere, Geburtsurkunde und Taufschein, sind mir während der Belagerung Budapests unter den Trümmern des zerbombten Hauses abhanden gekommen. Duplikate zu beschaffen, dazu, scheints, hatte ich während der vergangenen drei Jahrzehnte keine Zeit gefunden. Doch wenn es darauf ankommt, kann ich mich trotzdem an den Mädchennamen meiner Mutter und an den meiner Frau erinnern; meinen eigenen könnte ich – selbst wenn ich es wollte – schon wegen der immer noch oft verlangten Autogramme nicht vergessen. Von meinen übrigen, das Familienregister betreffenden Erinnerungen wäre noch zu erwähnen, daß mein erstgeborener Sohn so um die Mitte der vierziger Jahre, im zarten Kindesalter, nach Gottes unerforschlichem Ratschluß, an irgendeiner Krankheit gestorben ist. Etwa ein Jahrzehnt später folgte ihm meine Frau; sie verschied nach der Geburt meines zweiten Sohnes Tamás im Kindbett. Seither, seit siebzehn Jahren also, leben wir allein, mein Sohn und ich. Seit siebzehn, es könnten aber genauso gut achtzehn oder neunzehn Jahre sein, was macht das schon aus!

Da mich die Natur nunmal mit diesem ausgezeichneten Gedächtnis bedacht hat, muß ich es auch zu nutzen suchen. Darum diese Aufzeichnungen, die freilich nur zu meinem eigenen Gebrauch bestimmt sind und die ich deshalb vor meinem Tode eigenhändig zu vernichten gedenke. Da der Verdacht nicht abzuweisen ist, daß ich die nötige Seelenkraft dazu nicht aufbringen werde, bitte ich heute schon darum, daß derjenige, der sie findet, sich meiner erbarmen und sie verbrennen möge. Leider läßt sich heute schon voraussagen, daß sich auch dieser Wunsch nicht erfüllen wird, denn wer hätte schon die Unverfrorenheit, auch nur eine einzige Zeile des berühmten Dichters zu vernichten? Mein Sohn Tamás? Er, dem jedes meiner Worte heilig ist und der sich nicht einmal im Traume über mich lustig zu machen wagte? Und im übrigen, wo wird er sein, wenn ich sterbe? An jenem trostlosen Morgen – denn es wird im Morgengrauen geschehen – wenn ich mit einer letzten Grimasse der Welt Adieu sage.

Wo er sein wird? In Katis Bett natürlich, verdammt nochmal! An meinem wird nur noch ein getreuer Philosophaster wachen, vielleicht ihrer zwei oder drei, einer anhänglicher als der andere, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen Reporter, der auf dem Heimweg vom Klub bei mir hereinschauen wird mit gezücktem Kugelschreiber, um mein letztes Röcheln zu notieren und es vor Redaktionsschluß dem Umbruchredakteur abzuliefern. Und meine letzten Worte? Soll ich sie der Inspiration des Augenblicks überlassen oder soll ich sie vorsichtshalber vorher ausarbeiten? Obgleich mein Erinnerungsvermögen noch ausgezeichnet ist, könnte es sein, daß ich in der Bedrängnis des letzten Augenblicks den Text vergesse, wenn ich ihn nicht auf einem Zettel unter meinem Kopfkissen habe. Und wenn ich mich in meinem Privatleben auch nicht scheue, aus der Reihe zu tanzen, sind doch, tritt man ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, gewisse Anstandsregeln zu beachten, so auch das Recht und die Pflicht zum letzten Wort.

Da ich mich aber eines ausgezeichneten Gesundheitszustandes erfreue, werde ich voraussichtlich noch zehn Jahre lang Zeit haben, mich mit dieser Frage herumzuschlagen.

Eine Türkentaube fliegt hoch über den Nußbäumen meines Gartens, eine zweite folgt ihr, bis beide mit langsamen Flügelschlägen, die vermutlich in der sonnendurchfluteten Luft ähnlich Fußspuren eine Fährte hinterlassen, über dem Dach der Nachbarvilla entschwinden. Könnte ich doch auch so geräuschlos in den mir bestimmten himmlischen oder höllischen Gefilden verschwinden!

