Herr G. A. in X - Tibor Déry - E-Book

Herr G. A. in X E-Book

Tibor Déry

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Beschreibung

Herr G. A., ein Jugendfreund des Autors, hat die Hauptstadt eines bislang unbekannten Landes, X, aufgesucht, um das Leben der Leute dort zu studieren. Seine Erlebnisse hält er in einem genauen Reisebericht fest. G. A. wird in jener Welt, die alle normalen Lebensgewohnheiten auf den Kopf zu stellen scheint, nicht heimisch. Sein Versuch, die Bürger von X mit den Vorzügen westlicher Zivilisation zu locken und für eine gemeinsame Reise nach Europa zu begeistern, hat keinen Erfolg. Selbst die Liebe zwischen G. A. und dem Mädchen Elisabeth ist nicht stark genug, um beide Welten einander nahe zu bringen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 776

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Tibor Déry

Herr G. A. in X

Roman

Aus dem Ungarischen von Eva Vajda und Stephan Vajda

FISCHER Digital

Inhalt

Ich übergebe dem Publikum [...]123456789101112131415161718192021222324

Ich übergebe dem Publikum ein Buch, dessen Manuskript rund zwanzig Jahre in meiner Schreibtischlade geruht hat. Der Verfasser, G.A., mein Freund und Schulkollege aus dem Gymnasium in der Marko-Gasse zu Budapest, ließ mir das Manuskript mit dem Wunsch zukommen, daß ich es nach beendeter Lektüre vernichten solle. Warum ich seinem Verlangen nicht Genüge tat, wird der Leser sicher verstehen, sobald er das Buch zu Ende gelesen hat. Mein Freund G.A. ist vermutlich schon aus den Reihen der Lebenden geschieden, und so habe ich seine Vorwürfe nicht zu befürchten, andererseits werden vielleicht einige Leser des Buches die heiteren, unterhaltsamen Minuten, die das Resultat meiner Untreue sind, dankbar genießen. Meine Aufgabe ist lediglich, den Autor mit einigen Worten vorzustellen und zu erzählen, wie das Manuskript zu mir gelangte.

G.A. war im Alter von vierzehn Jahren von Debrecen nach Budapest gekommen, in die V. Klasse des Gymnasiums in der Marko-Gasse. Sein Vater war ein armer Steinmetzmeister, der seinem ältesten Sohn den Schulbesuch nicht hätte ermöglichen können, hätten nicht Lehrer und Direktor der Volksschule dem blitzgescheiten und begabten Kind hilfreich zur Seite gestanden; sie erwirkten für G.A. den Erlaß des Schulgeldes, zuerst im Debrecener, dann im Budapester Gymnasium. Dort lernten wir einander kennen, aber Freundschaft schlossen wir erst drei Jahre später, in der VII. Klasse. G.A. ein wortkarger, verschlossener, mit niemandem befreundeter Bursche; ein Zufall – den zu erzählen hier zu weit führen würde – bewirkte, daß er mir einmal seine Hand entgegenstreckte, und von da an durchwanderten wir Arm in Arm einige schwärmerische Jugendjahre. Es war bezeichnend für seine Verschlossenheit, seine jungfräuliche, unbändige und eigensinnige Härte, daß wir schon im Dickicht unserer Freundschaft wandelten, als ich – wiederum durch einen Zufall – erfuhr, daß er damals eine Zeitlang Maler werden wollte: Er war noch Gymnasiast, als die Kunsthalle zwei seiner Ölgemälde annahm und ausstellte, Landschaftsbilder, deren eines die Hauptstadt ankaufte, ohne daß die Jury oder der zuständige Kulturrat eine Ahnung gehabt hätte, daß der Maler ein Schüler mit kurzen Hosen war. Aber G.A. hörte noch vor dem Abitur mit dem Malen auf, verbrannte alle seine Bilder, Zeichnungen und Entwürfe, und ich habe nie etwas davon gesehen.

Er war ein hochgewachsener, magerer Bursche, als ich ihn kennenlernte, sein Gesicht war schmal, mit großen, dunklen Augen, dünnen, spöttischen Lippen und einer hohen Stirn, die sich über der fein gemeißelten, ein wenig gebogenen Nase leicht runzelte. Die Haare auf seinem länglichen Schädel pflegte er mit der Maschine schneiden zu lassen. Er war überraschend kräftig. Lachen sah ich ihn nur, wenn wir zu zweit waren, und auch dann nur selten. Seine Mitschüler hatten offenkundig Angst vor ihm, obwohl er nie jemanden auch nur mit dem Finger angerührt hatte, aber schon sein bloßer Blick zog eine Mauer um sich, hinter die man weder mit Zutraulichkeit noch mit Derbheit dringen konnte. Wenn jedoch sein launisches Gemüt es wollte, konnte er die Menschen so bestechend anlächeln, fand er solch einfache und trotzdem entwaffnende Worte, strahlte aus den ernsten, jungen Augen so viel liebevolle Wärme, daß er jeden bezauberte – den er bezaubern wollte. Er hatte eine scharfe, rasche Auffassungsgabe und ein enormes Gedächtnis und sog die schwierigste Materie gleich bei erstem Lesen ein, obwohl die Themen des Unterrichts ihn im Grunde nicht interessierten. Was seinen großen länglichen Schädel mit der umwölkten Stirn wirklich interessierte? Jahrelang lebten wir in engster Vertrautheit, und trotzdem könnte ich das nicht beantworten. Sein Interesse wechselte unentwegt. Mit wahrhaft blutrünstiger Leidenschaft warf er sich auf die höhere Mathematik, um sie ein Jahr später enttäuscht beiseite zu schieben. In der VII. Klasse las er mit glühender Stirn die lateinischen und griechischen Autoren, dann wurden sie ihm langweilig, er warf sie in die Ecke. In der ungarischen Geschichte kannte er sich besser aus als sein Professor – der ihn schließlich gar nicht mehr aufrief –, aber er spürte offenbar kein Verlangen, dieses Gebiet selber zu erforschen. Seine Malerlaufbahn und daß er schließlich davor zurückschreckte, erwähnte ich bereits. Aber nicht nur in der Art, wie er die Welt entdeckte, war er launenhaft, er war es auch in seinen Gemütszuständen. Er konnte sich in einer furchterregenden Stille und Gleichgültigkeit verschließen und zu solchen Zeiten verbannte er auch mich aus seinem Leben. Er verschwand, ich sah ihn wochenlang nicht, er verbarg sich vor mir, obwohl wir sonst täglich zusammensteckten. In seinen Gefühlsäußerungen, in Liebe oder Zorn, war er übrigens noch wortkarger als gewöhnlich, aber auch ebenso unberechenbar; gegen manche Leute faßte er in deren Abwesenheit und ohne jeden ersichtlichen Grund einen derartigen Haß, daß er den Betreffenden keines Wortes mehr würdigte. Den aus seiner Seele quellenden, gefährlichen Zorn verrieten nur die sich plötzlich verengenden Augen und der zitternde Mund. Gelogen hat er nie, weder aus Interesse noch aus Taktgefühl, weder aus Angst noch aus Liebe. Vor der kleinsten Lüge, Übertreibung, Entstellung oder Verschleierung schauderte ihn, als ob seine empfindliche, stolze Reinheit dadurch unwiderruflich befleckt würde. Immer sprach er die Wahrheit, der Folgen ungeachtet. Er war bis zur Kleinlichkeit genau, fast pedantisch, wie das Messer eines Chirurgen. Diese beiden Eigenschaften machen, glaube ich, sein Buch wertvoll. Es ist Verlaß auf das, was er als Augenzeuge erzählt und aufschreibt. Und ich könnte über ein Buch oder eine Schrift nicht mehr und nichts Besseres sagen.

Er wohnte im VII. Bezirk, in der Dohány-Straße in einer Art Besenkammer, die ihm eine wohlhabende Kaufmannsfamilie von ihrer Fünf- oder Sechszimmerwohnung noch zu der Zeit, als er gerade Maler werden wollte, zum höheren Ruhme der Kunst überlassen hatte. Das einzige, kleine Fenster des Raumes ging auf den Lichthof, der eher Finsternis als Helle hereinließ; auch tagsüber mußte man Licht anzünden. Aus irgendeinem unverständlichen Grund heraus wurde das Fenster von einem dichtgeflochtenen Drahgitter bedeckt, wie Gefängnisfenster manchmal. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl standen in der stickigen, nach Kehricht riechenden Kammer, für einen Schrank blieb kein Platz; seine Sachen dürfe er im Schrank der Köchin, die zugleich Mädchen für alles war, im Dienstmädchenzimmer aufbewahren, hatte der Hausherr-Mäzen gesagt. G.A. machte keinen Gebrauch von dieser Vergünstigung. Seine wenige Wäsche verwahrte er im Bett unter seinem Kopfkissen, seine zweite Hose bügelte er unter der Matratze, seine Bücher lagerten in einer Ecke auf dem staubigen Boden. Volenti non fit injuria, könnte man sagen. Er wusch sich in der Küche unter dem Wasserhahn. Das Zimmer behielt er auch nach dem Abitur, als er schon Geld verdiente; zu jener Zeit zahlte er dafür zehn Kronen Miete. Man hätte das als einen Hang zur Kasteiung ansehen können, wenn Logik ein Schlüssel zu G.A.s Seele gewesen wäre. Doch seine Anhänglichkeit an dieses dunkle, übelriechende, spinnwebenüberzogene Zimmer scheint in einem ironischen Zusammenhang mit seinen späteren, amüsanten Erfahrungen zu stehen, die er in seinem Buch beschreibt, deshalb erscheint es mir notwendig, sie zu erwähnen.

