lit.Love-Stories 2021 - Lucy Astner - kostenlos E-Book

lit.Love-Stories 2021 E-Book

Lucy Astner

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Beschreibung

Alle Leseproben zur lit.Love 2021: Entdecken Sie die schönsten Liebesgeschichten des Jahres

Am 12. und 13. November 2021 steht die Penguin Random House Verlagsgruppe in München wieder ganz im Zeichen der lit.Love – das Lesefestival für alle, die sich für Romane und Bücher rund um die Liebe begeistern. Wir freuen uns auf eine Vielzahl deutscher und internationaler Autor*innen und haben wieder eine spannende Mischung von Podiumsdiskussionen, Workshops und Meet&Greets für Sie. Und das Beste ist: Das alles können Sie von Zuhause aus und/oder live vor Ort erleben, denn die lit.Love findet in diesem Jahr erstmals hybrid statt.

Um Ihnen die Vorfreude noch zu versüßen, haben wir Ihnen in diesem E-Book Leseproben aller teilnehmenden Autor*innen zusammengestellt. Tauchen Sie ein in die Welt der Liebesromane und lernen Sie Ihre neuen Lieblingsautor*innen kennen, lassen Sie sich von den Sachbüchern bereichern und inspirieren – und erleben sie Ihre Lieblingsautor*innen auf der lit.Love am 12. und 13. November 2021!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1004

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalt keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Grafikagentur: Daniela Eber Copyright: © Daniela Eber unter Verwendung eines Motivs von ©AboutImages

ISBN 978-3-641-29310-9V002

Besuchen Sie uns auch auf www.litlove.de

www.penguinrandomhouse.de

Am 13. November 2021 steht die Penguin Random House Verlagsgruppe in München wieder ganz im Zeichen der lit.Love – das Lesefestival für alle, die sich für Romane und Bücher rund um die Liebe begeistern. Wir freuen uns auf eine Vielzahl deutscher und internationaler Autor*innen und haben wieder eine spannende Mischung aus Talks, Workshops, Lesungen und Podiumsdiskussionen für Sie. Nach der erfolgreichen Online-Variante letztes Jahr ist die lit.Love 2021 als hybrides Event geplant. Es wird Veranstaltungen vor Publikum im Haus geben und Programmpunkte, die (nur) online verfügbar sind.

Freuen Sie sich mit uns auf Bestsellerautor*innen und Publikumslieblinge: Lucy Astner, Anna Basener, Eric Berg, Sophie Bichon, Kathrin Burseg, Christine Dohler, Adrienne Friedländer, Maren Vivien Haase, Anja Hirsch, Lucy Ann Holmes, E L James, Ruth Kornberger, Paula Lambert, Corinna Loroff, Maria Nikolai, Beth O'Leary, Kaja Andrea Otto, Adriana Popescu, Lucinda Riley, Sonja Roos, Rena Rosenthal, Anne Sanders, Angelika Schwarzhuber, Karen Swan, Anna Todd, Nena Tramountani, Alexander von Schlieffen, Meike Werkmeister, Judith Wilms.

Alle Informationen finden Sie unter: www.litlove.de

Um Ihnen die Vorfreude noch zu versüßen, haben wir Ihnen in diesem E-Book Leseproben der teilnehmenden Autor*innen zusammengestellt. Tauchen Sie ein in die Welt der Liebesromane, lernen Sie Ihre neuen Lieblingsautor*innen kennen – und erleben Sie sie auf der lit.Love am 13. November 2021!

Viel Freude beim Lesen,

Ihr lit.Love-Team

Unsere Empfehlungen für Sie…

LeseprobeLucy AstnerWeil wir Schwestern sindRomanGoldmann VerlagHier geht’s zum Shop

Buch

Die Schwestern Katharina, Eva, Judith und Miriam könnten unterschiedlicher kaum sein und haben sich nicht viel zu sagen. Bis eine unverhoffte Nachricht aus Nepal ihr Leben auf den Kopf stellt: Ihre Mutter Hannah wird nach Hamburg zurückkehren. Nicht bei jeder der vier Schwestern löst die Aussicht auf ein Wiedersehen Begeisterung aus, denn Hannah hat die Familie vor fast dreißig Jahren von einem Tag auf den anderen verlassen. Während jede auf ihre Weise mit der eigenen Vergangenheit ringt, kommen die Schwestern sich allmählich wieder näher. Und haben sich auf einmal doch ziemlich viel zu sagen …

Autorin

Lucy Astner, Jahrgang 1982, lebt mit ihrem Mann und den vier gemeinsamen Kindern in Hamburg. Als Drehbuchautorin schreibt sie Kinokomödien für Filmgrößen wie Til Schweiger und Matthias Schweighöfer. Ebenso erfolgreich ist Lucy Astner als Autorin von Romanen und Kinderbüchern, zum Beispiel mit der Serie um Polly Schlottermotz.

Weitere Infos zur Autorin finden Sie bei

Instagram @lucyastner oder unter www.lucyastner.de

Lucy Astner

Weil wir

Schwestern sind

Roman

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe September 2021

Copyright © 2021 by Lucy Astner

Copyright © dieser Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Anne Fröhlich

LS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter; Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24462-0V002

www.goldmann-verlag.de

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Für alle Frauen, die das Gefühl haben,

ganz alleine zu kämpfen.

Für alle Mütter, die täglich ihr Bestes geben und denken,

dass es trotzdem nie reicht.

Für alle, die sich danach sehnen,

dass jemand den Arm um sie legt.

Für jede von uns.

Und für meine Mama.

Ganz besonders für meine Mama.

Altes Land, Juni 1997

Der Brief lag warm in seiner Hand. So viele Jahre hatte er auf ein Lebenszeichen gewartet, so viele Nächte wachgelegen und auf eine Erklärung gehofft, ein einziges Wort nur, das er den Mädchen ausrichten konnte.

Jetzt war ihr Brief endlich gekommen, mit vielen Worten sogar. Doch das, was er sich davon erhofft hatte, blieb aus: Trost.

Natürlich, es war gut zu wissen, dass sie wohlauf war. Sie hatte ihr Leben in den Griff bekommen, hatte sich in der Ferne etwas Neues aufgebaut. Er war ihr nicht böse, im Grunde liebte er sie noch immer. Oft ertappte er sich dabei, wie er abends im Bett mit ihr sprach, als läge sie noch immer neben ihm. Doch wenn er zur Seite tastete, war ihr Teil des Lakens kalt. Ihr Fehlen tat immer noch weh.

Aber es ging hier nicht um ihn, sondern um die Mädchen. Er musste jetzt vor allem an die Kinder denken.

Die Zwillinge hatten den Vorfall gut verarbeitet. Judith stellte gelegentlich Fragen zu ihrer Narbe, und er hatte eine Art Spiel daraus gemacht, ihr jedes Mal eine andere Geschichte zu erzählen. Wenn sie nur oft genug ein Märchen hörte, würde ihr am Ende vielleicht auch die Wahrheit nichts mehr anhaben können. Eva hatte keine sichtbaren Narben davongetragen. Ihre Gehirnerschütterung war schnell abgeklungen und hatte alle Erinnerungen an den Unfall in den Strudel des Vergessens gezogen. Sie sehnte sich danach, dass ihre Mutter zurückkam, das wusste er. Sie sagte es zwar immer seltener, aber in ihren akribisch versiegelten Briefen an das Christkind stand jedes Jahr nur ein Wunsch, immer derselbe. Der einzige, den er ihr nicht erfüllen konnte.

