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Stell dir vor, du öffnest dein Handy – und hinter jedem Lächeln lauert ein Schatten. Sophie Halmer ist 32, Mutter, Influencerin und scheinbar die Verkörperung des perfekten Familienlebens. Millionen folgen ihrem Alltag: Bio-Frühstück, liebevolle Erziehung, niedliche Kinder und strahlende Filtermomente. Doch was niemand sieht: Hinter der Kamera herrschen Kontrolle, Kälte und emotionale Gewalt. Die Kinder sind nicht mehr als Requisiten im großen Spiel um Klicks und Kooperationen. Als eines ihrer Kinder plötzlich verschwindet, kippt die heile Online-Welt. Aus einer Tragödie wird Content, aus echtem Schmerz wird ein Geschäftsmodell – und aus einer Mutter eine Zielscheibe. Während die Polizei im Dunkeln tappt, beginnt ein perfides Spiel aus Drohungen, Inszenierung und schockierenden Enthüllungen. "Likes sterben leise" ist ein düsterer, gesellschaftskritischer Thriller über Scheinwelten, digitale Abgründe und eine Mutter, die alles verloren hat – vielleicht sogar sich selbst. Wieviel Wahrheit steckt hinter einem perfekten Post? Und was passiert, wenn das Netz zurückblickt? Ein schonungsloser Roman von Kiran Ashford, der dort hinsieht, wo andere lieber scrollen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsangabe – „Likes sterben leise“ von Kiran Ashford
Stell dir vor, du öffnest dein Handy – und hinter jedem Lächeln lauert ein Schatten.
Sophie Halmer ist 32, Mutter, Influencerin und scheinbar die Verkörperung des perfekten Familienlebens. Millionen folgen ihrem Alltag: Bio-Frühstück, liebevolle Erziehung, niedliche Kinder und strahlende Filtermomente. Doch was niemand sieht: Hinter der Kamera herrschen Kontrolle, Kälte und emotionale Gewalt. Die Kinder sind nicht mehr als Requisiten im großen Spiel um Klicks und Kooperationen.
Als eines ihrer Kinder plötzlich verschwindet, kippt die heile Online-Welt. Aus einer Tragödie wird Content, aus echtem Schmerz wird ein Geschäftsmodell – und aus einer Mutter eine Zielscheibe. Während die Polizei im Dunkeln tappt, beginnt ein perfides Spiel aus Drohungen, Inszenierung und schockierenden Enthüllungen.
„Likes sterben leise“ ist ein düsterer, gesellschaftskritischer Thriller über Scheinwelten, digitale Abgründe und eine Mutter, die alles verloren hat – vielleicht sogar sich selbst.
Wieviel Wahrheit steckt hinter einem perfekten Post? Und was passiert, wenn das Netz zurückblickt?
Ein schonungsloser Roman von Kiran Ashford, der dort hinsieht, wo andere lieber scrollen.
Kapitel 1: Das perfekte Morgenlicht
Sophie Halmer räuspert sich leise, bevor sie die Kamera einschaltet. Das Mikrofon überprüft sie mit einem professionellen Blick, dann tritt sie einen Schritt zurück und lächelt, während sich der Timer der Aufnahme an ihrem Smartphone rückwärts zählt. Ihre Follower lieben dieses Morgenritual. In dem Moment, in dem sie live geht, um ihren Tag mit ihnen zu teilen, scheint die Sonne akkurat durch das Küchenfenster und umrahmt Sophies schlanke Gestalt in goldenem Licht. Ein Effekt, den sie sorgfältig geplant hat, indem sie die Vorhänge genau drei Fingerbreit offenstehen lässt. Sie postet das erste Bild des Tages: Ein makelloses Bio-Frühstück, bestehend aus bunt geschnittenem Obst in Muster gelegt, daneben gekeimter Weizentoast, glutenfrei natürlich, bestrichen mit einem Hauch Avocado und kunstvoll drapierten Sprossen. Die Kaffeetasse trägt den Aufdruck „Super Mom“. Eine stille Bestätigung ihres öffentlich geformten Selbstbildes.
Kaum ist der Livestream gestartet, huscht eines der Kinder in die Küche. Sophie hält das Lächeln, doch ihr Blick streift kurz drohend über das kleine Gesicht. Ein Warnzeichen. Die Botschaft ist deutlich: Nicht stören, wenn Mama live ist. Das Kind bleibt für einen Moment reglos stehen, weicht dann zurück. Für Außenstehende scheint es eine liebevolle Szene: ein schüchternes Kind, das sich an Mamas morgendlicher Präsenz erfreut. Wer allerdings die Augen offen hält, würde den ernsten Ausdruck erkennen, das stumme Gehorchen, die Furcht, einen Fehler zu begehen. Doch Sophie konzentriert sich weiter auf ihre Follower. Sie spricht von der stimmungsvollen Morgenenergie, von Dankbarkeit und von all den wundervollen Dingen, die der neue Tag bringen wird. Zum Schluss lässt sie einen kleinen, eleganten Hinweis fallen, dass sie heute ein aufregendes „Unboxing“ plant: Pakete einer renommierten Spielzeugmarke, die ihr zugeschickt wurden. Ein Werbe-Deal, den sie stolz anmoderiert. Eine kurze Verabschiedung in die Kamera, dann stoppt sie die Aufnahme. Ihr Lächeln erlischt im selben Augenblick.
Sobald die rote Lampe am Handy aus ist, legt sich eine Kälte in Sophies Augen. Statt der zarten, angeblich handbemalten Porzellantasse greift sie nach einem großen Becher kalten Kaffees, den sie sich während des Streams selbst verboten hat, weil er nicht in die idyllische Optik gepasst hätte. Es ist ein abgekühlter Rest von gestern, der bittere Geruch verrät, dass er längere Zeit stand. Doch Sophie scheint das nicht zu stören. Sie trinkt ihn hastig, als brauche sie diesen Schub. Dann beugt sie sich über die Arbeitsplatte, scrollt durch die Kommentare. Tausende Herzchen, Lob für ihr Styling, unzählige Komplimente zur angeblichen Authentizität, Verbeugungen vor ihrem „Muttergenie“. Hin und wieder ein kritischer Kommentar: „Warum müssen die Kinder so früh aufstehen?“, „Ist das nicht zu perfekt, um echt zu sein?“. Sophie ignoriert derlei Fragen, löscht sie oder blendet sie mit ihrem willigen Finger auf dem Touchscreen aus. In ihrer Welt existieren solche Zweifel nicht lange.
