Lilli in Love - Claire Singer - E-Book

Lilli in Love E-Book

Claire Singer

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Beschreibung

Dieses Jahr kommt es für Lilli richtig dicke: erst zoffen sich ihre Eltern und dann ist auch noch Schluss mit ihrer ersten Liebe. Da passt es ihr eigentlich gar nicht, dass auch noch diese Austauschschülerin aus Finnland einfliegt, die Studienreise nach Weimar ansteht – mit ihrem Ex und seiner Neuen. Zu allem Überfluss bedeutet auch der Cupcake-Kiosk jede Menge Arbeit. Aber dann kommt alles ganz anders. Ein kleiner Buchstabe führt zu einer riesengroßen Verwechslung und Lilli hat plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Doch heißt es am Ende wirklich: Liebe gut, alles gut?

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Claire Singer

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 bloomoon, ein Imprint der ars Edition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Claire Singer

MiteinemZitatausKein Alkohol (ist auch keine Lösung)!

© Die Toten Hosen, 2002

Umschlag- und Innengestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock/​Fotolia

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-0898-7

ISBN Printausgabe 978-3-8458-0672-3

www.bloomoon-verlag.de

»Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten,

deren Verhältnis durch den zufälligen oder gewählten

Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verändert,

deren Lage völlig umgekehrt wurde.«

Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Lilli, Samstagnachmittag

Sandra, Samstagnachmittag

Lilli, Samstag, 21 Uhr

Sandra, Sonntag, zwischen 2 und 5 Uhr

Lilli, Sonntag, 9.30 Uhr

Sandra, Sonntag, 10.30 Uhr

Lilli, 11 Uhr,

Sandra, 11.15 Uhr

Lilli, 11.30 Uhr

Sandra, Sonntagabend

Lilli, Sonntagabend

Lilli, Montagmorgen

Sandra, Montagmorgen

Lilli, Montagvormittag

Lilli, Montagabend

Sandra, Montagabend

Lilli, Dienstagmorgen

Sandra, Dienstagabend

Lilli, Mittwochmorgen

Sandra, Mittwochmittag

Lilli, Mittwochnachmittag

Sandra, Mittwochabend

Lilli, Donnerstagabend,

Sandra, Donnerstagnacht

Lilli, Freitagmorgen

Lilli, Freitagnachmittag,

Sandra, Freitagabend

Lilli, Freitagabend,

Sandra, Samstagmorgen

Lilli, Samstagmorgen,

Sandra, Samstagmittag,

Lilli, Samstagnachmittag,

Sandra, Samstagabend

Lilli, Samstagabend,

Lilli, Sonntagmorgen,

Sandra, Sonntagmorgen

Lilli, sonntags,

Sandra, Sonntagabend

Lilli, Sonntagabend

Himmlisch süße Backrezepte

Schoko – Cupcakes mit Kirschfüllung

Haferflockenkekse

Beeren-Cupcakes mit Frischkäse-Limetten-Topping

Mandelkekse

Käse-Mohn-Muffins

Lilli, Samstagnachmittag

Lilli tunkte ein Schoko-Cupcake in eine große Schale Milchkaffee, dabei löste sich die Hälfte des kleinen Kuchens und sank auf den Grund der Tasse. Lilli hätte kein besseres Bild für ihr derzeitiges Leben finden können. Zerbröselt in graubrauner Plörre.

Sie stocherte mit einem Löffel in der Tasse herum und versuchte, die Matsche herauszufischen. Mal ehrlich, wer zu blöd ist, Kuchen zu essen, ist auch zu blöd fürs Leben. Wobei, ebenfalls mal ehrlich betrachtet, Lilli nicht wirklich schuld an der ganzen Situation war.