Nach der Matura betrog er die Erwartungen seiner Professoren und Debrecener Protektoren, er schrieb sich nicht an der Universität ein, sondern, wie ein todkranker Mensch, der ein für allemal mit jedem höheren Streben, mit diesseitiger Erfüllung, gesellschaftlichem Glanz und sogar mit seinem Leben abgeschlossen hat, trat er sofort in das Budapester Zentralbüro der Ungarischen Hanf-Textil- und Jute-AG ein als Praktikant mit monatlich achtzig Kronen Gehalt. Warum will er vor sich selbst fliehen, fragte ich mich damals. Welche geistige Laufbahn er immer wählen würde, er könnte Weltruhm erringen, das war meine Überzeugung. Ist dies auch Kasteiung? Oder Hochmut? Und stellt er darum sein Licht unter den Scheffel, weil er den Menschen mit Verachtung begegnet? Doch solche Fluchtversuche bleiben meistens erfolglos.

Wider alles Erwarten blieb er Jahre hindurch ruhig in dem Büro sitzen als gewöhnlicher, unscheinbarer Angestellter, mit einem mittelmäßigen Gehalt. Auch damals trafen wir einander fast täglich, und ich konnte feststellen, daß er unter der Maske des Privatangestellten sich nicht im geringsten verändert hatte, seine glänzenden Fähigkeiten nicht abgenutzt waren. Vom Bürotisch weg rückte er als Soldat in den Ersten Weltkrieg ein, den er glücklich überstand. Er geriet in italienische Gefangenschaft, Ende 1920 kehrte er heim, von den Revolutionen und Konterrevolutionen zu Hause sah er nichts. Erneut nahm er die Stellung im Büro an. Unsere Wege trennten sich zu dieser Zeit, ich entzog mich der Horthy-Ära durch Emigration, er blieb in Budapest. Aber nach zwei Jahren, während derer wir in ständigem Briefwechsel standen, kam er eines Tages in mein Pariser Hotelzimmer in der Rue Campagne Première zu mir hereingeschneit. Damals verbrachten wir zum letzten Mal längere Zeit miteinander, und als ich ihm nach einem halben Jahr am Bahnhof Montparnasse Lebewohl sagte, war das – abgesehen von einem viel späteren, zehn Minuten dauernden Wiedersehen – ein Abschied für immer. Während dieses Pariser Halbjahres war er außergewöhnlich heiter, voll von Lebensfreude, von tatendurstiger Gesundheit, jugendlicher Neugier und angespanntem Arbeitseifer, für den er nur noch nicht das richtige Ziel gefunden hatte. Er wartete ab, beeilte sich nicht, er wollte seiner Sache sicher sein. Binnen zwei Monaten lernte er so gut Französisch, daß er das Kelemensche Kleine Handwörterbuch von A bis Z auswendig konnte. Er beobachtete alles aufmerksam, war entschlossen und hart, wirkte jedoch nicht mehr verkrampft. Dann fuhr er nach Afrika, nach Algier, von dort nach Marokko, dann nach Belgisch-Kongo. Zwischendurch bekam ich einmal auch aus London eine Nachricht von ihm. Über sein Leben wußte ich gar nichts; er schrieb fünfzeilige Briefe, eine Adresse gab er nicht an. »Morgen vielleicht ausführlicher«, schrieb er in jedem Brief, aber der morgige kam nicht. Seine letzte Nachricht war aus Südamerika, Rio de Janeiro, 1925 datiert.

Als ich aus der Emigration nach Budapest heimkehrte, suchte ich seine Familie, dann den Kaufmann in der Dohány-Gasse, bei dem er gewohnt hatte, auf, in der Hoffnung, daß G.A. vielleicht ebenfalls zurückgekommen sei; nirgends wußte man etwas über ihn. Meine Vorsprache beim polizeilichen Meldeamt blieb ergebnislos, ebenso ein Besuch in seinem ehemaligen Büro. Wo ich sonst noch nach ihm hätte forschen können, wußte ich nicht.

Sechs Jahre verstrichen. Eines Tages ging ich zum Haarschneiden in die Nador-Gasse zu meinem alten Friseur, bei dem ich vor der Emigration Kunde gewesen war. In der Zeit seiner Bürotätigkeit war G.A. auch hierhergekommen. Neben mir im Drehstuhl saß ein Herr mit schneeweißem Haar, der seinen ergrauten Bart abnehmen ließ. Wenn man mit sechzig oder siebzig Jahren einen Bart getragen hat, trennt man sich an seinem Lebensabend selten davon, offenbar deswegen wurde ich auf meinen Nachbarn aufmerksam. Als die Rasierklinge langsam sein Gesicht zum Vorschein brachte, blickte es mir überraschend jugendlich aus dem Spiegel entgegen, jugendlich, trotz der bitteren Falten, die seine Stirn furchten und sich zwischen Nasenflügeln und Mund tief ins Gesicht gegraben hatten. Seine Augen, die er während des Rasierens geschlossen hielt, waren eingesunken, die Schläfen eingefallen, das Gesicht verriet schwere seelische Müdigkeit. Es war das Gesicht eines interessanten, bedeutenden Menschen. Als der Friseur mit ihm fertig war, wandte er sich mir zu und reichte mir die Hand. »Servus«, sagte er, »da du mich sowieso erkannt hast!«

Ich war erschüttert. Er hatte sich geirrt, erst jetzt erkannte ich ihn an der Stimme. Er legte die Hand auf meine Schulter und lachte. Sein Lachen, das selten gehörte, baute im Nu die schönen Kulissen unserer Jugend wieder um uns auf. Zwanzig Jahre waren seit dem Gymnasium in der Marko-Gasse vergangen, für G.A. aber waren sie doppelt vergangen. Ich wiederhole: seine Haare waren schneeweiß. Ich sah ihn an, beinahe traten mir Tränen in die Augen. Er lachte mich an. »Stelle jetzt keine Fragen«, sagte er, »morgen komme ich zu dir.«

»Meine Adresse …«

»Weiß ich«, sagte er.

»Du weißt sie?«

Er lachte mich wieder an.

Er kam nicht. Statt seiner kam am dritten Tag mit der Post ein Paket, das Manuskript dieses Buches. Seitdem sind weitere zwanzig Jahre vergangen. G.A. habe ich nie wieder gesehen. Auch ich bin gealtert, vielleicht über Gebühr. Ich mag nicht mehr schreiben, es fällt mir schwer. Es kann sein, daß ich das Manuskript meines Freundes G.A. nur deshalb den Lesern übergebe, damit sie mich im Gedächtnis behalten.

Einige kurze Bemerkungen noch. Der historischen Ordnung halber möchte ich den Leser darauf hinweisen, daß das Manuskript im Jahre 1929 entstanden ist. Ich habe keinen Buchstaben daran geändert. Zwar ließe sich auch im Interesse der äußeren Schönheit manches verbessern, aber ich wollte um keinen Preis den Wahrheitsgehalt des Buches gefährden. Ohnehin liest sich das Buch leicht; vor allem wirkt es durch sein Thema und die Genauigkeit der Angaben, das heißt durch seine Objektivität. Ferner: der Autor spricht von sich und über seine Erlebnisse in der dritten Person; hier möchte ich den Leser an die mir so wohlbekannte Verschlossenheit des Autors erinnern. Sogar in diesem mir zugedachten Bericht will er den Anschein vermeiden, als spräche er von sich. Aber möglicherweise hatte er Gründe dafür, solche, die ihm selbst auch unbekannt waren? Eine Vermutung: vielleicht wollte er unbewußt sich nicht mit demjenigen identifizieren, dem die im Manuskript aufgezeichneten Ereignisse widerfahren sind. Übertrug er sie auf eine dritte Person, um sie leichter zu vergessen, sich ihrer Last zu entledigen? Wenn wir jemand anderem eine unserer bösen Erinnerungen erzählen, verlieren sie so viel an Gewicht, wie die Schadenfreude des Zuhörers zunimmt. Der lebendige G.A. schuf einen lediglich in der Phantasie existierenden G.A. – setzte anstelle von ›ich‹ ein ›er‹ – den der Autor unbefangener sehen, kühler beurteilen konnte, an dessen Erlebnissen und Empfindungen er nicht Schritt für Schritt zwangsläufig Anteil nehmen mußte. Sogar eine Unterschlagung wäre leichter einzugestehen, wenn man in der dritten Person darüber sprechen könnte. Ich beeile mich, den Leser zu beruhigen: G.A. hat nichts unterschlagen, er hat nichts begangen, was gegen unsere Moralbegriffe verstieße. Vielleicht möchte er lediglich – ich möchte es fast annehmen – all das ungeschehen machen, was ihm, dem Manuskript zufolge, zugestoßen ist? Umso mehr interessiert es uns.

Die ersten vier Seiten des Manuskriptes fehlen, sie wurden aus dem I. Heft herausgerissen. Die Fortsetzung läßt darauf schließen, daß der Autor hier die unmittelbare Vorgeschichte seiner Ankunft in der Stadt X, die Bahnfahrt, beschrieben hatte. Zweifellos wollte er alle Spuren vernichten, die zum Schauplatz der Ereignisse führen. Nur eines dürfen wir vermuten: wie aus der auf Seite 5 einsetzenden Beschreibung hervorgeht, war er von der letzten Bahnstation aus beinahe drei Wochen zu Fuß unterwegs, ehe er in X ankam; die Vermutung liegt nahe, daß wir uns nicht in Europa befinden. Das Manuskript nennt nur wenige Namen, und auch die sind Vornamen, meistens in der international üblichen Form, vermutlich erdachte Namen, ebenfalls, um die Spuren zu verwischen. Wahrscheinlich wollte er meinen Nachforschungen zuvorkommen. Hätte ich nachgeforscht? Ich würde es vielleicht heute noch tun, obgleich alt, krank, fast sechzig, wenn ich dazu die Möglichkeit hätte. Ich liebte ihn mehr als sonst jemanden auf der Welt, mich selber inbegriffen.

Hier der kurze Brief, der bei dem Manuskript lag.