Miriam erinnerte sich nicht an Hannah. Für sie war sie nur die Frau von den Fotos, die über dem Klavier in der Stube hingen. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er die Kleine dafür am allermeisten liebte – dafür, dass sie keine Erinnerungen hatte.

Aber dann war da noch Katharina. Von allen vieren bereitete sie ihm die größten Sorgen. Auch wenn sie nie über diesen Maitag vor fünf Jahren sprach, war er sich sicher, dass ihre Erinnerung nicht verblasst war. Sie war damals schon zehn gewesen und hatte bis auf eine geprellte Rippe keine größeren Verletzungen erlitten. Doch er ahnte, dass sie das, was geschehen war, niemals vergessen würde – auch wenn er ihr das manchmal wünschte. Oder wünschte er es in Wirklichkeit seinetwegen? Wenn sie tatsächlich die Wahrheit kannte, dann wusste sie auch um seinen Anteil an der Schuld.

Eigentlich hatte er direkt nach dem Unfall mit Katharina reden wollen, aber dann hatte ihn die Scham überwältigt und der Mut verlassen, und er hatte es aufgeschoben. Immer wieder aufgeschoben, so lange, bis es sich nicht mehr richtig anfühlte, überhaupt darüber zu reden. So war das Schweigen zwischen sie getreten, zwischen ihn und seine Älteste.

Aus der Nähe betrachtet war die Wahrheit klein und schmächtig wie eine Küchenmaus, aber aus der Ferne gesehen, nach all den Jahren, war ihr Schatten so groß wie der eines Riesen. Diesen Schatten zu überwinden schien nun schier unmöglich.

Dabei war es doch eigentlich ganz einfach: Er hatte die Anzeichen damals zu lange ignoriert, war davon ausgegangen, dass es nur eine Phase war. Hannah hatte diese Phasen schon früher gehabt, aber sie waren jedes Mal von alleine vorbeigegangen, waren weitergezogen wie Regenwolken, und er hatte fest damit gerechnet, dass es auch diesmal so sein würde.

Aber dann war alles anders gekommen. Noch heute erinnerte er sich an den Anruf, das hartnäckige Klingeln des Telefons im Vorzimmer. Und die alte Frau Böhm, die den Kopf mitten in einer Untersuchung durch die Tür steckte, den Blick von Tränen verschleiert …

»Auuaaaa!«

Vor dem Fenster seines Sprechzimmers schrie eines der Mädchen auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Er durfte jetzt nicht wieder in der Erinnerung an sein Versagen versinken, das würde ihn nur unnötig lähmen. Er musste an die Mädchen denken, das war alles, was zählte.

Langsam fuhr er mit dem Finger über Hannahs Zeilen.

Ich möchte zurückkommen und die Mädchen sehen. Wäre das in Ordnung?

Ob es in Ordnung war? Woher in Teufels Namen sollte er das wissen? War es denn in Ordnung, dass eine Mutter ihre Kinder verließ? War es in Ordnung, dass er sie noch immer vermisste, noch immer liebte? War es in Ordnung, dass er sich manchmal dafür hasste?

»Papa!« Ohne anzuklopfen, platzte Judith herein, die runden Wangen gerötet und tränenüberströmt. »Mimi hat draußen am Gartentisch auf meine Hausaufgaben gekotzt!«

Für einen winzigen Moment verzog er das Gesicht, dann ließ er den Brief auf den Schreibtisch sinken und stand auf, um den Arm um seine elfjährige Tochter zu legen.

»Keine Sorge, ich kümmere mich darum«, murmelte er und drückte sie sanft an sich.

Natürlich kümmerte er sich darum. Er kümmerte sich um alles, dieses Versprechen hatte er sich selbst vor fünf Jahren gegeben. Die Mädchen sollten nichts und niemanden missen in ihrem Leben, solange es in seiner Hand lag.

Er würde sich jetzt erst um die Hausaufgaben und um Miriam kümmern, und später dann um den Brief.

Er würde Hannah antworten. Er würde den Kindern nichts davon erzählen, bis es wirklich ganz sicher war, aber er würde Hannah schreiben, dass es in Ordnung sei, wenn sie käme, mehr noch: dass sie sich auf sie freuen würden. Denn auf einmal verspürte er tatsächlich so etwas wie Freude – und die leise Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte. Nicht wie früher, aber doch immerhin irgendwie gut.

Als Theo mit Judith an der Hand das Sprechzimmer verließ, dachte er kurz darüber nach, den Brief wegzuräumen, dorthin, wo er auch Hannahs Abschiedszeilen von damals aufbewahrte.

Doch dann schluchzte Judith erneut auf, und er verwarf den Gedanken. Es waren ja nur ein paar Minuten.

In ein paar Minuten würde er sich darum kümmern.

1

Judith

Sie würde ganz sicher nicht ohne Begleitung zu dieser Taufe gehen, diesmal nicht. Mit klopfendem Herzen blickte Judith auf das vibrierende Telefon, das sie neben dem Waschbecken abgelegt hatte. Warum machte die ganze Angelegenheit sie nur derart nervös?

Eva hatte in den vergangenen Tagen mindestens siebzehn Mal angerufen und ihre Mailbox mit endlosen Nachrichten bombardiert. Fast konnte man meinen, es ginge hier um etwas Wichtiges. Um eine Privataudienz bei der Queen zum Beispiel, oder wenigstens um eine neue Wunderdiät aus Hollywood, eine, bei der man schon beim bloßen Gedanken an Sport einen Hintern wie Beyoncé bekam. Aber natürlich ging es Eva weder um einen gesellschaftlichen Ritterschlag noch um Knackärsche, sondern vor allem darum, den Finger in die Wunde ihrer Zwillingsschwester zu legen.

Unruhig schielte Judith auf das Display, das nun einen weiteren Anruf in Abwesenheit verzeichnete – und im nächsten Moment leuchtete auch schon eine Textnachricht auf.

Bringst du diesmal jemanden mit?

Judiths Magen krampfte sich unheilvoll zusammen. Einatmen, ausatmen. Wenn sie an den Tisch zurückkam, musste sie sich dringend ein zweites Glas Wein einschenken – selbst wenn Heiko sie dann für eine Schnapsnase hielt. Der erste Eindruck zählte, das wusste Judith nach zehn Jahren unzähliger erster Dates besser als jede andere. Aber sie wusste eben auch, dass ein kleines Alkoholproblem immer noch einfacher zu erklären war als das, was der Gedanke an ihre Zwillingsschwester mit ihr machte.

Als hätte sie es geahnt, ließ Eva in diesem Moment die nächste Textnachricht auf Judiths Handy aufleuchten.

Ich muss das dringend wissen. Wegen der Tischordnung!

Die Tischordnung, natürlich. Judith spürte, wie sich ihr Puls noch einmal beschleunigte. Hastig drehte sie den Hahn auf, ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen und schloss die Augen.

»Sie meint es nicht böse. Sie meint es nicht böse …«

Geradezu fieberhaft versuchte sie an das Mantra zu glauben, das ihr Frau Doktor Hufschneider vor ein paar Jahren in der Therapiestunde mit auf den Weg gegeben hatte – aber vergebens. Im Grunde kannte diese Frau sie doch überhaupt nicht! Die hatte so viel Ahnung von Eva wie ein Hafenarbeiter von Rousseaus pädagogischem Spätwerk. Das Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester war nun mal kompliziert – und zwar seit stolzen dreiunddreißig Jahren. Man konnte es leider nicht einfach durch ein paar Kalendersprüche in ein Kuschel-Rock-Konzert verwandeln.