Sie beobachtete eingehend den kleinen Milchkiosk, den ihre Eltern betrieben. Es war Samstagnachmittag, und zahllose Eltern mit Kleinkindern standen in dicken Trauben herum und schlürften Coffee to go, ohne zu gehen. Die Kleinen tobten derweil auf dem Minispielplatz, den Lillis Mutter neben dem Kiosk eingerichtet hatte, mit einem bunten Lattenzaun drum herum und zahlreichen Sitzwürfeln, von denen kein einziger mehr frei war. Um den Spielplatz standen Liegestühle, auf denen alte Eltern oder junge Großeltern, Ein-, Zwei-, Mehrkindfamilien, alle möglichen Patchwork-Konstellationen und viele Singlemütter fläzten, so genau konnte man das bei dem maximal gechillten Großstadtpublikum nie sagen. Dazwischen sausten Hunde an schleifenden Leinen mit Bobbycars um die Wette. Es war eine einzige glückliche Samstagnachmittagssause, und Lilli hätte heulen können, wäre sie eine Heulsuse gewesen. War sie aber nicht, was immerhin ein deutlicher Pluspunkt auf der nach oben offenen Glücksskala war. Sie zwirbelte stattdessen ihre Haarspitzen zwischen den Fingern und nestelte eine Delle in ihr Lieblings-T-Shirt. Bitte schön, anderen ging es noch viel, viel, viel schlechter, zum Beispiel Straßenkindern in Weißrussland oder kenianischen Aidswaisen, Bergbaukindern in der südchinesischen Provinz oder Klebstoffkids in São Paulo.

Doch Lilli hatte altersgemäß keine Lust auf relative Gerechtigkeit, sondern sah ihr Leben als bisher ziemlich einzigartiges Gesamtkunstwerk, das gerade in eine erhebliche Schieflage geraten war. Paps war ausgezogen. Vorgestern. Nein, es war nicht wirklich überraschend, sondern die Konsequenz aus einigen mittellauten Debatten mit Lillis Mutter, bei denen aus unerfindlichen Gründen immer Lillis Mutter das letzte Wort gehabt hatte, meistens kein leises. Lilli hatte fast immer Mitleid mit ihrem Vater und eher selten mit ihrer Mutter, weshalb der jetzige Familienstatus nicht nach ihrem Geschmack war.

Außerdem wusste derzeit niemand, wohin Paps verschwunden war. Vielleicht wäre das alles auch noch gut zu ertragen gewesen, wenn sich Lilli einfach am nächsten Tag darum gekümmert hätte. Kontakt aufnehmen und so. Vielleicht hätte sich dann ihr Vater bei ihr gemeldet und vielleicht, ja vielleicht, wäre dann alles ins Lot gekommen. Schließlich hatten Mama und Paps den Kiosk zusammen. Ihre Lebensgrundlage, wenn auch keine üppige, aber der Urbanisten-Boom der letzten Jahre hatte ein Kioskdasein richtig hipp gemacht, und somit war die ärgste Durststrecke vorüber. Eigentlich wäre jetzt zum ersten Mal seit vielen Jahren Entspannung in der Familienkasse. Und dann …

Lilli hatte es inzwischen geschafft, die Delle im T-Shirt zu einem Loch zu bohren, während ein Bobbycar in ihren rechten Fußknöchel donnerte.

»Luis-Marcel, wie kannst du nur … «, hörte Lilli die Mutter des kindlichen Rennfahrers aus der Ferne rufen und Luis-Marcel streckte vorsichtshalber die Zunge raus. Hinter der halb geöffneten Kioskscheibe sah Lilli ihre Mutter zwischen Espressomaschine, Suppentopf, Mikrowelle und Kuchentheke rotieren. Lilli sollte jetzt in den Kiosk flitzen, um zu helfen, aber irgendwie fand sie die Flocken, die im Rest ihres Kaffees schwammen, viel interessanter. Konnte sie was dafür, dass die zweite Arbeitskraft im Kiosk fehlte? Und ab morgen würde sich die Lage noch ein wenig mehr zuspitzen, denn ab morgen würde Milka bei ihnen wohnen, die Austauschschülerin aus Finnland. Dann musste sich Lilli um Milka kümmern und nicht um aufgewärmte Flaschenmilch von Luis-Marcels oder Kirschkuchen to go. Und sie mussten alle heile Welt spielen, denn den Eltern von Milka, genauer gesagt Milkas Vater, war es im Vorfeld anscheinend unheimlich wichtig gewesen zu wissen, dass in Deutschland auf »sein Kind« eine »intakte« Familie wartete.