Budapest, 3. August 1931

Lieber Tibor,

die beiliegenden Notizen habe ich für Dich gemacht; Du kannst daraus entnehmen, was seit unserer Trennung in Paris von meinem Leben erwähnenswert ist. Ich schrieb sie vor zwei Jahren, unmittelbar nachdem ich nach Budapest zurückgekehrt war, aber nach Beendigung des Manuskriptes entschied ich, daß es zu vernichten sei. Mit Dir wollte ich nicht zusammentreffen, zwei Jahre hindurch ist mir das auch gelungen. Die Hefte habe ich verbrannt. Ich wollte uns beide mit den Geistern unserer Jugend verschonen. Der Zufall entschied anders, einerseits führte er mich zum Friseur in die Nador-Gasse, wo ich mit Dir zusammentraf, in diesem einzigen Augenblick meines Budapester Aufenthaltes, der Dir die Möglichkeit gab, mich zu erkennen – denn morgen in aller Frühe fahre ich wieder weg –, andererseits habe ich während des Packens bemerkt, daß ich irrtümlich damals nicht die Dir zugedachten Hefte verbrannt habe, sondern andere, bedeutungslose Notizen.

Was Dir gehört, soll also Dein sein, es kommt zu Dir an meiner Statt, denn ich habe nicht mehr die Kraft dazu; andererseits möchte ich auch nicht, daß Du mich der Lieblosigkeit beschuldigst. Ich verabschiede mich von Dir mit meinen Notizen. Mein Wunsch ist jedoch, daß Du die I.–IV. numerierten Hefte vernichtest, nachdem Du sie gelesen hast; ich wünsche in niemandem als in Dir eine Erinnerung zu hinterlassen. Deine unverwüstliche Lebensfreude wird von dem Lesestoff nicht angegriffen werden, aber in fremde Hände darf er nicht gelangen.

Die Ereignisse beschrieb ich im großen und ganzen in der Reihenfolge, wie sie sich zutrugen. Sollte das mit dem Namen Elisabeth bezeichnete Mädchen nicht mehr leben, dann ist es möglich, daß ich noch einmal zurückkomme. Ich glaube aber nicht daran. Dort habe ich mich eingewöhnt, obwohl ich im Innersten davon überzeugt bin, daß es ehrenhafter ist, hier in unserer Welt zu lügen, als dort die Wahrheit zu sagen. Die mir noch verbliebene Kraft läßt mich den Spruch des erdachten höchsten Gerichtes begreifen: Sterben ist eine schwerere Sünde, als ehrlos zu leben. Doch meine Sinne fangen an, müde zu werden, und ich kreise langsam dem Zerfall entgegen. Hier zu leben freut mich nicht mehr. Nur ich könnte mich meiner erbarmen, aber ich erbarme mich nicht.

Also, lebe wohl! Es fällt mir schwer, Dich nie wiederzusehen.

Ich umarme Dich, G.A.

Seit Abfassung der obigen Einleitung habe ich mehr als ein Jahrzehnt, also insgesamt über dreißig Jahre, bis zur Herausgabe des Buches verstreichen lassen. Niemand soll mich der Eitelkeit bezichtigen.

Tibor Déry

Budapest, im Oktober 1963

1

Der Zug hatte sich einen Tag vor der Endstation nahezu geleert. Am letzten Nachmittag fuhr er ohne Aufenthalt, und als G.A. gegen Abend einige Stunden vor Ankunft wieder einmal durch die Wagen ging, sah er nur noch zwei Mitreisende in den schlecht beleuchteten, staubigen Abteilen, einen bäuerlich aussehenden, mageren Alten, und im letzten, rüttelnden Waggon eine dösende Greisin, die zum Schutz gegen den Staub das Gesicht mit einem großen, blauen, baumwollenen Sacktuch bedeckt hatte. Die Lokomotive zog nur noch sechs kurze Wagen, von den Hauptstrecken ausrangierte, schadhafte Wagen mit abgewetzten Sitzen, verstaubten Glühbirnen und zerbrochenen Fenstern. Es dunkelte früher, als der Jahreszeit nach zu erwarten gewesen wäre. Der Zug fuhr unter einem trüben, bleiernen Himmel dahin, der die Schwermut nährte und die Abenddämmerung beschleunigte. Die Endstation erreichten sie nachts.

Die drei Reisenden verbrachten die Nacht auf den Holzbänken des Warteraums. Im ersten Schimmer der Morgendämmerung wuchs ein kahler, achthundert bis tausend Meter hoher Berg einige Kilometer hinter dem Bahnhofsgebäude empor, auf der anderen Seite erstreckte sich eine reglose, stumme Ebene bis zum Horizont unter dem noch lichtlosen Himmel. G.A. ging längs der Schienen auf und ab und wartete darauf, daß der Stationsvorsteher aufwachen würde.

Der leere Zug stand noch vor dem Gebäude. Weit fort, in der Kurve einer zum Berg führenden, staubigen Landstraße, tauchten der alte Bauer und die Greisin auf, jeder mit einem weißen Bündel in der Hand; sie trotteten hintereinander, ihre Füße wirbelten kleine Staubwolken auf. Keiner der beiden hatte von G.A. Abschied genommen. Es war kalt, von der Ebene her wehte ein beißender, leichter, stetiger Wind.

Es war recht spät, als der Stationsvorsteher aus seiner Wohnung trat und in die Fahrdienstleitung ging. G.A. fragte ihn, wie er nach X gelangen könne. Der Stationsvorsteher sah G.A. an, gab aber keine Antwort. G.A. wiederholte seine Frage.

»Nach X?« fragte der Stationsvorsteher. »Das wird schwierig sein. Es gibt kein Verkehrsmittel, Sie können nur zu Fuß gehen.«

»Wie weit ist es von hier?«

»Wenn Sie tüchtig ausschreiten, können Sie in zwei Wochen dort sein«, sagte der Mann. »Aber unterwegs finden Sie keine Verpflegung. Es gibt nur wenige Siedlungen in jener Gegend und die liegen weit ab vom Weg. Und wo wollen Sie übernachten? Unter freiem Himmel?«

Im Laufe des Vormittags trieb der Stationsvorsteher einen Mann auf, der sich bereit erklärte, G.A. bis drei Tagereisen vor X auf der Achse zu befördern. Weiter könne er nicht mit ihm fahren, sagte er, denn er müsse an seinen Dienstort zurückkehren. Es war der Lokomotivführer, der den Zug zur Endstation gefahren hatte und erst in zehn Tagen die Rückreise antreten sollte. Einige Lebensmittel würde er auch besorgen, versprach er. Er war ein verdrossener, mürrischer Mann, dem man ansah, daß er unwillig und nur unter dem Druck der Langeweile diese Fahrt unternahm. Es wurde später Nachmittag, bis sie auf einem Karren aufbrachen. Als Zugtier diente ein winziger, hellgrauer Esel, dessen altes Fell handtellergroße, kahle Stellen aufwies. Unter dem Sitzbrett lag ein halbgefüllter Kartoffelsack; G.A.s Gepäck, eine kalblederne Handtasche und ein grüner Rucksack, wurde hinter dem Sitz verstaut. Sie fuhren vom Bahnhofsgebäude querfeldein über die weite Ebene, deren sandiger Boden, soweit das Auge reichte, von einem lockeren Teppich aus messerscharfen, langhalmigen grauen Steppengräsern bedeckt war; aus diesem trostlosem Gewebe hob sich hier und dort das unregelmäßige, launische Muster dichten Buschwerks hervor.

»Straßen gibt es keine?« fragte G.A.

»Nein«, sagte der Lokomotivführer. »Das Unkraut hat sie überwuchert.«

»Fährt denn hier niemand?«

Der Mann warf einen mürrischen Blick auf seinen Fahrgast. »Wozu sollte man hier fahren?«

»Seien Sie so freundlich und antworten Sie!« sagte G.A.

»Ich habe geantwortet, mein Herr«, sagte der Lokomotivführer.

»Der Herr beliebt nur, mich nicht zu verstehen. Wenn es keinen Grund gibt zu fahren, fährt man nicht.«

Eine dichte, gleichförmige, mattgraue Wolkendecke schob sich über die Ebene. Nirgends gab es helle Stellen, nach denen man sich hätte orientieren können. Der ständig geronnene Himmel, der das Sonnenlicht in seine milchig trübe Substanz oben einsog, um es nach unten verschmutzt ablaufen zu lassen, hatte G.A. schon während der langen Bahnfahrt bedrückt. Würde dieser Anblick ihn hinfort begleiten?

»Wie finden Sie sich ohne Straße zurecht?«

»Immer schnurgerade nach Westen, mein Herr«, sagte der Lokomotivführer. »Man kann sich nicht verirren. Die Sonne geht hinter dem Berg auf.«

G.A. war reizbar, ganz gegen seine Gewohnheit. »Und wenn wir morgen den Berg nicht mehr sehen?«

Seit sie unterwegs waren, hatte er noch keine Spur tierischen Lebens entdecken können, keine Eidechse, keine Fliege, weder Käfer noch Würmer. Das Gras krümmte sich unter den Rädern des Karrens, doch würde es sich gewiß in ein bis zwei Stunden abermals im kalten, gleichmäßigen Westwind wiegen. Der Weg wurde stellenweise durch breites, dichtes, stacheliges Gestrüpp versperrt, das sie umfahren mußten, weil es unpassierbar schien; bei solcher Gelegenheit hatten sie jeweils halbe Stunden lang den Wind von der Seite. Die fährtenlose Ebene bot so wenig Orientierung wie das offene Meer. »Ich habe einen Kompaß«, sagte der Lokomotivführer, »aber wir brauchen ihn nicht, weil man immer geradeaus dem Wind entgegenfahren muß.«

»Und wenn der Wind sich legt?«

»Er legt sich nicht.«

»Auch nachts nicht?«

Statt zu antworten, zog der Mann mürrisch die Schultern hoch. Offenbar schämte er sich, als Lokomotivführer einen Eselskarren zu lenken; G.A. verstand seinen Unmut. Das Zugtier schien noch älter zu sein als die alte sechsräderige T 110, die das halbe Dutzend Eisenbahnwagen zur Endstation gebracht hatte; meist ging der Esel im Schritt und wechselte nur auf wiederholte Pfiffe hin zu schleppendem Trab über, aber nach kurzer Zeit verlangsamte er abermals sein Tempo, und der Lokomotivführer mußte sich wiederum der Pfeife bedienen. Pausenlos gellte von früh bis spät abends das schrille, lästige Pfeifen über das unendliche, windüberwehte Flachland, außer dem dünnen Zischeln des hin und her schwingenden Grases und dem leisen Murren des Gestrüpps der einzige Laut, der in diesen Tagen G.A.s Ohr erreichte. Der Lokomotivführer schwieg. Die Räder mahlten tief im Sand, zuweilen knirschten sie, dann und wann mußten die Männer aus dem Karren steigen und das bis zur Radnabe versunkene Gefährt aus seinem Scheintod zerren. Der Lokomotivführer schob den Esel, G.A. den Karren. Einmal begann es zu regnen, doch bald hörte es wieder auf. Ein anderes Mal warf das Gefährt kurze Zeit einen deutlichen, wenn auch fahlen Schatten auf den Boden, dann wurde es wieder dunkel.