Bei der letzten Taufe vor zwei Jahren hatte Eva Judith an den Kindertisch gesetzt. »Weil du so gut mit Kindern kannst«, hatte sie gesagt und sich dann zu einer Freundin umgedreht, die trotz ihrer vierten Schwangerschaft aussah wie eine Brechbohne auf zwei Beinen. »Meine Schwester ist Lehrerin.«

»Für die Mittelstufe, Eva«, hatte Judith mit einem hilflosen Blick auf die glucksenden Kleinkinder an dem abgelegenen Tisch erwidert. »Meine Schüler rauchen Schnürsenkel und onanieren heimlich in ihre Sportsocken!«

Eva hatte nur schrill aufgelacht und ihrer perfekt frisierten Freundin zugezwinkert. »Den Lehrerjob hält man nur mit einer gehörigen Portion Humor durch.« Dann hatte sie Judith wortlos am Kindertisch stehen lassen.

Doch diesmal würde ihr das nicht passieren, o nein, diesmal würde sie garantiert nicht am Lätzchen-Tisch landen und sich mit halb durchgekautem Brokkoli bewerfen lassen. Sie würde in Begleitung kommen und in ihrer aller Mitte sitzen, und wenn sie sich dafür einen Mann kaufen musste!

Aber so weit würde es wohl glücklicherweise nicht kommen. Judith drehte den Hahn zu und hielt sich die Hände an die glühenden Wangen. Heiko da draußen am Tisch war vielleicht kein Volltreffer, aber zumindest auch kein Grund, sich zu schämen. Auf einer Skala von eins bis Jackpot war er mindestens eine passable Sechseinhalb, vielleicht sogar eine Sieben.

Natürlich würde Eva bei seinem Namen sofort an Heiko Holst aus dem Bio-Leistungskurs denken, den rothaarigen, grunzenden Sohn des Fleischers, an den Judith ihre Unschuld verloren hatte, nachdem Eva ihr Max ausgespannt hatte. Aber damit konnte Judith umgehen, sie war darüber hinweg. Und erfreulicherweise hatte dieser Heiko hier rein gar nichts mit dem Heiko von damals gemein. Selbstverständlich konnte sie nicht sagen, ob er beim Sex Schweinelaute von sich gab und seine Kuscheltiere als Zuschauer auf den umliegenden Schränken drapierte – aber wenn alles einigermaßen nach Plan lief, konnte sie diese Fragen vielleicht noch heute Nacht klären.

Konzentriert fuhr sie sich durch das dichte dunkelblonde Haar, damit es so aussah, als würde es ganz von alleine so lässig über ihre Schultern fallen, und zog sich die Lippen nach.

Das hier war ihr Abend. Nichts und niemand konnte ihr heute das Gefühl nehmen, eine Göttin zu sein – erst recht nicht Eva und ihre blöde Tischordnung!

»Dir hängt da ein Schwanz aus der Hose, Schätzchen.«

Erschrocken zuckte Judith zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand die Damentoilette betreten hatte, und sah jetzt ertappt in das aufgeschwemmte Gesicht der Putzfrau.

Offenbar machte sie dabei nicht den intelligentesten Eindruck, denn im nächsten Moment stieß die Frau ein ungeduldiges Stöhnen aus, klemmte sich ihren Mopp unter den Arm und deutete mit ihrem fleischigen Finger auf Judiths Hintern.

»Schwänzchen, da. An deinem Popo.«

Als Judith den Kopf drehte, sah sie, was gemeint war. Tatsächlich hing eine nicht unbedeutend lange Bahn Klopapier aus dem hochgeschlossenen Bund ihrer neuen Hose.

Solche Missgeschicke waren ihr früher ständig passiert – aber damals war sie ein ungelenkes Kind gewesen und keine Frau, die vorhatte, zum Dessert einen Mann zu vernaschen, den sie erst vor drei Tagen über ein Onlineportal kennengelernt hatte. Augenblicklich schrumpfte die Göttin, die eben noch in ihrem Inneren Salsa getanzt hatte, zu einem Meerschweinchen mit Silberblick und Hamsterbäckchen zusammen. Judith spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und ihr Gesicht die Farbe einer glühenden Herdplatte annahm.

Ungeschickt zupfte sie sich das Papier aus der Hose. »Ich … o Gott … danke …«, stammelte sie und versuchte dabei zu lächeln.

»Kein Problem«, murmelte die Putzfrau und hielt mit einem Grinsen die Hand auf. »Wir Ladys müssen doch zusammenhalten.«

»Ich hatte schon befürchtet, du wärst heimlich durch das Klofenster abgehauen.« Heiko lachte und tauchte ein Stück Brot in Olivenöl. »Normalerweise machen die Frauen das erst, wenn ich ihnen von meiner Vorliebe für Nacktgolf und Gunter Gabriel erzähle.« Er zwinkerte derart aufdringlich, dass Judith sich nicht sicher war, ob er wirklich nur einen Scherz machte.

Trotzdem ließ sie sich zurück auf den Stuhl sinken und lachte, achtete dabei aber tunlichst darauf, den Mund nicht zu weit zu öffnen. Letztes Jahr hatte ihr ein Anwalt in einer schicken Yuppie-Bar gesagt, es sei vulgär, wenn die Frau beim Lachen zu viel Zahnfleisch zeigte. Es sei ein Zeichen dafür, dass sie leicht zu haben wäre und auch vor schmutzigen Ideen nicht zurückschreckte. Seitdem fiel es Judith schwer, sich beim Lachen so richtig fallen zu lassen. Sie wollte nicht, dass Heiko sie für vulgär hielt, und sie wollte auch nicht, dass er erkannte, wie leicht sie am Ende tatsächlich zu haben war.

»Du bist also Lehrerin?«

Judith nickte und war dankbar, als der Kellner die Vorspeisen brachte. »Stadtteilschule.«

Heiko hob die Augenbrauen. »Heißes Pflaster, oder?«

»Ich mag es, wenn es nicht langweilig wird.«

»Fächer?«

»Deutsch und Geschichte.«

Überrascht hielt er im Kauen inne. »Echt jetzt? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Judith quittierte seinen Kommentar mit einem verunsicherten Stirnrunzeln.

»Na ja«, fuhr er fort. »Du siehst irgendwie viel … lebendiger aus. Nimm’s mir nicht übel, aber Deutsch und Geschichte klingt nach Mottenkugeln und Gebissreiniger.« Er lachte auf.

Judith blieb vor Schreck ein Stück Rucola im Hals hängen. Sie hustete, aber das Salatblatt saß hartnäckig fest, bis sie es mit einem verzweifelt großen Schluck Weißwein hinunterspülte.

Mottenkugeln und Gebissreiniger! Für wen hielt sich der Kerl eigentlich? Am liebsten wäre Judith aufgestanden und gegangen – ein Abgang in Würde und Selbstachtung, wie Frau Hufschneider es damals genannt hatte –, aber in ihrer Handtasche an der Stuhllehne vibrierte schon wieder ihr Handy. Carlas Taufe fand in nicht einmal vier Wochen statt. Selbstachtung war also ein Luxus, den sie sich jetzt leider nicht leisten konnte.

Nach Ava und Bella war die kleine Carla bereits Evas drittes Kind in vier Jahren, und Judith hatte nicht vor zuzusehen, wie ihre Schwester ein ganzes Alphabet von Kindern in die Welt setzte, während sie selbst nicht mal in der Lage war, einen vernünftigen Mann kennenzulernen.

Also gab sie sich einen Ruck und Heiko noch eine Chance. »Und nach welchem Fach sehe ich deiner Meinung nach aus?«

Heiko musterte sie einen Augenblick, aber Judith hatte nicht das Gefühl, dass er dabei sonderlich nervös wirkte. Schließlich griff er sich die Weinflasche, füllte Judiths Glas ein weiteres Mal bis zum Rand und verzog den linken Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.