Wir leben also seit siebzehn oder achtzehn, vielleicht auch seit neunzehn Jahren allein, mein Sohn Tamás und ich. Ich habe kein gutes Zahlengedächtnis, deshalb weiß ich auch nicht so genau, wie alt ich bin, es ist aber auch nicht weiter von Belang. Ich kontrolliere mein Alter an der Zahl meiner Zähne: meine vorderen und seitlichen Schneidezähne sind mit Ausnahme eines einzigen unteren Schneidezahns alle erhalten, von den Backenzähnen mußten zwar vier oder fünf gezogen werden, aber die Lücken sind nur zu sehen, wenn ich aus vollem Halse lache. Das geschieht allerdings nur selten und dann ausschließlich aus Schadenfreude. Und da ich im Grunde genommen ein gutmütiger Mensch bin, geschieht das meist nur bei harmlosen Anlässen, z.B. im Winter, wenn ich eines Alten mit tropfender Nase ansichtig werde. Ich beobachte die Flüssigkeit, die aus dem Rachen langsam über die Nasenscheidewand aufsteigt, sich an deren unterem Ende verdichtet, aus den Nasenlöchern austritt, um eine Weile an der Nasenspitze zu baumeln. Wie lange wird das gutgehen, frage ich mich? Bis der Tropfen dann endlich sein Ziel erreicht hat, und er birnenförmig und glänzend auf den Mantelkragen oder die Weste des Alten herunterfällt, überkommt mich ein unwiderstehliches Lachen. Und wenn der Alte mich mit seinem stumpfen, einfältigen Blick betrachtet, ohne zu verstehen, was mich zu diesem Heiterkeitsausbruch verleitet und wenn dann von neuem ein Tropfen …

Woraus zu ersehen ist, daß meine Nase zwar heute noch nicht tropft, daß ich aber fürchte, daß sie früher oder später, sagen wir so in zehn Jahren, ebenfalls diesem Laster anheimfallen wird.

Wie zum Beispiel die meines Kollegen Ferencz Galgómácsai, des berühmten Dichters, dessen Nase, obwohl er wesentlich jünger ist als ich – Gott schenke ihm ein Alter von Minus hundertzwanzig Jahren – im Winter sogar im geheizten Zimmer tropft.

Unlängst treffe ich ihn an einem dieser kalten Wintertage auf dem Freiheitsplatz. Im eleganten kurzen Gehpelz, engen Velourlederhosen, einen hellblauen, breiten Schal um den Hals, die Pelzmütze tief über die Ohren gezogen. Die klapprige Figur nach der neuesten Mode gekleidet, um nur ja nicht hinter den jugendlichen Vorbildern zurückzustehen.

Ich werfe einen Blick auf seine lange Nase. Dann schaue ich empor zum Himmel. Den Kopf nach hinten gebogen, folgt er meinem Blick. Ich nehme seine Nasenlöcher aufs Korn. Das linke fängt an zu nässen.

»Was siehst du?«

»Eine Taube«, sage ich gedankenverloren. »Ich liebe Tauben. Übrigens, hast du Károlys Roman …«

»Habe ich«, sagt er. »Schwach.«

»Na ja«, sage ich.

Der Tropfen verdichtet sich, das fesselt mein Interesse, so daß ich mich nicht auf die Schwächen von Károlys Roman zu konzentrieren vermag. Übrigens habe ich ihn auch gar nicht gelesen. Voller Bestürzung stelle ich fest, daß die Hand meines Freundes Ferencz Galgómácsai sich in Richtung seiner Tasche, das heißt des darin befindlichen Taschentuchs, bewegt. Seine Hand zittert. Hat er die Parkinsonsche? Oder ist es nur ein Alterstremor? Das zu entscheiden, habe ich jetzt keine Lust. Ich muß seine Aufmerksamkeit ablenken.

»Sieh mal, dort oben!« sage ich, den Himmel betrachtend.

»Noch eine Taube?«

»Jedenfalls keine Eule«, sage ich. »Einer Eule bin ich zum letzten Mal in den Romanen der Schwestern Brontë begegnet.«

»Ich in Purkersdorf, im Glockenturm der St. Hieronymuskirche,« sagt mein Kollege, »einem sehr alten, ausgemergelten Exemplar. Aber ihre Augen leuchteten wie Karbunkelsteine.«

Karbunkelsteine? Lächerlich! Welch altmodischer Ausdruck!

