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Die Begegnung mit Arie, einem alten Freund ihres Vaters, wirft das Leben der Ich-Erzählerin Ja'ara aus der Bahn. Vom ersten Moment an verfällt sie der erotischen Anziehungskraft des ebenso rätselhaften wie tyrannischen Egozentrikers. Ja'ara erlebt eine bedingungslose, obsessive und demütigende Liebesbeziehung, die sie dazu bringt, auf alles zu verzichten, was ihr Leben bisher ausgemacht hat: ihre Ehe, ihre Karriere, ihre Vorstellungen von Treue und Anstand.
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Veröffentlichungsjahr: 2010
Impressum ePUB
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Übersetzung aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2013
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titelchajej ahawabei Keter Verlag, Jerusalem© 1997 Zeruya ShalevFür die deutsche Ausgabe:© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2004Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, Münchenunter Verwendung des Originallayouts von Rothfos & Gabler, HamburgFoto: © Sam Haskins
Cover & Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
FÜR MARVA
Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, daß dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist ihnen passiert, Ja’ara, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers.
Wie auf frischer Tat ertappt, drehten sie mir die Gesichter zu, und ich sah, daß sie im Bett lag, ein geblümtes Küchenhandtuch um den Kopf gewickelt, eine Hand an der Stirn, als fürchte sie, das Tuch könne runterfallen, und mein Vater saß auf dem Bettrand, ein Glas Wasser in der Hand, das Glas bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er hin und her, und auf dem Fußboden, zwischen seinen Füßen, hatte sich schon eine kleine zitternde Pfütze gebildet. Was ist passiert? fragte ich, und sie sagte, ich fühle mich nicht wohl, und mein Vater sagte, noch vor zwei Minuten hat sie sich prima gefühlt, und sie maulte, siehst du, er glaubt mir wieder mal nicht. Was hat der Arzt gesagt, fragte ich, und mein Vater sagte, was für ein Arzt, sie ist gesund wie ein Ochse, ich wünschte, ich wäre so gesund wie sie, und ich blieb hartnäckig, aber ihr habt einen Arzt gerufen, oder? Er hat mir doch die Tür aufgemacht, oder?
Wieso Arzt, mein Vater lachte, das ist mein Freund Arie Even, erinnerst du dich nicht an Arie? Und meine Mutter sagte, warum sollte sie sich an ihn erinnern, sie war noch nicht geboren, als er das Land verlassen hat, und mein Vater stand auf und sagte, ich gehe zu ihm, es gehört sich nicht, ihn allein zu lassen. Eigentlich sah es aus, als käme er ganz gut allein zurecht, sagte ich, er benahm sich wie der Herr des Hauses, und meine Mutter begann zu husten, ihre Augen wurden rot, und mein Vater hielt ihr ungeduldig das Glas hin, das inzwischen schon fast leer war, und sie schnaubte, bleib bei mir, Schlomo, ich fühle mich nicht wohl, aber er war schon an der Tür, Ja’ara bleibt bei dir, sagte er, wofür hat man denn Kinder.
Sie trank den Rest Wasser und nahm sich das nasse Handtuch vom Kopf, ihre dünnen Haare standen hoch wie die Stacheln eines Igels, mitleiderweckend, und als sie versuchte, sie an ihrem Schädel glattzustreichen, dachte ich an den Zopf, den sie einmal hatte, diesen hinreißenden Zopf, der sie überallhin begleitete, lebendig wie eine kleine Katze, und ich sagte, warum hast du ihn abgeschnitten, das war, wie wenn man ein Bein amputiert, hättest du dir mit derselben Leichtigkeit ein Bein abnehmen lassen? Sie sagte, der Zopf hat schon nicht mehr zu mir gepaßt, nachdem sich alles verändert hatte, und richtete sich im Bett auf, schaute nervös auf die Uhr, wie lange will er noch hier sitzen, mir stinkt es, den hellichten Tag im Bett zu verbringen.
Du bist wirklich nicht krank, stellte ich fest, und sie kicherte, natürlich nicht, ich kann diesen Kerl einfach nicht ausstehen, und ich sagte sofort, ich auch nicht, denn die Stelle, wo unsere Arme sich berührt hatten, brannte, als hätte mich etwas gestochen, und dann fragte ich, warum.
Das ist eine lange Geschichte, sagte sie, dein Vater schätzt ihn, sie haben zusammen studiert, vor dreißig Jahren, er war sein bester Freund, aber ich habe immer gedacht, daß Arie nur mit ihm spielt, ihn sogar ausnützt, ich glaube nicht, daß er überhaupt in der Lage ist, etwas zu fühlen. Schau doch, jahrelang haben wir nichts von ihm gehört, und plötzlich taucht er hier auf, weil Papa etwas für ihn arrangieren soll.
Aber du hast gesagt, daß er nicht hier gelebt hat, sagte ich und fand mich plötzlich in der Situation, daß ich ihn verteidigte, aber sie sagte, stimmt, sie haben in Frankreich gelebt, erst jetzt sind sie nach Israel gekommen, aber wenn man will, kann man auch von dort aus Kontakt halten, und ihr Gesicht reduzierte sich auf eine konzentrierte Bosheit, auf ein Dreieck voller Falten und Altersflecken, das trotzdem kindlich wirkte, mit den mißtrauisch zusammengekniffenen Augen, staubig wie Fenster, die man seit Jahren nicht geputzt hat, und der geraden schönen Nase, die sie mir vererbt hat, darunter spannten sich bitter die blassen Lippen, die allmählich immer leerer wurden, als würden sie von innen aufgesaugt.
Was hat er in Frankreich gemacht, fragte ich, und sie sagte, was er überall macht, eigentlich gar nichts. Papa ist überzeugt, daß er im Auftrag des Geheimdienstes dort war, aber meiner Meinung nach hat er auf Kosten seiner reichen Frau gelebt, einfach ein Habenichts, der Geld geheiratet hat, und jetzt kommt er her und gibt mit den europäischen Manieren an, die er sich angeeignet hat, und ich sah, daß ihre Augen am Spiegel an der Wand gegenüber hingen und zusahen, wie die Worte aus ihrem Mund kamen, schmutzig, vergiftet, und wieder dachte ich, wer weiß, was sie nicht alles über mich sagen würde, ein Gefühl der Erstickung überfiel mich, und ich sagte, ich muß gehen, und sie stieß aus, noch nicht, versuchte mich festzuhalten, so, wie sie es bei ihm versucht hatte, bleib bei mir, bis er geht, und ich fragte, warum, und sie sagte achselzuckend, wie ein verstocktes Kind, ich weiß nicht.
Der scharfe Geruch französischer Zigaretten drang aus dem Wohnzimmer, und mein Vater, der niemals erlaubt hatte, daß jemand in seiner Gegenwart rauchte, hockte, in Rauchschwaden gehüllt, auf dem Sofa, und auf seinem weichen Sessel räkelte sich sein Gast, gelassen und selbstzufrieden, und sah zu, wie ich näher kam. Erinnerst du dich an Ja’ara, sagte mein Vater fast flehend, und der Gast sagte, ich erinnere mich an sie als Baby, ich hätte sie nicht wiedererkannt, und erhob sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und streckte mir eine schöne Hand entgegen, mit dunklen Fingern, lächelte spöttisch und sagte zu mir, erwartest du immer das Schlimmste? Er erklärte meinem Vater, als sie mich an der Tür gesehen hat, hat sie mich angesehen, als hätte ich euch beide umgebracht und sie wäre als nächste an der Reihe, und ich sagte, stimmt, und meine Hand fiel herab, schwer und überrascht, wie die Hand eines Menschen, der gerade ohnmächtig wird, denn er ließ sie ganz plötzlich los, bevor ich damit gerechnet hatte, und setzte sich wieder in den Sessel, seine dunkelgrauen Augen musterten mein Gesicht, ich versuchte, mich hinter meinen Haaren zu verstecken, setzte mich ihm gegenüber und sagte zu meinem Vater, ich habe es eilig, Joni wartet zu Hause auf mich. Wie geht es deiner Mutter, fragte der Gast, seine Stimme war tief, und ich sagte, nicht so gut, ein schiefes Lächeln entschlüpfte mir, wie immer, wenn ich log, und mein Vater sah mich mit glänzenden Augen an, du weißt, daß wir zusammen studiert haben, als wir jung waren, sagte er, jünger als du, wir haben sogar eine Zeitlang zusammen gewohnt, aber die Augen des Gastes glänzten nicht, als seien seine Erinnerungen längst nicht so begeisternd, und mein Vater ließ nicht locker, warte einen Moment, er erhob sich vom Sofa, ich muß dir ein Bild von uns zeigen, wie immer weckte die Vergangenheit eine ungeheure Erregung in ihm.