»Banküberfall«, flüsterte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Judith klammerte sich vorsichtshalber an ihrem Weinglas fest. »Banküberfall ist kein Unterrichtsfach.«

»Na und?«, erwiderte Heiko und beugte sich über den Tisch zu ihr. »Dann müsste es für dich eben erfunden werden. Du bräuchtest nicht mal Waffen – weil du nämlich schärfer bist als jede Munition!«

Der Sex war in Ordnung, aber nach dem billigen Pistolenspruch hatte Judith auch nicht mehr allzu viel erwartet. Heiko war definitiv nicht der Richtige für einen gemeinsamen Bausparvertrag, aber jetzt war entscheidend, ob er zumindest dazu taugte, sie vor Evas Kindertisch zu bewahren.

Als er nach einer Weile schwer atmend neben ihr auf das Laken sank, schenkte Judith ihm ein bemühtes Lächeln, schlüpfte unter der Bettdecke hervor und verschwand im Badezimmer.

Sofort begannen ihre Augen, den kleinen Raum gründlich abzuscannen. Nirgendwo konnte man in so kurzer Zeit so viel über einen Mann lernen wie in seinem Bad. Zu wenig Pflegeprodukte über dem Waschbecken waren ebenso verdächtig wie zu viele. Wie viele Zahnbürsten standen im Becher neben dem Wasserhahn? Fanden sich noch Tampons in den Schubladenschränken und lieferten verdächtige Hinweise darauf, dass die Ex vielleicht doch nicht so ex war, wie behauptet?

In den letzten zehn Jahren der aktiven Partnersuche hatte Judith schon so ziemlich alles erlebt, und sie hatte ein feines Auge entwickelt. Heikos Bad war ein wenig altmodisch, aber sauber und unauffällig.

Mit einem erleichterten Aufatmen ließ sie sich auf die Klobrille sinken. Keine bösen Überraschungen, vermerkte sie auf der Checkliste in ihrem Kopf, bevor ihr Blick auf das Klopapier fiel. Es war mit Seesternen und kleinen türkisblauen Meerjungfrauen bedruckt, und auf einmal musste Judith an das Freundebuch denken, das ihr eine Fünftklässlerin neulich in die Hand gedrückt hatte. Judith konnte nicht sagen, was sie mehr erstaunt hatte: dass das Mädchen in ihr eine potenzielle Freundin sah oder dass Kinder in diesem Alter sich noch immer für diese Art von Büchern interessierten. War das nicht eher etwas für den Kindergarten oder maximal für die Grundschule?

Am meisten aber hatte Judith überrascht, dass sie sich derart schwergetan hatte mit dem Ausfüllen. Denn beim genaueren Nachdenken hatte sie verblüfft festgestellt, dass sie nicht wusste, was ihre Lieblingsfarbe war, welche Musik sie am liebsten hörte und welcher Gute-Laune-Spruch sie am meisten motivierte. An welchem Punkt in ihrem Leben hatte sie vergessen, wer sie war?

Am schlimmsten aber war die Frage: Was willst du werden, wenn du groß bist? War sie nicht längst groß? Warum war sie dann immer noch nicht angekommen in ihrem Leben, hatte nicht das erreicht, wonach sie sich so sehr sehnte?

Was sie werden wollte? Mutter, hatte sie instinktiv schreiben wollen, oder Ehefrau. Vielleicht sogar glücklich?

Am Ende hatte sie sich einfach einen Spaß daraus gemacht und Meerjungfrau in das Buch geschrieben. Humor war immer ein guter Fluchtweg, das wusste sie. Manchmal war es so viel leichter, einen Witz zu machen, als etwas wirklich ernst zu meinen.

»Ich glaube, dein Telefon hat in deiner Tasche vibriert«, sagte Heiko, als sie endlich aus dem Badezimmer trat.

Judith biss sich auf die Unterlippe. Konnte Eva nicht einfach mal Ruhe geben? Trotzig griff sie in ihre Tasche und schaltete das Handy aus, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. Dann zuckte sie mit den Schultern und rollte so theatralisch wie möglich mit den Augen.

»Ist sicher nur mein Mann, der wissen will, ob ich noch Klopapier mitbringen kann.«

Diesmal war es Heiko, der den Kopf in den Nacken warf und lachte – und er scherte sich offenbar nicht darum, dass Judith dabei eine Menge Zahnfleisch sehen konnte.

Judith flüchtete sich zurück unter seine Decke und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Als sie ihren Arm auf seiner unrasierten Brust ablegte, entdeckte er die Narbe.

»Was ist da passiert?« Neugierig fuhr er mit dem Finger über die verblasste Linie, die sich von ihrem rechten Handballen bis zum Ellenbogen zog.

Judith zögerte. »Da bin ich als Kind vom Rad gefallen«, flüsterte sie schließlich, weil sie nicht das Gefühl hatte, dass Heiko der Typ für eine allzu außergewöhnliche Lüge war.

Auf einmal war sie unfassbar müde. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach die Augen zu schließen und in den Armen dieses Mannes einzuschlafen, dieses Mannes, der sie morgen vermutlich nicht zurückrufen würde. Wie schon so viele Männer vor ihm …

2

Katharina

»Ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe.« Katharina klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, warf einen letzten Kontrollblick auf die Monitore im Schwesternzimmer und trat hinaus auf den Flur.

Bei Eva schrie im Hintergrund irgendeines der Kinder, vermutlich das Baby, aber mit Sicherheit konnte Katharina das nicht sagen. Mit Kindern kannte sie sich nicht sonderlich gut aus, sie standen nur selten auf ihrem OP-Plan.

»Du hast die Einladung jetzt seit acht Wochen«, brüllte Eva gegen den Lärm an. »Wie schwer ist es bitte, einfach ja oder nein zu sagen?«

Katharina seufzte. »Dann eben nein.«

»Wie bitte?«

»Dann eben nein«, wiederholte Katharina laut und deutlich und rieb sich müde über das Nasenbein.

»Du brauchst nicht so zu brüllen«, zischte Eva. Mit einem Mal war das Geschrei im Hintergrund verstummt. »Ich hab dich schon verstanden.«

»Warum hast du dann nachgefragt?«

Katharina hörte, wie ihre Schwester einen Seufzer ausstieß. »Weil das nicht die Antwort war, die ich mir erhofft hatte. Wir sind doch eine Familie! Wie sieht das denn aus, wenn die eigene Schwester nicht zur Taufe deines Kindes kommt?«

»Ihr feiert doch jedes Jahr Taufe, und es wird sicher nicht die letzte sein«, witzelte Katharina, aber in Wirklichkeit war sie viel zu erschöpft, um auch nur ansatzweise heiter zu klingen. »In eurer Kollektion fehlen noch Dora, Elisabeth und Friederike, und dann hat das Alphabet ja immer noch ein paar Buchstaben.«

Evas kurzes, aber intensives Schweigen am anderen Ende der Leitung bestätigte Katharina, dass ihre kleine Schwester nicht amüsiert war.

»Fängst du etwa schon genauso an wie Judith?«

Vor Katharina öffnete sich die Aufzugtür. Wenn sie jetzt einfach einstieg, wäre die Verbindung in ein paar Sekunden unterbrochen und sie könnte endlich ihren längst überfälligen Feierabend genießen. Aber würde Eva sich damit zufriedengeben? Wohl kaum …

Katharina stöhnte und entschied sich für die Treppe. Sie hatte letzte Nacht zwei kritische Infarkte und eine aussichtslos anmutende Herzmuskelentzündung in den Griff bekommen, also würde sie das Gespräch mit ihrer Schwester jetzt vermutlich auch noch überstehen.

