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Stell dir vor, du öffnest einen harmlosen Chat. Ein Flirt, ein Spiel, ein bisschen Nähe in einer Welt, die immer kälter wird. Du denkst nicht viel dabei. Ein paar Zeilen, ein Lächeln, ein Treffen. Vielleicht sogar ein Kuss. Doch was, wenn am anderen Ende jemand sitzt, der nichts vergisst? Jemand, dem etwas genommen wurde, das man nicht ersetzen kann. Jemand, der kein Verzeihen kennt – nur Erinnerung, Schmerz… und einen Plan. In dieser Geschichte geht es um mehr als nur Mord. Es geht um Verlust. Um eine Mutter, die das Liebste verlor. Um eine Tochter, die nie zurückkam. Und um das, was bleibt, wenn Gerechtigkeit nicht reicht. Willkommen in einer Welt, in der schwarze Rosen blühen, Herzen aus Tinte gemalt werden und jeder Chat das letzte sein kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
„Mit schwarzer Tinte – Der Chatmörder“
Vorwort
Stell dir vor, du öffnest einen harmlosen Chat. Ein Flirt, ein Spiel, ein bisschen Nähe in einer Welt, die immer kälter wird. Du denkst nicht viel dabei. Ein paar Zeilen, ein Lächeln, ein Treffen. Vielleicht sogar ein Kuss.
Doch was, wenn am anderen Ende jemand sitzt, der nichts vergisst?Jemand, dem etwas genommen wurde, das man nicht ersetzen kann.Jemand, der kein Verzeihen kennt – nur Erinnerung, Schmerz… und einen Plan.
In dieser Geschichte geht es um mehr als nur Mord.Es geht um Verlust. Um eine Mutter, die das Liebste verlor.Um eine Tochter, die nie zurückkam.Und um das, was bleibt, wenn Gerechtigkeit nicht reicht.
Willkommen in einer Welt, in der schwarze Rosen blühen,Herzen aus Tinte gemalt werdenund jeder Chat das letzte sein kann.
Über Kiran Ashford
Kiran Ashford schreibt Thriller, die unter die Haut gehen. Mit einem scharfen Blick für menschliche Abgründe, psychologische Abgründe und stille Tragödien erschafft er Geschichten, in denen Schmerz und Spannung Hand in Hand gehen.
Geboren in einer Kleinstadt, die ebenso viele Geheimnisse wie Bewohner hatte, entwickelte Kiran früh eine Faszination für das Verborgene – für das, was Menschen denken, aber nie aussprechen.
In seinen Werken verbindet er messerscharfe Beobachtungen mit emotionaler Tiefe, dunkler Ästhetik und einer stillen Wut gegen Ungerechtigkeit. Seine Figuren sind niemals nur Täter oder Opfer – sie sind gebrochene Menschen, die lieben, verlieren und entscheiden.
„Mit schwarzer Tinte – Der Chatmörder“ ist sein eindringlichster Roman über Schuld, Trauer – und eine Mutter, die sich in der Dunkelheit verliert.
Kapitel 1: Das perfekte Profil
Vanessa Müllerfeld saß auf ihrem cremefarbenen Sofa, die Beine elegant übereinandergeschlagen. Sie war 41 Jahre alt, wirkte aber mühelos wie Ende zwanzig. Ihre Haut hatte diesen seidigen Schimmer, den sie einer Kombination aus hochwertigen Pflegeprodukten, gelegentlichen Schönheitsbehandlungen und gutem Licht zu verdanken hatte. Einmal hatte sie im Spaß behauptet, sie lebe vom Glanz ihrer Fassade und der Dunkelheit ihrer Vergangenheit – damals ahnte niemand, wie ernst es ihr wirklich war.
Vor ihr, auf einem kleinen Couchtisch aus Glas, leuchtete das Display ihres Laptops. Die bläuliche Bildschirmhelligkeit erhellte ihr Gesicht, während sie konzentriert in die Tastatur tippte. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre Figur betonte, aber nicht zu aufreizend wirkte. Der Kragen war hochgeschlossen, doch an den Schultern zeigte sich ein zartes Spitze-Detail. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt: ein Hauch Mascara, etwas Lippenbalsam – sie wollte frisch und natürlich aussehen, wie eine junge Frau in den späten Zwanzigern.
Die Idee, sich im Internet ein neues Profil anzulegen, war Vanessa nicht fremd. Sie hatte in den letzten Jahren so viele verschiedene Accounts erstellt, gelöscht und wiederhergestellt, dass sie vermutlich problemlos als Social-Media-Beraterin hätte durchgehen können. Doch dieser Account sollte anders sein. Er war nicht nur Teil einer lockeren Phase, in der sie Spaß beim Flirten suchte. Er war Kernbestandteil eines Plans, den sie schon lange in ihrem Kopf schmiedete.
Wie immer, bevor sie ein neues Profil anlegte, überlegte sie sich einen passenden Benutzernamen. Er sollte ironisch, aber nicht zu albern klingen. Etwas, das Männer lockte, aber nicht gleich auf einen Fetisch schließen ließ. „Sweet_Serenity“ vielleicht? Oder doch „BellaDonna“? Sie runzelte die Stirn und lachte leise. Ein Flirt-Ratgeber, hatte sie einmal gelesen, rate zu natürlichen, freundlichen Namen. Aber Vanessa wusste, dass es auch genug Neugier weckte, wenn der Name eine Art Verheißung enthielt. „NightBlossom“ klang irgendwie poetisch, aber vielleicht zu dramatisch. „RedVelvet“? Zu sehr nach Kuchen.