»Ja, wie Kar-bun-kel-steine« wiederholt er skandierend. »Wann das gewesen ist? Vor einem Vierteljahrhundert, mein Lieber! Präziser, im Sommer 1947, im August.«

Er läßt sein Gedächtnis funkeln wie einen Karbunkel.

»Im August 1947 kann es nicht gewesen sein«, sage ich aufs Geratewohl, um Zeit zu gewinnen, »zu jener Zeit hat man noch keine Pässe für den Westen bekommen.«

»Ich schon«, sagt er mit strafendem Blick. Er neigt den Kopf und seine Hand tastet wieder nach der Manteltasche. Als wäre ich verhext, ich kann meine Augen nicht von seiner Nase nehmen. Glücklicherweise siegt die Anziehungskraft der Erde rechtzeitig. Der birnenförmige Tropfen löst sich aus dem Nasenloch, und schon glitzert er auf seinem Mantelaufschlag. Ich grinse … was heißt! Ich wiehere.

»Warum lachst du?«

»Nur so.«

Es ist doch eine lange Zeit, seit ich mit Tamás mein Leben verbringe, und mit meinen spärlicher werdenden, allmählich verkalkenden Erinnerungen, begleitet von seiner reichlich geräuschvollen Gegenwart. Und wenn es Tamás nicht gäbe? Wäre es ganz allein vielleicht besser gegangen? Allein und nur auf die Hoffnung bauend, daß, wenn es soweit ist, eine barmherzige fremde Hand mir Mund und Nase putzen wird?

Auf meinen Sohn bin ich vorläufig noch nicht angewiesen, ich wünsche mir dies auch gar nicht, aber er dient mir als Kontrolle für meinen körperlichen und geistigen Verfall. Solange ich seine alltäglichen und törichten Fragen und Nöte verstehe, ist es mir ein Beweis, daß ich noch bei Vernunft bin und mich nur langsam wie eine Spinne an ihrem Faden hinunterlasse in die schauerlichen Tiefen meiner zukünftigen Hölle. Im übrigen will mir scheinen, daß sich Tamás zu einem gesunden, etwas kleinlichen und wichtigtuerischen Durchschnittsmenschen entwickeln wird, mit alltäglichen Wünschen innerhalb alltäglicher Grenzen. Seine Ordnungsliebe und seine geradezu bestürzende Vertrauensseligkeit lassen diesen Schluß zu. Die Schwärmerei, mit der er an mir hängt, wird sich allmählich geben, und wenn er im Laufe der Zeit dahinterkommen wird, wieviel ich in meinem Leben, vor allem in meiner Jugend, als ich es noch nötig hatte, mir vorgemacht habe, – wenn er also dies wird entdeckt haben, wird sich sein Naturell noch normaler entwickeln. Ich glaube auch, ihm ein langes Leben voraussagen zu können, aber wahrscheinlich doch kein so langes, wie ich es zu erwarten habe.

Ich bin heute noch gerührt, wenn ich daran denke, wie pflichtbewußt ich mich dem Säugling gegenüber verhalten habe, nach dem Tode seiner Mutter und auch noch später, als das Kind gehen lernte. Als hätte ich alle Versäumnisse meines Lebens wiedergutmachen wollen, versuchte ich einem Menschen, diesem Kind, Schadenersatz zu leisten für all das, was ich vermutlich an der Menschheit gefehlt hatte. Jeden Tag, den Gott werden ließ, pünktlich abends um sieben – sei es, daß ich das Bett meiner Geliebten, sei es, daß ich das Kartenspiel verlassen mußte – erschien ich bei dem abendlichen Bad des Kleinen, wartete, bis er ins Bett gebracht wurde, damit er mit dem Anblick seines über ihn gebeugten Vaters in seine von Bauchgrimmen begleiteten Träume hinüberschlummere.

Um der Langeweile zu entgehen, schickte ich manchmal die Amme fort und badete selber das Kind. Meine Hand unter seinem Nacken, schaukelte ich vorsichtig seinen Kopf an der Oberfläche des Wassers, während ich mit einigem Widerwillen dieses strampelnde, rosarote Würmchen betrachtete und seinem Gequietsche lauschte, das mich mit seiner Klangfarbe an die winzigen Schreie seiner Mutter erinnerte, wenn sie sich nächtens in meinem Bett um ihren Orgasmus abmühte. Anfangs amüsierte mich diese Erinnerung, aber nach einiger Zeit mied ich das Badezimmer und nahm nur noch an der Wiege des Kindes, später an seinem Bett, meinen Platz als Vater und Familienoberhaupt ein.