Sophie hat diesen Alltag routiniert perfektioniert. Um sechs Uhr aufstehen, schnell in die Dusche, Make-up auftragen, die Haare so stylen, dass sie locker, aber nicht ungepflegt aussehen, die Küche in ein glänzendes Studio verwandeln. Ihre vier Kinder – derzeit zwischen einem und zehn Jahren alt – kennen das Protokoll. Sie wissen, wann sie zu lächeln haben und wann sie besser unsichtbar bleiben. Hinter verschlossenen Türen wird gemeckert, geschrien und abgewürgt; in der Öffentlichkeit scheint alles ein reibungsloses Konzert. Das Publikum, stets hungrig nach dem nächsten Einblick in Sophies angebliche Wunderwelt, hat keine Ahnung. Und Sophie? Sie spielt ihre Rolle so überzeugend, dass manchmal selbst sie kurz daran glaubt, wirklich diese kraftvolle, immer lächelnde Super-Mama zu sein.
Ein leises Klirren ist aus dem Wohnzimmer zu hören. Eines der Kinder hat vermutlich etwas umgeworfen. Sophie spannt ihre Kiefer an. Dann hört sie ein Flüstern, gefolgt von einem hastigen Entschuldigungsmurmeln. Sie schnaubt. Eigentlich könnte es ihr egal sein, ob irgendein Glas kaputtgeht. Doch wenn heute Nachmittag das Filmteam für eine kurze Einblendung vorbeischaut – ein lokaler TV-Sender will über ihren Erfolg als Social-Media-Mutter berichten –, muss alles perfekt sein. Kein Makel, kein Chaos, nichts, das das strahlende Bild stören könnte. Also schreitet sie ins Wohnzimmer, wo tatsächlich ein Glas in Scherben auf dem Boden liegt. Ihr zweites Kind, kaum vier Jahre alt, steht mit zitternden Lippen davor, als rechne es jeden Moment mit einem lauten Tadel. Sophie atmet hörbar ein, ihre Wut ist offensichtlich. Dann senkt sie die Stimme und zischt: „Räum das weg! Und wenn ich noch ein falsches Geräusch höre, dann kannst du heute Abend auf dein Abendessen verzichten.“ Das Kind blinzelt, Tränen stauen sich in den Augen, doch es wagt nicht zu weinen. Stumm nickt es und sammelt die Scherben auf.
Mit dem Seitenblick überprüft Sophie ihr Handy. Keine Kamera läuft, niemand sieht, wie sie ihre Kinder maßregelt. Die Zuschauer sehen nur das Endergebnis: Ein scheinbar harmonisches Zuhause, ordentlich, liebevoll, stets in warmen Pastelltönen gehalten. Unter den gefilterten Instagram-Bildern sammelt sich ein Applaus an Dankbarkeit, Nachahmungswille und Ehrfurcht vor der Frau, die es scheinbar mühelos schafft, Haushalt, Kinder, Karriere und Schönheit zu vereinen. Dabei weiß Sophie, dass hinter der Kamera die Luft dünn wird. Schon seit ein paar Monaten läuft es nicht mehr so rund wie früher. Weniger Klicks, weniger Abonnenten, manche Kooperationen sind abgesprungen. Die Konkurrenz schläft nicht. Es gibt unzählige Influencer-Mütter da draußen, und die meisten sind jünger, blendend aussehend, haben bessere Deals. Deshalb hat Sophie sich einen neuen Plan zurechtgelegt: Mehr Kinder. Denn jedes neue Baby sorgt für einen gewaltigen Push in den sozialen Netzwerken, rührt die Herzen, erhöht die Reichweite. Ihre Followerzahl steigt dann wie von selbst. Bislang hat ihr das immer Erfolg gebracht.
Sophie hat bereits vier Kinder, das älteste ist zehn, das jüngste erst vor gut einem Jahr zur Welt gekommen. Und doch ist sie fest entschlossen, noch weiterzugehen. Sie träumt von einem großen Haus, bezahlt durch Werbepartner, von lukrativen Sponsorings, bei denen sie in glamourösen Familien-Videospots die glückliche Großfamilie mimt. Der Mann, der Vater ihrer Kinder, ist längst nicht mehr in Reichweite. Offiziell befindet er sich auf Weltreise und schickt ab und an ein Postkarten-Update. Die Wahrheit ist, dass er vor mehreren Monaten in einer Nacht- und Nebelaktion geflohen ist, nachdem er Sophie nicht mehr ertragen konnte. Die ständigen Kameraaufnahmen, die dauernden Drohungen, wenn er sich weigerte, auf Knopfdruck den scheinbar perfekten Ehepartner zu spielen. Er konnte ihre Kälte den Kindern gegenüber nicht mehr sehen. Oder er konnte. Aber er war zu schwach, etwas zu verändern. Also verschwand er einfach. Sophie jedenfalls hat es geschafft, diese Geschichte umzudeuten. In ihrer Welt wurde er zum Abenteuerlustigen, der die Welt erkundet, während sie tapfer allein die Familie managt. Ihre Follower vergöttern sie dafür.
In diesem Moment klingelt ihr Handy. Auf dem Display erscheint die Nummer ihres Agenten. Ein leichtes Kribbeln durchfährt sie. Sie ist noch immer angespannt vom Vorfall mit dem zerbrochenen Glas, doch die Aussicht auf gute Nachrichten lässt sie sich sammeln. „Sophie“, sagt die Stimme am anderen Ende knapp, „ich hab einen Deal für dich.“ Sie spürt, wie Adrenalin in ihr hochsteigt. „Eine große Spielzeugmarke“, fährt der Agent fort, „will, dass du ihre neue Puppenserie vorstellst. Die Idee ist ein Event-Video, so eine Art Unboxing mit allen deinen Kindern. Sie wollen, dass ihr die Puppen testet und du ein paar kurze Storys machst. Budget ist üppig, echt üppig. Und, äh, sie haben irgendwas von einem Charity-Projekt erwähnt, in das sie auch einfließen wollen. Du weißt schon, dass es aussieht, als würdest du dich sozial engagieren. Eigentlich ziemlich einfaches Geld, Sophie.“ Perfekt, denkt sie. Genau das, was sie braucht, um ihr Image wieder zu polieren. „Klar, bin dabei“, antwortet sie mit fester Stimme. „Schick mir die Unterlagen und sag mir, bis wann sie drehen wollen.“ Einen Atemzug später beendet sie das Gespräch, ein Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus.
