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Cornelia Lotter

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Beschreibung

Anna al-Hamid wird in ihrer Wohnung erwürgt aufgefunden. Ihr marokkanischer Ehemann, der mit dem gemeinsamen 2-jährigen Sohn in seine Heimat geflohen ist, steht unter dringendem Tatverdacht. Auch Ki hat es mit einem Fall von Bezness zu tun. Eine Mutter beauftragt sie, ihre in Ägypten verschwundene Tochter zu suchen. Ein Krimi um vorgetäuschte Gefühle, enttäuschte Erwartungen und Hoffnungen, und den verzweifelten Wunsch vieler Männer, aus Elend und Perspektivlosigkeit in ein scheinbar besseres Leben zu gelangen.

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Cornelia Lotter

 

 

 

Liebeslügen

 

Ki und das Geschäft mit den Gefühlen

 

 

2. digitale Auflage 2016

© 2014 Cornelia Lotter

Wiebelstraße 6, 04315 Leipzig

[email protected]

www.autorin-cornelia-lotter.de

 

E-Book Erstellung: mybookMakeUp.com

Covergestaltung: Tanja Prokop

unter Verwendung eines Fotos vonbigstockphoto.com

 

Alle Rechte vorbehalten!

Nachdruck, auch auszugsweise,

nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Über die Autorin

Glossar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Nachwort

Das Buch

 

Anna al-Hamid wird in ihrer Wohnung erwürgt aufgefunden. Ihr marokkanischer Ehemann, der mit dem gemeinsamen 2-jährigen Sohn in seine Heimat geflohen ist, steht unter dringendem Tatverdacht.

Auch Ki hat es mit einem Fall von Bezness zu tun. Eine Mutter beauftragt sie, ihre in Ägypten verschwundene Tochter zu suchen.

Ein Krimi um vorgetäuschte Gefühle, enttäuschte Erwartungen und Hoffnungen, und den verzweifelten Wunsch vieler Männer, aus Elend und Perspektivlosigkeit in ein scheinbar besseres Leben zu gelangen.

Über die Autorin

 

Cornelia Lotter wurde in Weimar geboren, wuchs in der Nähe auf und studierte in Meiningen Lehramt. Nach zwei Jahren im Schuldienst entschloss sie sich, einen Ausreiseantrag zu stellen und wechselte deshalb als Pflegerin in ein christliches Alterspflegeheim. 1984 durfte sie nach Tübingen übersiedeln, wo sie eine Umschulung zur Industriekauffrau absolvierte. Bis 2014 arbeitete sie als Sekretärin. Seit 2015 ist sie als Freie Autorin tätig.

 

"Liebeslügen" ist der 3. Fall für die Leipziger Ermittler Kirsten Stein und Martin Bender.

 

Cornelia Lotter veröffentlicht unter insgesamt 5 Pseudonymen sowohl in Verlagen als auch als Self-Publisherin.

 

Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, im Syndikat und im Selfpublisher-Verband.

Glossar

 

Die arabischen Wörter und Wendungen sind nach den allgemeingültigen Transkriptionsregeln dargestellt. Orte und Personennamen habe ich in der üblichen Schreibweise geschrieben. Zu beachten ist, dass es sowohl im Ägyptischen wie im Marokkanischen Wörter/Wendungen gibt, die nur in diesem Land verwendet werden, also nicht mit dem Hocharabischen übereinstimmen. Hier noch einmal zum Nachlesen die Bedeutung/Übersetzung der arabischen Wörter, die nicht direkt im Text übersetzt sind (in der Reihenfolge ihres Vorkommens):

 

Šou sawīt – Was habe ich bloß getan!

Wallahī – Bei Allah!

Ḥadīṯ – Überlieferung über die Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed

Ḥabibtī – Meine Geliebte

Šarmῡta – Hure

Weldī – Mein Junge

Ṣada (auch Mahr) – Morgengabe/Brautgabe im Islam, ein im Ehevertrag festzuhaltender Betrag in Geld/Gold, den der Ehemann seiner Ehefrau bei der Hochzeit zahlen muss. Dient der finanziellen Absicherung der Frau nach der Scheidung.