Man hörte ihn im Nebenzimmer suchen, Schubladen wurden aufgerissen, Bücher auf den Boden gelegt, die Geräusche überdeckten unser unangenehmes, erstickendes Schweigen, und der Gast steckte sich wieder eine Zigarette an, unternahm nicht einmal den Versuch einer Unterhaltung, betrachtete mich mit seinem Blick, der Hochmut, Herausforderung und zugleich Gleichgültigkeit ausdrückte, seine Anwesenheit füllte das Zimmer aus, und ich versuchte, ihm mit einem strahlenden Blick zu antworten, aber meine Augen blieben gesenkt, wagten es nicht, an den geöffneten Knöpfen seines kurzen Hemdes hochzuklettern, eines Hemdes, das eine braune glatte Brust freilegte, sie senkten sich tiefer, zu seinen fast lächerlich glänzenden spitzen Schuhen, dazwischen eine große schwarze Tüte, auf der mit Goldbuchstaben stand: Das linke Ufer, Pariser Moden, ich unterdrückte ein Grinsen, die Koketterie, die darin lag, verwirrte mich, sie paßte nicht zu seinem konventionellen Gesichtsausdruck, und das Grinsen blieb mir im Hals stecken, ich hustete verlegen, suchte nach etwas, was ich sagen könnte, und am Schluß sagte ich, er findet es bestimmt nicht, er findet nie etwas.
Er wird es nicht finden, weil das Foto bei mir ist, bestätigte der Gast flüsternd, und genau in dem Moment war ein Krachen zu hören, dann ein Fluch, und mein Vater kam hinkend ins Zimmer zurück, mit der Schublade, die ihm auf den Fuß gefallen war, wo kann es nur sein, dieses Foto, und der Gast blickte ihn spöttisch an, laß gut sein, Schlomo, was spielt das für eine Rolle, und ich wurde ganz nervös, warum sagte er ihm nicht, daß das Foto bei ihm war, und woher wußte er, daß ich es nicht sagen würde, wie zwei Betrüger beobachteten wir die geschäftige Sucherei, bis ich es nicht mehr aushielt und aufstand, Joni wartet zu Hause auf mich, sagte ich noch einmal, als wäre das die Losung, das rettende Wort, das mich befreien würde. Schade, sagte mein Vater bedauernd, ich wollte dir zeigen, wie wir damals aussahen, und der Gast sagte, sie braucht das nicht, auch du brauchst das nicht, und ich sagte, stimmt, obwohl ich gern gewußt hätte, wie sein dunkles, scharfes Gesicht früher ausgesehen hatte, und mein Vater begleitete mich hinkend zur Tür und flüsterte, na, sie ist nicht wirklich krank, stimmt’s, sie verstellt sich nur, nicht wahr? Und ich sagte, wieso denn, sie ist wirklich krank, du mußt den Arzt rufen.
Die Treppe vor dem Haus war mit glatten Blättern bedeckt, die schon anfingen zu faulen, ich trat vorsichtig auf das langsam gärende Zeug, wobei ich mich am kalten Geländer festhielt, noch gestern hatte es unter meinen Händen gebrannt, aber heute hatte der Chamsin aufgehört, und vom Himmel tröpfelte es, ein unverbindliches, herbstliches Tröpfeln, und ich lief hinunter zur Hauptstraße, um diese Uhrzeit schalteten die Autofahrer die Lichter ein, und alle Autos sahen gleich aus, auch die Fußgänger waren einander ähnlich, ich mischte mich unter sie, schließlich waren wir alle grau in diesem Dämmerlicht, meine Mutter, die sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte, mein Vater, der sich in die Rauchschwaden seines Jugendfreundes hüllte, und Joni, der zu Hause auf mich wartete, gähnend vor Müdigkeit am Computer sitzend, und Schira, die nicht weit von hier wohnte, gleich hier in der Seitenstraße, ich stand schon fast vor ihrem Haus und hatte Lust nachzusehen, ob sie daheim war. Mir schien, als hätte ich ihr viel zu erzählen, obwohl wir erst heute mittag miteinander gesprochen hatten, in der Universität, und ich klingelte, aber es kam keine Antwort, doch ich gab nicht auf, vielleicht war sie unter der Dusche oder auf dem Klo, ich versuchte es hinten, vom Hof aus, klopfte an die Scheiben, bis ich ein Maunzen hörte und Tulja durch das angelehnte Küchenfenster zu mir herauskam, Schiras Kater, er hatte wohl die Nase voll davon, den ganzen Tag allein zu sein, und ich streichelte ihn, bis er schnurrte, seinen grauen Schwanz in die Höhe streckte, das Streicheln beruhigte mich ein bißchen, ihn auch, er legte sich neben meine Füße und schien einzuschlafen, aber nein, sein gereckter Schwanz begleitete mich, als ich den Hof verließ und durch die dämmrige Gasse ging, die einzige Straßenlaterne, die sie beleuchtete, flackerte einen Moment und ging dann aus.
Tulja, geh weg, sagte ich zu ihm, Schira kommt bald nach Hause, aber er beharrte darauf, mich zu begleiten, wie ein übertrieben höflicher Gastgeber, und ich dachte daran, wie mein Vater jetzt seinen Gast begleitete, sich an ihn klammernd wie an eine süße Erinnerung, und mir schien, als würden sie vor mir die Straße überqueren, mein Vater mit kurzen, schnellen Schritten, seine dünnen Glieder wurden von der Dunkelheit verschluckt, und neben ihm, mit wilden Schritten, der Gast, sein bronzefarbenes Gesicht hart und aggressiv, die silbergrauen Haare aufleuchtend, und ich rannte ihnen nach, hinter mir das Maunzen des Katers, ich trat nach ihm, hau ab, Tulja, geh schon nach Hause, und überquerte die Straße, plötzlich quietschende Bremsen, ein leichter Schlag, eine sich öffnende Autotür, und jemand schrie, wem gehört diese Katze? Wem gehört diese Katze, und eine andere Stimme sagte, das ist schon egal, was spielt das für eine Rolle?
Ich rannte weg, wagte nicht, mich umzudrehen, sah vor mir meinen Vater und seinen Gast gehen, dicht nebeneinander, Arm in Arm, der Kopf meines Vaters rieb sich an der breiten Schulter, aber nein, sie waren es nicht, als ich sie einholte, sah ich, daß es ein Paar war, ein Mann und eine Frau, nicht mehr jung, aber ihre Liebe war vermutlich jung, und ich stolperte die lärmende Straße hinunter zu unserer Siedlung, der Schweiß rann an mir herunter wie das Blut von dem Kater, das in einem kräftigen Strahl hinter mir die Straße herunterlief, und ich wußte, daß es immer weiter fließen und erst vor unserer Haustür zum Stehen kommen würde.
Was ist passiert, Wühlmäuschen, fragte er, das Gesicht erhitzt, den weichen Bauch mit einer Schürze bedeckt, und ich sah den zum Abendessen gedeckten Tisch, Messer und Gabel ordentlich auf roten Servietten, und statt mich zu freuen, antwortete ich gereizt, nenne mich nicht so, wie oft habe ich dir schon gesagt, daß es mich nervt, wenn du mich so nennst, und seine Augen wurden groß vor Kränkung, und er sagte, aber du warst es doch, die mit diesen Namen angefangen hat, und ich sagte, na und, ich habe aber damit aufgehört und du nicht, erst gestern hast du mich vor anderen Leuten so genannt, und alle haben uns für bescheuert gehalten. Was kümmert es mich, was die anderen denken, murmelte er, mir ist es wichtig, was wir denken, und ich sagte, wann kapierst du endlich, daß es kein wir gibt, es gibt ein ich und ein du, und jeder hat das Recht auf seine eigenen Gedanken, und er redete hartnäckig weiter, früher hast du es gemocht, wenn ich dich so genannt habe, und ich zischte, in Ordnung, dann habe ich mich eben geändert, warum kannst du dich nicht auch ändern, und er sagte, ich werde mich in meinem eigenen Rhythmus ändern, du kannst mir keine Vorschriften machen, schnappte seinen Teller und setzte sich vor den Fernseher, und ich betrachtete den Tisch, der sekundenschnell sein Aussehen geändert hatte, plötzlich zu einem Einpersonentisch geworden war, und überlegte, wie traurig es ist, allein zu leben, wie schafft Schira das, und dann fiel mir Tulja ein, ihr dicker, verwöhnter Kater, weich und pelzig wie ein Kopfkissen, und ich sagte, ich habe keinen Hunger, und ging ins Schlafzimmer, legte mich aufs Bett und dachte, was werden wir jetzt tun, ohne all die kleinen zärtlichen Namen, er wird mich nicht mehr Wühlmäuschen nennen und ich ihn nicht mehr Biber, wie können wir dann überhaupt miteinander sprechen?