Sie lehnte sich zurück und griff nach ihrem Handy, um sich ein paar Notizen durchzuschauen. In diesen Notizen listete sie Profilnamen auf, die sie im Laufe ihrer Chat-Erfahrungen schon ausprobiert hatte. Sie waren mit Kommentaren versehen – was gut funktionierte, was nicht. „MoonlightSinner“ (zu Gothic, zog vor allem Männer mit Schlange-als-Haustier-Fetisch an), „SweetyDarling“ (zu unspezifisch, wirkte eher nach zuckriger Romantik), „VenusLaughs“ (einmal lustig, aber schnell abgedroschen).
Nach einigem Überlegen tippte sie schließlich „CherryKiss“ in das Feld „Benutzername“. Dann lachte sie kurz auf. „CherryKiss“ klang wie eine Mischung aus Kaugummimarke und 90er-Jahre-Girlie-Band. Aber vielleicht war das genau der richtige Touch. Niedlich, aber mit einem Hauch Verführung. Sie hob die Augenbrauen, während sie den Namen einige Sekunden betrachtete. Dann klickte sie auf „Weiter“.
Es folgte das obligatorische Hochladen eines Profilbildes. Vanessa hatte eine Sammlung sorgfältig bearbeiteter Selfies auf ihrer Festplatte, jedes mit leicht unterschiedlichem Licht und Filter. Sie bevorzugte einen dezenten Glow-Filter, der die Haut ebenmäßig machte, ohne unnatürlich zu wirken. Nachdem sie ein entsprechendes Bild ausgewählt hatte, lächelte sie zufrieden. Darauf trug sie ein luftiges Sommerkleid, ihr braunes Haar fiel weich über ihre Schultern. Der Hintergrund war ein Strandfoto, tatsächlich von einem Urlaub vor drei Jahren, aber wer sollte das schon wissen?
Sie klickte sich durch die nächsten Felder: Alter – sie gab 28 an. Wohnort – eine Großstadt, die nicht allzu weit weg war, um Glaubwürdigkeit zu wahren, aber auch nicht ihre echte Adresse. Interessen – „Sport, Musik, Kochen, Reisen“. Allgemeine Vorlieben, mit denen fast jeder etwas anfangen konnte. Anschließend textete sie die kleine Beschreibung, die im Profil erschien: „Abenteuerlustige Genießerin, die das Leben mit einem Lächeln nimmt. Auf der Suche nach neuen Bekanntschaften, vielleicht wird ja mehr draus. Ich liebe spontane Ideen, tiefgründige Gespräche und Schokolade in jeder Form.“
Perfekt normal, perfekt unverdächtig. Das nächste Feld fragte nach einer „Einleitung“ oder einer Art „Über mich“. Vanessa zögerte. Sollte sie hier etwas Persönliches einfließen lassen? Sie hatte gelernt, dass Authentizität im Chat manchmal Wunder wirkte. Ein Hauch echter Gefühle, aber nicht so viel, dass es anstrengend wirkte. „Manchmal lache ich über alles Mögliche, manchmal weine ich bei traurigen Filmen – ich mag die kleinen Überraschungen des Lebens. Melde dich, wenn du auch Lust auf echtes Kennenlernen hast … und Schokolade teilst!“
Als sie ihren Text las, rollte sie innerlich kurz die Augen. Doch sie wusste, wie gut solche Floskeln in Dating-Portalen funktionierten. Diese Mischung aus Leichtigkeit und Lebensfreude war genau das, was junge Männer gern hörten. Zumindest jene, die sich eine etwas ältere Frau vorstellten, die nicht gleich verkrampft und altklug rüberkam.
Sie finalisierte das Profil, klickte auf „Erstellen“ und wartete kurz. Dann erschien die Meldung: „Willkommen bei Love2Chat, CherryKiss!“ Das Profil war live.
Vanessa atmete durch. Etwas in ihr war gespannt. Jetzt begann der eigentliche Teil: sich den passenden Kandidaten auszusuchen. Sie hatte ein klares Ziel. Fünf Männer. Fünf junge Männer, kaum älter als 25. Einige Kontakte hatte sie bereits unter ihren alten Profilen gesammelt, aber sie wollte sichergehen, keine unnötigen Spuren zu hinterlassen. Ein frisches Profil sorgte für frische Möglichkeiten.
Während sie auf erste Nachrichten wartete, scrollte sie durch das Portal und studierte die unterschiedlichen Profile. Typische Selfies junger Männer: mal mit Sonnenbrille, mal mit Dackelblick, mal oberkörperfrei vor dem Badezimmerspiegel. Manche posierten mit einem möglichst teuren Auto, das ihnen wahrscheinlich nicht einmal gehörte. Andere gaben sich intellektuell mit Buchzitaten, die höchstwahrscheinlich nur aus Filmen stammten.