Ḥarām – Verboten, Sünde

Ğellāba – Langes traditionelles marokkanisches Männergewand

Salāmu ᶜalaikum, Ḫῡ – Sei gegrüßt, Bruder

ᶜAlaikumu as-salām – Erwiderung auf Gruß

In-shaa-allah – So Gott will

Šai – Tee

Nana-Šai – Pfefferminztee

Umm – Mutter

Alḥamdullilah – Gottseidank

Allahu akbar…Ašhadu anna lā ilaha illā AIlah… Ašhadu anna Muḥammadan rasulu-AIlah – Gott ist je größer…Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Gott…Ich bezeuge, dass Mohammed Gottes Gesandter ist

ᶜīdu-l-Aḍḥā – Opferfest, höchstes islamisches Fest

Ḥağ – Pilgerfahrt nach Mekka

Ṣalātu–l-Ğumᶜa – Freitagsgebet

Kaᶜba – Quaderförmiges Gebäude im Innenhof der Heiligen Moschee in Mekka, Zentrales Heiligtum des Islams

Ḏanbun maġfῡrun – Vergebene Sünde

Ḫleuh – Ein Berberstamm in Südmarokko, Bezeichnung für die von diesen Berbern gesprochene Sprache

Quṣūr – Plural für qaṣr - traditionelle, ländliche befestigte Siedlungen oder Speicherburgen der Berber im Maghreb

Ribāb – Einseitige, mit dem Bogen gestrichene Kastenspießlaute

Ḫaṭīb – Islamischer Prediger, meist der Imam der jeweiligen Moschee

Kāffira – Ungläubige (Feminin)

Ahlu–l-Kitāb – Leute der Schrift (Christen und Juden)

Zinā – Geschlechtsverkehr zwischen unverheirateten Menschen im Islam. Gilt als Verbrechen und ist mit hohen Strafen belegt.

Ṣalāt – Rituelles Gebet

Al Muṣalīn – Die Betenden, (Plural)

Al-Jazeera – Arabischer Nachrichtensender mit Sitz in Doha, Katar

Oudoulen – Marokkanische Standesbeamte

Moudawana – Familienrecht in Marokko

Ğīmbrī – Gezupfte Kastenhalslaute mit drei Saiten

Bendīr – Rahmentrommel, ähnlich Tamburin

Kaffara – Sühne

Kolou Tammām – Alles in Ordnung?, auch gleichlautend als Antwort

Maᶜa as-salāma – Abschiedsgruß, in etwa „Frieden mit dir“

Ğinn – Geist

Muʿalliğ bil-qurʾān – Koranlehrer

Chouafa – Seherin/Heilerin

Gnawa – Sufi Bruderschaft in Marokko

Meᶜalem – Gnawa-Meister

Laila – Arabisch für Nacht, auch „Derdeba“, nächtliche religiöse Zeremonie der Gnawa

L’aada – Erster Teil der Zeremonie, Eröffnungsprozession

Kouyou – Zweiter Teil

Mulῡk – Plural, Besessenheitsgeister

ˁnḫ, Anch – Symbol der koptischen Kirche und altägyptisches Symbol für ein Weiterleben nach dem Tod

Zayran – Geist

Lā illah – Alles kommt von Gott

Kefik – wie geht es dir?

Beḫīr – Gut

Sākin hῡn – Wohnt hier…?

ᶜAbbāya – Langes traditionelles ägyptisches Frauengewand

Ğalābiya – Langes traditionelles ägyptisches Männergewand

1. Kapitel

 

Sie lag irgendwie verdreht da. Der massige Oberkörper noch auf dem Bett, die Beine hingen über die Kante nach unten. Einen Hausschuh hatte sie noch an, der andere war unters Bett gerutscht. Diese lächerlichen Hausschlappen! Rosa und mit dem Gesicht eines Schweines. Ausgerechnet! Sollte eine erwachsene Frau so etwas tragen?

Moufid wandte den Blick ab. Šou sawīt - Was habe ich bloß getan? Wallahī! Seine Gedanken turnten durcheinander wie die wilden Ziegen in den Bergen des Antiatlas. Warum dachte er jetzt an die ferne Heimat? Ein schmerzhaftes Ziehen ließ ihn sich zusammenkrümmen. Warum nur bin ich hierhergekommen? In dieses kalte fremde Land? Was ist von meinen Träumen übrig geblieben? Eine Handvoll Sand, die jetzt auch noch zerrinnt.