Sie blickt hinüber zu ihren Kindern, die sich hinter der Wohnzimmertür verstecken. Sie hat sie nicht herankommen hören, aber sie spürt ihre Anwesenheit. Da ist ein kurzer Moment, in dem sie fast so etwas wie Mitgefühl empfindet – oder vielleicht ist es nur der Gedanke, dass sie diese kleinen Wesen braucht, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie sind ihre goldene Gans. Schließlich bringt ihr jedes fröhliche Video mit den Sprösslingen tausende Likes und Kommentare. Schöne Gesichter, süße Lacher, kleine Finger, die mit bunten Spielsachen hantieren – das Internet schmilzt dahin. Doch im selben Augenblick spürt sie auch, wie ihr Magen sich zusammenzieht. Die Kinder sind keine Freude, sondern eine Last. Und dennoch weiß sie, je mehr Kinder sie hat, desto mehr Kapital kann sie daraus schlagen. Eine paradoxe Welt, die sie geschaffen hat. Auf der Suche nach mehr Aufmerksamkeit, mehr Klicks, mehr Geld.
Sophie stellt sicher, dass die Kinder den Frühstückstisch aufräumen, während sie selbst ins Büro verschwindet. Dort, in einem kleinen, perfekt aufgeräumten Raum, stehen ihre Kameras, das Licht-Equipment, Regale voller Requisiten: fotogene Körbe, farblich abgestimmte Decken, Wandtattoos mit Sprüchen wie „Family is everything“. Eine große Pinnwand ist übersät mit Post-its, auf denen sie Content-Ideen notiert hat. Alles durchgeplant: Montags ein Video über gesunde Rezepte, dienstags ein gemeinsames Liedersingen, mittwochs Bastelstunde, donnerstags Product Placement, freitags Flashback-Friday mit Kinderbildern. Wochenenden sind reserved für spontane Live-Sessions aus dem Park oder einem Café. Die perfekte Mutter hat schließlich niemals einen Tag frei.
Doch jetzt muss sie etwas tiefer nachdenken. Ein neuer Deal, eine neue Chance, im großen Stil abzukassieren. Die Spielzeugmarke möchte ein Event. Damit es reibungslos klappt, braucht sie das Kooperationsmaterial rechtzeitig. Damit es besonders wirkmächtig ist, braucht sie noch mehr Aufmerksamkeit. Eine großangelegte Kampagne, vielleicht ein Gewinnspiel. Und: eine neue Geschichte, die die Leute berührt. Was wäre besser geeignet als die Neuigkeit, dass sie schwanger ist – oder zumindest bald sein will? Ein neues Baby wäre wie Treibstoff für ihre Social-Media-Karriere. Sie spürt, wie diese Idee sie euphorisiert. Sie greift nach ihrem Smartphone und öffnet ihre Kalender-App. Dicht gepackt mit Terminen: Shootings, Filmaufnahmen, Livestreams, Interviews. Ein weiteres Kind bedeutet zwar Aufwand, aber es bedeutet auch eine gigantische Reichweite. Ihr Verstand rattert. Sie überlegt, wann der ideale Zeitpunkt wäre, um eine solche Neuigkeit zu lancieren. Wie man es ankündigt, welche Kooperationspartner ins Boot geholt werden könnten. Schwangerschaftsbekleidung, Baby-Nahrung, Online-Kurse für Mütter. Die Liste an Möglichkeiten ist endlos.
Sie erinnert sich an frühere Instagram-Posts, in denen sie Fotos von Ultraschallbildern teilte und damit einen Sturm an Kommentaren auslöste. Jedes einzelne Posting führte zu einer Explosion von Nachrichten, Angeboten, Werbedeals. Manchmal fragt sie sich, ob ihre Follower tatsächlich an ihrem Leben interessiert sind oder nur an der Illusion, die sie ihnen auftischt. Dann lacht sie leise. Vermutlich ist ihnen das egal, denn sie sieht in den Gesichtern ihrer Fans immer nur Hunger: Hunger nach Geschichten, nach Drama, nach süßen Kinderaugen. Wer oder was dahintersteckt, interessiert kaum jemanden wirklich. Hauptsache, die Story stimmt. Sophie hat verstanden, wie diese Welt funktioniert, und sie spielt in ihr eine Hauptrolle.
Während sie im Geiste weiter plant, hört sie das Scheppern von Töpfen in der Küche. Ein genervter Seufzer entfährt ihr. Sie zieht in Erwägung, noch einmal live zu gehen, um „spontan“ zu zeigen, wie gut ihre Kinder beim Mittagessen helfen. Doch als sie an den neuen Werbedeal denkt, beschließt sie, die Kräfte zu sparen. Dieser Tag muss schließlich makellos aussehen, wenn das Kamerateam kommt. Sie verlässt ihr Büro und kehrt in die Küche zurück. Unterwegs überprüft sie nochmals ihr Make-up im Spiegel des Flurs. Der Lipgloss sitzt perfekt, der Lidschatten schimmert. Auf dem Rücken trägt sie ein Babyphone, das äußerlich wie ein modisches Accessoire wirkt – ein Sponsoring-Artikel, natürlich. Sie hat es während der letzten Schwangerschaft groß vermarktet und große Summen dafür kassiert. Jedes Detail in ihrem Haus könnte eine Einnahmequelle sein.
In der Küche sitzt ihr ältestes Kind. Zehn Jahre alt, ein stiller Blick, in dem sich etwas Resignation mischt. Es bearbeitet eine Banane mit dem stumpfen Ende eines Löffels, sichtlich gelangweilt. Sophie setzt sich daneben, legt einen Arm um die schmalen Schultern und sagt in einem übertrieben freundlichen Ton: „Hast du Lust, mir heute Nachmittag bei der Spielzeug-Vorstellung zu helfen? Wir werden Puppen auspacken, das ist doch cool, oder?“ Das Kind zuckt nur mit den Schultern. Sophie kneift kurz die Lippen zusammen. Wenn das Kamerateam anrückt, kann sie es sich nicht leisten, dass ihr Ältestes bockt. „Hey“, flüstert sie eindringlich, „du hast es zu tun. Und zwar mit einem Lächeln. Hast du mich verstanden?“ Der leise, bedrohliche Unterton steht in deutlichem Kontrast zu ihrem vorigen Singsang. Das Kind nickt, wagt keinen Widerspruch. Sophie weiß, dass sie sich darauf verlassen kann. Noch hat keiner ihrer Sprösslinge gewagt, ihren Anweisungen zu widersprechen, sobald die Kamera läuft. Sie hat genug Drohungen und Strafen parat, damit auch alles glattgeht.