Ich hörte das Telefon klingeln und seine weiche Stimme, als er antwortete, und dann kam er ins Zimmer und sagte, Schira ist am Telefon, sag ihr, daß ich schlafe, sagte ich, und er sagte, aber sie braucht dich, und hielt mir den heulenden Hörer hin. Tulja ist verschwunden, jammerte sie, und die Nachbarn sagen, hier in der Nähe wäre eine Katze überfahren worden, und ich habe Angst, daß es Tulja war, und ich flüsterte, beruhige dich, es ist bestimmt eine andere Katze, Tulja geht doch nie vom Haus weg, und sie weinte, ich habe das Gefühl, er war es, immer wartet er abends auf mich, und ich sagte, aber Tulja geht doch so gut wie nie aus dem Haus, und sie sagte, ich habe das Küchenfenster offengelassen, weil es heute morgen noch Chamsin gab, ich habe nicht geahnt, daß er rausgehen würde, was für einen Grund hätte er haben sollen hinauszugehen, es geht ihm doch nicht schlecht in der Wohnung.
Er ist bestimmt unter dem Bett oder irgendwo, sagte ich, du weißt, wie Katzen sind, sie verstecken sich und kommen wieder zum Vorschein, wie es ihnen gerade paßt, geh jetzt schlafen, morgen früh wird er dich wecken, und sie flüsterte, hoffentlich, und wieder fing sie an zu weinen, er ist mein Baby, ich bin verloren ohne ihn, du mußt kommen und mir beim Suchen helfen, und ich sagte, aber Schira, ich bin gerade eben nach Hause gekommen und kann mich kaum noch rühren, warten wir noch einen Tag, aber sie blieb stur, ich muß ihn jetzt finden, und am Schluß sagte ich, in Ordnung.
An der Tür fragte er, was ist mit dem Essen, das ich gekocht habe, seine Augen über dem kauenden Mund bekamen einen enttäuschten Ausdruck. Ein Stück Tomate war ihm beim Sprechen entwischt und hing jetzt an seinem Kinn, ich sagte, ich muß Schira helfen, ihren Kater zu suchen, und er sagte, immer beklagst du dich, daß ich nie koche, und wenn ich dann koche, ißt du nicht. Was kann ich machen, sagte ich gereizt, wenn du ihr gesagt hättest, daß ich schlafe, hätte ich jetzt nicht wegzugehen brauchen, du kannst mir glauben, daß ich lieber zu Hause bleiben würde, und er kaute unermüdlich weiter, als würde er auf den Worten herumkauen, die ich gesagt hatte, würde sie im Mund hin und her wenden, dann sah er wieder zum Fernseher, und ich warf ihm zum Abschied einen Blick zu und ging hinaus, immer, wenn ich von ihm wegging, hatte ich das Gefühl, ich würde ihn nicht wiedersehen, dies wäre das letzte Mal, und die Hunderte von Malen, die ich mich geirrt hatte, konnten an dieser Überzeugung nichts ändern, sondern verstärkten sie nur noch und vergrößerten meine Angst, daß es diesmal passieren würde.
Schira saß in der Küche, den Kopf auf den schmutzigen Tisch gelegt, in ihren Haaren verfingen sich die Krümel. Ich habe immer Angst davor gehabt, weinte sie, und jetzt ist es noch viel schlimmer, als ich gedacht habe, und ich sagte, warte, bevor du anfängst zu trauern, komm, suchen wir ihn erst, und ich begann im Haus herumzukriechen, unter dem Bett zu suchen, in den Schränken, und dabei plärrte ich wie eine Idiotin, Tulja, Tulja, als würde ich in dem Maß, in dem ich mich anstrengte, ihn zu suchen, meine Schuld sühnen, denn schließlich hätte ich ihn nach Hause zurückbringen müssen oder ihn wenigstens von der Straße entfernen, also kroch ich dickköpfig weiter, mit Staubflocken bedeckt, als hätte ich mich als Schaf verkleidet, und verfluchte den Moment, in dem ich mich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen, warum bin ich nicht geradewegs nach Hause gegangen, was hatte ich ihr eigentlich so dringend zu erzählen, und ich kroch herum, bis mir die Knie weh taten, und ich sagte, genug, komm, suchen wir ihn draußen.
Als wir hinausgingen, hängte sie sich bei mir ein, ihr kleiner Körper war hart, und sie flüsterte, danke, daß du mit mir gehst, ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte, ihre Worte befestigten meine Schuld mit spitzen Reißnägeln an mir, und wir liefen durch die kleinen Straßen rechts und links von der Hauptstraße und schrien Tulja, Tulja, und jedesmal, wenn eine Katze aus einem Mülleimer sprang, packte sie meine Hand und ließ sie dann enttäuscht wieder los, und schließlich hatten wir keine Wahl mehr und näherten uns langsam, sehr langsam, der Hauptstraße, und sie sagte, schau du nach, ich kann nicht, und ich suchte zwischen den hellen kalten Straßenlaternen, ein bösartiges Augenpaar nach dem anderen, und ich sah nichts, so schnell war er entfernt worden, dieser große, verwöhnte, vertrauensvolle Körper mit den langen Schnurrhaaren, die immer ein eingebildetes und trotzdem so reales Lächeln verbargen.
Das zeigt mir, wie einsam ich bin, sagte Schira, als wir auf der Bank vor dem Haus saßen, du hast Glück, daß du nicht allein bist, und ich fühlte mich unbehaglich, wie immer, wenn sie dieses Thema anschnitt, denn sie hatte Joni vor mir gekannt, und immer hatte ich geglaubt, daß sie in ihn verliebt war, ich hatte ihr also sowohl ihn als auch den Kater weggenommen. Jetzt würde ich nicht mehr zum Spaß sagen können, nimm Joni und gib mir den Kater, wie ich es manchmal getan hatte, wenn Tulja sich an mich schmiegte und mich an alle Katzen erinnerte, die ich im Leben geliebt hatte, schon immer kam ich besser mit Katzen aus als mit Männern, aber Joni wollte keine Katze in der Wohnung, seiner Meinung nach ging so etwas nie gut aus, und siehe da, er hatte recht, aber was ging überhaupt gut aus? Mein Gewissen bedrückte mich so, daß mir das Atmen schwerfiel, und da kam die Nachbarin aus dem Stockwerk darüber mit Müll aus dem Haus, und Schira fragte sie, haben Sie vielleicht Tulja gesehen, und die Nachbarin sagte, ich glaube, ich habe ihn vor ein, zwei Stunden gesehen, er ist hinter einer großen jungen Frau mit langen Locken hergelaufen, und ihre Hände, die versuchten, die Größe der jungen Frau und die Länge ihrer Locken zu beschreiben, hielten plötzlich vor mir inne, und ich bereute, daß ich mich nicht umgezogen oder wenigstens die Haare zusammengebunden hatte, und Schira schaute mich an, und die Nachbarin schaute mich an, und ich sagte, nein, nicht ich, ich war heute nicht hier, ich war bei meinen Eltern, ich schwör’s, ich bin dort hängengeblieben, weil jemand mit einem schrecklichen Gesicht bei ihnen war, und die Nachbarin sagte, jedenfalls hat sich eine Frau, die Ihnen ähnlich sieht, hier herumgetrieben, und die Katze ist ihr nachgelaufen, Richtung Straße. Ich habe gehört, daß heute hier eine Katze überfahren worden ist, murmelte Schira, und die Nachbarin sagte, davon weiß ich nichts, und betrat das Gebäude, ließ mich allein mit ihr, und ich sagte, Schira, wirklich, ich hätte es dir doch gesagt, und sie unterbrach mich mit kalter Stimme, es ist mir egal, was war, ich möchte nur meinen Kater. Er wird zurückkommen, sagte ich flehend, du wirst sehen, bis morgen früh ist er wieder da, und sie sagte, ich bin müde, Ja’ara, ich möchte schlafen, und wieder zitterte ihre Stimme, wie soll ich ohne ihn schlafen, ich bin daran gewöhnt, mit ihm zu schlafen, sein Schnurren beruhigt mich, und ich sagte, dann bleibe ich eben bei dir und schnurre wie eine Katze, und sie sagte, genug, hör auf, du mußt zu Joni zurück, sie sorgte sich immer um ihn, demonstrierte ihre Liebe auf Umwegen, und ich sagte, Joni kommt zurecht, ich bleibe bei dir, aber sie sagte, nein, nein, und ich hörte in ihrer Stimme den schweren bedrückenden Zweifel, ich muß allein damit fertig werden, und ich sagte mit einer ganz kleinen Stimme, es gibt noch Aussichten, daß er zurückkommt, und sie sagte, du weißt doch, daß das nicht stimmt.