Das Nachthemd der Toten war hochgerutscht und ihre Blöße war Moufids Blicken preisgegeben. Er schüttelte sich und zog den Stoff bis über die Schenkel. Dann nahm er eine Decke, bunt gemustert, ein Mitbringsel aus seiner Heimat, und breitete sie über die leblose Gestalt der Frau. Seiner Frau. Sie war schuld! Hätte sie ihn nicht immer und immer wieder provoziert und gereizt, wäre das hier nicht passiert. Aber irgendwann war eben Schluss. Irgendwann war die Grenze eines jeden erreicht. Auch bei ihm.

Hatte sie wirklich gedacht, dass er sie jemals geliebt hätte? Hatte sie seinen blumigen Komplimenten Glauben geschenkt, sie für bare Münze genommen? Phrasen, die er mit seinen Freunden ausgetauscht hatte, und die so schwülstig waren, dass einem davon schlecht werden konnte. Ein Tag ohne dich ist wie eine Blume ohne Wasser. Komplimente für eine Frau, nach der sich hier in Deutschland kein Mann umdrehte. Fett und alt. Wie viel Überwindung hatte es ihn jedes Mal gekostet, sie zu besteigen! Wenigstens so lange, bis sie ihn geheiratet und hierher nach Deutschland geholt hatte. Solange, bis sie endlich schwanger gewesen war. Ein Kind, das war seine Versicherung. Die Gesetze waren eindeutig. Wegen eines Kindes durfte er in Deutschland bleiben. Weil ein Kind Mutter und Vater brauchte nach deutschem Recht und Gesetz. Also hatte er die Augen geschlossen und sich jedes Mal seine Cousine Aalia vorgestellt. Die ihm versprochen war, lange schon. Braune große Augen und Wimpern, so lang wie sein Daumennagel. Die Haut samtig und bronzefarben, nicht wie die einer Leiche oder eines Krebses, wenn sie zu viel von der marokkanischen Sonne abbekommen hatte. Die Zähne weiß wie eine Schnur Perlen. Ach, Aalia, Ḥabibtī, werde ich dich nun bald wiedersehen?

Seit Anna ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, hatte er sie nie wieder angerührt. Sie hatte gefleht und gedroht, sich erniedrigt und es mit allen Tricks versucht. Doch bei Allah, er war standhaft geblieben. Lieber fickte er, wie in seiner Jugend in den marokkanischen Bergen, ein Schaf, als sich noch einmal zwischen diese fetten Schenkel zu begeben, an denen die Haut Dellen warf und von denen ein Geruch aufstieg, der ihn würgen ließ.

Doch seine Mühen waren belohnt worden. Er hatte einen Sohn. Vor zwei Jahren hatte er das Licht der Welt erblickt, und seitdem bekam sein Leben wieder einen Sinn. Er verließ das Schlafzimmer und ging nach nebenan ins Kinderzimmer. Rādī lag friedlich schlafend in seinem Bettchen. Er betrachtete ihn lange. Das war das einzig Gute, etwas, das alles aufwog. Für das kein Preis zu hoch war. Sein geliebter Sohn. Was sollte jetzt aus ihm werden? Er würde ihn nicht zurücklassen. Sie würden beide nach Marokko gehen, in seine Heimat. Seine Familie hatte Rādī noch nicht einmal gesehen. Nur Fotos. Seine Frau wollte dem Kind angeblich den Flug nicht zumuten. In Wirklichkeit, so vermutete er, hatte sie Angst, dass er mit Rādī dortbleiben würde. Die Gesetze seines Landes waren auf Seiten der Männer. Rādī war sein Sohn, und er als Vater hatte das Recht, mit seinem Sohn in seiner Heimat zu leben. Was interessierten ihn die Gesetze dieses fremden Landes, in dem er nie heimisch geworden war.