Vanessa lächelte. Sie liebte dieses Schauspiel. Es war wie ein bunter Jahrmarkt voller Eitelkeiten. Und sie hatte, trotz ihrer eigentlichen Absichten, durchaus Spaß daran, manche Eigenarten zu beobachten. Sie stieß auf einen Chat-Button und tippte eine kurze Begrüßung: „Hi! Dein Profil ist mir aufgefallen, weil du Schokolade magst! Welche ist deine Lieblingssorte?“
Während sie wartete, stiegen erste Erinnerungen in ihr hoch. Unwillkürlich dachte sie an Sophie. Ihre Tochter war 18 Jahre alt gewesen, kurz vor dem Abitur, als sie diesen einen Mann im Chat kennengelernt hatte. Damals wirkte alles wie ein harmloser Flirt – Sophie war verliebt und schwärmte von gemeinsamen Plänen. Vanessa hatte noch gelacht: „Ihr habt euch doch erst online kennengelernt! Du kennst ihn gar nicht richtig.“ Aber Sophie war jung und glaubte an das Gute. Wenige Wochen später fand man ihre Leiche. Die Einzelheiten hatte Vanessa nie vollständig erfahren, nur Bruchstücke. Es reichte, um jede Nacht Alpträume zu haben.
Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Ja, das war ihr Antrieb. Dieser Moment, der alles veränderte. Sie öffnete die Augen wieder und ihr Blick verhärtete sich. Dieses Mal sollte niemand davonkommen. Diese Männer, die ihren Charme nutzten, um junge Frauen zu verführen, sie zu manipulieren, sie vielleicht sogar zu verletzen oder zu töten – sie würden jetzt die andere Seite dieses Schreckens spüren.
Ein kleines Pling! riss sie aus ihren Gedanken. Jemand hatte auf ihre Nachricht geantwortet.
„Hey CherryKiss, danke für deine Message! Bin auch voll der Schoki-Freak. Am liebsten Zartbitter, so 70%. Wieso fragst du?“
Vanessa lachte leise. Damit brach das erste Eis.
Sie begann eine Unterhaltung, in der sie sich als fröhliche, leicht verspielte Frau präsentierte. Mit Augenzwinkern und kleinen Witzen lockerte sie die Stimmung. „Zartbitter? Sehr interessant. Ich bin eher Team Vollmilch! Aber gut, Gegensätze ziehen sich an, oder?“ Sie achtete darauf, nie zu drängen, sondern ihre Antworten so zu formulieren, dass er mehr über sich erzählte. Informationen sammeln, so nannte sie es. Und er erzählte – ausführlich.
Währenddessen öffnete Vanessa ein weiteres Browserfenster. Sie hatte gelernt, sich bei verschiedenen Portalen anzumelden, um ihre Chancen zu erhöhen, passende Kandidaten zu finden. In einem anderen Chatroom, nennen wir ihn einfach „NightTalk“, erstellte sie erneut einen neuen Account. Dort ging sie etwas direkter vor. Ein Foto von ihr im schulterfreien Shirt, ein süffisanter Text à la „Wer bei Nacht nicht schlafen kann, kann mir gerne Gesellschaft leisten.“
Vanessa hatte sich zu einer wahren Expertin im Profilbau entwickelt. Sie beachtete psychologische Tricks: Farben, die wirken, Posen, die Aufmerksamkeit erregen, Texte, die Männer für einen Augenblick vergessen ließen, dass da vielleicht eine Hintergedanke lauern könnte. Mit ihrer durchdringenden Intelligenz und ihrem Gespür für menschliche Schwächen war sie unschlagbar – eine Jägerin, die ihre Beute genau studierte, bevor sie zuschlug.
Doch inmitten dieser scheinbaren Leichtigkeit war da immer Sophies Gesicht. Immer dann, wenn sie lachte, weil ein Chatpartner einen schlechten Witz machte, spürte sie die Erinnerung wie einen Dolch im Rücken: Sophie hatte auch gelacht, damals, wenn sie mit ihrem Mörder schrieb. Die Vorstellung ließ Vanessas Miene kurzzeitig erstarren.
In solchen Momenten rief sie sich ihren Plan ins Gedächtnis: Das war keine belanglose Spielerei. Es war ihr Weg, Gerechtigkeit – oder zumindest Vergeltung – zu üben für das, was ihrer Tochter widerfahren war. Und sie war überzeugt, dass sie dabei die Kontrolle behalten würde.
Die ersten Nachrichten fluteten ihr neues Profil. Manchmal waren es belanglose Floskeln. Manchmal anzügliche Bemerkungen („Hey Süße, Lust auf Spaß?“). Vanessa sortierte sie aus. Sie hatte gewisse Kriterien. Sie suchte nicht den Erstbesten; sie suchte jene Männer, bei denen sie eine Spur von dem fand, was auch der Mörder ihrer Tochter in sich trug. Aggression, Hochmut oder eine manipulative Art.
Sie nutzte kleine Tests, subtile Provokationen in ihren Antworten, um zu sehen, wie sie reagierten. „Ich hatte mal einen Freund, der hat immer…“ – und dann wartete sie, ob sie den Geruch von Eifersucht oder selbstgefälligem Geprotze in ihren Zeilen fand.