»Tut mir leid. Ich habe gerade eine Achtundzwanzig-Stunden-Schicht hinter mir, die dritte Nachtschicht diese Woche …«

»Ich habe jede Nacht Nachtschicht«, fiel Eva ihr gereizt ins Wort, »jede einzelne Nacht seit vier Jahren. Und trotzdem schaffe ich es, mich zusammenzureißen und freundlich zu sein.« Mit einem Mal verfiel sie in ihren bekannten Jammerton. »Judith antwortet auch nicht. Ich habe sie gestern Abend mindestens sieben Mal angerufen und mehrere Nachrichten geschickt – und denkst du, sie hat auch nur auf eine einzige geantwortet?« Eva schluchzte auf. »Wir müssen doch zusammenhalten, jetzt, wo nicht mal mehr Papa dabei ist …«

Katharina seufzte resigniert. Sie hatte befürchtet, dass das Gespräch irgendwann an diesen Punkt kommen würde.

Von allen vier Schwestern war Eva schon immer diejenige gewesen, die am wenigsten auszuhalten hatte, aber am meisten Leid empfand. Theos Tod war für sie eine willkommene Berechtigung, ganz legitim zu jammern und eine Familie einzufordern, die sie in Wirklichkeit niemals gewesen waren.

Dabei war ausgerechnet Eva nicht einmal in Hamburg gewesen, als Theodor Albrecht am vierten Märzmorgen im letzten Jahr in seinem ehemaligen Sprechzimmer ganz überraschend und still an einem Herzinfarkt verstorben war. Katharina nahm ihm bis heute übel, dass es ausgerechnet das Herz hatte sein müssen. Hätte es nicht ein Schlaganfall sein können, ein Sturz oder eine verdammte Sepsis? Nicht dass sie gewollt hätte, dass ihr Vater starb, er hätte ruhig noch zehn bis fünfzehn Jahre weitermachen können – aber dass sein Körper ausgerechnet auf ihrem Fachgebiet versagt hatte, nahm sie irgendwie persönlich. Sie hätte ihn retten können, wenn sie ihn zuvor nur ein einziges Mal untersucht hätte, nicht nur vermutlich, sondern ganz sicher. Theo war nicht einmal sechsundsiebzig gewesen, einen Stent hätte sie ihm mit verbundenen Augen setzen können, vielleicht hätte sogar eine einfache Medikation gereicht.

Aber sie hatte ihn nicht untersucht. Weihnachten hatten sie wie immer gemeinsam im Alten Land gefeiert, zum Jahreswechsel hatten sie das letzte Mal telefoniert. Und im März hatte dann Agnes angerufen.

Eva war zu dieser Zeit mit Thomas und den beiden großen Mädchen im Skiurlaub gewesen. Katharina war sich nicht einmal sicher, ob Ava und Bella zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon auf eigenen Beinen stehen konnten, geschweige denn auf Brettern.

Agnes hatte ihn gefunden. Normalerweise kam sie jeden Tag vorbei und sah nach dem Rechten, aber südlich der Elbe hatte es noch einmal Bodenfrost gegeben. Und weil Agnes immer nur mit dem Rad fuhr und ihr das bei Glatteis zu gefährlich war, hatte sie einen Tag pausiert. Als sie Theo an seinem alten Schreibtisch vorgefunden hatte, war er schon mehr als vierundzwanzig Stunden tot gewesen.

Katharina und Judith hatten ihre Arbeit unterbrochen und waren gemeinsam nach Jork gefahren, um sich um die Formalitäten zu kümmern. Während Judith Agnes’ Hand hielt, sprach Katharina mit dem Notarzt und rief das Bestattungsunternehmen an.

Eva kam erst kurz vor der Beerdigung zurück nach Hamburg, ganz in Schwarz und mit einer Sonnenbrille auf der Nase, die so groß war, dass Jackie Kennedy vor Neid erblasst wäre. Außerdem hatte sie die süße Botschaft im Gepäck, dass ein drittes Kind unterwegs war. »Diesmal ein Junge, das spüre ich«, hatte sie an Theos Grab geschluchzt. »Es ist ganz sicher ein kleiner Junge.«

Mittlerweile war Carla sechs Monate alt.

Katharina hatte das Kellergeschoss erreicht. Erschöpft lehnte sie sich an die Tür zum Personalflur. Sie musste Eva irgendwas Nettes sagen – nicht weil das ihrem eigenen Bedürfnis entsprach, sondern weil dieses Gespräch garantiert noch Stunden dauern würde, wenn ihre Schwester erst richtig in Tränen ausbrach. Und dazu fehlte Katharina jetzt wirklich die Kraft.

»In ein paar Tagen kann ich vielleicht mehr sagen …«

Eva horchte auf und schniefte. »Du kommst also doch?«

»Vielleicht. Das hängt von meinem Dienstplan ab.«

»Kann nicht mal jemand anders die Welt retten?« Auf einmal schwang wieder Empörung in Evas Stimme mit, und Katharina wertete das als gutes Zeichen.

»Bestimmt«, sagte sie, lehnte die Stirn an die kalte Tür und schloss die Augen. »Aber keiner sieht dabei so gut aus wie ich.« Dann legte sie auf und ließ das Handy sinken.

Natürlich war das eine schamlose Lüge. Keiner hier konnte die Welt so gut retten wie sie. Katharina war nicht nur eine der jüngsten Herzchirurginnen im Land, sondern auch die beste – und trotz aller Missgunst, die ihr deswegen entgegenschlug, schämte sie sich nicht für ihren Erfolg.

Das Einzige, was sie als störend empfand, war, dass sie dabei tatsächlich ziemlich gut aussah. Vieles wäre einfacher gewesen, wenn sie ein paar Rettungsringe um den Bauch, einen Buckel oder eine Knollennase gehabt hätte, aber Hannahs Erbe hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht einmal ihre haselnussbraunen Haare waren widerspenstig. Selbst wenn Katharina sie nur achtlos am Hinterkopf zusammenknotete, sah sie immer noch gut aus. Seit drei Jahren trug sie nun schon kein Make-up mehr, um es nicht noch schlimmer zu machen. Sie wollte ernst genommen werden, und dabei war es eben nicht besonders hilfreich, schön zu sein.

Natürlich, bei Männern war das kein Problem. Niemand nahm es einem Chefarzt übel, wenn er aussah wie George Clooney und sich unter seinem Kittel ein Sixpack wie das von Ryan Gosling in Crazy, Stupid, Love verbarg – im Gegenteil. Schönheit tat der männlichen Intelligenz keinen Abbruch.

Aber für Frauen galten nun mal andere Regeln, und Katharina hatte sich schon früh angewöhnt, nur solche Dinge ändern zu wollen, bei denen es eine Aussicht auf Erfolg gab. Sie war keine von denen, die gegen Windmühlen kämpften. Sie war diejenige, die auf dem Wind ritt, bis sie ganz vorne an der Spitze flog. Eine Frau konnte Beute oder Biest sein, das hatte sie in den vielen Berufsjahren unter erfolgreichen Männern gelernt, und obwohl Katharina diese Einteilung niemals selbst gewählt hätte, hatte sie sich schon vor langer Zeit für Letzteres entschieden.

Dabei war sie im Grunde gar kein Biest, sie war schließlich nicht bösartig. Aber sie konnte ihre Gefühle besser kontrollieren und wegschließen als die meisten anderen Frauen. Das hatte ihr im Leben schon oft geholfen, und nicht zuletzt hatte es ihr den Weg zu einer beispiellosen Karriere geebnet.