Sie erinnert sich an einen Vorfall vor einigen Monaten. Einer ihrer Söhne hatte während eines Live-Streams an Sophies Rock gezupft und gesagt, er müsse zur Toilette, während sie gerade eine Kooperation für ein neues Bio-Gemüse-Set anpries. Sophie hatte ihn vor laufender Kamera angelächelt, die Zuschauer lachten, weil es „so echt“ wirkte. Doch kaum war der Stream beendet, zog sie das Kind ins Badezimmer und machte ihm lautstark klar, dass er so etwas nie wieder tun dürfe. Sie strich ihm später das Abendessen, und als er weinte, drohte sie damit, ihn in einen finsteren Keller zu sperren. Er verstummte sofort. Einmal mehr hatte sie gezeigt, wer die Fäden in dieser Show zieht.
Sie atmet durch und beschließt, sich einen Moment zu sammeln. In der Küche hängt eine Uhr im Vintage-Stil, ihre Zeiger nähern sich dem späten Vormittag. Bald wird das Kamerateam kommen. Vorher will sie noch ein paar Insta-Stories machen, um Spannung aufzubauen. Sie nimmt ihr Handy hervor und beginnt, sich selbst zu filmen: „Hallo meine Lieben! Ich wollte nur kurz sagen, dass wir heute ein mega spannendes Unboxing machen – brandneue Puppen, die meine Kinder und ich testen dürfen. Ich bin schon so gespannt, welche Überraschungen drin sind! Schaut unbedingt später wieder rein, es wird genial!“ Sie setzt ihr breitestes Lächeln auf, lässt die Kamera einmal durch die glänzend polierte Küche schweifen und beendet die Aufnahme. Sofort schneidet sie das kurze Video zurecht, fügt schwungvolle Musik hinzu und lädt es hoch. Binnen weniger Sekunden hagelt es Likes, Kommentare fliegen in Wellen herein.
Sie gönnt sich einen prüfenden Blick durch das Fenster nach draußen. Die Sonne scheint noch immer perfekt herein. Das Morgenlicht, von dem sie so gerne erzählt, wirkt wie ein Heiligenschein um ihren Kopf, wenn sie die richtigen Filter benutzt. Im Garten liegen bunte Spielsachen, akkurat platziert, als ob ihre Kinder gerade darin versunken wären. Dabei weiß sie genau, dass ihre Sprösslinge nur auf ein Kommando hin diesen Garten betreten, um ein gefilmtes Familienspiel vorzutäuschen. Das Publikum wird heute vermutlich wieder Sätze lesen wie „So viel Spaß bei Halmer-Family!“ oder „Wow, wie liebevoll du mit den Kindern umgehst, Sophie!“. Eine Heuchelei, die Sophie nur zu gern füttert. Mit jedem positiven Kommentar steigt ihr Selbstwert in die Höhe, während sie gleichzeitig ihre Kinder weiter in eine stille, unsichtbare Angst treibt.
Ein Kratzen an der Tür. Es ist das jüngste Kind, fast noch ein Kleinkind. Es sitzt am Boden und nuckelt apathisch an einem Plastikring. „Steh auf“, befiehlt Sophie halblaut, „wir bekommen gleich Besuch, das musst du kapieren.“ Das Kleinkind reagiert kaum, also zieht sie es am Arm hoch, wenig sanft. Sie murmelt etwas von „Vorsicht, du tust mir weh“, doch Sophie zischt es zur Ruhe. Dann bemerkt sie, dass die Windel scheinbar schon länger nicht gewechselt wurde, ein säuerlicher Geruch liegt in der Luft. „Kümmere dich um deinen Bruder“, ruft Sophie zum ältesten Kind hinüber, das noch immer am Küchentisch sitzt. „Schnell. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“ Wortlos gehorcht die Zehnjährige, nimmt den Jüngeren bei der Hand und verschwindet Richtung Kinderzimmer. Eine Szene, die in vielen Familien liebevoll wirken könnte, doch hier ist sie Teil eines Befehlsapparats.
Kurz darauf läutet es an der Tür. Das TV-Team ist früher als angekündigt. Sophie ordnet ihre Miene, atmet durch und öffnet. Ein strahlender Moderator grüßt, gefolgt von einem Kameramann und einer jungen Assistentin, die Equipment trägt. „Hallo, schön, dass wir da sein dürfen!“, flötet der Moderator. Sophie lächelt in Perfektion: „Willkommen in unserem kleinen, großen Familienparadies!“ Sie führt die Gruppe in ihr Wohnzimmer, das wie aus einem Hochglanzkatalog wirkt: farblich abgestimmte Kissen, liebevoll arrangierte Fotowände, die von glücklichen Tagen erzählen sollen. Fotos der Kinder in weißen Hemden, lachend im Feld, daneben Sophie strahlend wie eine Göttin der Mütterlichkeit. Eine einzige Lüge, aber eine überzeugende, denn niemand kann in diesem Moment hinter den Vorhang schauen.
Schnell versammelt Sophie die Kinder im Raum. Sie positionieren sich auf dem Sofa, wie sie es geübt haben. Alle starren brav in die Kamera, der Moderator stellt ein paar banale Fragen: „Wie macht ihr das bloß mit vier Kindern, du siehst so frisch aus, Sophie!“ und „Was rätst du anderen Müttern, die sich manchmal überfordert fühlen?“. Sophie beantwortet alles routiniert. Sie lacht, sie gibt Tipps, erzählt von Struktur, von Liebe, von Zusammenhalt und gegenseitigem Verständnis. Fast schon spürt sie, wie ihr selber übel wird von so viel Scheinheiligkeit. Aber sie kennt das Spiel. Sie weiß, wie man die Worte richtig setzt, die Pausen richtig setzt, wann man den Kindern über die Haare streichelt. Sie selbst hat die leeren, starren Blicke ihrer Kinder längst ausgeblendet.