Natürlich hatte er sich das alles ganz anders vorgestellt. Alle seine Kumpels und Cousins hatten es ihm vorgemacht. Eine Europäerin gekapert, sie mit Liebesschwüren eingelullt, bis sie ihnen alles geglaubt und sie mit in die Schweiz, nach Österreich, nach Deutschland genommen hatten. Dort hatten sie den Frauen – falls sie noch nicht zu alt dafür gewesen waren – ein Kind gemacht, oder sie hatten die paar Jahre abgewartet, bis sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten. Das war eben der Preis gewesen. Und er hatte es gewusst. Hatte auch die Klagen des ein oder anderen gehört, wie schwer es sei, zu heucheln, die Frauen zufrieden zu stellen. Wie schwer die Arbeit in Europa sei, wie groß die Sehnsucht nach der Heimat, der Familie. Warum habe ich ihnen nicht besser zugehört? Er hatte es erst am eigenen Leib erfahren müssen. Das Heimweh hatte ihn fast aufgefressen.

Die beiden Male, als er mit seiner Frau in Marokko gewesen war, wollte die nie lange im Dorf bei der Familie bleiben. Die einfachen Verhältnisse, der fehlende Luxus, er hörte noch immer ihre zeternde Stimme: Da ist ja nur ein Loch im Boden und keine richtige Dusche. Und die Hühner leben auf dem Dach!

Nach Agadir wollte sie, in den Sündenpfuhl, in ein schickes Hotel, am Strand liegen, im Meer schwimmen. Was sollte er dort? Er konnte nicht mal schwimmen! Auch darüber hatte sie sich lustig gemacht, als sie es eines Tages erfahren hatte. Was? Du arbeitest am Meer und kannst nicht schwimmen?! Dabei stimmte das nicht mal. Er war bloß einmal für eine Saison in Agadir gewesen, weil sein Cousin ihm eine Stelle als Kellner besorgt hatte. Es hatte ihm dort nicht gefallen. Die Frauen, die ihre nackten Reize feilboten wie Obst auf dem Ṣouq und ungeniert mit den jungen Hotelangestellten nachts am Strand rumknutschten, waren schamlos und verwirrten ihn. Er hatte viel gebetet in dieser Zeit, hatte mit dem Imam der Moschee viele Gespräche geführt. Ohne dessen Zureden, standhaft zu bleiben, wäre er vielleicht der Verlockung erlegen. Allzu freizügig trugen die Šarmῡta ihre Haut zu Markte. Und sein Cousin und die Kollegen erzählten Wunderdinge vom Sex mit den Europäerinnen. Er hatte noch nie bei einer Frau gelegen, aber nachts waren die Triebe mächtig. Und auch tagsüber konnte er es angesichts von unbedeckten Dekolletees und kurzen Hosen oft nicht verhindern, dass er eine Erektion bekam.

Er wischte die Erinnerungen beiseite. Die Zeit drängte, und er musste seine Flucht planen. Nach Marokko also. Würde man ihn von dort ausliefern, wenn die deutsche Polizei das verlangte? Könnte er sich ein Leben lang verstecken? Egal! Jetzt musste er erst einmal von hier weg. Gut überlegen. Nichts vergessen. Planen. Zuerst seinen Pass. Der Kleine war eingetragen, damit dürfte es keine Probleme geben. Dann die Kreditkarte seiner Frau. Er kannte die PIN, würde zuerst einmal genug Geld abheben. Außerdem hatte sie etwas Bargeld im Küchenschrank.

Er ging in die Küche, nahm aus der Porzellankanne die Scheine, suchte und fand ihre Handtasche und zog die EC-Karte aus dem Portmonee. Außerdem steckte er das Bargeld, das sich noch darin befand, in seine Hosentasche. Dann packte er in eine Reisetasche drei Pampers, eine Ersatzhose und einen Pullover für Rādī, für sich ebenfalls eine zweite Jeans und einen Fleecepullover und obenauf den Plüschaffen seines Sohnes. Ohne den würde er nirgendwohin gehen. Aus dem Bad nahm er seine Zahnbürste und den Rasierapparat. Außerdem aus dem Kühlschrank drei Gläschen mit Fertignahrung, zwei Bananen, eine Flasche Wasser und einen Apfel.