Am vierten Tag, gegen Mittag, blieb der Esel stehen, hob den Kopf und begann zu schreien. Es hörte sich an, als wollte er sich übergeben, auch der zum Himmel erhobene Kopf und die großen, feuchten Augen waren wie die eines zu Tode erschrockenen Kindes, das zum ersten Mal in seinem Leben sich übergeben muß und nicht weiß, wie ihm geschieht. Der Laut aber, der mit einem tiefen Röcheln ansetzte und in einen immer helleren, höheren Schrei ausartete, wurde bei jedem neuen Ansatz kreischender und hoffnungsloser; man hatte das Gefühl, beim nächsten Schrei werde das Innere des Tieres zerreißen und zum aufgesperrten Maul herausquellen; die Lebenskraft der Lunge, des Herzens und der Gedärme fiel in Fetzen aus dieser Stimme. Mit seinen eingesunkenen Flanken, dem krampfhaft wogenden Bauch und dem emporgereckten, pendelnden Kopf bot der alte Esel ein Bild der tiefsten tierischen Verzweiflung, als ob das heisere, sägende Röcheln unmittelbar aus den Geschlechtsorganen in den Rachen gestiegen wäre, die Zunge umgestülpt und die blutigen Nüstern durchbohrt hätte. Wäre es zum Herrgott gedrungen, hätte selbst er sich erbarmt. Der Lokomotivführer stand mit gesenktem Kopf bewegungslos neben dem Tier.

»Wir gehen nicht weiter, mein Herr«, sagte er nach einer Weile.

»Wie meinen Sie das?« fragte G.A.

Der Lokomotivführer sah zu Boden. »Ich kann nicht weitergehen«, wiederholte er.

»Sind wir schon so weit, wie wir ausgehandelt haben?«

»Ich bedauere, mein Herr«, sagte der Lokomotivführer unruhiger als zuvor.

»Wollen Sie nicht weiterfahren?« fragte G.A.

Statt zu antworten, trat der Mann an den Karren, entnahm ihm G.A.s Tasche und Rucksack, stellte sie auf den Boden, ging wieder nach vorne zum Kopf des Esels, packte die Zügel und wandte langsam das Gefährt. Sofort hörte das Tier zu schreien auf. G.A. stieg aus.

»So reden Sie doch!« sagte er gereizt.

Dem Lokomotivführer schwollen die Adern an den Schläfen.

»Es gibt nichts zu reden, mein Herr«, sagte er. »Wir fahren nicht weiter.«

»Wie weit ist es noch bis X?«

»Acht Tagereisen.«

»Das ist ja Wortbruch«, sagte G.A.

Der Mann bestieg den Karren. »Sie können mit mir zurückfahren, wenn Sie wollen. Kommen Sie nicht mit, so bezahlen Sie hier die Hälfte des ausgehandelten Tarifs!«

Die Landschaft änderte sich auch weiterhin nicht; mit der gleichen, trockenen Gewissenhaftigkeit entrollte sie ihre wellenlosen, grauen Leintücher. Der Wind legte sicht nicht, auch nachts ließ er beständig die kleinblättrigen, stacheligen Äste des Buschwerks rascheln. Verirren konnte man sich nicht, es sei denn, der Luftstrom hätte insgeheim die Richtung gewechselt. Sie zu überprüfen hätte G.A. sowieso keine Möglichkeit gehabt, denn bei Morgengrauen hellte sich der Himmel über der dichten Wolkendecke gleichmäßig auf, ohne, daß man Osten hätte ausmachen können, und die Gegenstände warfen keine Schatten. G.A. rasierte sich und setzte seinen Weg fort. Nach drei Tagen angestrengten Fußmarsches warf er seine schwere, kalbslederne Reisetasche weg und behielt lediglich eine Garnitur Wäsche, einige Taschentücher und Strümpfe in seinem Rucksack. Er aß wenig, er hatte für den Rest des Weges nur noch einige Dosen Rindfleisch mit Bohnen und zweieinhalb Tafeln Schokolade.

Allmählich erwachte die Ebene. Unversehens blieb sein Fuß an einem verrosteten Draht hängen, der sich aus einem Gebüsch hervorschlängelte; das Gras wurde allmählich schütter, das Gestrüpp spärlicher. Eine verrostete Blechplatte klirrte unter seinen Schnürstiefeln, zwischen den Sträuchern entdeckte er einen löcherigen Topf. Gegen Mittag wechselte die graugrüne Ebene merklich die Farbe, zunächst in größeren Abständen, dann in immer dichterer Folge stachen große, braunrote Flecken hervor; wirr übereinandergeworfen zogen sich Stacheldrahtrollen rostfarben über den Boden, und unentwirrbar ineinander verknäulte Drähte verschiedener Stärke schlängelten sich kreuz und quer durch das Gras, das in der ungesunden Nachbarschaft des alten Eisens sichtlich verkümmerte. Da er zwischen den Drähten nicht vorwärtskam, mußte G.A. Umwege machen. Die ausgedehnten Schrotthalden, die man für ein Alteisenlager hätte halten können, folgten immer dichter aufeinander; am Nachmittag waren nur noch einige hundert Schritt breite Gras-Oasen eingesprengt, und um nicht allzusehr von seiner ursprünglichen Richtung abweichen zu müssen, sah sich G.A. veranlaßt, seinen Weg durch die Eisenhaufen zu bahnen. Wie vorsichtig er auch die Füße setzte, die Drähte hakten sich links und rechts an ihm fest, rissen seine Hose ein oder schnellten unerwartet unter seiner Sohle hoch und peitschten ihm ins Gesicht. Sein Marschtempo verlangsamte sich auf ein Viertel.

Am nächsten Tag wurde der Weg erträglicher, zwischen die Stacheldrähte und Kabel mischten sich nun Eisenplatten, die den Weg ebneten und das Gehen erleichterten. Zerbrochene Leitungsrohre, Teile von Schachtanlagen, Eisenträger, Reste von Radiatoren bedeckten viele Kilometer weit den Boden. G.A. versuchte vergebens nach rechts oder links auszuweichen und wieder aufs Gras zu gelangen. Als er einmal auf einem Kanalrohr von beträchtlichem Durchmesser dahinschritt, glitt er aus, ein Schnürstiefel verklemmte sich zwischen dem Rohr und einem auf die Kante gestellten Eisenträger, sein Knöchel schwoll an. Die grauen Grasflächen waren fast ganz verschwunden; so weit das Auge reichte, war die Erde eine einzige Schrotthalde. Als hätte der Wind feinen Roststaub in der Luft verstreut, trübte sich das bleierne Tageslicht, der herbe Geruch des oxydierten Eisens verdrängte den trockenen Duft der Gräser und des Buschwerks. Am Nachmittag stieß G.A. neuerlich auf ein Drahtlager; das angehäufte Material reichte ihm mitunter schon bis an die Knie und war derart hinderlich, daß G.A. bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht mehr als drei bis vier Meilen zurücklegen konnte. Für die Nacht zog er sich zum Schutz vor dem kalten Wind in das Innere einer mächtigen Eisenröhre zurück.

Menschen begegnete er noch immer nicht. Über der grenzenlosen, bis zum Horizont flutenden Eisenhalde herrschte tiefes Schweigen; in der vollkommenen Stille war nur G.A.s Keuchen zu hören und hin und wieder das hartnäckige, stählerne Klirren der Drähte, die sich unter seinen Füßen ringelten und einander peitschten. Lückenlos bedeckte das Drahtgewirr den Boden, ab und zu trieb der Wind eine Handvoll Staub hervor, der sich augenblicklich wie Dampf verflüchtigte. Der Weg besserte sich erst gegen Abend, als die Drahtabfälle spärlicher wurden und dazwischen, zunächst vereinzelt, dann gehäuft und stellenweise zu mannshohen Hügeln anwachsend, gebrauchtes Küchengeschirr, zerbeulte Töpfe, Kessel, Pfannen, ausgebrannte Backbleche sich türmten, geborstene mächtige Retorten, löcherige Heizkessel, dann mehr und mehr zerbrochene Maschinenteile, Schwungräder, Achsen, Dampfkessel und Metallstücke verschiedener Länge und Stärke, Winden, Zahnräder und Walzen. Die Strecke mit den Zahnrädern nahm allein eine Tagereise in Anspruch, anderer Schrott fand sich auf diesem Abschnitt nicht. Eines Morgens hatte G.A., nachdem er einige Stunden marschiert war, den Eindruck, daß er bald ans Ende seines qualvollen Weges kommen werde. Durch sein Fernglas glaubte er, in etwa zehn Kilometer Entfernung die Grenze der rostbraunen Bodenverfärbung zu erkennen. Hellgraues und manchmal mattweißes Glitzern schloß sich an, als stoße eine ausgedehnte Wasserfläche, vermutlich ein großer See, an den Horizont. Er täuschte sich. Verchromter oder vernickelter, rostfreier, weißer Stahlschrott, Trümmer von Maschinenteilen unerfindlichen Ursprungs, Werkzeuge, Instrumente lagen hier herum, und dahinter – zwei Tagereisen weiter – begann wieder der endlose Strom verrosteten, alten Eisens. Diesmal waren es planlos übereinandergeworfene Platten verschiedener Stärke und Größe, auf denen es sich wesentlich besser ging. Die Platten läuteten fröhlich unter G.A.s genagelten Stiefeln, dann wieder verbissen sie sich klirrend und knirschend ineinander; weit hallte der Rhythmus menschlicher Schritte durch die metallene Ebene.