Er war schon etwas größer, als ich eines Abends an seinem Bett sitzend und nach den Zügen seiner Mutter in dem Gesicht des Kindes forschend, feststellte, daß sich die leichte Sommerdecke über seinen Leisten anfing zu heben. Ich muß gestehen, daß ich überrascht war. So sehr, daß es einige Minuten dauerte, bis ich aufstand und aus dem Zimmer ging.

Und hinein in das einstige Schlafzimmer meiner Frau, wo ich mich vor dem großen Spiegel, der bis zum Boden reichte, in Augenschein nahm. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Atmen des Kindes.

Das ist das Ende, sagte ich voller Bestürzung zu mir. Er ist auf dem Wege, meine Nachfolge anzutreten. Das ist wirklich das Ende. Bisher hat die Welt mir gehört, jetzt meldet er seinen Anspruch an. Das heißt also, daß ich alt werde. Wie soll das enden?

Ich versuchte, mein Alter nachzurechnen. Entmutigt ließ ich ab davon, die Jahre schienen meinen Verdacht zu bestätigen. Ich betrachtete mein Ebenbild im Spiegel. Der Anblick jedoch schien dem Verdacht zu widersprechen. Mein biologisches Alter war allem Anschein nach geringer als die Zahl meiner Jahre. Ich war immer noch gut anderthalb Kopf größer als der Durchschnitt, ich war schlank, meine Haltung noch immer die des jungen Husaren-Leutnants, der ich einmal gewesen bin, meine Haare, obwohl lang und schlohweiß, waren immer noch dicht, meine Haut war glatt, meine Stirnfalten zeugten von meiner Arbeit, nicht von meinem Alter, und was meinen Gang betraf, den ich während meines unruhigen Auf- und Abgehens vor dem Spiegel zu betrachten Gelegenheit hatte, auch er war noch von elastischer Geschmeidigkeit. Ich erinnere mich der Zeiten, da meine Frau – die Ärmste – jedesmal zusammenzuckte, wenn ich bei ihr eintrat, so geschmeidig und lautlos näherten sich meine Schritte der Tür. Auch meine Stimme war noch jugendlich und schneidend, wie das Schwingen eines Säbels, – inzwischen ist sie schartiger geworden.

Ich stand also vor dem Spiegel. Jetzt begriff ich, was es heißt: zu Boden geschleudert und meuchlings erdolcht. Ich zitterte vor Empörung, und ob ichs eingestehe oder nicht, vor Todesfurcht. Ich betrachtete mein langes, weißes Haar im Spiegel, das war keine Täuschung. Auch die Krähenfüße unter meinen Augen, mochten sie noch so unauffällig sein. Die erste Erektion meines Sohnes: eine rote Fahne, Gefahr anzeigend. Achtung: Abgrund! Eine auf Rot gestellte Weiche: Halt gebietend. Dieses winzige männliche Glied hatte sich aufgerichtet vor mir wie ein Bergmassiv, wie eine Felswand und verbarrikadierte mir vor meinen lautlosen, elastischen Schritten die unendlich geglaubte Zukunft. In diesem Augenblick fühlte ich zum ersten Mal, daß ich sterben werde. Bisher hatte ich nicht daran geglaubt, Gott ist mein Zeuge. Wie der Ausbruch eines Vulkans hatte dieser winzige Pimmel meine Zukunft als Individuum ausgelöscht.

Es fehlte nicht viel, und ich hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. Seelische Aufregungen hatten mich nie aus der Ruhe bringen können, ein zorniger Seufzer, Zähneknirschen oder ein Fausthieb auf den Tisch, das war das Einzige, womit sich meine Natur Luft machte. Jetzt aber zitterten mir die Beine. Ich zog mir einen Stuhl vor den Spiegel und setzte mich. Ich betrachtete mich von neuem. Äußerlich war keine Veränderung festzustellen. Aber jene kleine Rakete, die sich unter der Decke meines Sohnes aufzurichten begann und die früher oder später schußbereit sein würde, hatte meine ganze Innenwelt auf den Kopf gestellt: jetzt hatte ich erkannt und begriffen, das Neue ist immer der Tod des Alten. Das war das Ende. Ich war so erschüttert von dieser Erkenntnis, daß ich an diesem Abend nicht mehr aus dem Hause ging, ich hätte die Gesellschaft der Menschen nicht ertragen.