Morgen würde sie also mit ihrem Chef reden und ihn bitten, sie für Carlas Taufe freizustellen, wenn sie Evas Anrufe damit beenden konnte.

»Betest du etwa?«

Erschrocken rückte Katharina von der Tür ab und drehte sich zur Treppe um. Ein kleines Mädchen stand auf der dritten Stufe und blinzelte sie neugierig an. Unter dem Arm der Kleinen klemmte ein Regenschirm, und über ihrem Krankenhausnachthemd trug sie eine beinahe schmerzhaft bunte Strickjacke. Ihre Füße waren nackt – vermutlich war das der Grund, warum Katharina sie nicht hatte kommen hören.

»Du kannst dich doch nicht einfach so anschleichen!«

»Tut mir leid«, sagte die Kleine und hüpfte eine weitere Stufe hinab. »Ich wollte dich nicht stören.« Dann verzog sie mitleidig das Gesicht. »Aber wenn du wirklich gebetet hast, muss ich dich enttäuschen: Ich glaube, Gott hat gerade keine Zeit für uns – oder er hat einfach keine Lust, uns zu helfen.« Sie zuckte mit den Schultern und grinste so breit, dass Katharina die beiden Zahnlücken in ihrem Oberkiefer sehen konnte.

»Ich bete niemals.« Ihre Stimme klang mürrischer, als sie es beabsichtigt hatte.

»Gut so«, erwiderte das Mädchen zufrieden. »Wir Frauen sollten uns nicht für dumm verkaufen lassen. Wenn ein Kerl nicht zurückruft, ist er es nicht wert, dass wir unsere Zeit mit ihm verschwenden – selbst wenn sein Name Gott ist.«

Katharina runzelte verblüfft die Stirn. »Kann es sein, dass du zu viel fernsiehst?«

Die Kleine schüttelte den Kopf, sodass ihre kinnlangen Haare hin und her flogen. »Das hat mir meine Mama beigebracht.«

»Und wo ist deine Mama jetzt?«

»Wo sie genau ist, kann ich nicht sagen. Aber dass sie dort gerade mit meinem Papa streitet, ist so gut wie sicher.« Sie klemmte sich den Regenschirm unter den anderen Arm.

Katharina betrachtete sie irritiert. »Und was machst du hier im Treppenhaus?«

Die Kleine grinste schief und zuckte lässig mit den schmalen Schultern. »Ich wollte nur schnell eine rauchen.«

»Was?«

Als sie Katharinas verstörten Blick bemerkte, verdrehte sie die Augen und nahm eine weitere Stufe nach unten. »Es heißt wie bitte. Und außerdem war das nur ein Scherz.«

»Ein Scherz?«

»Ja, du weißt schon. Ein lustiger Spruch, um die Stimmung zwischen uns ein bisschen aufzulockern.«

Unbeabsichtigt stieß Katharina ein Schnauben aus. »Du musst die Stimmung zwischen uns nicht auflockern.«

»Doch«, erwiderte das Mädchen. »Weil du nämlich irgendwie fertig aussiehst und mir bestimmt eher einen Gefallen tust, wenn du wieder gut drauf bist.«

Jetzt musste Katharina tatsächlich lachen. »Erstens bin ich supergut drauf – und zweitens tue ich dir keinen Gefallen!«

»Du weißt ja noch gar nicht, worum es geht.«

»Das ist egal, wenn ich von vornherein nein sage.«

Die Kleine zog empört die Augenbrauen zusammen. »Das ist unfair!«

»Willkommen im Leben«, sagte Katharina und verschwand endlich durch die Tür in den Personalflur.

Unfassbar! Wie alt mochte das Mädchen gewesen sein? Vielleicht acht oder neun? Katharina schüttelte ungläubig den Kopf. Wenigstens hatte sie sie mit ihrem merkwürdigen Regenschirm nicht angegriffen!

Am Himmel, den man durch das schmale Fenster sehen konnte, war nicht eine einzige Wolke zu erkennen. Warum zum Teufel hatte die Kleine das Ding überhaupt dabeigehabt? Sie war nicht normal, das stand jedenfalls fest, dieses Kind war sicher nicht ganz richtig im Kopf. Aber das sollte nicht mehr Katharinas Problem sein. Sie hatte sich ihren Feierabend jetzt wirklich verdient.

Insgeheim hatte Katharina gehofft, ihm heute nicht mehr zu begegnen, aber Robin wartete vor ihrem Spind auf sie.

»Hey, Prinzessin«, flüsterte er und drückte ihr einen Kuss zwischen die Schulterblätter.

Katharina warf ihm einen strengen Blick zu.

»Was denn?«, fragte Robin mit einem frechen Grinsen. »Ist doch niemand hier außer uns.«

»Du sollst mich nicht Prinzessin nennen.« Mit einem Stöhnen drehte sie sich ihrem Schrank zu.

Robin lachte. »Wieso dürfen die anderen das und ich nicht?«

»Weil ich mit den anderen nicht schlafe!«, erwiderte Katharina. »Außerdem nennen sie mich Eisprinzessin, das ist ein Unterschied.«

Tatsächlich war das ihr Spitzname auf der Station. Wie lange schon, wusste sie nicht genau, aber dafür erinnerte sie sich noch sehr lebhaft an den Moment, als sie den Namen zum ersten Mal gehört hatte.

Es war vor etwa drei Jahren gewesen, Katharina hatte unter strenger chefärztlicher Anleitung gerade ihre erste Herztransplantation durchgeführt. Ihr Chef hatte hinterher eine Flasche Champagner geköpft, um sie zu feiern, und der Alkohol hatte sie schon bald auf die Toilette getrieben. Als sie sich die Hände wusch, waren zwei Kolleginnen ins Damenklo getreten. Laura, die als Assistenzärztin in der Kardiologie einen durchaus passablen Job machte, und Melanie, eine der jüngeren OP-Schwestern. Sie strahlten Katharina an und drückten sie überschwänglich an sich, um ihr zu gratulieren.

Erst als Katharina die Toilette verlassen hatte, stellte sie fest, dass sie ihren Schlüssel neben dem Waschbecken vergessen hatte. Sie eilte zurück. Ihr Schlüssel lag tatsächlich auf dem Seifenspender – aber nun wurde sie unfreiwillig Zeugin eines Gesprächs zwischen Laura und Melanie. Die beiden hatten offenbar nicht gehört, dass sich die Tür erneut geöffnet hatte, und unterhielten sich über die Kabinenwände hinweg über Katharina und ihren Chef.

»Der Alte steht auf sie, kein Zweifel. Vermutlich holt er sich in seinem Büro auf ihren OP-Bericht einen runter. Für mich hat es jedenfalls noch nie Champagner gegeben.«

»Vielleicht denkt er, der Alkohol würde ihr Herz zum Schmelzen bringen.«

»Unmöglich, sie ist eiskalt. Du könntest ihr Herz ins Höllenfeuer werfen, und dem Teufel würden vor Schreck die Klauen abfrieren. Sie heißt nicht umsonst die Eisprinzessin«, hatte Laura geheimnisvoll geflüstert, und dann hatten beide Frauen gelacht.

Eigentlich hatte Katharina vor den Kabinen warten und ihnen eine Ohrfeige verpassen wollen, aber dann hatte sie sich doch dagegen entschieden und war leise aus der Toilette geschlichen. Sie hatte schon früh im Leben gelernt, dass sie mehr Macht hatte, wenn die anderen nicht ahnten, was sie alles wusste.