Auf dem Rückweg dachte ich, ich werde immer lügen, und niemand außer mir wird es wissen, und wenn ich lange genug lüge, wird sich die Wahrheit aus dem Staub machen, sich vor der Lüge zurückziehen, und ich werde selbst schon nicht mehr wissen, was passiert ist, und ich dachte an die Angst, die mich auf den glitschigen Stufen gepackt hatte, und wie die Angst manchmal ihrer eigenen Begründung vorauseilte, und ich versuchte herauszufinden, was eigentlich so bedrohlich an diesem Gesicht gewesen war, doch ich erinnerte mich nicht mehr an das Gesicht, nur noch an die Angst, und wie immer in solchen Momenten dachte ich erleichtert an den lieben süßen Joni, gleich fangen wir den Abend neu an, dachte ich, ich werde alles essen, was er gekocht hat, ich werde nichts auf dem Teller zurücklassen, aber schon von draußen sah ich, daß die Wohnung dunkel war, sogar der Fernseher war aus, nur das Telefon war wach und läutete hartnäckig, und ich nahm den Hörer ab und hatte Angst, daß Schira wieder dran wäre, aber es war meine Mutter.
Er ist noch da, flüsterte sie, ich sage dir, Papa macht das mit Absicht, da bin ich sicher, er will sehen, wer zuerst zusammenbricht, ich sterbe vor Hunger und ich bin hier eingesperrt, wegen ihm, und ich sagte, dann geh doch in die Küche, wo liegt das Problem, und sie sagte, aber ich will ihn nicht sehen. Dann geh einfach mit geschlossenen Augen, da siehst du ihn nicht, schlug ich vor, und sie schrie, aber er wird mich sehen, verstehst du das nicht? Ich will nicht, daß er mich sieht, und ich sagte, mach dir keine Sorgen, Mama, er wird nicht ewig bei euch bleiben, und ging ins dunkle Schlafzimmer. Joni lag dort, ruhig atmend und mit geschlossenen Augen, und ich legte ihm die Hand auf die Stirn und flüsterte, gute Nacht, Biber.
Wo hatte ich diese Buchstaben schon gesehen, verziert wie in alten Bibeln und noch dazu in Gold, Gold auf Schwarz, sie füllten mir die Augen, als ich in das Schaufenster sah, der Autobus hielt, riß sein Maul auf, und ich starrte das riesige Schild an, bis sich die Buchstaben zusammenfügten. Das linke Ufer, schrien sie mir zu, Pariser Mode, und ich stand schnell auf, versuchte, mich zum Ausgang zu drängen, als hätte ich dort etwas besonders Wertvolles vergessen, etwas, was nicht warten konnte.
Aus der Nähe konnte man die Schrift auf dem Schild kaum lesen, so groß und hoch war es, nur das Gold strahlte verheißungsvoll, wie die herbstliche Sonne, und ich wärmte mich an seinem Licht, näherte mich dem großen, neuen Schaufenster, noch vor einem Monat hatte man hier Baumaterial verkauft und jetzt diese Kleider, die geheimnisvoll und verlockend aus seiner Tüte zwischen den spitzen Schuhen hervorgelugt hatten, nun lagen sie offen da, stellten sich stolz zur Schau. Vor allem dieses weinrote Kleid, kurz und eng, mit langen Ärmeln, auf der Schaufensterpuppe sah es toll aus, betonte die vollen Plastikbrüste mit den aufgerichteten Brustwarzen, so wie es sein sollte, und die schmal geformten Beine, und ich stand davor und zählte traurig die Unterschiede zwischen uns auf, und durch ihre weit auseinanderstehenden Beine sah ich den schmalen Hintern, gut verpackt in eine schwarze Kordhose, die er vor dem Spiegel anprobierte, er trat ein paar Schritte zurück und wieder nach vorn, vor und zurück, sein Gesicht konnte ich kaum sehen, es verbarg sich hinter dem dünnen Rücken der Puppe, aber ich konnte mir vorstellen, welche Selbstzufriedenheit es jetzt zeigte. Was treibt er die ganze Zeit dort, fragte ich mich verwundert, was denkt er jetzt, während er vor dem Spiegel herumstolziert wie ein alterndes Model, und dann öffnete sich ein leerer Raum zwischen den Beinen der Puppe, und eine Frau sagte von der Ladentür aus, Sie können ruhig hereinkommen und das Kleid anprobieren, wir haben es in allen Farben, und ich stotterte, ich will genau diese Farbe, und die Verkäuferin sagte mit dunkler Stimme, es ist schade, es einfach so von der Puppe zu nehmen, schauen Sie sich erst den Schnitt an, und ich beharrte darauf, nur diese Farbe anprobieren zu wollen, ich mußte die Puppe unbedingt beschämt sehen, und betrat hinter der Frau den Laden.
Er war schon wieder aus der engen Umkleidekabine herausgekommen, diesmal in einer braunen Hose, lief mit wilden Schritten auf den Spiegel zu, und ich, ohne nachzudenken, suchte Schutz und verschwand, als ginge im Laden unvermittelt ein Wolkenbruch nieder, in der Umkleidekabine, die er frei gemacht hatte, in der aber noch sein scharfer Geruch hing, trat auf die schwarze Hose, die er gerade ausgezogen hatte, schnüffelte an seiner alten Hose, die am Haken hing, wühlte in den Taschen, wozu brauchte er so viele Schlüssel, und die Verkäuferin fragte, wo ist die junge Frau, die das Kleid aus dem Schaufenster anprobieren wollte, und mit verstellter Stimme sagte ich, hier, und streckte die Hand hinaus. Sie hängte mir das Kleid über die Hand, und ich zog mich schnell aus, mischte meine Kleidungsstücke mit seinen, aber statt das Kleid anzuprobieren, zog ich die Hose an, die er ausgezogen hatte, eine aufregende kühle Berührung, als klebe noch seine glatte Haut an ihr, und ich hörte Schritte näher kommen, und die Verkäuferin sagte, hier ist besetzt, hier wird anprobiert, und seine tiefe Stimme, aber das ist doch meine Kabine. Es tut mir leid, sagte sie, die Kabine ist gleich wieder frei, und ich hörte, wie er etwas auf französisch erklärte, und durch den Spalt zwischen den beiden schmalen Kabinentüren sah ich ihn in der braunen Hose, und eine elegante junge Frau winkte mit einem braunen Hemd und redete in einem weichen Französisch auf ihn ein, und er fing an, sich vor dem Spiegel auszuziehen, vermutlich waren alle Kabinen besetzt, und entblößte seine Brust, fast in der Farbe des Hemdes, und plusterte sich auf wie ein Pfau in seinen neuen Kleidern, steckte für sich und die Frau neben ihm eine Zigarette an, und ich sah, daß sie durch eine lange Spitze rauchte, die hervorragend zu ihrer roten, glatten Frisur und zum maßgeschneiderten Jackett paßte. In zögerndem Hebräisch fragte sie die Verkäuferin nach dem Kleid aus dem Schaufenster, dem weinroten, und die Verkäuferin sagte, es wird gerade anprobiert, aber wir haben es noch in anderen Farben. Ich hörte, wie die junge Frau auf dem Kleid beharrte, und die Verkäuferin rief zu den geschlossenen Kabinentüren, nun, was ist mit Ihnen, man wartet hier auf die Kabine und auf das Kleid, und sofort stieß ich aus, ich nehme das Kleid, hörte mit Genugtuung den enttäuschten Ausruf der Frau mit der Zigarettenspitze, dann zog ich schnell seine Hose aus und schlüpfte in meine eigenen Sachen, und bevor ich noch den Reißverschluß zumachen konnte, hörte ich einen verärgerten Ausruf, nun, was ist los hier, und die Kabinentüren knallten gegen mich und stießen mich an die Wand.