Mir blieb nur die Hoffnung, daß ich die Stunde meines physischen Todes mit größerer Gelassenheit würde hinnehmen können. Freilich, bis dahin würden noch Jahre vergehen.

Der Schicksalsschlag hatte mir an diesem Abend fast den Humor geraubt. Ich hatte mich ernst genommen und damit auch die Welt, in der ich lebe. Zum Glück trat Zsofi, meine Haushälterin, ins Zimmer und fragte, ob sie mir ein Abendessen bereiten solle, da ich offenbar nicht ausgehen wolle.

»Auch das noch«, sagte ich.

»Soll ich also?«

»Nein. Sagen Sie, Zsofi, was verdienen Sie eigentlich pro Mahlzeit an mir?«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Einfach so, im Großen und Ganzen … Im Schnitt?«

»Ich verstehe Sie nicht, junger Herr.«

Sie nannte mich immer noch »junger Herr«, trotz meiner weißen Haare.

»Ich habe gefragt, wieviel Sie mir pro Mahlzeit abknöpfen,« beharrte ich. »Oder machen Sie das in einer Monatspauschale ab?«

Ungerührt hielt ich ihrem protestierenden Mund und ihren abwehrend erhobenen, zitternden Händen stand. Mir war nicht nach Lachen zumute.

»Wieviel haben Sie inzwischen beiseite gebracht und auf die Sparkasse getragen?«, fragte ich und sah ihr streng in die Augen. Wann würde sie endlich losheulen? Aber an diesem Abend wollte auch gar nichts gelingen. Die alte Frau ließ langsam ihre Hände sinken, lachte plötzlich heiser, schlurfte alt und massig auf mich zu und drückte mir einen Kuß auf den Scheitel.

»Aber junger Herr, das sind schlechte Scherze, die passen nicht zu Ihrem Alter. Wenn ich Sie nicht kennen würde, weiß Gott wie lange schon … Statt mit mir Ihren Spaß zu treiben, sollten Sie sich lieber um die Erziehung dieses verdammten Bengels kümmern …«

»Was hat er denn schon wieder angestellt?«

»Ah … Ich geniere mich, es zu erzählen.«

»Also?«

»Er hat doch heute Nachmittag dem Mädchen, das die Hemden des jungen Herrn aus der Reinigung bringt, wahrhaftig den Rock hochgehoben. Die Person kommt mir nicht wieder über die Schwelle.«

»Lassen Sie sie ruhig kommen – sagte ich, – der Junge muß es schließlich lernen.«

»Der soll lieber was anderes lernen, sonst soll ihn der Teufel holen.«

»Zsófi«, sagte ich, »haben Sie noch nicht beobachtet, was sich abends, wenn Sie den Jungen zu Bett gebracht haben, unter seiner Decke abspielt?«

Zsófi schwieg. – »Lassen Sie mich an meine Arbeit, junger Herr«, sagte sie nach einer Weile, und Röte überflutete ihre runzlige Haut. – »Und reden Sie mir nicht von solchen Schweinereien!«

»Ich rede keineswegs von Schweinereien, Zsófi«, sagte ich, »aber ich bin sicher, daß sich unter jener Decke eine ganz verdammte Sauerei vorbereitet. Gibt es überhaupt eine größere Sauerei, Zsófi, als den Tod? Unter jener Decke wird jeden Abend mit dem Pimmel meines kleinen Jungen mein Todesurteil geschrieben. Dieser Pimmel wächst und wächst, um mich ins Grab zu bringen. Dieser kleine Pimmel wird für mich zur Posaune des letzten Gerichts werden.«

»Soll ich ein warmes Nachtessen bereiten, junger Herr?« fragte die alte Frau. »Oder begnügen Sie sich mit Tee, Butter, einer Dose Sardinen und was ich sonst noch habe?«

»Wollen Sie mich überleben, Mütterchen?«, fragte ich. »Denn unter jener Decke wird auch über Sie das Urteil gefällt. Wie lange wollen Sie sich noch plagen mit Ihren geschwollenen Füßen, Ihren kranken Herzklappen, Ihren schmerzenden Hüften? Warum gehen Sie nicht endlich in Pension?«