In Lillis Kuchenmatsche war eine der letzten Wespen des Sommers gefallen und strampelte um ihr Leben.

»Lilli, kommst du?«

Lilli betrachtete die hilflosen Zuckungen der Wespe und taufte das Insekt Luis-Marcel, bevor sie sich erhob, um dem ungeduldigen Rufen ihrer Mutter zu folgen, als sie Philip um die Ecke schnüren sah, eingehängt an Neles Arm. Genauer gesagt derart verwickelt in Neles Arm, dass kein Blatt Papier zwischen die beiden passte. Lilli taufte die Wespe sofort um, bevor sie sie samt Kaffee ins Gebüsch kippte. Bis vorgestern war Philip bildlich gesprochen noch an ihr geklebt. Vorgestern, als sich Lillis Leben in pappgraue Grütze verwandelt hatte.

Als Lilli in die kleine Servierstube des Milchkiosks zurückkehrte, um unzählige Kakaotassen, Glühweinbecher und Biergläser, die so ein Frühherbstsamstag eben mit sich brachte, abzuspülen, war sie nicht wirklich bei der Sache. Sie verwechselte Spülmittel mit Handlotion, steckte den Putzschwamm in den Kühlschrank und polierte fünf Minuten lang an einem noch nicht abgewaschenen Teller herum, und das alles nur, weil sie immer wieder aus dem Fenster sehen musste, um sich immer wieder selbst mit dem Anblick der in Philip verhakten Nele zu quälen.

Okay, schon vor den Sommerferien war ihr aufgefallen, dass die Beziehung zu Philip nicht mehr so schwungvoll war, wie sie drei Monate vorher begonnen hatte. Aber war das nicht ziemlich normal? Wer bitte konnte denn schon Tag für Tag, Monat für Monat mit Vollgas an einer Beziehung arbeiten? Gibt ja auch noch ein paar Nebenschauplätze mehr, und dabei dachte Lilli nicht an die Schule, in der das Abitur in zweieinhalb Jahren seine Schatten vorausgeworfen hatte, sondern vor allem an das Beispiel, das sie täglich vor der Nase hatte: die Beziehung ihrer Eltern respektive die Reste dieser Beziehung, die in täglichen Mikrodiskussionen zerbröselt wurden. Da waren sie wieder, die Brösel, das Leitthema des Tages, Lillis treue Begleiter. Vermutlich waren diese zermürbenden Diskussionen zwischen ihren Eltern auch weitergegangen, als Lilli schon längst bei ihrer Oma auf dem Land weilte. Nicht dass Ferien auf dem Land zu Lillis Lieblingsbeschäftigungen zählen würden – wer bitte möchte mit sechzehn sechs Wochen auf einem niederbayerischen Einödhof sitzen und Keramikschalen für ländliche Bauernmärkte töpfern? Aber gemessen an dem Geschirr, das ihre Eltern seit einem Jahr zerdepperten, war es ein beruhigender Ausgleich.

Natürlich hatte Lilli nie im Leben daran gedacht, dass so eine kleine Sommerpause das Aus für ihre eigene Beziehung bedeuten könnte. Auch dann nicht, als Philips WhatsApp-Nachrichten immer spärlicher kamen, und das nicht nur, weil es auf Omas Am-Arsch-der-Welt-Hof ein derart lahmes Internet gab, dass man genauso gut einen Brief schreiben und ihn mit der Schneckenpost hätte schicken können. Nein, Lilli hatte Philips sparsame Wortmeldungen nicht richtig interpretiert. Vermutlich weil sie sich eine Pause vom Interpretieren gönnen wollte. Denn das war das Erschöpfende an dem verbalen Schlagabtausch ihrer Eltern gewesen, dass sie immer heraushören wollte, um was es eigentlich ging.