Die Tochter von Korman, sagte er. Mit einer Hand hielt ich mein Kleid, mit der anderen versuchte ich, den Reißverschluß hochzuziehen, in dem sich ein paar Schamhaare verfangen hatten, meine nackten Füße traten auf seine Hose, und ich sah vor mir seine Knöpfe, die einer nach dem anderen aufgingen, bis er das Hemd ausgezogen hatte, wobei ein scharfer Geruch von seinen glatten Achselhöhlen ausging, der komprimierte Geruch nach verbrannten Tannennadeln, und seine dicken, durstig geöffneten Lippen, besänftigt von der breiten dunklen Zunge, die über ihnen hin und her fuhr. Seine Augen betrachteten mich mit schmerzhafter Konzentration, dunkel wie fast vollkommen verbrannte Kohlen, von denen nur noch glühende Asche geblieben war, und ohne den Blick abzuwenden, öffnete er den Reißverschluß seiner Hose und ließ sie an seinen langen jugendlichen Beinen hinuntergleiten, entblößte eine schwarze enge Unterhose mit einer gewölbten Stelle in der Mitte, und ich versuchte, zur Seite zu schauen, als würde ich plötzlich aus Versehen meinen Vater in der Unterhose sehen, aber er ließ es nicht zu, mit einer Hand drehte er meinen Kopf und drückte ihn nach unten, genau so, wie man eine Puppe im Schaufenster zurechtdreht, mit der anderen nahm er meine Hand und legte sie auf die heiße Wölbung. Ich fühlte, wie sich seine schwarze Unterhose mit Leben füllte, als wäre da der zusammengerollte Rüssel eines Elefanten, der sich jubelnd aufrichten wollte, und meine Hand krümmte sich ihm entgegen, ich ließ das Kleid los und legte auch die zweite Hand auf die Stelle, und er ließ mich los, doch seine Augen lagen so schwer auf mir wie Hände, ihr vibrierender Blick zwang mich in die Knie, brachte mich dazu, meine Wange auf den angespannten leisen Kampf zu legen, der sich dort, zwischen Haut und Stoff, abspielte. Und dann hörte ich die Frau mit der Zigarettenspitze sagen, alors, Arie, und er legte den Finger auf die Lippen, zog mich hoch, drückte meine Hände mit Gewalt auf seine Unterhose und zog dann schnell seine alte Hose an, so schnell, daß meine Hände fast noch drinsteckten, als er den Reißverschluß zuzog, und er bedeckte seine glatte braune Brust mit dem Hemd und verließ die Kabine, einen Haufen Kleidungsstücke mitschleppend, und ich zog mich schnell an, suchte das Kleid in der nun leeren Kabine, vermutlich hatte er es aus Versehen mitgenommen, und sprang mit einem Satz hinaus, ohne mir die Schnürsenkel zugebunden zu haben.
Sie standen schon an der Kasse, er, aufrecht und groß, ordnete seine silbergrauen Haare, und sie, elegant und gut aussehend in dem kurzen Hosenrock und dem modischen Jackett, nicht direkt schön, aber jedenfalls makellos elegant, eine Art von Eleganz, die mehr war als Schönheit, flüsterte ihm etwas ins Ohr, wühlte in dem Haufen Kleidungsstücke und zog mein Kleid hervor, und ich machte einen Schritt auf sie zu, trat auf meine offenen Schnürsenkel und stolperte, vor lauter Spiegeln war es schwer zu erkennen, wo sie wirklich waren und wo nur ihr Spiegelbild, ich kam durcheinander und stieß gegen einen Spiegel statt gegen seinen lebendigen Körper, der noch in meinen Händen pochte. Das ist mein Kleid, sagte ich atemlos, Entschuldigung, das ist mein Kleid, und die Kassiererin sah mich mißtrauisch an, ich rief die Verkäuferin als Zeugin, und zu meinem Glück bestätigte sie es, ja, sie hat es vorher anprobiert, und erst da hob er den Kopf von seiner braunen Brieftasche und sagte erstaunt, Ja’ara, was machst du hier, und erklärte seiner Begleiterin auf französisch, la fille de mon ami, machte sich aber nicht die Mühe, sie mir vorzustellen, und fragte, während er den Scheck ausstellte, übertrieben freundlich, wie geht es deiner Mutter? Ich hoffe, sie hat sich erholt, und ich sagte, ja, es geht ihr schon wieder ganz gut, sah, wie die Konzentration aus seinem Gesicht verschwand und es wieder von dem Ausdruck spöttischer Selbstzufriedenheit beherrscht wurde. Ich habe die Sachen zurückgegeben, die ich vor einer Woche gekauft habe, Sie müssen sie mir abziehen, sagte er zu der Kassiererin und zog einen Scheck heraus, sie prüfte die Quittungen und bat um seine Personalausweisnummer und die Telefonnummer, und er schrieb ihr die Zahlen auf, langsam und sie laut aussprechend, wiederholte die Telefonnummer noch einmal, und ich lernte sie, lautlos die Lippen bewegend, auswendig. Als sie mit der schwarzen Tüte den Laden verließen, einer riesigen Tüte, die noch größer war als die vorherige, winkte er mir freundlich zu und sagte, richte bitte einen Gruß aus zu Hause, und fügte hinzu, als falle es ihm plötzlich ein, sag deinem Vater, daß ich noch auf seine Antwort warte, und ich sagte, in Ordnung, schaute ihnen nach, wie sie sich entfernten, er führte sie, die Hand auf ihrer Schulter, energisch, ihre Hintern bewegten sich im gleichen Rhythmus, da nannte die Kassiererin mir den Preis des Kleides, den ich nur mit Mühe erfaßte, mein Kopf war voll mit seiner Telefonnummer, sie wiederholte den Preis, und ich murmelte, wieso ist es so teuer, ich habe nicht gewußt, daß es so teuer ist, legte das Kleid auf den Tisch und trat einen Schritt zurück, als würde es gleich explodieren, und die Verkäuferin kam drohend auf mich zu, mit einem Schlag fiel die ganze Freundlichkeit von ihr ab, was soll das heißen, Ihretwegen haben wir eine Kundin verloren, das gibt es nicht, daß Sie es jetzt nicht nehmen. Ich habe nicht auf den Preis geachtet, stammelte ich, ich muß mit meinem Mann sprechen, ich erwähnte ihn nur, um mich ein wenig zu beruhigen, mich an seiner akustischen Existenz festzuhalten, sie sollten wissen, daß ich nicht allein, nicht so verloren war, wie ich in diesem Moment aussah, und die Verkäuferin packte wütend das Kleid, bevor Sie sich das nächste Mal zu etwas verpflichten, schauen Sie gefälligst auf den Preis, und ich sagte, Sie haben recht, Entschuldigung, sah bekümmert, wie mein schönes samtiges Kleid, das ich noch nicht einmal anprobieren konnte, wieder der Puppe übergestreift wurde, die schon darauf wartete, und stand wieder vor dem Schaufenster, wie vorher, bemerkte erstaunt, wie gut Puppe und Kleid zusammenpaßten, und dachte, nichts ist passiert, ich kann weitergehen, als hätte ich diesen Laden nie betreten, alles ist, wie es war, nichts ist passiert, aber tief in meinen Händen spürte ich eine Veränderung, als hätte man mir in einer schmerzhaften Operation die Reihenfolge der Finger vertauscht.