So vergingen ein, zwei Stunden. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die Straßenlaternen tauchten den Bürgersteig in gelbliches Licht, und hin und wieder hörte sie ein Auto vorbeifahren. Ihr Magen knurrte. Sie hatte nichts zu Abend gegessen. Schnell nahm sie einen Schluck Cola – sie hasste die Light-Version, also trank sie das zuckrige Original – und aß ein paar Salzstangen.
Während sie so tippte und lachte, schwang sich eine seltsame Leichtigkeit in ihr Herz. Sie wusste, dass sie sehr wohl in der Lage war, freundlich, charmant, beinahe liebevoll zu wirken. Zugleich schwelte in ihrem Innern ein glühender Zorn. Diese Ambivalenz war fast unheimlich, selbst für sie.
Ein weiteres Fenster ploppte auf: „Hi, hübsches Bild! Was machst du denn hier so spät?“ Vanessa gluckste leicht. Sie tippte: „Hi, naja, ich kann nicht schlafen. Außerdem hab ich Lust, neue Leute kennenzulernen. Und du?“ Natürlich eine Allerweltsantwort, aber genau das funktioniert in diesen Chats.
Derjenige schrieb zurück, dass er 24 sei, Informatik studiere und eigentlich auch nicht schlafen könne, weil ihn ein Uniprojekt stresste. Ein netter Kerl. Nicht ganz das, was sie suchte, aber sie merkte, dass er ein Faible für ältere Frauen hatte. Vielleicht behielt sie ihn als Plan B in der Hinterhand.
Nach gut drei Stunden intensiven Chattens verkniff Vanessa sich ein Gähnen. „Immer dranbleiben“, sagte sie leise zu sich selbst. Das war wie die erste Auslegeordnung. In den nächsten Tagen würde sie besser wissen, wer infrage kam und wer nicht. Sie würde Dates arrangieren, Treffen vereinbaren, sich mit unterschiedlichen Typen sehen lassen – immer jedoch mit der gebotenen Vorsicht.
Doch wenn sie ehrlich war, empfand sie eine gewisse Vorfreude. Vorfreude darauf, die Verführung zu perfektionieren. Die meisten dieser jungen Männer würden nie ahnen, dass sie eigentlich 41 war. Ihre Ausweise, sollte es jemals so weit kommen, fälschte sie notfalls mit simplem Fototrick oder behauptete, sie habe ihren Führerschein verloren. Solche Details übte sie. Diskretion war ihr zweiter Vorname.
Dann ging ihr Blick auf die Uhr in der Ecke des Bildschirms. Bereits kurz nach Mitternacht. Zeit, offline zu gehen. Sie wollte ihre Gedanken sammeln und sich auf den kommenden Tag vorbereiten. Doch bevor sie sich ausloggte, schaute sie noch mal auf ihr Profil, um zu prüfen, ob alles stimmte.
Dort, wo man das Geburtsdatum eingeben konnte, stand jetzt eine hübsche kleine Lüge: 28 Jahre. Ihr Profiltext war perfekt abgerundet, ihr Foto schmeichelte, aber wirkte nicht wie ein Kunstprodukt. Sie war sicher, dass sie so innerhalb kürzester Zeit etliche Interessenten finden würde.
Mit einem zufriedenen Nicken klappte sie schließlich den Laptop zu. Plötzlich war das Zimmer unheimlich dunkel, fast bedrohlich. Sie konnte sich selbst im Spiegel an der Wand gegenüber sehen. Eine schlanke Silhouette, das Gesicht nur schemenhaft zu erkennen. Irgendetwas wirkte dabei düster, als sähe sie nicht nur ihr Spiegelbild, sondern einen Schatten hinter sich.
Langsam stand sie auf und streckte sich. Der Tag war lang gewesen und dennoch spürte sie, dass der Nervenkitzel sie wachhielt. Sie schlurfte in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Dabei dachte sie wieder an Sophie. Manchmal, wenn sie an sie dachte, fühlte sich ihr Herz an wie ein schwarzes Loch, das alles Licht aufsaugte. An anderen Tagen spürte sie schiere Raserei, eine Wut, die sie kaum im Zaum halten konnte. Heute lag beides nah beieinander.
Sie wusste noch, wie Sophie sie damals um Rat gefragt hatte: „Mama, glaubst du, er meint es ernst mit mir?“ Wie naiv sie beide gewesen waren. Vanessa hatte beruhigt, hatte gemeint, er klinge doch nett und sie solle sich nicht so viele Sorgen machen. Noch heute hörte sie die Worte ihres eigenen Mundes in ihren Alpträumen: „Wird schon alles gut.“ Doch es war nicht gut geworden. Es war das Ende von Sophies jungen, zarten Träumen gewesen.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie griff zur Arbeitsplatte, stützte sich ab, schloss die Augen und zwang sich, den Schmerz zu kontrollieren. Dann dachte sie an ihren Plan. Daran, dass sie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollte. Und, ja, dass sie Rache nehmen wollte. Vielleicht hatte das nichts mit Gerechtigkeit zu tun – so what. Sie hatte es als ihre Mission auserkoren. Niemand würde sie aufhalten.