Nur zu gut erinnerte sich Lilli an einen Abend, ziemlich genau vor einem Jahr, als der Streit bei der Tomatensoße für die Nudeln anfing, die angeblich viel zu scharf war, und bei einer verpatzten Geburtstagsparty endete, bei der Lillis Mutter ihrem Mann nicht nur einen unsensiblen Umgang mit Geschenken vorwarf, sondern auch noch die schönen Augen für die Nachbarin. Das Ereignis lag gefühlte fünfzig Jahre zurück und hörte sich an wie ein Verbrechen vom Vortag. In einer Woche würde ihre Mutter fünfundvierzig werden.

Nein, Lilli wollte in den Sommerferien einfach nichts mehr interpretieren, nichts mehr verstehen und schon gar nicht mühsam hinterfragen. Und niemand eignete sich für so eine Auszeit vom Allesverstehen so sehr wie ihre Oma, die irgendwann einmal den Reiz des einfachen Landlebens entdeckt hatte, als sie mit einem ziemlich charmanten, ziemlich grauhaarigen Ökophilosophen liiert gewesen war. Damals hatte sie den Beruf als Übersetzerin an den Nagel gehängt und sich nur noch ihren Experimenten aus Ton und Keramikglasuren gewidmet. Diese Experimente wurden dann jäh beendet, als ihr das Geld ausging und sich der Ökoliebhaber einer Schweizer Hochalmbäuerin zugewendet hatte. Oma stieg in die Tassen- und Schüsselproduktion ein und verkaufte diese in den Sommermonaten auf Töpfermärkten in ganz Bayern, eine willkommene Abwechslung auch für Lilli, die ihr in den Sommerferien natürlich dabei geholfen hatte.

»Lilli, dreimal Apfel mit Schlag und vier Trauben-KK für die Truppe da draußen!« Die leicht angespannte Stimme ihrer Mutter riss Lilli aus den Erinnerungen, während sie die Apfel- und Trauben-Cupcakes, die unter dem Kürzel KK liefen, auf Keramikteller aus der Produktion ihrer Oma schichtete und dabei zusah, wie Philip Nele in die Seite kniff, die sich quietschend wand und bog. Die Geräusche ähnelten denen von Luis-Marcel, die ganze Aktion glich eher einem Spielplatzabenteuer als einer ernsthaften Beziehung. Aber bitte schön, Lilli würde jetzt stark sein, da rausgehen und diese Berge von Cupcakes servieren, während sich ihr Exfreund und ihre Nachfolgerin mit öffentlichen Kitzelspielchen lächerlich machten.

»Lilli, hast du ’nen Schuss, doch nicht so viel Sahne! Wer soll denn das essen?« Lillis Mutter nahm ihr alle Teller aus der Hand, die Lilli etwas gedankenverloren unter einem Gebirge aus Sahne begraben hatte.

»Wo bist du, Lilli? Huhu, Erde an Mond, deine Mutter spricht mit dir. Es ist Samstagnachmittag und halb München steht da draußen und will uns die Haare vom Kopf fressen!« Ihre Mutter fuchtelte mit den Armen in Richtung Kioskgarten, wo die Luis-Marcels dieser Welt in allen Altersstufen um die Wette quiekten, als ob das ganze Leben ein einziger Ponyhof wäre.

»Sandra, ist grad Kuchendiät oder wann kommt unsere Bestellung!«, brüllte ein Mann in den Kiosk hinein, nachdem er sich – wichtig, wichtig – ein Jogginghandtuch über die Schultern geworfen hatte, vermutlich, um zu demonstrieren, dass er es sich nach absolviertem Lauftraining leisten konnte, Kuchen mit Sahne zu essen. Großer Gott, die Leute taten alle so, als ob sie kurz vor dem Verhungern wären.