Am zehnten oder elften Tag seines Marsches erblickte G.A. die erste rostige Kanone, deren steil aufragendes, dickes Rohr reglos in den lichtlosen Himmel starrte. In den folgenden Tagen führte sein Weg zwischen Geschützrohren, verrotteten Panzerwagenteilen und Waggons hindurch, die zur Seite gekippt waren oder mit den Rädern nach oben lagen. Seiner Schätzung nach umschnürte die nächste Umgebung der Stadt ein dreifacher Gürtel von mehreren zehntausend Waggons, meist neuwertig und nur von der Zeit beschädigt, und nicht weniger Flugzeug- und Autowracks. Geschwächt durch die unzureichende Ernährung legte G.A. auf diesem letzten Wegabschnitt täglich nicht mehr als vier bis fünf Meilen zurück; er mußte auf Kanonenrohren balancieren, sich zwischen Tanks hindurchzwängen, an übereinandergetürmten Waggons hochklettern und auf der anderen Seite wieder hinunterkriechen, denn die Fahrzeuge verstellten die Richtung in so langen Reihen, daß ein Ausweichen vier- oder fünffachen Zeitverlust bedeutet hätte. G.A.s Füße waren wundgerieben, die Hände blutig gerissen, und da er seine Reisetasche und damit auch seine Handschuhe zu Beginn seines Marsches weggeworfen hatte, fürchtete er, sich an dem rostigen Eisen früher oder später eine Blutvergiftung zu holen.

Inzwischen hatte es zu regnen begonnen, und auf den nassen Eisenplatten, Waggontreppen, Puffern, den Rädern, Rohren, Achsen erforderte jeder Schritt doppelte Anstrengung. Menschen waren noch immer nicht zu sehen, ebensowenig Spuren oder Reste anderen, organisch-tierischen Lebens.

Eines Morgens erblickte G.A. durch die emporsteigenden Nebelschwaden in der Ferne das erste Haus. So weit er in der dunstigen Luft erkennen konnte, stand es einsam in der Ebene, linkerhand, ungefähr eine Wegstunde entfernt. Es sah aus wie ein sieben- bis achtstöckiges Wohnhaus. G.A. ging darauf zu. Das Haus war unbewohnt, das Dach eingestürzt, eine der Mauern halb verfallen. Es stand inmitten der Schrottflut wie ein verlassener, blinder Leuchtturm inmitten des Meeres, an den Mauern häufte sich der Abfall bis zu den Fensteröffnungen des ersten Stockwerkes. Dahinter zeichneten sich in größerer Entfernung andere Gebäude im Nebel ab; in kleineren Gruppen zu drei bis vier Häusern lagen sie jeweils eine halbe bis eine Wegstunde voneinander entfernt, auch sie verfallen. Da die Erde ringsum im rostigen Eisen erstickte, krochen keine grünen Schlingpflanzen über die Mauern, wie sie sonst eingestürzte Landhäuser überwuchern. Vermutlich standen die Bauten seit Jahrzehnten unbewohnt, auch innen waren die Wände nackt und ohne Tapeten; zerbrochene Rohre hingen aus den Maueröffnungen, durch klaffende Risse sah man, daß die Dachstühle und Treppenhäuser eingestürzt waren. Erst nach drei Tagen entdeckte G.A. Gebäude, in deren verfallenen Wohnräumen Bruchstücke alter Möbel, zusammengebrochener Betten, umgestürzter Tische und Stühle über Abgründen hingen, an einer Wand klebte schief ein leerer Bilderrahmen.

Sein Weg wurde nun weniger beschwerlich, die Ruinen entlang lief ein hoher Bahndamm, dessen steile Flanke dem angehäuften Eisen Einhalt gebot. Die beiden Gleispaare waren aus dem Damm offenbar mit Maschinen herausgezerrt worden. Dennoch konnte man zwischen den kreuz und quer übereinandergeworfenen Schienen und den zerstückelten Bahnschwellen leichter vorwärtskommen als unten, inmitten des Schrottgerölls. Die Stadt konnte nicht mehr fern sein. Die Ruinen folgten einander in immer kürzeren Abständen, stellenweise säumten sie den Bahndamm zu beiden Seiten und blickten einander über den Wall hinweg an. Das Wetter änderte sich nicht, mitunter hörte der Regen auf, doch waren es nur kurze Pausen.

Im großen und ganzen bot die unmittelbare Umgebung von X das übliche Bild der äußersten Vororte einer europäischen Großstadt, jener dünn bebauten Zonen, die von der Bahn aus als erstes die Nähe einer Weltstadt ankündigen, obwohl manchmal noch ein bis zwei Schnellzugstunden vergehen, bevor der erschöpfte Fahrgast im Zentralbahnhof anlangt: Den Vororten folgen wieder breite, unbebaute Flächen, diese werden von Industriegebieten abgelöst, dann erheben sich neuerlich Wohnhäuser längs des Schienenstranges, Beamten- und Arbeitersiedlungen sausen im dicken Qualm der Lokomotive vorbei, in der Ferne tauchen einige Wolkenkratzer auf, und im nächsten Moment verrät das plötzlich anschwellende Rattern des Zuges, daß er wieder zwischen engen Häuserzeilen fährt; an den Mauern und neben den Gebäuden riesige Reklametafeln; zuweilen gelingt ein Blick in Wohnungen, auf Abstellgleisen stauen sich leere, abgehängte Güter- und Personenwaggons; doch dies alles ist erst die Peripherie. Die Stadt X war nach ähnlichem Muster erbaut, dennoch mußte G.A. noch drei Tage angestrengt maschieren, bis er bewohnte Gegenden erreichte. Die Randgebiete der Stadt lagen in Trümmern. Immerhin waren die ehemaligen Fabrikgebäude noch von Wohnhäusern zu unterscheiden, hinter den umgekippten Waggons am Bahndamm tauchten die Ruinen kleiner Bahnhöfe, Kontrolltürme und Bahnwärterhäuschen auf. Auch hier, in unmittelbarer Nähe der Stadt traf G.A. keine Menschenseele. Die Trümmerlandschaft war über alle Maßen öde, der Gesamteindruck deprimierend.

G.A. mußte des öfteren gähnen. Zwischen den Ruinen ertönte nur das Pfeifen des Windes. Das Bild des Verfalls erweckte keine Furcht, nur grenzenlos eintönig war es, jeglicher Abwechslung bar. Man wurde schläfrig, mißgelaunt, wie auf einem Friedhof. Es änderte auch nichts an dem Einerlei, daß die Häuser offensichtlich nicht alle gleichzeitig, sondern in Abständen von Jahren oder Jahrzehnten verfallen waren; bei einigen zeugten die leeren Fensteröffnungen und umgefallenen Türen davon, daß die Bewohner erst vor fünf oder zehn Jahren ausgezogen waren, an anderer Stelle waren die Zwischenwände und Treppenhäuser schon eingestürzt oder sogar die Dächer herabgefallen, nur mehr die Grundmauern umgaben die stockwerkhohen Trümmerhaufen. Kein Zweifel, daß nicht Krieg, bewußte Gewalt oder irgendeine Naturkatastrophe die Verwüstung hervorgerufen hatten, sondern menschliche Nachlässigkeit. G.A. war im allgemeinen besonnen und nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber diese letzte Wegstrecke stellte seine Nerven auf eine harte Probe. Nach weiteren drei Tagen schließlich erreichte er die eigentliche Stadt. Die Straßen verengten sich, wo der Schutt der eingestürzten Häuser eine Lücke frei ließ, wurde ein kurzes Stück Asphalt oder Kopfsteinpflaster sichtbar, da und dort wanden sich, dem winkeligen Straßenzug folgend, verrostete Schienen einer Trambahn. Die eisernen Lichtmaste waren zumeist umgestürzt, doch hingen einige Laternen auf ihrem ursprünglichen Platz an den Mauern. Der Schutt der Häuser versperrte die schmalen Gassen stellenweise bis zur Höhe eines Stockwerks. Wenn G.A. das Hindernis nicht überwinden konnte oder wollte – manchmal gelang es ihm nur mit größter Mühe, sich auf allen vieren hinaufzuarbeiten –, so mußte er lange Umwege machen, die ihn des öfteren zu seinem Ausgangspunkt zurückführten. Vor manchem einigermaßen unversehrten Haus war aus unerfindlichen Gründen das Pflaster aufgerissen, tief unten in den Gruben lagen die dicken Kanalrohre und das Gewirr elektrischer Kabel bloß. Hier zu gehen, war nicht ungefährlich, einmal stürzte dicht hinter G.A. eine Mauer zusammen und wirbelte eine haushohe Staubwolke auf.

Es mochte um die Mittagszeit sein, als er in der tauben Stille, die nur durch den Aufprall fallender Ziegel oder das Knirschen des trockenen Sandes unter seinen Stiefeln unterbrochen wurde, den ersten lebenden Ton der Stadt vernahm. Seine Ohren, die allmählich der Kehle eines verdurstenden Menschen glichen, sogen dieses erste Lebenszeichen voller Gier ein, so daß er unwillkürlich stehenblieb und den Atem anhielt. Räderquietschen, vielleicht von einer Trambahn, die eben in eine scharfe Kurve einbog, drang aus einer der benachbarten Straßen. Einige Sekunden lang hörte man auch das asthmatische Keuchen einer kleineren Dampfmaschine, das indessen hinter einer hohen Häuserzeile plötzlich erstarb. Kurz darauf erblickte G.A. in den Ruinen den ersten Menschen. Es war ein dicker, glattrasierter, bebrillter Mann mittleren Alters, der eine Tuchmütze mit Ohrenklappen auf dem Kopf trug. Er lehnte im vierten Stock eines halbzerfallenen Hauses aus dem Fenster und beobachtete G.A. aufmerksam. G.A. spürte die Nadelspitze des fremden Blickes im Nacken und sah empor; als ihre Augen sich trafen, lächelte der Mann ihm freundlich zu und trat mit einem fröhlich klingenden Ausruf eilends vom Fenster zurück. Ringsum lagen alle Gebäude in Trümmern, die Straße war an dieser Stelle nahezu unpassierbar, und die nächsten, noch leidlich bewohnbaren Häuser schienen sämtlich verlassen.