Als er wieder vor dem Bett seines Sohnes stand, wurde ihm auf einmal bewusst, dass er gar nicht wusste, wie er nach Marokko kommen sollte. Sollte er zum Flughafen fahren und versuchen, so bald wie möglich einen Flug zu ergattern? Egal wohin? Nur weg! Bevor die Bullen seine tote Frau fanden und alle Flughäfen kontrolliert wurden? Wieviel Zeit würde ihm bleiben? Es war Samstagnacht, vor Montag würde niemand bemerken, dass sie tot war.

Das Auto ist in der Werkstatt, fiel ihm ein. Er würde ein Taxi rufen müssen. Der Taxifahrer würde sich sicher später an ihn erinnern. Würde ihm genug Zeit bleiben, das Land zu verlassen? Er musste es mit dem Flugzeug probieren. Wenn er es auf dem Landweg versuchte, bräuchte er erstens ein Auto, und bis er über die marokkanische Grenze wäre, würden die Bullen wahrscheinlich die Leiche entdeckt und Alarm geschlagen haben.

Er wusste nicht, ob überhaupt in den nächsten Stunden ein Flug nach Agadir ging. Die meisten Ziele wurden nur an ein oder zwei Tagen angeflogen. Seit die Revolution in den Nachbarländern in Gang gekommen war, hatten die Airlines ohnehin ihre Flüge radikal reduziert. Aber er würde einfach den ersten Flug nehmen, der ihn aus Leipzig heraus Richtung Süden bringen würde und dann von dort weiter sehen. Erst mal weg!

Sanft streichelte er seinem Sohn übers lockige Haar. Er war so süß. Das Schönste, das er je gesehen hatte. Und er war sein eigen Fleisch und Blut. Er musste ihn beschützen, jetzt, wo er nur noch ihn hatte. Vorsichtig zog er ihm den Schlafanzug aus und legte ihm eine neue Windel an. Dann kleidete er ihn an, ohne dass der Kleine richtig wach wurde. Es war kalt draußen. Winter. Schnee würde Rādī nun nicht so schnell wieder sehen. Doch er spürte kein Bedauern. Sein Sohn würde so viel mehr bekommen. Eine richtige Familie. Eine Familie, die ihn wie einen kleinen Prinzen behandeln würde. In der er sich geliebt und geborgen fühlen würde. Sie hatten zwar nicht viel, doch er würde schon dafür sorgen, dass es seinem Sohn an nichts fehlen würde. Weldī, dachte er zärtlich, mein Junge.

Dann telefonierte er nach einem Taxi und zog Rādī den Anorak, den Schal, die Mütze und Handschuhe an. Auch sich selbst verpackte er in warmen Wintersachen. Die würden sie bald schon nicht mehr brauchen. Es war zwar im Winter auch kalt in dem Gebirgsdorf, doch die Winter waren kurz, und man wärmte sich in den kleinen Lehmhütten gegenseitig. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Nein, hier hatte er sich nie wirklich zu Hause gefühlt. Diese sterile Sauberkeit, das war nichts für ihn. Fast war er ein bisschen aufgeregt. Als würden er und sein Sohn auf eine Urlaubsreise gehen. An die Tote im Schlafzimmer dachte er nicht mehr.

2. Kapitel

 

Ki hatte es sich in ihrem Ohrensessel bequem gemacht und schaute konzentriert in den Fernseher. Ntv berichtete schon den ganzen Tag über Live aus Kairo und anderen ägyptischen Städten über die Entwicklungen der Revolution. Als Ki die Menschenmassen sah, die schon wieder zum Tahrirplatz strömten, dachte sie an ähnliche Bilder, die sie ebenfalls im Fernsehen im Herbst Neunundachtzig gesehen hatte, kurz nachdem sie in den Westen gekommen war. Mubarak war genauso ein alter Diktator wie Honecker; beide hatten nicht die Zeichen der Zeit gesehen, Mubarak würde vom Volkszorn genauso hinweggefegt werden wie Honecker seinerzeit. Jetzt versuchte er erst einmal durch Umstrukturierungen und Taktieren Zeit zu gewinnen. Einen ehemaligen Nachrichtendienstler zum Vize zu ernennen war nun wirklich nicht gerade ein Schritt, der dazu geschaffen war, Volkes Seele zu beruhigen. Jetzt, wo es Tote gab, würden sich die jahrzehntelang entmündigten Massen nicht mehr mit ein paar Schönheitskorrekturen und Zugeständnissen zufrieden geben. Jetzt würden sie alles fordern. Zumindest aber den Rücktritt Mubaraks.