Doch dieses Wissen machte auch sehr einsam. Katharina hatte kein Problem damit, allein zu sein, das hatte sie noch nie gehabt. Aber wie sollte sie das nur Robin beibringen?

Er war jung, dreizehn Jahre jünger als sie, und gerade das machte ihr ein bisschen Hoffnung, dass es nicht allzu schwer wäre, ihn irgendwann wieder loszuwerden. Vermutlich wollte er ohnehin nur vögeln, und dass sie in der Hierarchie weit über ihm stand, verschaffte ihm einen gewissen Nervenkitzel. Robin war Krankenpfleger auf der Kinderstation, und Katharina schätzte gutes Pflegepersonal. Aber sie wusste auch, dass Männer langfristig nicht damit klarkamen, wenn eine Frau im Job deutlich erfolgreicher war als sie selbst. Vor anderthalb Jahren hatte sie einen Zahnarzt gedatet, aber die Beziehung lief nur so lange gut, bis er erfuhr, dass sie Herzchirurgin war und nicht etwa Krankenschwester, wie sie bis dato behauptet hatte. Natürlich berief er sich beim Schlussmachen auf die Lüge, die sie ihm monatelang aufgetischt hatte, aber insgeheim wusste Katharina, dass ihr Status das eigentliche Problem war. Männer mochten Grundschullehrerinnen, Altenpflegerinnen und Stewardessen.

Nur weil sie sich sicher war, dass er sie irgendwann fallen lassen würde, hatte sie sich überhaupt auf die Sache mit Robin eingelassen. Aber es sah nicht danach aus, als wollte er sie schon heute ausmustern. Stattdessen half er ihr in die Jacke und massierte liebevoll ihre verspannten Schultern. Katharina musste sich zusammenreißen, die Berührung nicht allzu sehr zu genießen, und befreite sich schließlich aus seinem Griff.

Als sie ihre Tasche nahm und sich zur Tür drehen wollte, hielt Robin sie am Handgelenk zurück.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht mit zu dir kommen.«

Katharina blieb für einen Moment die Luft weg. Mitkommen? Zu ihr nach Hause? Das war doch lächerlich. Bisher hatten sie immer nur hier in der Klinik Sex gehabt – und sie hatte wirklich nicht vor, das zu ändern.

»Tut mir leid, ich bin hundemüde …« Sie versuchte krampfhaft zu gähnen, kam sich dabei aber ziemlich hilflos vor.

Robin nickte verständnisvoll, doch enttäuscht wirkte er trotzdem. »Ich würde dich ja zu mir einladen«, murmelte er und kratzte sich verlegen das unrasierte Kinn. »Aber meine Mitbewohnerin hat sich in den Kopf gesetzt, ihre Räucherstäbchen künftig selbst herzustellen. Um Export-Emissionen zu vermeiden. In unserer Küche riecht es wie auf einer indischen Müllkippe …«

Mit einem Mal tat er Katharina leid. Er meinte es wirklich gut, das konnte sie sehen. Sie musste nur irgendwie dafür sorgen, dass er es am Ende nicht zu gut meinte. Aber dafür brauchte sie Zeit und ein bisschen Ruhe, heute würde sie es jedenfalls nicht mehr hinkriegen.

»Wir holen das ein andermal nach, versprochen. Jetzt will ich einfach nur schlafen.« Zum Trost hauchte sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und griff nach der Türklinke.

»Katharina?« Robin hielt sie ein weiteres Mal zurück.

Als sie sich erneut zu ihm umdrehte, schob er verlegen die Hände in die Hosentaschen und kaute auf seiner Unterlippe herum wie ein Schuljunge, den man bei einem dummen Streich erwischt hatte.

»Was denn?«

»Nichts«, fuhr er unsicher fort. »Ich wollte nur sagen … Meine Schwester heiratet demnächst.«

Katharina runzelte verständnislos die Stirn, aber dann ahnte sie, worauf er hinauswollte. »Du kannst sicher mit deinem Chef reden. In solchen Fällen ist Sonderurlaub kein Problem …«

»Ich will keinen Sonderurlaub«, fiel Robin ihr ins Wort. »Ich hab mir gedacht … Also, ich hab mich gefragt, ob …« Er vergrub die Hände noch ein bisschen tiefer in seinen Hosentaschen und holte Luft, als könnte er dadurch Mut schöpfen. »Ich wollte wissen, ob du mich vielleicht begleiten möchtest.«

»Zu … der Hochzeit deiner Schwester?« Mit einem Mal hatte Katharina das Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen wegrutschte. Ihr Herz pochte so wild, dass sie husten musste.

Robin zog den Riemen seiner Kuriertasche über der Schulter stramm. »Sie heiratet am Freitag in drei Wochen. Es ist nur eine kleine Feier auf dem Standesamt, aber ich habe gesehen, dass du an dem Tag auch frei hast. Und ich fände es wirklich toll, wenn du meine Eltern kennenlernen würdest …« Er lächelte sie vorsichtig an. »Was meinst du?«

Was sie meinte? Katharina hatte beim besten Willen keine Ahnung, was sie meinen sollte – sie konnte ja nicht mal mehr mit Sicherheit sagen, ob sie noch zuverlässig atmete.

»Ich … ich …« Verdammt! Sie konnte doch jetzt nicht rumstammeln wie ein kleines Mädchen! Gefasst presste sie die Lippen zu einem schmalen Lächeln zusammen. »Ich kann leider nicht.«

Auf Robins Gesicht zeichnete sich im Bruchteil einer Sekunde Enttäuschung ab. »Nicht?«

Katharina schüttelte den Kopf. »An dem Freitag wird meine Nichte getauft, deshalb habe ich frei.«

»Das wusste ich nicht …« Robin wirkte für einen Moment überrascht, aber dann schlich sich das jungenhafte Grinsen zurück auf sein Gesicht. »Dann eben beim nächsten Mal.«

»Beim nächsten Mal«, wiederholte Katharina seine Worte und hoffte inständig, dass er nur diese eine Schwester hatte.

Sie lächelte und verschwand endlich zur Tür hinaus.

Im Grunde wusste sie genau, dass es kein nächstes Mal geben würde. Denn dass Robin sie seinen Eltern vorstellen wollte, war ein Problem. Und Probleme waren da, um gelöst zu werden.

3

Eva

Noch immer keine Nachricht von Judith! Eva zog die Schlafzimmertür hinter sich zu und blickte angespannt auf ihr Handy. Wenigstens hatte sie Katharina endlich erreicht. Warum verstanden ihre Schwestern nicht, dass das alles verdammt viel Arbeit war? Nur weil sie Hausfrau und Mutter war, hieß das noch lange nicht, dass sie den ganzen Tag Milch für ihren Cappuccino aufschäumte und auf ihre frisch manikürten Fingernägel blies. Das hier war ein Fulltime-Job!

Katharina und Judith arbeiteten zwar auch Vollzeit, aber im Gegensatz zu ihr konnten die beiden nach getaner Arbeit einfach nach Hause gehen und die Füße hochlegen – Judith hatte an manchen Tagen sogar schon am Vormittag Schulschluss! Ava, Bella und Carla hingegen kannten keinen Feierabend. Sie interessierten sich nicht dafür, ob Eva müde oder gar krank war, und in der Regel ließen sie sich auch von geschlossenen Türen nicht aufhalten. Dass Eva jetzt einen kurzen Moment Ruhe genießen konnte, hatte sie einzig und allein dem Kinderkanal und einer Tüte Dinkelcracker zu verdanken.