»Ist ja kein Beinbruch, schau.« Lilli stippte mit dem Esslöffel das Sahnegebirge auf einen neuen Teller. »Wenn die Kuchen so winzig sind, passiert das eben!« Lilli nahm ihrer Mutter die Teller wieder weg und lief zügig nach draußen. Wenn sie eines nicht wollte, dann Diskussionen, worüber auch immer, denn wie gesagt die Erfahrung hatte sie gelehrt: Es fängt mit der Sahne an und endet mit den düsteren Zukunftsaussichten nach dem Abitur, wenn man das nicht mit 1,0 über die Bühne bringt, wovon Lilli 2,9 Meilen entfernt war.

Die Teller mit den Cupcakes wurden Lilli förmlich aus der Hand gerissen, ein Phänomen, das sie immer beobachten konnte, wenn sie am Milchkiosk aushalf. Zum einen lag es an den Backkünsten ihrer Mutter. Sie konnte die saftigsten Minikuchen machen, nicht zu süß, meist mit Früchten der Saison und alles bio, was vor allem beim Großstadtvolk gut ankam. Mit irgendwas musste man ja die Büroluft und die Abgaswolken kompensieren. Als Lilli an der Stelle vorbeikam, an der vorhin Philip und Nele ihre tiefe Liebe zu kindischen Raufereien demonstriert hatten, standen nur mehr zwei leere Gläser da. »Besser isses«, murmelte Lilli und sammelte mit spitzen Fingern die beiden Gefäße ein, worauf ihr eines entglitt und auf den Boden fiel.

»Luis-Marcel, aufpassen, da sind ganz, ganz spitze Scherben, die muss die Frau erst wieder wegmachen!« Die besorgte Luis-Marcel-Mutter warnte ihr Kind, ohne sich aus ihrem Liegestuhl zu bewegen.

Ja, ganz toll, dachte Lilli, während sie einen Handfeger holte. Das ganze Leben war ein Scherbenhaufen, den sie wegmachen musste. Das waren doch ideale Voraussetzungen, um zwei Wochen lang die finnische Austauschschülerin zu bespaßen, die morgen kommen würde. Auch so ein Vermächtnis von Paps, der ein großer Freund von Völkerverständigung war und Lilli die Austauschsache eingebrockt hatte, kurz bevor er selbst auszog.

Warum die Wahl ausgerechnet auf Finnland fiel, daran konnte sich Lilli schon gar nicht mehr erinnern. Vermutlich, weil Paps mal in einer wilden Begeisterung für eine finnische Kommilitonin vor Urzeiten Finnisch für Anfänger belegt und schließlich in Finnland tolle Sommerferien inklusive Blaubeeren, Mücken und wilden Paddelboot-Touren verbracht hatte. Das war lange bevor er mit Lillis Mutter die Welt bereiste und zumindest in der Beziehung sesshaft wurde. Warum müssen Eltern immer ihre eigenen Träume an den Kindern weiterspinnen? Sollte er doch selbst nach Finnland fahren, jetzt wo er sich seiner Familie entledigt hatte und ihm die Welt wieder offen stand.

»Lilli, es reicht!« Ihre Mutter stand mit in die Taille gestemmten Händen neben ihr und beobachtete Lilli, wie sie die Scherben zusammenklaubte, die sich mit Zigarettenkippen und Kieselsteinen vermischt hatten. Ganz recht, es reicht, dachte auch Lilli und stand auf. »Ich bin für Pappbecher, dann kann so was auch nicht passieren!« Lillis Ton geriet patziger als beabsichtigt. Sie drückte sich mit der Kehrichtschaufel an ihrer Mutter vorbei, die dermaßen auf Diskussion gebürstet war, dass sie die Lippen schon stumm bewegte. Lillis Mutter verdrehte die Augen zum Himmel, und es schien sie überhaupt nicht zu stören, Lilli vor Publikum zum Horst zu machen.