Im Glauben, daß der Mann vom Fenster zurückgetreten sei, um zu ihm hinunterzukommen, ließ sich G.A. auf einem Eisenträger nieder und wartete längere Zeit. Da sich aber das Tor nicht öffnete, setzte er schließlich seinen Weg fort.

2

G.A. kannte London sehr gut, die Stadt X erschien ihm weitläufiger. Den ganzen Tag und die halbe Nacht marschierte er durch, aber erst am nächsten Vormittag kam er aus den leeren und überwiegend beschädigten Häuserzeilen in bewohntes Gebiet. Nach dem Straßenbild zu urteilen, handelte es sich hier ebenfalls noch um einen Vorort, ein Wohnviertel an der Peripherie mit engen Gassen, schmutzigen Mietskasernen, und zwischen zahllosen, eingefallenen Häusern gab es einige Geschäfte; die meisten standen leer, ihre Läden waren heruntergelassen. In den Schaufenstern lagen grelle, billige Artikel, grau vom Staub. Häufig wies die Pflasterung Lücken auf, an anderen Stellen war sie unter dem angehäuften Schmutz kaum sichtbar. Gruben und Steinhaufen von Kanalisationsarbeiten, die angefangen und aus unerfindlichen Gründen abgebrochen worden waren, versperrten auf Schritt und Tritt den Weg. Die Fußgänger gingen auch auf der Fahrbahn; dem Stadtbild nach zu urteilen, herrschte ein Verkehrsstreik. An diesem ersten Tag begegnete G.A. keinem einzigen Fahrzeug. Die Straßen- oder Kleinbahn von gestern war auch verschwunden, nur ihre Schienen entdeckte er in einer auffallend engen Gasse; sie bogen in einer Kehre daraus hervor, liefen aber nicht die Straßenmitte, sondern zu beiden Seiten die Hausmauern entlang in eine in entgegengesetzte Richtung führende Straße. G.A. hätte gerne irgendein Verkehrsmittel benützt, um ins Stadtinnere zu gelangen, doch auch nach längerem Fußmarsch fand er weder eine Straßenbahn noch eine Eisenbahn, auch Taxis oder Mietwagen sah er nicht, ebensowenig ein Restaurant, in dem er seinen quälenden Hunger hätte stillen können.

Obwohl es kalt war, gingen die Leute – auch die Frauen – ohne Mantel, ohne Kopfbedeckung, in verschlissenen, oft zerfetzten Kleidern. Sie schlenderten gemächlich dahin, einen hastenden Menschen sah G.A. nicht. Hie und da erhob sich unter den Fußgängern lautes, fröhliches Lachen, auf das hin sich sogleich eine Gruppe sorglos herumlungernder Männer und Frauen versammelte, sie umringten die Lachenden eine Weile, dann gingen sie schmunzelnd weiter. Im Gegensatz zu ihrer Kleidung und zur trostlosen, verwitterten Umgebung waren die Gesichter der Menschen zumeist glatt und heiter, sie trugen inmitten der baufälligen Häuser und Mietskasernen die unschuldige, frohgemute Laune einer unbeschwerten Menge zur Schau, die sich an einem taufrischen, grünen Ausflugsort versammelt, um die Alltagssorgen zu vergessen. Die Stirnen verbargen keine Hintergedanken. G.A. sprach einen jungen Mann an und fragte ihn, wo ein Verkehrsmittel zu finden sei. Der Befragte musterte G.A. offenen Blickes, dann klatschte er sich, während er gewinnend lächelte und seine Augen schelmisch aufblitzten, auf einen Schenkel.

G.A. glaubte, der junge Mann habe die Frage nicht verstanden. »Ich suche irgendein Beförderungsmittel, das mich zur Innenstadt bringt!« wiederholte er.

Kindlich auflachend wies der junge Mann auf G.A.s Beine. »Dies hier wird Sie in die Stadt bringen, mein Herr«, sagte er.

Obwohl ihm nicht danach zumute war, lächelte G.A. unwillkürlich. »Ich bin müde. Gibt es in der Nähe keinen Taxistand?«

»Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, daß es einen gibt, mein Herr«, sagte der junge Mann.

»Und wo, wenn ich fragen darf?«

Der junge Mann lächelte. »Das kann man nicht genau wissen, mein Herr.«

G.A. sah ihn an.

»Vorige Woche sah ich einen hier in der Nähe«, sagte der junge Mann, »aber es ist nicht sicher, ob er noch dort ist.«

»Hat man ihn vielleicht aufgelöst?« fragte G.A.

Der junge Mann zog die Schultern hoch. »Sie werden sich wohl nicht darüber wundern, mein Herr«, erwiderte er, »daß ich keine bestimmte Auskunft geben kann. Es mag sein, daß er noch da ist, ebenso wie es möglich ist, daß man ihn aufgelöst hat. Ich glaube nicht, daß es sich lohnt, danach zu suchen. Möglicherweise nimmt es mehrere Stunden in Anspruch, bis wir uns überzeugt haben, daß er vielleicht aufgelöst wurde. Überdies befinden sich die Kraftfahrzeuge nicht auf ihren Standplätzen.«

»Richtig«, sagte G.A. »Wo ist denn die nächste Straßenbahnhaltestelle?«

»Die ist in der Nähe, mein Herr«, versicherte der junge Mann bereitwillig.

G.A. blickte ihn an. »Bitte, können Sie mir sagen, wie ich hinkomme?«

»Ich würde Sie sogar gerne begleiten«, sagte der junge Mann, »denn allein werden Sie nicht hinfinden. Aber es ist fraglich, ob heute die Straßenbahn dort hält; besser gesagt, nicht die Straßenbahn, sondern die Dampfbahn.«

»Ob sie dort hält?«

»Es ist ungewiß, mein Herr«, antwortete der junge Mann. »Aber selbst wenn sie hielte, so wäre es doch möglich, daß mittlerweile die Haltestelle verlegt wurde und wir stundenlang herumsuchen müßten, bis wir sie finden.«

Erschöpft, wie er war, verlor G.A. langsam die Geduld. Er hatte den Eindruck, der junge Mann treibe mit ihm seinen Spaß. »Also?« fragte er.

»Ich begleite Sie gerne«, sagte der junge Mann. »Möglicherweise finden wir mit der Zeit auch die Haltestelle. Aber ich würde Ihnen raten, mein Herr, sich nicht darauf zu verlassen. Es kann sein, daß heute überhaupt kein Zug kommt, und wir müßten vergebens warten, gesetzt den Fall, wir fänden die Haltestelle.«

»Danke«, sagte G.A., kehrte dem jungen Mann den Rücken und machte sich wieder auf den Weg.

In den durchwegs engen und verwahrlosten Gassen mehrten sich die unbeschädigten Gebäude, einige waren sichtlich erst vor wenigen Jahren errichtet. Die obersten Stockwerke waren unbewohnt, und, da man das Dach nicht aufgesetzt hatte, vermoderten die Balken und stürzten ganz oder teilweise herab. G.A. sah wiederholt Bauten, an denen die Arbeit endgültig eingestellt worden war: die Maurer hatten zwar das oberste Stockwerk vollendet, aber die Dachbalken fehlten. Die unteren Stockwerke waren stets bewohnt. In diesem zentraler gelegenen Stadtviertel schien die Wohnungsnot groß zu sein, jeder freie Raum war ausgenützt, auf den Straßen wogte eine dichte Menschenmenge. Jedoch auch hier war kein einziges Fahrzeug zu entdecken. Die lockeren Pflastersteine wackelten unter den Füßen, aus den Spalten sickerte der Gestank von Unrat und Mist. Ungeachtet der feuchten Kälte trugen die Männer fast ausnahmslos keine Mäntel, die Frauen hatten höchstens ein dünnes Tuch über die Schultern geworfen, und obwohl ihren blassen Gesichtern und eingezogenen Hälsen anzusehen war, daß sie froren, blickten sie sorglos und fröhlich drein. Wenn der langsame Nieselregen wieder einsetzte, beschleunigten sie ihre Schritte nicht. Die Herumstehenden lachten gedämpft, wischten sich die Nässe vom Gesicht und plauderten ruhig weiter. Der Regen lockerte die bleifarbene Wolkenschicht nicht auf, die wie eine matte Glasscheibe vor einer entfernten Lichtquelle den grauen Schein gleichmäßig verteilte und die fröstelnde Erde berieselte. Schauspiel des Kompromisses: nicht hell, nicht dunkel. G.A. blieb vor einem halbfertigen, mächtigen, hallenähnlichen Bauwerk stehen, von dem nur die beiden Seitenmauern aufragten und ein kuppelähnliches Glasdach trugen. Das Innere gähnte ihm leer entgegen, ohne Stockwerke, ohne Zwischenwände; auf den zum Teil umgefallenen Gerüsten arbeitete niemand. Aus dem riesigen Schuppen schlug ihm feuchtkalte Zugluft ins Gesicht, wie aus einem Tunnel.

Den Rücken an eine Hauswand gelehnt, betrachtete G.A. das Gebäude eine Weile, dann ging er langsam weiter. Anscheinend näherte er sich bereits der Innenstadt, die Straßen verbreiterten sich, das Pflaster wurde glatter und gangbarer. Da er kaum mehr auf den Beinen stehen konnte, sprach er einen Mann an und fragte ihn nach dem nächsten Hotel. »Hotel?« wiederholte der Mann freundlich, aber sichtlich verwundert. »Wozu, mein Herr, wenn ich fragen darf?«

G.A. fand nicht gleich eine passende Antwort. »Ich bin hier fremd und habe keine Unterkunft«, sagte er schließlich.