Wieder in ihrem Schlafzimmer legte sie sich ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Der Mond schien durchs Fenster, warf einen hellen Fleck an die Wand. Sie starrte eine Weile an die Decke, während Bilder in ihrem Kopf auftauchten: junge Gesichter, lachend, in Chatfenstern. Dann Sophies Gesicht. Und schließlich ein düsteres Szenario, das sie sich schon in ihrer Vorstellung ausgemalt hatte: ein maskierter Körper, der auf dem Boden lag. Eine schwarze Rose auf dem Gesicht. Das Herz, gemalt mit schwarzem Edding, prangte auf der Brust.
Dieses Bild wirkte zugleich befremdlich und faszinierend auf sie. Sie hatte sich schon genau überlegt, wie sie es tun wollte, wenn es so weit war. Sie hatte ihre Methoden der Tarnung und Beseitigung von Spuren detailliert ausgearbeitet. Und der Gedanke daran gab ihr eine fast irritierende Ruhe, während sie einschlief.
Am nächsten Morgen, kurz nach acht, weckte sie ihr Wecker mit einem schrillen Ton. Sie stöhnte und schlug nach dem Handy, um den Alarm abzustellen. Ein kurzer Blick in die Nachrichten-Apps zeigte ihr, dass bereits einige Chatnachrichten in ihren neuen Profilen eingegangen waren. Die Kerle waren also wach und motiviert. Sie hatte eine Handvoll Gespräche angeleiert, ein paar weitere Kontakte schrieben ihr unaufgefordert.
Vanessa rieb sich die Augen und begab sich in ihr Bad. Vor dem Spiegel betrachtete sie ihr Gesicht. Keine einzige Falte verriet das wahre Alter, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Vielleicht ein paar kleine Linien um die Augen, aber die verschwanden fast völlig, wenn sie lachte. Sie schaltete das Licht an, zog sich ihr Haar zurück und überprüfte ihre Wimpern. Dann machte sie eine leichte Grimasse. „28, hm?“ murmelte sie. „Passt doch.“
Während sie sich fertig machte, lief in ihrem Kopf eine innere Checkliste ab: Was stand heute an? Sie hatte eigentlich keine Verpflichtungen. Sie arbeitete seit einiger Zeit freiberuflich als Übersetzerin von Fachtexten. Das gab ihr die nötige Flexibilität. Auch finanziell kam sie zurecht. Das war wichtig – keine Sorgen, keine Zwänge.
Gegen zehn Uhr öffnete sie ihren Laptop erneut und checkte die Chat-Portale. Wie erwartet, waren ein paar Nachrichten eingegangen:
„Hey CherryKiss, hoffe du hattest ne gute Nacht. Willst du heute was unternehmen?“
„Huhu! Danke für deine süße Nachricht gestern, war echt lustig mit dir zu schreiben. Hast du Lust, dich mal zu treffen?“
„Du bist echt hübsch, also falls du mal Lust auf ein Date hast… ich kenne da ne tolle Cocktailbar.“
Vanessa lachte beim Lesen. Na, das lief ja schon wie am Schnürchen. Doch sie würde nicht gleich beim Erstbesten zusagen. Geduld war Teil ihres Plans. Sie schrieb höfliche, freundliche Antworten, immer ein bisschen spielerisch, immer ein bisschen neckisch. „Oh, danke für das Kompliment! Ich überleg’s mir mal mit dem Treffen.“ Oder: „Cocktails klingen fantastisch, aber ich muss schauen, ob ich heute Abend kann. Meld mich später, okay?“
Sie hatte gelernt, dass ein wenig Zurückhaltung Wunder wirkte. Manchmal schob sie sogar eine Ausrede („Muss kurzfristig noch arbeiten, total blöd.“) ein, um die Spannung zu steigern. Männer in diesem Alter liebten die Herausforderung.
Doch irgendwann gegen Mittag tauchte ein Kontakt auf, der ihr Interesse weckte. Ein 23-Jähriger, nannte sich „Tom88“ – wobei die 88 wohl nicht sein Geburtsjahr war, sondern ein belangloser Nickname. Er schrieb in sauberer Rechtschreibung (bereits ein kleines Qualitätsmerkmal in dieser Chat-Welt) und wirkte äußerst höflich. Fast zu höflich.
„Hallo CherryKiss, ich bin wirklich beeindruckt von deinem Profil. Es ist selten, dass jemand so ehrlich wirkt. Was machst du denn in deiner Freizeit, wenn du nicht gerade hier chattest?“
Vanessa spürte eine leichte Irritation. „So ehrlich“? Sie war alles andere als ehrlich. Doch sie tippte zurück: „Hey, Tom! Danke dir, das ist lieb. Ich mache viel Sport, ein bisschen Yoga, gehe gerne ins Kino, koche gerne für Freunde und Family. Und du?“
Das übliche Getexte, dachte sie, während sie wartete. Doch seine Antwort war ausführlicher. Er erzählte von sich, seinem Studium, seinen Hobbys. Etwas in seinem Schreibstil ließ sie stutzen – er war sehr gewählt, ein wenig geschwollen, fast ein Tick altmodisch. So schrieb kein normaler 23-Jähriger, dachte Vanessa. Vielleicht war er gar nicht 23? Oder er war einer dieser ewig braven Jungs, die Sonntags zu den Eltern zum Mittagessen gingen und sich niemals die Finger schmutzig machen würden.
Dennoch wollte sie mehr erfahren. Gerade diese, die vordergründig so nett taten, hätten manchmal eine dunkle Seite. Das hatte sie schmerzlich gelernt. Aber sie blieb wachsam.
Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, zwischen verschiedenen Chatfenstern hin- und herzuwechseln, ab und an einen kurzen Anruf entgegenzunehmen und zwischendurch etwas zu essen. Eine Tasse Kaffee, ein Toast mit Avocado – sie lebte gesund, was ihren jugendlichen Look weiter unterstützte. Immer wieder hielt sie kurz inne und lächelte: Hätte jemand sie jetzt so gesehen, hätte er geglaubt, sie sei einfach eine erfolgreiche Mittdreißigerin (oder eben Ende Zwanzig, wie ihr Profil besagte), die tagsüber von zu Hause aus arbeitet und online neue Leute kennenlernt.
Niemand würde ahnen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Was sie vorhatte. Welche Bilder sich in ihrem Geist formten, wenn sie das Wort „Treffen“ las.
Später am Nachmittag spürte sie eine gewisse Erschöpfung. Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Ein großer Kronleuchter hing in der Mitte der Decke, nicht protzig, aber doch auffällig. Die Wände waren in einem ruhigen Grauton gestrichen, mit einzelnen schwarz-weißen Fotografien verziert. Auf einem der Fotos war Sophie zu sehen, wie sie am Meer stand und in die Ferne blickte. Der Schnappschuss stammte von ihrem gemeinsamen Urlaub vor einigen Jahren.
Vanessa schluckte. Diese Erinnerung war schön und schmerzhaft zugleich. Wie viele Pläne hatten sie damals gemacht. Wie stark hatte sie geglaubt, dass Sophie ein wunderbares Leben vor sich hatte.
Sie schloss kurz die Augen, konzentrierte sich auf ihren Atem. Rache. Sie würde Sophie rächen. Für alles, was ihr angetan worden war. Es war nicht derselbe Mörder, den sie hier suchte – der war längst hinter Gittern, ein Monster von einem Mann, das sophies Vertrauen missbraucht hatte. Aber in Vanessas verzerrtem Blick waren all diese Männer, die junge Frauen im Netz anlockten, potenzielle Täter. Sie sah in ihnen jene Gefahr, die ihr Leben zerstört hatte.
Ihr Plan war gnadenlos: Sie wollte ihnen zeigen, was es bedeutete, mit der Seele eines Menschen zu spielen – und dabei gezielt auf solche Männer losgehen, die in ihren Augen ähnliche Muster zeigten. Es musste keine perfekte Gerechtigkeit sein. Es war ihre persönliche.
Mit einem Ruck stand sie auf, ging in die Küche und goss sich Wasser in ein Glas. Sie musste klaren Kopf behalten. Zu schnell konnte sie in blinde Wut verfallen, wenn sie an Sophie dachte. Dann würde sie Fehler machen. Und Fehler konnte sie sich nicht leisten.
Der Abend näherte sich. Erneut setzte sie sich an den Laptop. Mittlerweile hatte sie mehrere Chatpartner, mit denen sie einen ganz guten Draht aufgebaut hatte. Zwei von ihnen forderten sogar schon ein Treffen. Sie überlegte, einen konkreten Termin für das Wochenende vorzuschlagen – da hätte sie genug Zeit, sich vorzubereiten. Und falls einer dieser Männer sich als geeignetes Opfer entpuppte, würde sie zuschlagen.
Dennoch musste sie genau prüfen, wer es wert war, Teil ihres Rachefeldzuges zu werden. Sie suchte nach Indizien – machohaftes Verhalten, Arroganz, ein Hang zur Grenzüberschreitung. Eine einfache Strategie war, den Männern im Chat eine kleine Lüge aufzutischen, etwa: „Ich habe gerade Streit mit meiner besten Freundin, weil sie mir unterstellt, ich wäre nur auf Geld aus.“ Wenn der Mann dann hämisch oder beleidigend reagierte oder sie wie eine Trophäe behandelte, war das ein Signal für sie. Wenn er sich hingegen als zu lieb und fürsorglich erwies, ließ sie es meist bleiben.
In diesem Spannungsfeld zwischen emotionalem Schmerz und geplanter Gewalt pendelte Vanessa den ganzen Abend. Hin und wieder kicherte sie, wenn ihr jemand einen albernen Flirt-Spruch schickte: „Bist du eine Banane? Ich steh auf dich!“. Dann wieder verfinsterte sich ihre Miene, wenn sie an Sophie dachte.
Gegen Mitternacht hatte sie eine Handvoll vielversprechender Kontakte, von denen sie vermutete, dass mindestens einer davon ihrem Suchraster entsprechen könnte. Sie notierte Namen, Chatverläufe, mögliche Dates in einer verschlüsselten Datei. Sicherheit war wichtig. Niemals würde sie diese Informationen ungeschützt lassen.
Dann, kurz bevor sie den Laptop schließen wollte, starrte sie noch einmal auf das Profilbild, das sie hochgeladen hatte. CherryKiss, 28, sportlich, musikbegeistert, Schokoladen-Fan. Ein lächelndes Gesicht, eine Brise Leichtigkeit. Sie wusste, dass dieses Bild den jungen Männern nicht nur ihre Schönheit zeigte, sondern ihnen das Gefühl gab, sie sei harmlos.