»Das wäre mein Tod«, sagte Zsófi. »Sie müssens schon aushalten, daß ich noch eine Weile bei Ihnen bleibe.«

Was mag einen Menschen dazu treiben, seine eigenen Schmerzen dadurch zu vergrößern, daß er seinem Nächsten Wunden zufügt? Gereicht es ihm zur Befriedigung, daß auch der Andere leidet, wenn er sich nicht wohlfühlt in seiner Haut? Sollte Selbstsucht so grenzenlos sein? Ist es so schwer zu ertragen, daß der Nachbar bei besseren Kräften, daß er gesünder, jünger, ja, vor allem jünger ist? Das Bewußtsein unserer Schwäche scheint der Nährboden für den Neid, ähnlich dem Unrat, in dem Ungeziefer gedeiht. Es ist erst einige Jahre her, daß dieses Verfallsymptom sich ab und zu bei mir bemerkbar macht, und daß der Zwillingsbruder des Neides, die Schadenfreude, sich immer häufiger meldet, aber manchesmal bin ich wahrhaftig erschrocken über mein gehässiges Lachen, wenn ich einem alten Mann mit einer tropfenden Nase begegne. Selbst damals, als ich mit Tamás’s Pimmel beschäftigt war, habe ich mit einem gewissen Vergnügen registriert, wie Zsófi dick und gebeugt aus dem Zimmer schlurfte: die werde ich mit Gewißheit überleben, sagte ich mir zum Trost. Fast wollte mich Rührung überkommen. Es macht nichts, daß sie stiehlt, dachte ich – denn ich war überzeugt, daß sie es tat –, sie wird mir das Geld vermachen, da sie keine lebenden Verwandten hat. Je mehr sie klaut, um so mehr wird sie mir hinterlassen. Denn zu dieser Zeit vermeinte ich schon einige Anzeichen von Geiz in der reichen Skala meines Charakters zu entdecken.

Und wenn Sie’s mir doch nicht vermachen wird? Sondern dem Waisenhaus von Kiskunmajsa oder dem Orden der Barmherzigen Schwestern der Hl. Melanie von Bogotá? Da gibts Schlimmeres! Warum sollte nicht auch ich nicht auch beitragen zur Hebung der allgemeinen Moral, vor allem, wenn es nicht um mein Geld geht. Was macht es schon aus, daß ich nicht an den Fortschritt glaube, möglicherweise tue ich, ohne zu glauben, auch nichts anderes als der Gläubige tut. Wer dürfte mich der Heuchelei bezichtigen, wenn ich meine edle Tat mit einem milden Lächeln begleite?

Mein Gott, wie lang ist das her, daß ich – wie es so schön heißt – für meine Ideale auf die Barrikaden gegangen wäre. Nicht besonders gerne, aber ich hätte es getan. Nicht nur, daß ich mein Geld geopfert hätte – im Augenblick ging es ja um Zsófis Geld –, ich hätte sogar meine gesamte irdische Habe, so ich eine gehabt hätte, für die edlen Ziele, die ich mir mit Bedacht erwählt hatte, hergegeben. Nicht nur »vitam et sanguinem«, sondern auch »avenam«.

Was eigentlich wird aus einem Menschen am Ende eines langen Lebens, frage ich mich mit Bestürzung.

Seine Ideale? Sieh sie dir doch einmal an. Wozu sind sie gut? Um die Menschheit bis aufs Blut zu peinigen. Ein Alibi für die maßlose Gier nach Macht. Wenn es keine andere Nahrung gäbe auf Erden als Menschenfleisch und kein anderes Getränk als Menschenblut, die Zahl der im Dienst der sogenannten Ideale Hingeschlachteten würde sie dennoch übersteigen. Wandern noch die hehren Ideale durch Stadt und Land in demütiger Haltung und mit frommem Gesicht, und wer sich ihnen anschließt, wird unversehens früher oder später zum Mörder oder Opfer. Hehre Ideale sind die besten Zuhälter des Sadismus. Die hehren Ideale …

Wem erzähle ich das? Wen will ich eigentlich überzeugen mit diesen Zeilen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind …? Etwa mich? Warum versuche ich mich von etwas zu überzeugen, wovon ich schon sowieso überzeugt bin? Und wenn der Wert der Ideale einzig darin bestünde, das menschliche Geschlecht zu verschönen und zu verhindern, daß wir uns in unserer nackten Häßlichkeit erblicken, wäre das nicht schon genug? Nehmen wir zum Beispiel mich – wie stünde ich da, wenn ich meinen wachsenden Geiz vor den Menschen nicht zu verbergen vermöchte?