»Was ich jetzt echt nicht brauchen kann, ist eine Tochter, die in einer Parallelwelt lebt und sich selbst im Weg steht. Was glaubst du, wie das hier ohne Christian weitergeht?«

Exakt darüber hatte sich Lilli auch schon Gedanken gemacht. Christian, ihr Vater, war eigentlich unersetzlich im Kiosk, und sei es nur, um all die Luis-Marcel-Eltern in Vollversteher-Modus darauf aufmerksam zu machen, dass ein Milchkiosk kein Eventhäuschen mit Freibrief zum Fassadenklettern, Laufradwerfen oder Kakaoweitspucken war.

»Mum, du wirst dir einen Ersatz suchen müssen. Also zumindest für den Kiosk, denn ich soll ja nicht nur irgendwann ein wahnsinnig gutes Abitur schreiben, sondern darf ab morgen auch noch Milka, dem kleinen Schokotörtchen aus Finnland, heile deutsche Familienwelt vorgaukeln. Schon vergessen, darauf hat der Vater der kleinen süßen Milka ganz, ganz doll viel Wert gelegt«, Lilli sprach betont säuselnd in der dritten Oktave, »und, tadaaaa, mit unserer Familie einen echten Volltreffer gelandet!«

Nachdem Lilli die Scherben im Mülleimer versenkt hatte, betrachtete sie zufrieden die Gesichtszüge ihrer Mutter. Kirschrot mit leichtem Hauch Aubergine, gleich sind wir bei Blaubeere, mutmaßte Lilli und bedankte sich innerlich herzlich bei wem auch immer, dass sie die Neigung zur Gesichtsrötung im Falle von Erregung nicht geerbt hatte.

»Okay, Lilli, wir werden uns jetzt zusammenreißen und das irgendwie durchstehen. Aber mach’s nicht noch schlimmer, indem du mehr Arbeit verursachst als nötig, ja?«

Lilli zuckte mit den Schultern. Seit ihr klar geworden war, dass bei den Diskussionen der Eltern ihre Mutter immer das letzte Wort gehabt hatte, schien es ihr unnötig, darauf noch etwas zu sagen. Es würde eh kommen, wie es kam. Niemals würden sie dieser Milka zehn Tage lang ein ideales Familienleben vorspielen können. Denn idealerweise brauchte man dazu einen Vater, sorglos vor sich hin arbeitende Eltern und eine in sich ruhende Tochter.

Das Einzige, was ruhte, war Lillis Liebesleben. Ihr Vater war ohne Angabe von Adresse vor zwei Tagen verschwunden, und ihre Mutter war dazu verdammt, einen Kiosk zu betreiben, für den sie nun zusätzlich zum Backen und Kochen auch einkaufen, Getränkebestellungen und Abrechnung machen musste. Mal ganz abgesehen davon, dass dieser finnische Obermufti von Milka-Vater doch nicht mehr alle Birnen im Kronleuchter haben konnte, wenn er sich in Zeiten von Patchwork-Familien, Alleinerziehenden, gleichgeschlechtlichen Eltern und sich selbst erziehenden Kindern eine intakte Gastfamilie wünschte. Hallo, wir leben im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts!

Aber wahrscheinlich funktionierte im finnischen Hinterland noch alles nach guter alter Bärenart: Bärenmama, Bärenvater mit putzigen Bärenkindern im Schlepptau, alle in allwettertaugliche finnische Filzkleider gewickelt, die im Lappland-Style bestickt waren. Lilli musste grinsen, als sie sich vorstellte, wie Milka morgen mit einem Strauß aus finnischen Latschenkiefern, einer gerade geschnittenen Filzkutte und einem Mützchen aus Rentierleder am Flughafen stehen würde.

»Für dich ist das alles kein Problem, was? Du spinnst dich in deine Welt ein, und ich kann sehen, wie ich den Alltag stemme. Mann, Lilli, werd erwachsen!« Lillis Mutter füllte wütend Glühweingläser und Kaffeehaferl, um den zweiten Ansturm Besucher gnädig zu stimmen. Es wurde schon dunkel, und jetzt kamen die Romantiker, wie Paps sie immer nannte. In der Abenddämmerung und bei sanft aufziehendem Nebel genossen sie es, gemütlich herumzustehen und sich den drohenden Winter schönzutrinken. Die Luis-Marcels mussten dann nach Hause ins Bettchen, und Lilli konnte die Musik anstellen, die mit kleinen Lautsprechern rund um den Kiosk zu hören war. Birdy, People Help the People. Und Lilli stellte sich das schwarz-weiße Video dazu vor, das Birdy in Paris zeigte. Birdy, die kaum älter war als sie und schon ein Weltstar.