„Wie dumm sie doch sind“, murmelte Vanessa und fuhr mit einem Finger über den Laptopbildschirm, als könne sie eine Grenze zwischen sich und dem Bild ziehen. Aber die Grenze war längst verwischt. CherryKiss und Vanessa Müllerfeld waren eins geworden in diesem Spiel, das am Ende tödlich ausgehen würde – für sie oder für ihre Opfer.
Trotz einer gewissen Unruhe fühlte Vanessa eine Spur von Genugtuung, als sie das Gerät zuklappte. Ein Schritt war getan, das Profil existierte, die Fallen waren ausgelegt, die Flirts begannen. Sie war sicher, dass einer dieser Männer bald in ihrem Netz zappeln würde. Und wenn es so weit war, würde sie keine Gnade kennen.
Bevor sie das Licht löschte, ging sie noch einmal ins Wohnzimmer, griff nach einem schwarzen Filzstift, der dort lag, und ließ die Spitze bedächtig über ihre Handfläche gleiten. Ein simpler Edding, den sie in jeder Schreibwarenabteilung kaufen konnte. Aber in ihrem Plan hatte er eine makabere Rolle. Dies war jener Stift, mit dem sie später das schwarze Herz auf die Brust ihres ersten Opfers malen würde.
Ein letztes Mal huschte ihr Blick zum Bild von Sophie. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Ich tu das für dich“, flüsterte sie. Dann legte sie den Stift vorsichtig beiseite, als handle es sich um ein wertvolles Instrument.
Sie wusste, der Weg war noch lang. Doch in ihrem Innersten stand es fest wie ein Fels: Sie würde ihn gehen, ohne zurückzublicken. Das Kapitel ihres Lebens, in dem sie das Leid nur erduldete, war vorbei. Jetzt schrieb sie eine neue Geschichte – eine Geschichte aus Lügen, Verführung und Blut.
Und mit diesem Gedanken ließ sie das Wohnzimmer in Dunkelheit zurück, ging ins Schlafzimmer und schloss leise die Tür.
Kapitel 2: Date mit Donuts
Vanessa Müllerfeld stand vor ihrem Kleiderschrank und ließ den Blick kritisch über die Vielzahl von Blusen, Kleidern und Hosen gleiten, die akkurat auf Bügeln hingen. Sie wollte gut aussehen – verführerisch, aber nicht übertrieben. Dieses Treffen war wichtig für sie. Nicht nur, weil es das erste richtige Date mit einem ihrer Chat-Bekannten war, sondern auch, weil es der Anfang dessen sein könnte, was sie still und geheim in sich trug: das perfide Spiel aus Verführung und Rache.
Sie atmete tief durch, strich sich mit der rechten Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und griff schließlich zu einem cremefarbenen Oberteil mit V-Ausschnitt. Es war figurbetont, ohne zu aufdringlich zu wirken, und harmonierte perfekt mit einer leicht taillierten Jeans. Noch ein Hauch Parfum, dezent und frisch, um ihre Jugendlichkeit zu unterstreichen. Ein letzter Blick in den Spiegel: 41 Jahre alt, doch mit ihrem glatten Teint und der sorgfältig geschminkten Augenpartie hätte man sie leicht für Ende Zwanzig halten können. Genau die perfekte Tarnung, um ihre Opfer in Sicherheit zu wiegen.
Die Gedanken an ihre Tochter Sophie kamen in kurzen, schmerzhaften Intervallen, wie Blitze in einer dunklen Nacht: Sie erinnerte sich an Sophies offenes Lachen, an ihre riesige Begeisterung für alles Kreative, an die vielen Stunden, in denen sie gemeinsam gebacken oder ferngesehen hatten. Dann kam auch das Bild auf, wie ihr Leben endete. Dieser brutale Schlussakkord in Sophies gerade erst beginnender Lebensmelodie war die Triebfeder für Vanessas Taten. Sie atmete tief ein, zwang die Erinnerung an den Tod ihrer Tochter zurück in jene Kammer ihres Herzens, in der sie all ihren Schmerz und ihre Wut gefangen hielt. Gleich würde sie sich mit einem jungen Mann treffen. Einem, dessen Wesen sie im Chat als charmant, aber auch ein wenig überheblich empfunden hatte. Und dieser Widerspruch war für sie – mit Blick auf ihre Pläne – hochinteressant.
Sie hatte ihn unter dem Profil „CherryKiss“ kennengelernt, das sie erst vor wenigen Tagen angelegt hatte. Er nannte sich „BennyFit4Life“, wobei sein richtiger Name wohl Benjamin war. Angeblich 25 Jahre alt, passionierter Fitness-Freak und Bodybuilding-Anhänger. In ihren Chat-Unterhaltungen schwärmte er davon, wie er sich täglich stundenlang im Fitnessstudio stählte, aber dennoch eine große Schwäche für ungesunde Snacks hatte. Manchmal zeigte er ihr Fotos von absurd dekorierten Donuts, die er sich nach dem Training gönnte. Der Kontrast: auf der einen Seite sein Sixpack und gestählte Oberarme, auf der anderen Seite pinke Zuckerguss-Donuts mit Speck, Erdnussbutter und Schokosoße.