Beschämt zog ich mich zurück, das Kleid winkte mir nach wie ein großes rotes Tuch, herausfordernd und beschämend, ich lief rückwärts, hatte Angst, meinen Rücken den bohrenden Blicken der beiden Frauen auszusetzen. Mir kam es vor, als hebe die Puppe grüßend die Hand, ich zwinkerte ihr entschuldigend zu und stieß plötzlich mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die dicht nebeneinanderher liefen, so dicht, daß ich unmöglich hindurchschlüpfen konnte, mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich mitziehen zu lassen, in der Hoffnung, daß sich irgendwann eine Öffnung fand, und mit der Zeit wurde das fast angenehm, dieses gemeinsame Laufen. Ich stellte fest, daß sie braun angezogen waren, und an ihren Kleidungsstücken hingen große Blätter in den Farben des Herbstes, die Blätter bewegten sich bei jedem ihrer Schritte, bis sie plötzlich stehenblieben, mitten auf dem breiten Gehweg, und die Hände zum Himmel streckten, als wären sie Bäume, und ich fragte eine Frau neben mir, was ist das, was machen Sie, und sie sagte, wir feiern den Herbst, und alle murmelten leise Segenssprüche und schlugen Trommeln, und dann war es plötzlich still, sie nahmen die Blätter von ihren Kleidern und zertraten sie unter wildem Stampfen, mit heftigen Tritten, und ich fragte die Frau, was soll das, und sie sagte, wir feiern die Befreiung von den Blättern, wir werfen allen Ballast ab und bleiben in unserer Reinheit zurück, genau wie die Bäume, nur Stamm, Äste und Zweige. Ihr leuchtender Blick hypnotisierte mich, ihre Haare waren ganz weiß, doch ihr Gesicht war jung, begeistert, und dann fing sie an, mit den anderen eine bittersüße Melodie zu summen, da drängte ich mich aus dem Kreis, mischte mich unter die normalen Menschen, von denen manche spöttisch lachten, als wollten sie sagen, haut ab, ihr Spinner, geht in eine Anstalt, während andere ihnen strafende Blicke zuwarfen, und ich wunderte mich, immer hatte ich geglaubt, die Bäume würden sich nur mit großem Bedauern von ihren Blättern trennen, so wie Eltern von ihren Kindern, aber vielleicht trennten sich manche Eltern ja auch freudig von ihren Kindern, vielleicht war jede Trennung auch eine Befreiung, eine Läuterung, ein Abnehmen der Körperlichkeit, und es gefiel mir, daß es weniger Traurigkeit in der Welt gab, als ich angenommen hatte. Bestärkt durch ihre frohe Botschaft, wollte ich weitergehen, doch da wurde mir klar, daß ich mich zu früh gefreut hatte, es war nicht so, daß es weniger Traurigkeit gab, das Maß an Traurigkeit änderte sich nicht, sie hatten nur die Anlässe vertauscht, bei ihnen war es erfreulich, wenn man sich trennte, und traurig, wenn man sich traf, wie bei diesem alten Rätsel mit dem Hinauf- oder Hinuntersteigen, das mich jedesmal aufs neue durcheinanderbrachte, und ich hoffte, sie später einmal wiederzusehen, damit ich sie fragen konnte, welche Zeremonie sie im Frühjahr machten, ob sie trauerten, wenn alles anfing zu blühen, aber jetzt wollte ich mich nicht länger aufhalten, weil ich Sprechstunde in der Universität hatte und es mir äußerst unangenehm war, zu spät zu kommen, und als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß meine Sprechstunde bereits vor einer Viertelstunde angefangen hatte.
Erschrocken betrat ich ein Café an der Straßenecke und rief im Büro der wissenschaftlichen Assistenten an, zu meinem Glück war Neta am Apparat, mit ihrer näselnden Stimme, nie hätte ich erwartet, daß ich mich einmal so freuen könnte, sie zu hören, und ich sagte, tu mir einen Gefallen, Neta, tausche heute mit mir den Dienst, ich revanchiere mich bestimmt, und sie näselte, genau das mache ich gerade, und ich fragte, sind viele Studenten gekommen, und sie sagte, ich habe mich schon mit zweien herumgeschlagen, und draußen warten noch ein paar, sie brauchen Hilfe bei der Studienplanung, wo bist du überhaupt, und ich sagte, ich bin unterwegs ausgestiegen, weil ich ein Kleid anprobieren wollte, und habe nicht auf die Uhr geachtet. Herzlichen Glückwunsch, sagte sie, und ich sagte, nein, am Schluß habe ich es nicht gekauft, es war zu teuer, und Neta lachte, ich sah vor mir, wie sie ihre dichten braunen Locken schüttelte, die immer in Bewegung waren, wie vielbeinige Insekten, und ich bedankte mich bei ihr, weil sie mich deckte, aber der siegessichere Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören, es war einfach nicht zu leugnen, daß in dem Wettkampf, den wir seit zwei Jahren um eine Stelle als Lehrbeauftragte führten, jede Schlamperei von mir ein Punkt zu ihren Gunsten war, auch wenn niemand sonst davon erfuhr, Hauptsache, wir beide wußten es.
Es lohnte sich schon nicht mehr, zur Universität zu fahren, deshalb setzte ich mich an einen Tisch vor dem Café, der seltsame Umzug war verschwunden, aber die seltsame Stimmung war geblieben, ich betrachtete die ausgebleichten Bäume, die von hohen Zäunen umgeben waren, als schmiedeten sie geheime Fluchtpläne, und die alten Häuser, nur die oberen Stockwerke waren renoviert, aber wer schaute schon so weit hinauf, in Augenhöhe sah man nur die armseligen alten Läden, die Armeezubehör anboten, Rangabzeichen, Uniformen, aussortierte Fahnen, und auf dem löchrigen Straßenpflaster spazierten lebendige Menschen herum, bewegten ihre Hände und Füße im gleichen Takt, als hätten sie sich abgesprochen, zwischen den Schreitenden flitzte ein dunkler Junge hin und her und bot Pfauenfedern zum Verkauf, riesige farbige Augen schwankten an dürren Stengeln, aber niemand wollte sie haben. Ich fragte mich, ob all die Leute, die hier herumliefen, jemals gefühlt hatten, was ich vor wenigen Minuten gefühlt hatte, es war wie Feuerschlucken, ich hatte schon immer wissen wollen, wie das ist, Feuerschlucken, was man im Augenblick bevor man die brennende Fackel in den Mund steckt, empfindet, was, wenn sie drin ist und die Gefahr besteht, seine zarten Schleimhäute für immer zu verlieren, und jetzt wußte ich es, aber was nützte mir dieses Wissen, was fing ich damit an? Ich dachte an sein zusammengerolltes Glied in der Unterhose, an die junge Frau mit der präzisen Frisur, wer war sie überhaupt, und hoffte, sie sei seine Tochter, glaubte es aber nicht wirklich, um seine Frau sein zu können, war sie zu jung, und wohin waren sie gegangen mit der vollen Tasche und der vollen Unterhose, warum hatten sie mich nicht mitgenommen, denn ich hatte etwas verloren, dort in der engen Umkleidekabine, ich hatte einen Schatz verloren, von dem ich überhaupt nicht gewußt hatte, daß ich ihn besaß, das Nichtwissen, wie es ist, wenn man Feuer schluckt, denn jetzt, wo ich es wußte, verspürte ich einen schrecklich faden Geschmack, weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde.
Auf einmal packte mich ein Schwächeanfall, ein plötzliches Erschlaffen aller Glieder, ich ließ den Kopf auf den kleinen, runden, von der Herbstsonne erwärmten Tisch fallen wie auf ein Kissen und versuchte, mich an meinen Lebensplan zu erinnern, an die Abschlußarbeit, die ich bis zum Jahresende einreichen mußte, an das Baby, das wir nach der Dissertation machen wollten, die Wohnung, die wir nach dem Baby kaufen würden, dazwischen die Abendessen, die einmal Joni machte, einmal ich, die Treffen mit dem Dekan, der mich bewunderte und der an meine Zukunft glaubte, an die Kleider, die ich in engen Umkleidekabinen anprobieren würde, aber das alles kam mir auf einmal verstaubt vor, als sei ein Wind aus der Wüste gekommen und habe die ganze Welt mit einer dünnen grauen Sandschicht bedeckt. Ich erinnerte mich, daß mir so etwas schon einmal passiert war, so ein Absturz, nicht ganz so heftig, aber andeutungsweise, als Warnung, damals, vor ein paar Jahren, kurz nach dem Militär, hatte ich mich in jemanden verliebt, der neben einer Bäckerei wohnte, und in der einzigen Nacht, die ich mit ihm verbracht hatte, roch das ganze Bett nach frischem Brot, aber danach hatte ich ihn nicht wiedergesehen, und mir war, als wäre die ganze Frische meines Lebens in seinem Bett zurückgeblieben, nur weil er neben dieser Bäckerei gewohnt hatte und seine Laken nach frischem Brot rochen. Eine ganze Weile hatte ich damit zu kämpfen, doch bald darauf lernte ich Joni kennen und versuchte, den anderen zu vergessen, und nur wenn ich frisches Brot roch, dachte ich noch an ihn, und jetzt mischte sich in meiner Nase der Geruch von frischem Brot mit dem des Feuers, das in meinem Kopf brannte, Arie Evens Kohlenaugen hatten mich wie Kugeln getroffen, ich zitterte, er hatte den Gang eines Jägers, den Blick eines Jägers, ich sah ihn vor mir, auf dem Gehsteig, mein Körper hing wie tot über seiner Schulter. Ich unterdrückte einen Schrei, sprang auf und begann zu rennen, wie die Tiere im Wald, wenn sie einen Schuß hören, und erst auf der Hauptstraße, zwischen all den Autos, fühlte ich mich sicherer, und da war ich auch schon ganz in der Nähe meiner Eltern, meine Schritte machten einen ohrenbetäubenden Lärm, als sie die Schicht angefaulter Blätter auf der Treppe zerquetschten, ich ging hinauf, nur eine Woche war es her, da hatte er hinter dieser Tür gestanden, als sei das seine Wohnung, doch nun stand meine Mutter vor mir.