Ki stand auf und ging in die Küche, um sich einen frischen Tee aufzubrühen. Langsam müsste auch Martin wieder auftauchen, der an diesem Tag mit seinem Sohn in der Sachsen-Therme war. Ki hatte keine Lust gehabt mitzugehen. Sie brauchte mal wieder Zeit für sich. Obwohl sich das Verhältnis zwischen ihr und Lukas seit jenem Zoobesuch vor nunmehr fast einem Jahr normalisiert hatte und fast schon freundschaftlich war, empfand sie das Zusammensein mit ihm doch immer auch als anstrengend. Sie war unsicher darüber, was Lukas seiner Mutter, Martins geschiedener Frau Sarah, erzählen würde. Und sie tat sich generell seit ihrer Fehlgeburt vor einem halben Jahr schwer damit, Kinder in ihrer Nähe zu ertragen.

Obwohl Martin sich alle Mühe gegeben hatte, dieses schreckliche Ereignis mit ihr zusammen zu verarbeiten, war die Trauer, die auf die Freude, endlich doch schwanger geworden zu sein, gefolgt war, einfach grenzenlos. Und es verging fast kein Tag, wo sie nicht der Gedanke ansprang, dass ihr Kind jetzt dies oder jenes können würde.

Ki zwang sich, an etwas anderes zu denken. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Wohnungstür ließ sie erleichtert aufatmen. Jetzt kam Leben in die Bude. Da ließen sich die trüben Gedanken leicht verdrängen. Sie trat in den Flur, wo die beiden Männer gerade ihre Stiefel von den Füßen streiften. „Toll war’s, und ich bin ganz allein die große Rutsche runtergerutscht!“, rief Lukas mit Begeisterung in der Stimme. Martin zog ihm die Mütze vom Kopf und wuschelte ihm durch die kurzen Haare. Wie kann man einem Jungen nur die Haare so kurz schneiden!, dachte Ki nicht zum ersten Mal. Sie ging auf Lukas zu und half ihm aus der dicken Jacke. Martin drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Und, was hast du so getrieben?“

„Nichts Besonderes, hauptsächlich ferngesehen“, antwortete sie. Das war das richtige Stichwort für Lukas. „Ich will auch fernsehen!“ Und mit diesen Worten stürmte er in das Wohnzimmer. Ki umarmte Martin und drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Er roch nach seinem Duschgel und nach Kälte. „Mhmmmm bist du schön warm“, erwiderte Martin und drückte sie an sich. „Wollen wir nicht unserem jungen Freund ein Video einlegen und uns ein wenig zurückziehen?“, flüsterte er ihr ins Ohr. Dasselbe hatte Ki gerade auch gedacht und sie wunderte sich wieder einmal darüber, wie sehr ihre Gedanken sich doch oft ähnelten. „Ist das pädagogisch vertretbar?“, zog sie ihn auf.

„Ich glaube, das kann ich verantworten“, zwinkerte er ihr zu. Beide betraten das Wohnzimmer, wo es sich Lukas bereits auf der Couch bequem gemacht hatte. Mit der Fernbedienung in der Hand zappte er sich durch die Programme. „Was hältst du von einem Video?“, fragte Martin seinen Sohn.

„Cool, was habt ihr denn so?“

„Dschungelbuch? Oder lieber Charly und die Schokoladenfabrik?“

Lukas hüpfte aufgeregt auf den Polstern herum. „Au ja, das ist toll, das will ich sehen!“

Ki ging in die Küche und nahm aus dem Schrank eine Tafel Schokolade, die sie öffnete und in kleine Stücke brach. Den Teller brachte sie nach nebenan und stellte ihn auf den Couchtisch. „Damit du die tollen Sachen nicht nur sehen musst, sondern auch genießen kannst. Ist ja sonst eine Qual, oder?“

Lukas nickte begeistert.

---ENDE DER LESEPROBE---