Warum hatten sie keine Austauschschülerin aus Paris? Denn wie das Wort Austausch schon sagte, würde sie ja auch diese Milka besuchen müssen. In Finnland, in Hämeenlinna, hundert Kilometer nördlich von Helsinki, zwischen einer Million Seen, vier Millionen Fichten und Birken und einem Teppich aus Rentierflechten. Lilli warf ihrer Mutter ein müdes Lächeln zu und drehte die Musik lauter. Getragener Moll-Sound, People Help the People. Und wer half ihr?

Sandra, Samstagnachmittag

Was, wenn sie es nicht schaffen würden? Was würde sie dann machen? Irgendeinen Verkäuferjob in einer Bäckerei annehmen? Wer würde schon eine Frau Mitte vierzig mit abgebrochenem Lehramtsstudium und der unsteten Biografie einer Weltenbummlerin einstellen? Zehn Jahre Ausland mit diversen Berufen, eine Tochter in Ausbildung, erst die letzten zehn Jahre wieder sesshaft, zunächst eigene Bar, dann Kioskbesitzerin. Gescheiterte Kioskbesitzerin! Wegen Scheidung geschlossen.

Sandra strich sich die Hände an ihrer knöchellangen weißen Schürze ab und knallte anschließend wütend Kuchen für Kuchen auf die Teller, die aus der Geschirrlinie ihrer Mutter stammten. Diese Teller konnte sie auch schon lange nicht mehr sehen. Türkise Wellen, auf denen orange Punkte oder gelbe Blätter wild durcheinandersprangen. Dazwischen Tupfen und Linien, ganz wie es ihrer Mutter in ihrer Späthippiekreativität eben so gefiel. Sandra wollte mehr Ordnung, Berechenbarkeit, das fing bei den Mustern auf den Tellern an und hörte bei den schlampig hingeworfenen Klamotten ihres Mannes auf. Teller konnte man austauschen. Den Mann … ja, der hatte sich jetzt selbst ausgetauscht. Er war weg. Doppelt weg. Als Partner und als Arbeitskraft. Natürlich wusste Sandra, dass weder ihre Mutter noch Lilli noch vermutlich zu hundert Prozent Christian schuld waren, dass alles so gründlich schieflief. Vermutlich nannte man das ganze Midlife-Crisis.

Mit dem Unterarm versuchte Sandra eine widerspenstige Locke aus ihrer Stirn zu verbannen, als sie sah, dass Lilli ein Glas fallen ließ. Heiße Wut schoss in Sandra hoch, und während sie genau wusste, dass sie völlig überzogen reagierte, stürmte sie schon aus dem Kiosk, um Lilli runterzuputzen. Doch an ihrer Tochter schien jede Kritik wie an Teflon abzuperlen. Einmal Schulterzucken und wegdrehen. Sandra spürte, wie sie rot anlief, ganz so, als würde sich ihr Innerstes nach außen kehren.

Das war auch mit ein Grund gewesen, warum sie das Lehramtsstudium, Erdkunde und Sport, nicht zu Ende gebracht hatte. Weil die Angst zu groß war, vor einer Klasse zu stehen. Denn noch bevor sie ein Wort herausbekommen hatte, war sie schon rot wie eine Tomate geworden. Keine zwei Wochen hatte es im Referendariat gedauert, bis sie den Spitznamen Rotkehlchen weg hatte, weil sich die Röte immer vom Hals weg ausbreitete. Damals hatte sie gerade Christian kennengelernt, der in seinem Tourismusmanagement-Studium ungefähr so glücklich war wie sie mit dem drohenden Lehrerdasein. Christian musste sie nicht lange überreden, auf die große Welttour mitzukommen.