Ich hatte Lust, zu ihr zu sagen, geh weg, du gehörst nicht mehr hierher, das ist jetzt sein Platz, und sie wunderte sich, du bist nicht in der Universität, und ich sagte, doch, ich bin auf dem Weg dorthin, ich habe nur vergessen, eine Jacke mitzunehmen, und es wird kalt, und sie rannte zum Schrank, zog ein altes kariertes Jackett heraus und warf einen mißtrauischen Blick zu dem klaren Himmel hinauf, bist du sicher, daß es dir nicht zu warm wird? Ich sagte, ja, es ist kalt draußen, und sie zuckte mit den Schultern und bot mir Kaffee an, und ich setzte mich mit ihr in die Küche und sagte beiläufig, ich habe euren Freund in der Stadt getroffen, Arie Even, mit seiner Tochter, und sie korrigierte mich sofort, er ist Papas Freund, und er hat keine Tochter, er hat überhaupt keine Kinder. Enttäuscht versuchte ich es weiter, dann war es vielleicht seine Frau, wie sieht seine Frau aus? Eine alternde kokette Französin, verkündete meine Mutter triumphierend, ich habe sie allerdings seit Jahren nicht gesehen, aber solche Frauen ändern sich nicht. Sie versuchte noch nicht einmal, ihre Genugtuung darüber zu verbergen, daß es einen Zeitpunkt im Leben gab, zu dem sowohl sie, die ihr Aussehen immer vernachlässigt hatte, als auch verwöhnte Französinnen einen bestimmten, unabänderlichen Zustand erreichten.
Warum haben sie keine Kinder, fragte ich, und unter meinen Fingern bewegte sich sein Penis, und meine Mutter antwortete kurz, ach, Probleme, warum interessiert dich das überhaupt?
Probleme bei ihm oder Probleme bei ihr, beharrte ich, und sie sagte, bei ihm, was geht dich das an? Ich rächte mich an ihr und hatte plötzlich keine Zeit mehr für Kaffee, gleich fing meine Sprechstunde an, ich nahm das Jackett und verschwand in den Tag, der immer heißer wurde, ganz und gar glühend in dem Bewußtsein, daß sie weder seine Frau noch seine Tochter war, einfach seine Geliebte, die Intimität zwischen ihnen war klar und offensichtlich gewesen, und ich ging nach Hause, sah unterwegs, je näher ich kam, wie die Häuser immer älter und grauer wurden, während mir die Menschen immer jünger vorkamen, junge Mütter, die an einer Hand ein jammerndes Kleinkind hinter sich herzogen und mit der anderen einen Kinderwagen schoben, und ich dachte an seine Kinderlosigkeit, dachte so intensiv an sie, daß ich sie förmlich als eigene Existenz empfand, da war er, und da war seine Kinderlosigkeit, hohl und gewölbt wie der Mond, der um so hohler wird, je voller er wird, ich lachte ihn an, ich verspottete ihn, was war sein großartiges Glied in der schwarzen Unterhose wert, wenn es nicht in der Lage war, die Aufgabe zu erfüllen, für die es bestimmt war, und zu Hause ging ich sofort ins Bett, als wäre ich krank, aber auch dort beruhigte ich mich nicht, das Gefühl eines schweren Verlustes verdeckte die kleinen Fenster wie Vorhänge, ich starrte sie an und sagte mir, warte, warte, wußte aber nicht, worauf, auf die nächste Sprechstunde? Darauf, daß die Wäsche, die ich am Morgen aufgehängt hatte, getrocknet sein würde? Daß es ein bißchen kühler wird? Auf den kürzesten Tag? Auf den längsten Tag? Und als ich nicht mehr warten konnte, nahm ich das Telefon und wählte die Zahlen, die in meinem Kopf herumschwirrten.
Ich gab schon fast auf, fiel beinahe zurück auf das Bett, als er antwortete, nach mindestens zehnmal Läuten, ein seltsames kokettes Hallo, mit Pariser Akzent, seine Stimme war tief und dumpf, und ich fragte, habe ich dich geweckt? Und er sagte, nein, und atmete schwer, als hätte ich ihn bei etwas anderem gestört, und ich biß mir auf die Zunge und sagte, ich bin’s, Ja’ara, und er sagte, ich weiß, und schwieg. Ich wollte dir nur sagen, daß ich meinem Vater ausgerichtet habe, was du wolltest, stotterte ich, und er sagte, schön, danke, und schwieg wieder, und ich wußte nicht, was ich noch sagen könnte, ich wollte nur nicht, daß er auflegt, deshalb sagte ich schnell, leg nicht auf, und er fragte, warum nicht, und ich sagte, ich weiß es nicht, und er fragte, was willst du, und ich sagte, dich sehen, und er fragte weiter, aber warum, und wieder sagte ich, ich weiß nicht, und er lachte und sagte, es gibt viel zuviel, was du nicht weißt, und ich stimmte in sein Lachen ein, aber er unterbrach mich mit einer förmlichen Stimme, ich habe jetzt zu tun, und ich sagte, also wann hast du Zeit, und er schwieg einen Moment, als müsse er nachdenken, gut, sei in einer halben Stunde hier, sagte er und fügte ungeduldig den Namen der Straße und die Hausnummer hinzu, in dem Ton, in dem man ein Taxi bestellt.
Sofort tat es mir leid, daß ich dieses Kleid nicht gekauft hatte, denn nichts von den Sachen in meinem Schrank war so beeindruckend wie der gelbe Hosenrock der Zigarettenspitze mit dem dazu passenden honiggelben Jackett, und am Schluß begnügte ich mich mit einer engen Hose und einem schwarzen Strickhemd, steckte mir einen goldenen Reif in die Haare und betonte mit einem schwarzen Stift das Blau meiner Augen und war ziemlich zufrieden, ich sah, daß auch der Taxifahrer beeindruckt war, sofort als ich einstieg, fragte er, verheiratet? Und ich sagte, ja, natürlich, und er seufzte, als würde ihm das Herz brechen, aber er erholte sich und fragte, wie viele Jahre, und ich sagte, viele, fast fünf. Nun, dann wird es doch Zeit für etwas Neues, sagte er ermutigend, und ich sagte, wieso denn das, ich liebe meinen Mann, eine Erklärung, die hier im Taxi mit einer gewissen Nachsicht angenommen wurde, und ich fühlte mich albern, derartige Verkündigungen unter diesen Umständen, aber ich hatte diese Worte hören müssen, und er sagte flüsternd, mit Mundgeruch, man kann zwei lieben, und deutete auf sein Herz, das vor wenigen Momenten angeblich gebrochen war, und sagte, das Herz ist groß. Bei mir ist es ganz klein, sagte ich, und er lachte, das bilden Sie sich nur ein, Sie werden sich noch wundern, wie weit es sich ausdehnen kann, glauben Sie etwa, daß nur der Schwanz sich ausdehnen kann? Mich widerte dieses Gespräch an, ich sah aus dem Fenster, und neben einem kleinen gepflegten Haus an der Straßenecke hielt er an und legte zum Abschied die Hand wieder auf sein Herz.
Dichte Kletterpflanzen bedeckten das Haus wie ein Fell, und als ich näher trat, sah ich Dutzende von Bienen, die fröhlich zwischen den dichten Blättern herumsummten. Das ist das Zeichen, sagte ich zu mir, daß du von hier verschwinden solltest, denn schon immer hatte ich den Verdacht gehegt, zu den Leuten zu gehören, die an einem Bienenstich sterben können, schließlich weiß man so etwas nicht von vornherein, erst wenn es zu spät ist, und ich wollte mich schon zurückziehen, drehte dem Haus den Rücken zu, aber der Anblick der Welt, der Anblick der Welt ohne dieses Haus, war so bekannt und schal, helle Wohnhäuser mit kleinen städtischen Gärten, die viel zuviel Wasser brauchen, Bäume, von denen ich immer vergessen werde, wie sie heißen, Zimmer, die abwechselnd gesäubert und verdreckt werden, Briefkästen, die abwechselnd gefüllt und geleert werden, diese ganze Betriebsamkeit, die sich auch durch einen Bienenstich nicht aufhalten ließ, kam mir so traurig und hoffnungslos vor ohne dieses gepflegte Haus, daß ich mich wieder zu ihm umdrehte und mit mutigen Schritten das Treppenhaus betrat.