Nach der kurzen Vorstellungsrunde werden die Kameras ausgeschaltet, man wechselt ins professionelle Smalltalk-Modus. Der Moderator bestätigt erneut, wie dankbar sie seien, dass Sophie Zeit für sie gefunden habe, und dass sie sich auf die Einblendung in der Abendshow freuen. Sophie bedankt sich mit gespielter Bescheidenheit, reicht jedem eine Tasse Tee, die eigentlich nur lauwarmes Wasser mit Farbstoff ist. Aber das Team scheint zufrieden, keiner stellt unangenehme Fragen. Keiner hinterfragt, warum der älteste Spross so still ist oder warum das vierjährige Kind nervös an einem alten Fleck auf dem Sofa herumkratzt. Warum auch? Ihr Job ist es, eine heile Welt zu präsentieren, nicht, sie zu hinterfragen.
Als das Team endlich wieder verschwunden ist, gleitet Sophie auf den Sessel und reibt sich die Stirn. Dieses Interview hat zwar nur eine Viertelstunde gedauert, doch es fühlt sich an, als hätte sie einen Marathon absolviert. Das perfekte Lächeln einzufrieren, während in ihr alle Alarmglocken schellen, das zerrt an den Nerven. Doch es zahlt sich aus. Spätestens wenn heute Abend das Segment ausgestrahlt wird und anschließend ihre Followerzahl wieder in die Höhe schnellt. Die Kooperationspartner der Spielzeugmarke werden entzückt sein, wenn sie sehen, wie Sophie einmal mehr im Rampenlicht erscheint. Sie atmet tief durch und greift zu ihrem Handy. Sie muss ein Dankesposting verfassen, in dem sie beteuert, wie glücklich sie ist, so wundervolle Unterstützer zu haben. Dazu ein Selfie vom Interview. Authentisch, versteht sich.
Während sie tippt, huscht ein Schatten hinter ihr vorbei. Eines ihrer Kinder schleicht Richtung Küche. Vielleicht auf der Suche nach einem Bissen zu essen, den es ohne Erlaubnis nicht bekommt. Sophie bemerkt es nur halb, sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, die richtigen Worte und Hashtags zu finden, um die ideale Mischung aus Dankbarkeit, Humor und Menschlichkeit zu suggerieren: „#Mamaleben #GroßeFamilie #PureLiebe #Gesegnet“. Ihr Daumen tippt routiniert über das Display, während ihr Kopf bereits bei den nächsten Schritten ist. Sie hat den neuen Werbedeal, sie hat die TV-Präsenz, sie hat das perfekte Morgenlicht für ihre Aufnahmen. Jetzt fehlt noch ein Stein in diesem Mosaik. Mehr Kinder, mehr Drama, mehr Klicks.
Sie lächelt hintergründig. Dieser Gedanke wird sie den Tag über begleiten, während sie die Puppenunboxing-Show plant, während sie ihre Kinder anweist, wie sie sich verhalten sollen, während sie sich mit dem Agenten über die Vertragsdetails austauscht. Sie ist sich sicher, dass sie die Dinge so lenken kann, wie sie es braucht. Das Rampenlicht gehört ihr, und sie wird es nicht mehr hergeben. Ihr Handy vibriert: eine Nachricht des Agenten. „Kannst du dir vorstellen, bald nochmal schwanger zu werden? Die Spielzeugmarke plant eine langfristige Zusammenarbeit, sie wollen eine wachsende Familie zeigen. Stell dir nur die Reichweite vor!“ Sophie lacht leise. All das passt wunderbar in ihre Pläne. Ein kurzes Kribbeln durchzuckt sie, eine Mischung aus kalter Vorfreude und Machtgefühl. Sie denkt an das nächste Baby, an noch mehr Live-Updates, an neue Marketing-Konzepte, die sie kreieren kann, um ihren vermeintlich mütterlichen Geist in bares Geld zu verwandeln. Ein unheimlicher Glanz liegt in ihren Augen, als sie dem Agenten zurückschreibt: „Ich bin bereit. Lass uns drüber reden.“
Sie steht auf, wirft einen letzten Blick in den Spiegel und strafft die Schultern. Ja, sie hat alles unter Kontrolle. Das perfekte Morgenlicht, das perfekte Bild, das perfekte Leben – sie inszeniert es nach ihrem Willen. Was hinter den Kulissen geschieht, ist Nebensache. Die Kinder werden schweigen. Und wenn nicht, wird sie sie zum Schweigen bringen. Genau wie ihren Ehemann, der sich feige in eine andere Stadt geflüchtet hat. Sophie ist überzeugt: Solange die Kameras laufen und die Follower an ihre Geschichte glauben, wird sie dieses Spiel weiterspielen. Sie lächelt. Dann setzt sie sich an den Tisch, öffnet ihren Planer und schreibt in großen Buchstaben: „Mehr Kinder. Mehr Klicks. Mehr Geld.“
Es ist noch Vormittag, aber der Tag fühlt sich bereits an wie ein endloser Dreh. Bald wird die Sonne wandern und das Licht im Wohnzimmer nicht mehr so schmeichelhaft sein. Sophie registriert das flüchtig. Doch sie kennt ihre Beleuchtungs-Tipps und Tricks, sie wird die Situation schon retten. Sie hat genug portable Lampen. Sie hat genug Filter. Sie hat genug Follower, die an ihr kleben. Die Wahrheit, so grausam sie auch sein mag, liegt im Schatten. Solange das perfekte Morgenlicht sie umspielt, wird niemand sehen, wer sie wirklich ist.
Kapitel 2: Algorithmus der Mutterliebe
Die Sonne hatte sich erst vor wenigen Minuten über den Häuserdächern erhoben, doch in Sophies Leben war bereits Hochbetrieb. Ihr Smartphone lag neben ihrem Bett, das Display flackerte im Sekundentakt. Benachrichtigungen von Instagram, YouTube, TikTok, diverse Werbemails – all das zog sie wie ein Magnet aus dem Halbschlaf. Auf den ersten Blick wirkte es wie das Leben einer weltberühmten Influencerin, die ihre Fans „liebt“ und täglich an ihrem Dasein teilhaben lässt. Doch Sophie wusste: Hinter jedem Post und jedem Lächeln lauerte Berechnung. Und diesmal war die Kalkulation größer als je zuvor. Baby Nummer fünf war unterwegs.
Die Entscheidung, wieder schwanger zu werden, hatte sie nach dem letzten TV-Interview gefällt. Während sie und ihre vier Kinder auf dem Sofa thronten, hatte sie ein schwaches Pochen in der Brust gespürt – nicht Rührung oder Liebe, sondern diese gierige Art von Aufregung. Kaum war das Team verschwunden, hatte sie sich in ihrem Büro eingeschlossen, Kalender und Eisprung-Apps durchforstet, an mögliche Kooperationen gedacht, die man mit Babybäuchen und niedlichen Säuglingen abschließen konnte. Babys produzierten Klicks, Klicks brachten Geld, Geld war Macht. Und Sophie brannte nach mehr.