Der Mann blickte ihn an. »Sie würden mir eine Ehre erweisen, mein Herr, wenn ich Sie in meiner schlichten, aber gemütlichen Wohnung als Gast begrüßen dürfte.«

G.A. schwieg.

»Ich sagte, ob Sie die Güte hätten, sich zu mir zu bemühen, mein Herr«, wiederholte der Mann lauter, als fürchte er, G.A. sei schwerhörig und habe ihn nicht verstanden. »Ich wohne hier in der Nähe, kaum eine Stunde zu Fuß.«

»Und Sie haben Zimmer zu vermieten?« fragte G.A.

Der Mann lachte hell auf. »Seien Sie unbesorgt, mein Herr«, sagte er, »wenn Sie keine Unterkunft haben, kann ich Ihnen sogar ein Bett zur Verfügung stellen.«

»Sogar ein Bett?« wiederholte G.A. »Ich danke Ihnen, mein Herr, aber ich möchte längere Zeit in X bleiben.«

»Bei mir können Sie wohnen, solange Sie wollen«, sagte der Mann. »Meinetwegen bis zu Ihrem verehrten Todestag, und sollte er auch noch so lange auf sich warten lassen.«

G.A. musterte ihn eingehend: er hatte ein offenes, sympathisches Gesicht, machte einen wohlwollenden, gutmütigen, hilfsbereiten Eindruck, es war undenkbar, daß er ihn in seine Wohnung locken und ausplündern oder anderweitig seine Unkenntnis mißbrauchen würde. Es war ebenfalls unvorstellbar, daß er ihn zum Narren halten wollte. G.A. sehnte sich jedoch nach der Unabhängigkeit eines Hotelzimmers, nach einem Bett, in dem er achtundvierzig Stunden würde durchschlafen können.

»Danke«, sagte er. »Aber heute, am ersten Tag, möchte ich lieber in ein Hotel gehen.«

Der Mann blickte ihn erneut verwundert an. »Wie Sie wünschen, mein Herr.«

»Wo finde ich ein Hotel?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Mann.

G.A. schwieg einen Augenblick. »Sie wissen es nicht?«

»Es gab Hotels«, sagte der Mann und beugte sich herzlich lächelnd näher zu G.A.s Gesicht, als wolle er sich besser verständlich machen, »es gab Hotels in der Stadt, zwei oder drei sogar, aber es ist ungewiß, ob sie noch existieren. Ich meine, ob sie nicht geschlossen wurden, seit ich sie zum letzten Male gesehen habe. Es ist anzunehmen, daß das Hotel Excelsior noch geöffnet ist, jedoch besteht ebensoviel Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil.«

G.A. spürte, wie ihn abermals Gereiztheit übermannte.

»Alle Hotels der Stadt sind geschlossen?«

»Vielleicht ist das Hotel Excelsior noch geöffnet, es war das größte«, sagte der Mann. »Es wartete seinen Gästen mit wenigstens zwanzig behaglichen Zimmern auf.«

»Mit zwanzig Zimmern?« wiederholte G.A. spöttisch. »Wie komme ich hin?«

»Ich werde Sie begleiten, mein Herr«, sagte der Mann freundlich. »Wiewohl unser Versuch vergeblich sein könnte.«

»Danke, bemühen Sie sich nicht!« sagte G.A.

»Man kann nicht wissen, ob es noch geöffnet ist«, fuhr der Mann fort. »Ich war seit langem nicht mehr in der Gegend, mein Herr. Es ist natürlich möglich, daß man mittlerweile ein neues, alles Bisherige übertreffendes Hotel, ein noch ansehnlicheres als das Excelsior, erbaut hat, und vielleicht hier ganz in der Nähe, in einer der benachbarten Straßen. Das Stadtbild ändert sich fortwährend, man kann es nicht mehr im Kopf behalten. Es würde mich nicht wundern zu hören, daß irgendwo ein neues Luxushotel mit fünfhundert Zimmern eröffnet wurde, wiewohl dies überaus unwahrscheinlich klingt. In der Tat, man kann es nie wissen. Wir können gemeinsam auf die Suche gehen, ich begleite Sie gerne, mein Herr.«

G.A. lüftete den Hut und ging wortlos weiter. Aber der Mann lief ihm nach: »Ich sagte, ich begleite Sie gerne, mein Herr«, schrie er G.A. ins Ohr, offenbar in der Annahme, daß der Fremde schwerhörig sei. »Zu zweit finden wir es vielleicht eher.«

An der nächsten Straßenecke betrat G.A. ein Restaurant. Er entdeckte es zufällig, denn weder ein Firmenschild noch ein Schaufenster erregten die Aufmerksamkeit; die einflügelige, schmale, brüchige Tür wirkte wie der Eingang zu einer ländlichen Gemischtwarenhandlung, die Ölfarbe war abgesprungen, eine der Glasscheiben zerbrochen. In dem Augenblick trat ein Mann heraus, der mit vollem Mund kaute; bevor er die Tür hinter sich zuziehen konnte, folgte ihm ein zweiter, der in einer Hand ein Stück Brot hielt und mit der anderen über seinen fettigen Mund wischte. Durch die offene Tür schlug G.A. dichter, säuerlicher Küchendunst entgegen. Er trat ein und setzte sich an den ersten Tisch.

Der Speisesaal war so groß, daß sich sein anderes Ende im Halbdunkel verlor. Da er fensterlos war, bedurfte es auch tagsüber elektrischer Beleuchtung, von der mehrere Stockwerke hohen Decke hingen jedoch nur drei oder vier nackte, schwache Glühbirnen an Drähten herab, der Luftzug unter der Saaldecke ließ sie unaufhörlich pendeln, so daß ihr kraftloses, trübes Licht zwar die Schatten aufscheuchte, den Augen aber keinerlei Hilfe bot. Im schwankenden Halbdunkel war lediglich auszumachen, daß Hunderte gedeckter Tische im Saal standen; doch höchstens an acht oder zehn saßen vereinzelt Gäste, die, weit voneinander entfernt, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ihr Abendessen verzehrten und, den letzten Bissen noch im Mund, aufstanden, um eilends das Lokal zu verlassen. In der vorderen Hälfte des Saales servierte nur ein Kellner, in der anderen konnte man auch nicht mehr als eine umhertastende, verschwommene Gestalt erkennen, offenbar ein anderer dienstbarer Geist, dagegen lungerten um die Anrichte in der Saalmitte an die fünfzig Kellner untätig herum, schwatzten laut, lachten und rührten sich auch dann nicht von der Stelle, wenn ein neuer Gast den Speisesaal betrat. G.A. saß bereits eine gute Viertelstunde an seinem Tisch, und noch immer war niemand gekommen, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Die Saalecke war weiß und golden kassettiert, wie der Empfangssaal eines Fürstenschlosses oder der Ballsaal eines großen Luxushotels. Die Wände waren bis oben hin mit rosa Marmorplatten verkleidet, die das schmutziggelbe Licht der in der Zugluft pendelnden Glühlampen sanft reflektierten. Unmittelbar hinter G.A.s Rücken hing ein riesengroßer, vergoldeter Bilderrahmen an der Wand, das Bild darin fehlte. Auch der Boden war aus Marmorplatten, mit klaffenden Spalten; die beiden hin und her eilenden Kellner stolperten unablässig, ein unvorsichtiger Gast fiel der Länge nach hin und blieb eine Weile am Boden liegen. Die Tischtücher waren schmutziggrau, fleckig, und hatten ausgefranste Ränder.

G.A. stand auf und winkte mit beiden Händen heftig den Kellner zu sich, der eben an ihm vorbeieilte. Dieser lächelte ihm im Laufen freundlich zu und rannte weiter zur Anrichte. »Bitte nicht ungehalten sein, mein Herr, gleich kommt die Reihe an uns«, sagte ein Mann, der fünf oder sechs Tische von G.A. entfernt saß. »Ich war zwar etwas früher hier, aber ich überlasse Ihnen selbstverständlich den Vortritt. Ein Stündchen mehr oder weniger macht mir nichts aus, ich halte mich gern in diesem Lokal auf.«

»Was Sie nicht sagen!« sagte G.A.

»Gewiß«, sagte der Fremde. »Hier kommen einem alle seine Sünden zu Bewußtsein, und man kann nach Belieben über sie nachgrübeln. Man hat sogar Zeit, sie nach Gewichtigkeit oder Reihenfolge zu ordnen und zu analysieren. Ein gutes Lokal, ich habe viele angenehme Stunden hier verbracht!«

»Ich sehe mindestens fünfzig Kellner um die Anrichte herumstehen und Maulaffen feilhalten«, sagte G.A. »Warum kommt denn keiner her?«

Der Fremde schaute zur Anrichte. »Das vermag ich nicht zu sagen, mein Herr. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.«

G.A. sah ihm in die Augen, sagte aber nichts.

»Mag sein, daß sie keine Lust haben«, sagte der Fremde sinnend. »Ich wage diese Vermutung nur, weil mir momentan nichts Besseres einfällt. Ich für mein Teil würde mich in Gesellschaft von fünfzig Menschen langweilen, vielleicht tun sie es eben deshalb.«

Unterdessen kam der Kellner an G.A.s Tisch. Er hatte ein mageres, leidendes Gesicht mit schütterem Christusbart, an seinen Schläfen und von der Stirn rann der Schweiß. Er stellte einen Blechnapf mit Suppe vor G.A. hin, auf einem dicken, gesprungenen Porzellanteller ein säuerlich riechendes Stück Fleisch, das in einer grauen Sauce schwamm, daneben eine hauchdünne Scheibe Brot. »Guten Appetit, mein Herr«, sagte er mit freundlichem Lächeln, während er seiner Hosentasche einen Apfel entnahm, ihn mit dem Jackenärmel abrieb und dann neben den Fleischteller auf das Tischtuch legte. »Ich hoffe, es sagt Ihnen zu.«

»Haben Sie keine Speisekarte?« fragte G.A.