Er nahm sich Zeit, beeilte sich wirklich nicht, mich aufzunehmen, erst nachdem ich zweimal geklingelt hatte, wurde die Tür aufgemacht, und er führte mich schweigend in ein großes Wohnzimmer, sehr gepflegt, die Wände mit Bildern bedeckt und auf dem Boden Teppiche, so daß es mir bald vorkam, als sei der Boden ein Spiegelbild der Wände oder umgekehrt. Er trug seine neue braune Hose und das neue Hemd, doch ausgerechnet die neue Kleidung betonte sein Alter, er wirkte plötzlich alt, älter als mein Vater, mit diesen scharfen Falten auf den Wangen und der Stirn, Falten, die aussahen wie Narben, und den Haaren, die eigentlich eher weiß waren als silbergrau und eher dünn als dicht, und mit schwarzen Ringen unter den Augen. Interessant, daß die Leute in ihrer eigenen Umgebung so aussehen, wie sie sind, und nur anderswo in einem besonderen Licht erscheinen, dachte ich erleichtert, ich saß auf dem hellen Sofa, plötzlich ganz ruhig angesichts des Alters, das ihn mit spitzen Nägeln zerkratzt hatte, als würde er ohnehin gleich hier, vor meinen Augen, an einem Herzschlag sterben und aufhören, mich durcheinanderzubringen. Schamlos starrte ich auf die linke Tasche seines Hemdes, unter der sein müdes Herz mit letzter Kraft schlug. Alle möglichen inneren Organe tauchten vor meinen Augen auf, Organe, die sich hinter diesem Hemd verbargen, an Geschlechtsteile erinnernd, blaurot, eklig und zugleich anziehend, wie ich sie vor Jahren gesehen hatte, als ich von meiner Mutter zu den Metzgern der alten Generation geschleppt wurde. Ich zerrte an ihrem Ärmel, Mama, komm, laß uns hier rausgehen, aber außer dem Ekel fühlte ich immer auch eine Art schmerzenden Zauber angesichts der zerschnittenen und aufgehäuften Lebensreste.
Angezogen vom Anblick der Hemdtasche, die sich auf und ab bewegte, versuchte ich, meinen Atem seinem Rhythmus anzupassen, herauszufinden, wie ernst sein Zustand war, vielleicht sogar auf seinem letzten Atemzug mitzuschwimmen, wie man auf einer Welle mitschwimmt, aber die Hemdtasche erhob sich plötzlich und stand über mir, was willst du trinken, und ich verkündete stolz, ich habe keinen Durst, spürte eine plötzliche Befreiung, nein, ich hatte keinen Durst und keinen Hunger, ich brauchte nichts von ihm, und es interessierte mich wirklich nicht, wer diese junge Frau mit der Zigarettenspitze war und was sie getan hatten, nachdem sie den Laden verlassen hatten, was hatten er und ich miteinander zu tun, ich stand entschlossen von dem bequemen Sofa auf, was haben er und ich überhaupt miteinander zu tun, dachte ich, nach Hause, ich muß nach Hause, zu Joni und zu der Arbeit, die ich bis zum Ende des Jahres abliefern muß.
Entschuldige, sagte ich schadenfroh, mit fester Stimme, ich hätte überhaupt nicht herkommen sollen, ich weiß nicht, warum ich gekommen bin, du hast dein Leben, und ich habe meines, unsere Leben treffen sich nicht, müssen sich nicht treffen.
Er trat einen Schritt zurück, betrachtete mich irritiert, aber nicht überrascht, und begleitete mich schweigend zur Tür, aber einen Moment bevor er sie aufmachte, sagte er ruhig, wie zu sich selbst, seltsam, ich habe gedacht, daß du zu denen gehörst, die immer alles, was sie wollen, auf der Stelle bekommen müssen, und er sah aus, als irritiere ihn dieser Irrtum mehr als mein plötzliches Weggehen, aber ich schluckte den Köder und fragte sofort, wer, ich? Was will ich denn?
Er nahm meine Hand, wie im Laden, und legte sie mit einer natürlichen, sogar müden Bewegung auf seinen Hosenschlitz und sagte, dafür bist du doch gekommen, und drückte sie fest dagegen, du kannst jetzt gleich gehen und du kannst in ein paar Minuten gehen, nachdem du ihn bekommen hast, und ich schaute auf die Uhr, als sei es eine Frage der Zeit, und vor lauter Anspannung sah ich nichts und flüsterte, meine Kehle war trocken und zusammengeschnürt, was würdest du mir denn empfehlen? Das ist deine Entscheidung, sagte er, und ich fragte, aber was willst du, und er sagte, für mich spielt es wirklich keine Rolle. Schließlich bist du zu mir gekommen und nicht ich zu dir, und trotzdem öffnete er langsam seinen braunen Gürtel. Ich fühlte mich schlaff und schwach, ich war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu machen, nicht in die Wohnung hinein und nicht aus der Wohnung hinaus, und ich mußte mich auch nicht bewegen, denn er drehte mich um, mit dem Rücken zu sich und dem Gesicht zur Tür, ich hob die Arme, als wäre ich in Gefangenschaft geraten, meine Hände griffen nach den Kleiderhaken an der Tür, meine halb heruntergerutschte Hose fesselte mich an den Knien, und sein steifes Glied nagelte mich mit einem Schlag an die Tür, ohne daß er mich auch nur mit dem kleinen Finger berührt hätte, und die ganze Zeit, gleichgültig, mit roher Stimme und ohne Fragezeichen, verkündete er, gut für dich, gut für dich, verkündete es nicht eigentlich mir, sondern dem Haus, laut, als würde es in ein geheimes Protokoll eingetragen, gut für dich, gut für dich, gut für dich.
Wie der Schleim einer Schnecke klebte meine Spucke an der Tür, durchsichtig und klebrig, und auf der Wange spürte ich, wie ihr Holz mir die ersten Falten ins Gesicht zeichnete. Hinter meinem Rücken wurde das stolze Glied herausgezogen, und ich hörte, wie es schnell versteckt wurde, wie der Reißverschluß hochgezogen und der Gürtel geschlossen wurde. Nur mit Mühe gelang es mir, das Gesicht zu ihm zu drehen, mein Hals war steif von der Diskrepanz zwischen der offensichtlich intimen Situation und der absoluten Fremdheit zwischen uns, eine Diskrepanz, die nun, hinterher, nichts Anziehendes hatte, während sein unfruchtbarer Samen aus mir tropfte, und ich war so verlegen wie ein kleines Mädchen, das in Anwesenheit anderer pinkelt, und er bot mir weder Papier noch eine Serviette an, und ich genierte mich zu fragen, wo die Toilette war, um nicht so hinlaufen zu müssen, mit heruntergelassenen Hosen, also zog ich sie einfach hoch, die Unterhose saugte die Flüssigkeit auf, und mein Flüstern klang wie ein Räuspern, als ich sagte, jetzt habe ich Durst.
Was möchtest du trinken, fragte er mit verschlossenem Gesicht, höflich, aber nicht freundlich, als sei er wütend auf mich, und ich sagte, Kaffee, und er, meine Frau kommt gleich nach Hause, etwas Schnelleres wäre besser, und sofort kam er mit einem Glas Orangensaft zurück, ich trank ihn langsam, um Zeit zu gewinnen, schluckte langsam die säuerliche Flüssigkeit, schließlich hätten wir uns jetzt näher sein sollen, warum war er statt dessen noch distanzierter als vorher, Joni entspannte sich immer auf mir, nach einem Fick, und hier gab es nicht einen Hauch von Gelassenheit. Ungeduldig wartete er darauf, daß ich austrank, wie ein Geschäftsinhaber, der endlich den Laden zumachen will, ich hielt ihm das leere Glas hin, und er brachte es sofort in die Küche und sagte wieder, meine Frau kommt gleich von der Arbeit, und ich sagte leise, ja, ich gehe schon, versuchte, mich zu sammeln, versuchte, ein bißchen Wärme aus den grauen Augen zu ziehen, aber sie waren vollkommen erloschen, und ich konnte mich nicht mehr beherrschen und fragte, wer war die Frau mit der Zigarettenspitze, und er sagte schnell, die Nichte meiner Frau, aus Paris, warum?, als hätte er nichts zu verbergen, und ich sagte, nur so, und er sagte, aha, als Abschluß und als Abschied, und machte die Tür auf, die noch nicht einmal abgeschlossen gewesen war, und sagte höflich, einen schönen Gruß zu Hause, ich sagte danke und war schon auf der anderen Seite der Tür, der Schlüssel wurde sofort umgedreht, ausgerechnet jetzt machte er sich die Mühe abzuschließen.