Sie fuhr sich mit der Hand über den flachen Bauch, während sie aufstand. Noch war äußerlich nichts zu sehen, aber in ein paar Wochen würde sie sich die perfekt inszenierte Verkündung nicht nehmen lassen. Ein liebevoll in Szene gesetzter Teststreifen. Ein Papa-Shirt, das es gar nicht brauchte, weil ihr Mann ja längst verschwunden war, aber vor der Kamera ließ sich so etwas leicht umdeuten. Man würde irgendeinen Freund oder einen gekauften „Daddy-Darsteller“ als Überraschungsgast präsentieren. Die Leute würden Tränen der Rührung in den Augen haben, Mitleid, Bewunderung, vielleicht ein paar böse Kommentare – aber all das generierte noch mehr Aufmerksamkeit. Genau darum ging es.
Im Flur vernahm Sophie bereits erste Geräusche. Unten in der Küche rumpelten ihre Kinder umher. Instinktiv zog sie sich rasch einen Morgenmantel über, griff nach dem Handy und stellte sicher, dass keine spontane Aufnahme lief, die sie in einem unvorteilhaften Licht zeigen könnte. Sie legte ein Lächeln auf, als wäre sie schon mitten im Dreh, selbst wenn gerade niemand zusah. Nur für den Fall, dass eines der Kinder einen Blick erhaschte, wollte sie nicht „unvorbereitet“ wirken.
Sie ging die Treppe hinunter. Der Geruch von angebranntem Toast stach ihr in die Nase. In der Küche beugte sich die Zehnjährige – das älteste Kind – über den Toaster. Ihr Gesicht wirkte angespannt, ein feiner Film aus Schweiß glänzte auf der Stirn. Daneben die drei Geschwister, die wie immer erstarrt dastanden, als fürchteten sie jeden falschen Handgriff. Sophie rümpfte die Nase.
„Was habt ihr hier veranstaltet?“, fragte sie mit einer schneidenden Stimme, die nur knapp hinter einem gezwungenen Mutterlächeln verborgen blieb. Die Zehnjährige richtete sich auf, hielt mit zitternder Hand zwei verkohlte Brotscheiben hoch. „Ich wollte… Frühstück machen“, sagte sie leise, einen unterdrückten Funken Trotz in der Stimme.
Sophie presste die Lippen zusammen. Es kam ihr vor wie eine gezielte Provokation. „Schau, was du angerichtet hast“, zischte sie. „Das ganze Haus riecht nach Rauch. Wer soll das essen? Das muss ich doch gleich wieder wegwerfen!“ Ihre Stimme klang noch nicht laut, aber bedrohlich. Die Jüngeren zogen sich unwillkürlich zurück. Die Zehnjährige hielt Sophies Blick jedoch stand. „Dann mach es selber“, flüsterte sie – kaum hörbar, aber spürbar herausfordernd.
Sophie zog die Augenbrauen hoch. Dass ihre Älteste sich herausnahm, so zu reden, war ein Novum. Bisher hatte sie stets bereitwillig die Befehle der Mutter ausgeführt. „Wie war das gerade?“, fragte Sophie eisig. Die Tochter schwieg und zog die Schultern hoch. Dann ließ sie die verkohlten Toastscheiben fallen. Sophie atmete scharf ein und trat einen Schritt näher, doch etwas in dem Blick des Mädchens ließ sie stocken. Sie sah nicht mehr nur Unterwerfung – sie sah so etwas wie Wut. Vielleicht auch Verzweiflung.
Und dann bemerkte Sophie die laufende Kamera auf dem Küchentisch. Offenbar hatte das Kind sie versehentlich oder absichtlich eingeschaltet, während sie das Frühstück vorbereitete. Sie warf einen schnellen Blick auf das Display: Es lief keine Übertragung, aber eine Aufnahme. Hörte man da Sophies schneidenden Ton? Sah man ihre kalten Augen? Hatte die Zehnjährige das womöglich absichtlich gemacht?
Sophie streckte eine zitternde Hand aus und stoppte die Aufnahme. Ihr Herz schlug unruhig. Schnell überprüfte sie, ob das Video schon irgendwohin hochgeladen worden war. Nein, es schien lokal auf dem Speicher zu liegen. Sie atmete auf, löschte es ohne zu zögern und warf einen unauffälligen Seitenblick zu ihrer Tochter. Diese hatte sich abgewandt und machte sich daran, die Küchenanrichte aufzuräumen. Das Mädchen hatte offenbar gemerkt, wie Sophie das Video vernichtete. „Tu mir einen Gefallen“, sagte Sophie so leise, dass es die anderen Kinder nicht hören konnten, „mach das nie wieder. Verstanden?“ Kein Gebrüll, aber eine Stimme, die vor Warnung troff.
Die Zehnjährige sagte nichts. In ihrem Rücken wirkte sie schmal und angespannt, als könne ein falsches Wort jetzt alles explodieren lassen. Sophie nahm sich vor, diese aufkeimende Rebellion genau im Auge zu behalten. Dann räusperte sie sich, strich ihr Haar glatt und atmete tief durch – Zeit, wieder die Fassade zu wahren. Sie griff nach dem Handy, aktivierte die Kamera und lächelte perfekt.
„Guten Morgen, meine Lieben!“, flötete sie und schwenkte das Handy in Richtung Kinder, die sofort ihre Marionettenrollen einnahmen und ein halbherziges Lächeln zeigten. Sie wackelte mit einer der verkohlten Toastscheiben vor der Kamera. „Manchmal passiert so was eben: Das Toastbrot brennt an. Aber hey, wir sind ja alle nur Menschen, oder?“ Sie lachte gekünstelt und schwenkte dann zum Küchentisch, auf dem eine helle Blumenvase stand, die vom Morgensonnenlicht beleuchtet wurde. „Trotzdem wünsche ich euch allen einen wundervollen Tag! Wir frühstücken jetzt!“
Kaum war die Live-Story beendet, sank das Lächeln wieder von ihrem Gesicht. Sophie nutzte ihre Anspannung, um Energie in die nächsten Schritte zu kanalisieren: der Tag musste sorgfältig geplant werden. Vor allem musste sie entscheiden, wann und wie sie die Schwangerschaft offiziell verkünden würde. Bereits ein Termin beim Frauenarzt war vereinbart, um die Vermutung bestätigen zu lassen. Sophie war sich jedoch sicher: Ihr Körper reagierte so deutlich, dass es keine falsche Annahme sein konnte.