»Speisekarte?« Der Kellner wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. »Leider nicht, mein Herr.«

G.A. betrachtete wortlos den Blechnapf. »Ein anderes Gericht haben Sie nicht anzubieten?« sagte er dann.

»Wozu, mein Herr?« sagte der Kellner. »Bitte kosten Sie doch davon, im allgemeinen sagt es jedem zu. Seit Jahren kochen wir nichts anderes mehr.«

»Der Napf ist nicht schmutzig genug«, sagte der Gast am Nebentisch mit vorwurfsvoller Stimme.

Der Kellner wandte sich mit einer jähen Bewegung um. »Mit allem Respekt möchte ich Sie ersuchen, mein Herr, sich nicht in innerbetriebliche Angelegenheiten zu mischen«, sagte er leise. »Wir kennen uns in der Branche aus und können annähernd die jeweiligen Bedürfnisse unserer Gäste ermessen. Dieser Herr besucht uns heute zum ersten Male und wird von uns dementsprechend bedient. Eine eingehendere Überprüfung erfolgt demnächst.«

G.A. beglich sofort seine Rechnung, er wollte nicht riskieren, auch noch beim Zahlen warten zu müssen. Während er zusah, wie der Kellner aus den verschiedenen Taschen seines fettigen Fracks und seiner weißen Seidenweste das Kleingeld einzeln hervorkramte, fragte ihn G.A., wo das nächste Hotel sei. »Ich frage, weil ich fremd bin und keine Unterkunft habe«, fügte er vorsichtshalber hinzu, um sich nicht neuerlich überflüssigen Fragen auszusetzen.

»Warum sollten Sie deshalb in ein Hotel gehen?« fragte der Kellner nachdem er geraume Zeit G.A.s Gesicht aufmerksam gemustert hatte. »Schlafen Sie bei mir, mein Herr, auch wenn Sie keine besondere Zuneigung zu meiner Person verspüren.«

G.A. senkte den Blick. »Danke, aber ich bin für längere Zeit in die Stadt gekommen.«

»Ich heiße Sie für jeden Zeitraum willkommen«, sagte der Kellner. »Leider kann ich Sie nicht zu mir nach Hause geleiten, ich bin hier unabkömmlich, aber ich schreibe Ihnen meine Adresse auf und erkläre Ihnen, wie Sie hinfinden. Die Wohnungstür ist nicht abgesperrt, es genügt, die Klinke niederzudrücken; Sie gehen hinein und legen sich in das erste leere Bett.«

»Haben Sie Zimmer zu vermieten?« fragte G.A.

»Zimmer zu vermieten?« wiederholte der Kellner. »Ein separates Zimmer? Wozu? Die Wohnung wird Ihnen auf alle Fälle zusagen, und wenn Sie wollen, können Sie mit mir in einem Zimmer schlafen, mein Herr.«

»Ich möchte lieber in ein Hotel gehen«, sagte G.A. geduldig. »Könnten Sie mir nicht die Adresse eines Hotels geben?«

Der Kellner wischte wieder mit dem Jackenärmel über seine hohe, schweißgebadete Stirn und die eingefallenen Schläfen. Seine Augen glänzten von Fieber. »Ich bedauere, daß Sie meine Einladung nicht annehmen, mein Herr. Auf Anhieb kann ich Ihnen keine Adresse geben«, sagte er mit schmerzlichem Gesichtsausdruck so leise, daß G.A. ihn kaum verstand, »aber ich werde meinen Kollegen fragen. Haben Sie die Güte, sich einen Augenblick zu gedulden.«

Am anderen Ende des Saales erlosch mittlerweile eine der Glühlampen, und die schwankenden Schatten verdichteten sich so, daß die Gestalt des enteilenden Kellners sich bald im Halbdunkel verlor. G.A. hatte das Gefühl, daß er nicht so schnell wieder zum Vorschein kommen würde. Die Unterhaltung der Kellner bei der Anrichte wurde merklich leiser, einige lehnten sich an die Wand und schlossen die Augen, andere säuberten sich die Nägel und kämmten ihr Haar. Durch die Tür, die jemand versehentlich offengelassen hatte, wehte der Wind herein und ließ die Tischtücher flattern. »Dieser Mann schwätzt zuviel«, sagte G.A.s nächster Tischnachbar. »Sie haben richtig gehandelt, indem Sie abgelehnt haben, bei ihm zu wohnen. Sie hätten unruhige Nächte gehabt. Höflich ist er wohl und sicher hat er so viel Taktgefühl, wie es sein Beruf erlaubt, aber er läßt einen zu sehr spüren, daß er mit sich zufrieden ist. Hoffentlich kann ich mich darauf verlassen, daß Sie ihm das nicht weiter sagen.«

»Könnten Sie mir eine Hoteladresse geben?« fragte G.A.

»Gewiß«, sagte der Mann. »Wenn Sie mir ein wenig Zeit zum Nachdenken bewilligen, wird mir spätestens binnen einer Viertelstunde eine einfallen, vielleicht sogar zwei.«

»Gibt es überhaupt ein Hotel in dieser Stadt?« fragte G.A. »Ich meine, ein Hotel, das in Betrieb ist?«

»Sicherlich gibt es eines«, sagte der Mann. »Wir haben wohl hundert oder zweihundert große Hotels, man muß sie nur finden. Ich gehe derzeit selten auf die Straße, auch bin ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt und beachte die Umwelt nicht. Glauben Sie, daß das ein Fehler ist?«

G.A. grüßte und trat auf die Straße. Obwohl es draußen bereits dunkelte, war es doch heller als in dem großen, marmornen Speisesaal, ab und zu brannte eine Laterne, auch einige Auslagen waren beleuchtet. Auf den Straßen wälzten sich nach wie vor geballte Menschenmassen im kalten Nieselregen dahin und überfluteten die Fahrbahn in ihrer ganzen Breite. G.A. bog nach einigen Minuten in eine lange Radialstraße ein. Hier herrschte zwar weniger Fußgängerverkehr, aber Fahrzeuge gab es nicht, weder Kraftwagen noch Pferdefuhrwerke. An der einen Straßenseite ragten wolkenkratzerartige, hohe Gebäude empor, deren Dächer sich in dem nächtlichen Himmel verloren; da die Fenster unbeleuchtet waren, mußte man annehmen, daß es sich entweder um unbewohnte Häuser oder um Bürogebäude handelte, oder daß sie noch nicht fertiggestellt waren. Die Straßenbeleuchtung wirkte hier noch dürftiger als in den engeren Gassen, die Gehsteige wurden immer wieder durch große Ziegel- oder Schutthaufen versperrt, das Pflaster war an vielen Stellen aufgerissen; dicke Bündel von Kabeln wanden sich vor den Füßen der Passanten, die im Dunkeln darüber stolperten.

Über dem Tor eines Hauses entdeckte G.A. eine unansehnliche, kaum wahrnehmbare Tafel mit der Aufschrift ›Hotel Astoria‹. Er trat zurück und betrachtete das Haus: es war einer der Wolkenkratzer von dreißig oder vierzig Etagen, derselbe, der ihm schon vom Anfang der breiten Straße an wegen seiner durchwegs unbeleuchteten Fenster aufgefallen war. Hinter dem weitgeöffneten Tor führte ein enger Gang zu einer Drehtür, durch deren Scheiben grelles, weißes Licht in den Gang und bis zum Torgewölbe fiel. G.A. trat ein. Er gelangte in eine Hotelhalle, deren Ausmaße offenbar noch gewaltiger waren als jene des marmornen Speisesaals. Das andere Ende der Halle hätte man nur mit einem Fernglas genauer überblicken können, trotz des starken Lichtes, das unzählige Kristallkronleuchter und Bogenlampen von der mehrere Stockwerke hohen Decke herabstrahlten. Stehlampen hinter den Sesseln und zahlreiche Leselampen auf den Tischen verscheuchten die flüchtigen Schatten. Ungefähr hundert Schritt vom Eingang, in der Mitte der Halle, glitzerte und gluckste Wasser in einem großen grünen Marmorbassin; eine Fontäne stieg in hohem Bogen auf und rieselte, von farbigen Lichtern bestrahlt, ins Becken zurück. Rings um den Springbrunnen standen Palmen, Lorbeerbäume und mächtige Gummibäume in großen Majolikatöpfen; ihre glänzenden Blätter verrieten, daß sie sorgsam gepflegt und täglich mit einem feuchten Tuch abgestaubt wurden. Am anderen Ende der riesigen Halle erhob sich in einem besonders starken Lichtkegel ein mit Teppichen belegtes Podium für das Orchester, das soeben die Ouvertüre einer Lehár-Operette spielte. Der beträchtlichen Entfernung wegen waren Lautsprecher an den Wänden angebracht, damit die Musik auch in der Nähe des Eingangs überall gleichmäßig zu hören sei. Auch sonst schien die Hoteldirektion mit liebevoller Fürsorge allen nur irgend gerechtfertigten menschlichen Ansprüchen entgegenzukommen: Sessel, Stühle, Sofas, Diwane für einige hundert Personen waren mit Samt, Leder oder Seide bezogen, ein jeder konnte das seinem Tastsinn zusagende Material wählen. Ein wenig befremdend, ja geradezu abstoßend wirkte nur, daß den teuren, gepflegten Möbeln keinerlei Spuren von Benutzung anhafteten, sie wirkten unpersönlich wie eine Möbelausstellung. Der lichtdurchflutete, außerordentlich prunkvolle, gewaltige Raum, an dessen Wänden übereinander drei Galerien mit goldverzierter Marmorbrüstung entlangliefen, war völlig menschenleer bis auf den Portier, der links vom Eingang in einer Nische saß. Die leise, diskrete Musik klang bis hier herüber.

»Kann ich ein Zimmer haben?« fragte G.A.