Vanessa fand das einerseits leicht skurril, andererseits auch witzig. Und genau diese Mischung – Fitnessfan mit Softie-Kern, der Donuts mit Bacon-Topping liebte – war so grotesk, dass sie beschloss, ihn zuerst zu treffen. Sie hatte ihre Falle bereits vage im Kopf: ein harmloses Date, ein netter Flirt, dann eine Einladung zum Nachtisch in ihre Altbauwohnung. Und dort würde er mehr finden als nur Crème brûlée.
Am späten Nachmittag machte sie sich auf den Weg. Die Sonne schien noch warm, und in den Straßen war reges Treiben. Sie traf BennyFit4Life vor einer kleinen Donut-Bäckerei, die er selbst vorgeschlagen hatte. Er stand dort in Sportleggings – etwas, das sie im Alltag eher selten bei einem Mann sah – und einem engen Tanktop, dessen Farbe irgendwo zwischen Signalrot und Neongelb changierte. Sofort fiel ihr sein breites Lächeln auf. Er hatte sich offenbar sehr darauf gefreut, sie zu sehen.
„Hey, CherryKiss!“, begrüßte er sie gut gelaunt und zog sie in eine halbherzige Umarmung. „Mann, bist du hübsch! Noch viel besser als auf den Bildern.“
Vanessa lachte einladend, wobei sie ihre Haare nach hinten warf. „Dankeschön, du aber auch. Sehr … sportlich.“ Sie ließ ihren Blick offen über seinen Körper gleiten, und tatsächlich war da wenig, was man übersehen konnte. Muskelpakete, wohin man sah.
Benjamins Augen leuchteten, als er ihren koketten Ton bemerkte. „Du musst unbedingt diese Donuts probieren. Sie heißen ‚Bacon Explosion‘. Ich weiß, das klingt total bescheuert, aber glaub mir, die sind der Wahnsinn!“
Vanessa zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte. „Bacon Explosion? Klingt wie eine Attacke auf die Arterien. Passt das zu deiner Fitness?“
Er zuckte grinsend mit den Schultern. „Deswegen trainiere ich doch. Damit ich mir so was ab und zu erlauben kann!“
Sie folgte ihm in die Bäckerei, und schon der Duft von Zucker, Vanille und frittiertem Teig wehte ihr entgegen. Während sie in der Schlange warteten, scherzte er über seine endlosen Workout-Routinen: Kniebeugen, Ausfallschritte, Crunches und ein Sammelsurium englischer Begriffe, die sie teils nicht verstand. Jeder zweite Satz endete mit seinen proteinreichen Ernährungsplänen – bis er die Worte „Extra-Speck“ einstreute. Da musste sie laut auflachen.
„Du bist ein wandelnder Widerspruch, weißt du das?“, sagte sie und stupste ihm spielerisch gegen den Oberarm.
„Wieso?“, grinste er, offensichtlich stolz auf seine Muskeln.
„Na ja, auf der einen Seite topfit, auf der anderen Seite Junk-Food-Fan.“
„Alles eine Frage des Gleichgewichts“, entgegnete er strahlend, „ich nenne das die Donut-Balance. Ein Tag Clean Eating, ein Tag cheat day!“
Der Verkäufer hinterm Tresen hörte das wohl, denn er grinste, während Benjamin zwei Bacon Explosion Donuts bestellte. Dazu nahm Vanessa noch einen simplen Schoko-Donut ohne Schnickschnack, nur um sich nicht völlig vom Specktopping erschlagen zu lassen. Gemeinsam setzten sie sich an einen kleinen Tisch am Fenster.
Hier begann sie, ihr Image als leicht verplante, aber charmante Frau zu festigen. Sie erzählte von ein paar angeblichen Tollpatschigkeiten aus ihrer Jugend („Ich war so schusselig, dass ich einmal beim Schulsport vergaß, die Schnürsenkel zu binden und volle Kanne auf die Matte knallte …“). Benjamin lachte an den richtigen Stellen, beugte sich immer wieder ein Stück näher zu ihr. Sein Blick verriet Neugier und offenes Interesse.
Zwischendurch verspeisten sie ihre Donuts. Vanessa biss skeptisch in den Bacon-Donut und verzog das Gesicht. „Das ist … interessant!“, sagte sie nach einer Weile. In Wahrheit schmeckte ihr die Kreation gar nicht schlecht, aber sie wollte ihn noch ein wenig mehr locken, damit er anfing, zu schwärmen. Und tatsächlich begann er, die Vorzüge von salzig-süßer Kombi anzupreisen, die sich wie Feuerwerk auf der Zunge anfühle.
„Feuerwerk auf der Zunge, soso“, kommentierte Vanessa lächelnd. „Du hast echt eine Leidenschaft für Donuts. Warum nicht Cupcakes oder irgendwas anderes?“
Er zuckte mit den Schultern, leckte sich die klebrigen Finger ab und meinte: „Donuts sind einfach meine größte Liebe. Das Loch in der Mitte macht sie irgendwie … na ja, einzigartig.“
Sie musste sich zusammenreißen, nicht loszuprusten. „Das Loch in der Mitte? Ich hoffe, du suchst nicht, es zu füllen.“
Benjamin blinzelte verwirrt, brauchte dann einen Moment, bis er den Anzüglichkeitsfaktor verstand, und lachte laut auf. „Du hast’s echt drauf! Gefällt mir.“