Sie schickte die Kinder in ihre Zimmer – beziehungsweise zwang sie beinahe dazu. Keines von ihnen sollte beim Anruf dabei sein, den sie gleich führen würde. Ihr Agent wartete auf Neuigkeiten. Seit einer Woche hatte sie ihm in vagen Andeutungen signalisiert, dass „ein großes Wunder“ sich anbahne, und der Agent hatte sofort die Dollarzeichen in den Augen gesehen.
„Na, große Neuigkeiten?“, fragte er mit überschlagender Stimme, kaum dass sie ihn ans Telefon bekam. „Hab ich recht gehabt?“ „Ja“, bestätigte Sophie und spielte die freudige Überraschung, die sie vor ihren Zuschauern so oft inszenierte. „Ich bin schwanger. Das wird der absolute Durchbruch. Fünf Kinder! Stell dir das Presseecho vor. Da kann keine andere Influencer-Mutter mithalten.“„Genau“, stimmte er zu und begann ohne Umschweife, von möglichen Verträgen zu sprechen. Prenatal-Kurse, Öko-Babybekleidung, sogar ein großer Drogeriekonzern könne Interesse haben, sobald die ersten offiziellen Posts online gingen. Sophie hörte aufmerksam zu, ihre Gedanken rasten. Sie war bereits dabei, sich auszumalen, wie sie die Schwangerschaftsmonate für immer neue Content-Formate nutzen würde: Morgenübelkeits-Vlogs, Bauchumfang-Messungen, niedliche Geschwisterclips, die das Wunder „neues Baby“ bejubelten. Der Agent versicherte ihr, er würde schon bald konkrete Angebote auf den Tisch legen. Sie verabredeten sich auf ein Meeting in ein paar Tagen.
Sophie legte auf und spürte ein Kribbeln im Magen, das in erster Linie von der Gier nach diesen Geschäften kam und nicht von den ersten Schwangerschaftshormonen. Sie warf einen Blick in den Spiegel, der im Flur hing. Ein perfektes Bild einer schlanken Frau, erst Anfang dreißig, mit modisch gewelltem Haar. Die Augen wirkten kühl, fast rastlos, als wären sie nie wirklich bei der Sache, sondern immer auf der Jagd nach dem nächsten Deal. „Fünf Kinder“, murmelte sie leise. Für die Zuschauer würde sie die Familienidylle weiter hochhalten, den virtuellen Applaus genießen. Für sich selbst bedeutete es lediglich einen neuen Schritt auf der Karriereleiter in den sozialen Medien.
Ihre Gedanken wurden von einem Vibrieren ihres Smartphones durchbrochen. Eine Mail war eingegangen. Sophie war wie besessen davon, jede einzelne Nachricht sofort zu checken; ein kritischer Kommentar, eine unzufriedene Firma – nichts durfte sie überraschen. Also klickte sie auf den Posteingang und las: „Wir sehen dich. Und deine Lügen.“ Kein Betreff, kein Absender – nur diese Worte. Kurz und kaltherzig.
Sophie stockte. In ihrem Innersten fror eine kleine, nervöse Flamme. Wer schrieb so etwas? Gab es einen verärgerten Follower, der sich einen Scherz erlaubte? Oder war es jemand, der hinter die Fassade blicken konnte? Sie schaute sich um, fast so, als könnte sich der Absender in ihrem Haus verstecken. Alles war still. Durch das Fenster fiel die Sonne schräg in den Flur, tauchte die weißen Wände in freundliches Licht. Dennoch lag in der Luft eine Spannung, die sie nicht losließ.
Erst wollte sie die Mail löschen. Doch etwas hielt sie zurück. Sie löschte sonst jede Nachricht, die negativ klang. Aber diesmal hatte sie das Gefühl, es könne mehr dahinterstecken. Sie markierte die Mail als ungelesen, sperrte das Handy und beschloss, erstmal abzuwarten. Vielleicht würde bald eine weitere Nachricht kommen, vielleicht war es nur ein Troll. Auf keinen Fall wollte sie sich verunsichern lassen.
Sie verbot sich, länger darüber nachzudenken, und machte sich daran, ihr großes Ziel weiterzuverfolgen. Noch am selben Tag sollte eine neue Fotoserie entstehen: Sie hatte sich eine Kooperation mit einer Firma für Gartenaccessoires gesichert. Dazu würden die Kinder in knallbunte Gummistiefel schlüpfen und so tun, als pflanzten sie fröhlich Blumen und Gemüse – eine idyllische Familienszene, die nach außen perfekt wirkte. Wen interessierte es schon, dass die Kinder am liebsten drinnen geblieben wären, in Jogginghosen, mit einer Decke über dem Kopf, weil sie kein Wort miteinander wechseln wollten?
Sobald die Kamera lief, war alles wie immer. Sophie nahm die Kommandos in die Hand, drapierte Gießkannen, Blumenzwiebeln, kleine Harken. Sie steuerte die Körper ihrer Sprösslinge durch Rufe und Handzeichen, als wären sie Schaufensterpuppen. In den kurzen Videosequenzen lachten die Kinder krampfhaft in die Linse, malte man ihnen eine Unbeschwertheit ins Gesicht, die längst verschwunden war. Die Zehnjährige stand abseits, fast unbeteiligt. Sophie hielt kurz inne und überlegte, ob sie sie in den Vordergrund schubsen sollte. Früher war sie das Aushängeschild gewesen – das „große, stolze Kind“. Jetzt spürte sie nur Widerstand in diesem stummen, ernsten Blick. Also setzte sie die Neunjährige in Szene, die bereitwilliger wirkte, und ließ die Älteste einfach an der Seite „hilfreich“ Blumenerde schaufeln.
Nachdem Sophie die Szene im Kasten hatte, setzte sie sich an den Gartentisch und überprüfte das Material. Jede Aufnahme musste auf Perfektion getrimmt sein. Schließlich verschickte sie eine erste Kostprobe an ihren Agenten, der sie an die Gartenaccessoires-Firma weiterleiten würde. Sie klatschte einmal laut in die Hände. „Pause, Kinder! Aber bleibt in euren Klamotten. Wir machen gleich noch ein paar Fotos.“ Mit diesen Worten schickte sie sie wieder ins Haus.