Und dann ließen sie sich ordentlich treiben. Mal hatten sie eine Bademeisterei auf den Kanaren, dann wieder gaben sie Deutschunterricht in einem kleinen bretonischen Dorf, das über eine engagierte Sommerakademie verfügte. Ein halbes Jahr lang lebten sie auf Bali, wo sie gebatikte Tücher verkauften. Und wenn wirklich Ebbe in der Kasse war, hatte Sandra die Ferienköchin gegeben. Viele, die sich im Urlaub ein Haus mieteten, sei es in Thailand, auf Madagaskar oder Mauritius, wollten nicht täglich kochen. Dann zauberte Sandra wunderbare Menüs aus einem Mix all jener Rezepte, die sie auf ihrer Weltenbummelei gesammelt hatte. Letztendlich war das auch das Geheimnis ihrer Cupcakes. Sie hatte in so viele Backstuben der Welt ihre Nase reingesteckt wie vermutlich wenige, und das war letztendlich ein Teil ihres Erfolgs. Bis jetzt. Jetzt ging das Konzept, immer nur kleine Brötchen, äh Kuchen zu backen, nicht mehr auf. Der Kiosk war darauf ausgelegt, eine Familie zu ernähren, wenn die ganze Familie mitmachte.

Einen Angestellten, das wusste Sandra, konnte sie sich nicht leisten.

Und nur mit Aushilfen würde es ein Eiertanz ohne Ende werden.

Und ohne Lilli würde es gar nicht gehen. Sie würde trotzdem ausfallen, erst einmal. Wegen Milka aus Hämeenlinna und wegen Klassenfahrt und vermutlich wegen altersbedingtem Unwillen und Abgrenzung gegenüber der Mutter. Okay, sie selbst war als derzeit nicht gerade entspannte Mutter daran nicht ganz unschuldig. Vor allem in letzter Zeit hatte sie ihre Tochter viel zu oft spüren lassen, wie sehr sie das alles belastete. Wahrscheinlich war sie in Lillis Alter genauso gewesen.

»Sandra, wir vertrocknen!« Ein ihr wohlbekannter Bass dröhnte zum Kiosk herein. Manche der Stammgäste benahmen sich, als hätten sie den Laden im Ganzen gekauft und nicht nur ein Bier oder einen Glühwein. Stammgäste waren Stütze und Albtraum eines jeden Ladens. Das war überall auf der Welt gleich.

»Bring euch sofort den Treibstoff, Momentchen!« Sandra entkorkte eine Flasche Wein, um den Glühwein aufzugießen, der in einem großen Topf vor sich hin blubberte und den ganzen Kiosk mit seinem cremigen Vanille- und würzigen Nelkenduft erfüllte. Erst mal rühren und beruhigen, dachte sich Sandra, die immer noch die Röte auf der Haut spürte, weil sie sich so über Lillis gelangweiltes Desinteresse geärgert hatte. Da ließ ihre Tochter im selben Augenblick die Tür zum Kiosk mit einem gut geübten Fußtritt aufspringen und brachte einen Schwall feuchter Abendluft mit herein. Sandra fröstelte.

»Mum, ich würd gern um sieben gehen, wir wollen heute noch in den Keksclub!« Lilli war mit einem hoch aufgetürmten Tablett zurück in den Kiosk gekommen und riss Sandra aus ihrer Topfmeditation und dem narkotischen Glühweindampf.

»Was? Aber du siehst doch, was hier los ist!«

»Mensch, wenn’s danach geht, komme ich hier nicht mehr weg, bis ich grau und schrumplig bin. Ich hab dir den ganzen Samstag geholfen. Ich kann dir Paps nicht ersetzen, schmink’s dir ab!« Lilli war im Ton schon wieder verrutscht und Sandra reagierte wie auf Bestellung ebenso patzig.

»Für dich geht das Leben einfach so weiter. Spaß und Party. Erstaunlich, wie wenig dir das alles was auszumachen scheint!«