Wie wunderbar leichtsinnig bin ich früher gewesen. Wie sorglos mit dem, was ich besaß, sorgloser noch mit dem, was ich nicht besaß. Ich hatte Reserven für hundert Leben in meinen Adern, ich verteilte meine Kräfte und mein Geld an Gerechte und Ungerechte, ich warf mir die Zukunft über die Schultern wie einen warmen, unverwüstlichen Mantel. Und siehe, unversehens bin ich geizig geworden, horribile dictu, sogar was das Blut der Anderen angeht. Von mir ganz zu schweigen. Selbst Zsófi neide ich die paar Kreuzer, die sie vom Haushaltsgelt beiseitebringt.

Seit wann ist das so?

Wenn ich es richtig sehe, hat sich meine Neigung zum Geiz entwickelt seit … Genauer gesagt: seit ich angefangen habe, mich zu beobachten und Bestandsaufnahme zu machen, seit sich Tamás’s Manneskraft gegen mich erhoben hatte. Gegen mich? War das richtig?

Zwei oder drei Tage später, als ich mich wenigstens äußerlich etwas beruhigt hatte, machte ich mich auf zu meinem Freund, dem Arzt Dr. Sándor Sándor, dessen Sohn etwa gleichaltrig war mit Tamás. Er ist kein Ausbund an Klugheit, aber ich mag ihn gerade wegen seiner Durchschnittlichkeit. Deshalb wußte er die Ehre meines Besuches auch nicht entsprechend zu würdigen.

»Was führt dich zu uns?«

»Nun, weißt du … Ich möchte dich etwas fragen, Sándor.«

»Nur los. Soll ich die Frau hinausschicken?«

Seine Frau ist jung und schön, mit mandelförmigen, tiefschwarzen Augen über den vorspringenden, ein wenig tatarischen Backenknochen. Mit ihrer schlanken Taille, ihrem wiegenden Gang hätte sie auch höheren Ansprüchen genügt. Weiß der Teufel, wie Sándor an sie gekommen war!

»Aber nein! Ich will etwas über deinen Sohn wissen. Er ist ungefähr so alt wie Tamás …«

»Er war acht im Oktober. Und Tamás?«

»Acht? Kann sein.«

»Weißt du nicht, wie alt er ist?«

»Ich weiß nicht einmal, wie alt ich bin.«

»Flóris … Flóris!« sagte die Frau und drohte mir mit dem Finger. »Sie kokettieren mit Ihrem Alter.«

»Möglich«, sagte ich kurz, weil mich diese vulgäre Geste mit dem Zeigefinger, die so gar nicht zu ihrer edlen Erscheinung paßte, verdroß. »Sag einmal Sándor, hat dein Sohn schon eine Erektion gehabt?«

»Was sagst du? Eine was? Natürlich hat er eine gehabt.«

Die Frau errötete. Jetzt verzieh ich ihr die dumme kleine Bewegung von vorhin, weil sie so natürlich und anmutig errötete.

»Und du? Wie hast du darauf reagiert?«

»Wie soll ich schon darauf reagiert haben? Ich habe mich gefreut. Ein gesunder kleiner Bursche.«

Was konnte ich schon anderes von einem Dummkopf erwarten?

»Du Esel«, sagte ich. »Hat es dich nicht daran erinnert, daß du sterben wirst?«

»Blödsinn! Dann hätte mich schließlich schon seine Geburt daran erinnern müssen, ich war doch schon über vierzig damals.«

»Auch nicht, daß du impotent wirst?«

»Auch nicht«, sagte Sándor prustend vor Lachen.

»Dafür wird schon meine Frau sorgen.«

Ich stand auf und verabschiedete mich. Ich hatte keine Lust, es darauf ankommen zu lassen, daß die jetzt unvermeidlich scheinenden Männerwitze mir endgültig die Laune verdürben. Sie wunderten sich auch nicht besonders über meinen plötzlichen Aufbruch, hatte ich sie doch längst daran gewöhnt, die Zunft der Schriftsteller für verrückt zu halten, das erleichterte das Auskommen für beide Teile.