Die Zehnjährige, die immer noch die Schaufel in der Hand hielt, zögerte. Dann sagte sie leise: „Ich muss aber wirklich auf die Toilette.“ Ein banaler Satz. Doch in der Art, wie sie es hervorbrachte, lag eine Art stummer Protest, als wollte sie sagen: Sie konnte vielleicht nicht gegen all dies aufbegehren, aber sie würde sich zumindest nicht wie ein Roboter herumkommandieren lassen. Sophie war kurz irritiert. Sie hatte erwartet, das Kind würde wie immer nachgeben. „Ja, geh“, entgegnete sie ungehalten. „Aber beeil dich. Ich will gleich noch Fotos machen, wo du mit der Gießkanne lächelst.“
Die Zehnjährige ließ die Schaufel fallen, drehte sich um und stapfte ins Haus. Sophie runzelte die Stirn, wollte ihr hinterherrufen, dass sie gefälligst besser mit den Sachen umgehen sollte, aber sie biss sich auf die Lippe. Die Aufnahmen waren wichtiger. Und: Am Ende zählte nur das Bild, das sie verkaufen konnte.
Als sie sich wieder ihren Videos zuwandte, spürte sie erneut diese Unruhe in ihrer Magengegend. Die Mail mit den Worten „Wir sehen dich. Und deine Lügen.“ tauchte unausweichlich wieder in ihrem Kopf auf. Instinktiv streichelte sie sich über den Bauch – eine Geste, die sie eigentlich nur für die Kamera machte, wenn es um die Schwangerschaft ging. Nun tat sie es unwillkürlich, als wöllte sie sich selbst beruhigen.
Nach einer kurzen Mittagspause – für die Kinder bedeutete das: ein hastig heruntergewürgter Happen, während Sophie auf dem Handy tippte – ging sie hinauf in ihr Büro, sperrte die Tür hinter sich zu und begann, ihre Social-Media-Kanäle auf Vordermann zu bringen. Dabei kam sie nicht umhin, in die Direktnachrichten zu schauen. Immer wieder klopfte ihr Herz schneller bei jedem ominösen Profilbild. Doch kein weiterer Hinweis auf die merkwürdige Mail.
Stattdessen viele andere Fragen: „Wo ist der Papa eurer Kinder?“, „Wie machst du das alles alleine?“, „Ich hab gehört, du bekommst bald Nachwuchs – stimmts?“. Sophie beantwortete die meisten Nachrichten nicht selbst. Sie hatte dafür ein kleines Team von Assistenten – eigentlich nur zwei Aushilfskräfte, die sie im Wechsel engagierte, damit sie rund um die Uhr „aktiv“ war. Aber manche Texte tippte sie selbst, vor allem, wenn es um kritische oder sehr lukrative Kontakte ging. Die intimeren Fragen ignorierte sie konsequent, löschte und blockierte hin und wieder Personen, die zu viel wissen wollten.
Sie warf einen Blick auf ihre Analytics. Die Reichweite stieg tatsächlich wieder an, selbst ohne die große Verkündung der neuen Schwangerschaft. Der Sog des Internets war mächtig, und Sophie konnte kaum abwarten, den Turbo zu zünden, wenn sie die Neuigkeit offiziell machte. Vielleicht würde sie das Baby nach etwas Extravagantem benennen, damit es sich besser vermarkten ließ.
Ihre Konzentration wurde jäh unterbrochen, als sie von unten ein Poltern vernahm, gefolgt von aufgeregten Stimmen. Zunächst ignorierte sie es, wollte nicht bei jedem Geräusch aufschrecken. Doch dann hörte sie den wütenden Schrei ihrer ältesten Tochter. „Du hast kein Recht, mich so anzufassen!“
Sophie sprang auf, eilte zur Tür und stürmte die Treppe hinunter. Sie sah, wie die Zehnjährige am Fuß der Treppe stand, die Faust geballt, die Augen voller Zorn, während der Achtjährige wimmernd hinter ihr hockte. Offenbar war er hingefallen oder geschubst worden. „Was ist hier los?“, fuhr Sophie sie an.
Tränen blitzten in den Augen der Zehnjährigen. Ihre Wangen röteten sich vor Erregung. „Er hat mein Buch zerrissen!“, stieß sie hervor und wischte sich eine Träne weg. „Es war das Einzige, was…“ Sie brach ab, schluckte und wandte den Kopf zur Seite.
Sophie blickte auf den zerknitterten Einband am Boden. Es war ein altes Skizzenbuch, in dem die Älteste manchmal gedankenverloren zeichnete. Sophie hatte nie Wert darauf gelegt, die Zeichnungen ernst zu nehmen. Was sollten irgendwelche Krakeleien schon bringen? Aber für das Mädchen war es anscheinend wichtig, ein Rückzugsort, eine stille Welt.
„Hast du das wirklich gemacht?“, fragte Sophie ihren Achtjährigen. Er nickte, Tränen traten in seine Augen. „Ich hab nur drin rumgeblättert… dann ist es irgendwie… zerrissen.“
„Lüg nicht!“, fauchte die Zehnjährige. Sophie spürte, wie ihr Kopf heiß wurde. Jeder Streit war Gift für das Bild der perfekten Familie. Aber hier hatte niemand gefilmt. Zumindest hoffte sie das. „Beruhigt euch!“, herrschte sie beide an. „Wir haben heute keine Zeit für solche Spielchen.“
Die Zehnjährige funkelte sie an. „Er hat es absichtlich kaputtgemacht“, sagte sie mit bebender Stimme. „Nur weil er alles bekommt, was er will! Und ich bekomme gar nichts. Du nimmst mir alles weg…“
Sophie fühlte ein unangenehmes Ziehen in der Brust. Ein unkontrollierter Zorn loderte in ihr auf. „Und was soll das heißen?“, zischte sie. „Du hast doch alles, was du brauchst. Kleidung, Essen, ein Dach über dem Kopf. Also hör auf mit deinem Gejammer.“
Die Tochter schüttelte den Kopf, wandte sich ab, als wolle sie weglaufen. Doch Sophie packte sie grob am Arm, nicht sehr fest, aber spürbar. „Du bleibst hier!“, befahl sie. „Ich dulde keinen Ungehorsam in meinem Haus. Wir müssen gleich noch drehen. Hast du das vergessen?“