Hastig versah sie Katharinas Namen auf der Gästeliste mit einem Haken. So wie sie ihre älteste Schwester kannte, würde sie ohne Begleitung kommen, denn sie machte sich nicht viel aus Männern – nein, eigentlich machte sich Katharina nicht viel aus Menschen.

Judith hingegen würde sie vermutlich noch ein bisschen zappeln lassen. Obwohl Eva das wusste, ärgerte sie sich darüber. Sobald ihre Schwester auch nur ein bisschen Oberwasser hatte, nutzte sie das gnadenlos aus. So war es immer schon gewesen, ihr ganzes Leben lang. Dabei konnte Eva doch wirklich nichts dafür, dass sie neun Minuten vor Judith das Licht der Welt erblickt hatte! Sie hatte die hübsche Stupsnase ja nicht aus Bösartigkeit immer ein Stück weiter vorne gehabt als ihre eineiige Zwillingsschwester, das musste Judith mittlerweile doch verstanden haben, immerhin waren sie längst keine Kinder mehr.

Miriam hatte leider schon vor Wochen abgesagt. Eva hatte sie angerufen, um nach ihrer aktuellen Postanschrift zu fragen, aber Mimi hatte sie freundlich zurückgewiesen.

»Du kannst dir die Briefmarke sparen, Schwesterherz. Ich komme sowieso nicht.«

»Du kannst nur absagen, wenn du wenigstens eine Einladungskarte in den Händen gehalten hast«, hatte Eva geantwortet und versucht, ihre Empörung zu verbergen.

Aber Miriam hatte trotzdem nur glockenhell in den Hörer gelacht. »Ach, Evalein. Du weißt doch, dass ich mir aus solchen Dingen nichts mache, daran ändert auch ein gewöhnliches Stück Papier nichts. Aber mit dem Herzen bin ich jederzeit bei euch.«

Ein gewöhnliches Stück Papier? Eva musste sich auch jetzt, Wochen nach dem Telefonat, noch auf die Zunge beißen vor Ärger. Ihre Einladungen waren alles andere als gewöhnlich! Sie hatte extra eine Agentur mit dem Design beauftragt, der Schriftzug auf der Vorderseite war per Hand mit Blattgold aufgetragen worden. Sogar ihre Schwiegermutter hatte anerkennend genickt – und das bedeutete so ziemlich das Gegenteil von gewöhnlich!

Das Problem mit Miriam war, dass man ihr nicht böse sein konnte – gegen sie war selbst Eva machtlos.

Mimi war schon immer durch und durch das Nesthäkchen gewesen, fünf Jahre jünger als Eva und Judith, ein ausgelassenes Kind, das jeden Tag als neues Abenteuer wahrnahm. Daran hatte sich auch heute, da sie fast achtundzwanzig war, nichts geändert. Nur mit ihrem Handy bewaffnet reiste sie planlos durch die Welt und lebte von dem, was ihr Rucksack hergab – und von der Nächstenliebe wildfremder Menschen.

Eva konnte sich so ein Leben beim besten Willen nicht vorstellen. An irgendetwas musste man sich doch festhalten, und wenn es kein Mann war, dann doch wenigstens der eigene Kühlschrank. Beim Gedanken an Essen und das Frühstück, für das sie bisher keine Zeit gefunden hatte, fiel ihr ein, dass sie sich heute noch gar nicht gewogen hatte. Sie hatte gestern Abend nur eine Handvoll Rohkost gegessen, das musste sich auf jeden Fall bemerkbar machen.

Für einen Moment legte sie das Ohr an die Schlafzimmertür: immer noch alles still im Flur. In Windeseile zog Eva die Waage unter dem Ehebett hervor und schlüpfte hastig aus ihren Klamotten. Sie legte sogar ihre Armbanduhr und das Zopfgummi ab, bevor sie auf die Waage stieg.

Der Blick aufs Display versetzte ihr einen Schlag in die Magengrube. Das konnte doch nicht sein! Eva hielt die Luft an und zog verzweifelt den Bauch ein, aber auch das änderte nichts. Wie konnte sie denn bitte ein halbes Kilo zugenommen haben, wo sie seit gestern kaum etwas gegessen hatte?

Sie ließ sich aufs Bett sinken und blickte auf die wulstigen Ringe hinunter, die ihren Bauchnabel verschluckten. Vor sechs Monaten war Carla noch unter ihrer Bauchdecke gewachsen, und sie wusste, dass es eine Weile dauerte, bis sich der Körper von den Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt erholte. Das Problem war nur, dass ihrer diesmal mehr Zeit brauchte, als sie zur Verfügung hatte.

Nach den Geburten von Ava und Bella hatte sie keine zwei Monate gebraucht, um wieder ihr Vorschwangerschaftsgewicht zu erreichen. Thomas’ Schwester Cynthia hatte erst vor vier Wochen ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht und sah schon wieder aus wie ein abgenagter Hühnerknochen – dabei stillte sie den Kleinen nicht mal! Eva hingegen legte Carla pausenlos an, und sie hatte auch Ava und Bella hingebungsvoll mit Muttermilch versorgt. Mutter zu werden war vielleicht nur ein biologischer Vorgang, aber Mutter zu sein – das war ein Schwur fürs Leben. Eva hatte nicht vor, ihre Kinder jemals im Stich zu lassen.

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LeseprobeAnna BasenerDie juten Sitten - Goldene Zwanziger. Dreckige WahrheitenRomanDie juten SittenGoldmann VerlagHier geht’s zum Shop

Buch

Los Angeles, 1954: Hedi Belle hat es weit gebracht – von einem Bordell in Berlin bis auf die Leinwand in Hollywood. Doch nachdem sie aus unerklärlichen Gründen einen Mann erschossen hat, wartet sie im Gefängnis auf ihre Hinrichtung. Ihr einziger Besucher ist Noah Goldenblatt von der New York Times, der berichten soll, wie die Diva zur Mörderin wurde. Aber Hedi erzählt ihm lieber von ihrer Kindheit im Berlin der Zwanzigerjahre: Von ihrer Großmutter Minna, der Besitzerin der berüchtigten »Ritze«, die das Herz am rechten Fleck hatte. Von Colette, der schönsten Hure der Stadt, die von Paris träumte. Und von der Domina Natalia, die versehentlich ihren besten Kunden umbrachte und sie alle ins Verderben stürzte …

Autorin

Anna Basener schreibt Bücher und Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Ihr Debütroman »Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte« gewann 2018 den Putlitzer Preis und hatte 2019 als musikalische Komödie Premiere am Schauspiel Dortmund. Essays, Kolumnen, Nachrufe und Reportagen von Anna Basener erschienen bei NEON, Business Punk und auf ZEIT ONLINE. Ihr Hörspiel »Die juten Sitten« schoss über Nacht auf Platz 1 bei Audible.

Weitere Informationen unter www.annabasener.de

Anna Basener

Die juten Sitten

Goldene Zwanziger.

Dreckige Wahrheiten

Roman

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Dieser Roman basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel, das bei Audible erschienen ist.

Originalausgabe November 2020

Copyright © 2020 by Anna Basener

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Grafischer Rahmen: FinePic®, München;

Frau: Sylwia Makris/Trevillion Images

Redaktion: Bärbel Brands

LS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26104-7V001

www.goldmann-verlag.de

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Denkste denn, denkste denn,

Du Berliner Pflanze,

Denkste denn, ick liebe dir,

Nur weil ick mit dir tanze?

Denkste denn, denkste denn,

Det ick um dir weene?

Wenn de mir nicht lieben tust,

Denn lieb ick mir alleene.

Berliner Volkslied

Die Ritze

Los Angeles, 1954

Hedi war selten im Besucherraum. Auf dem Weg dorthin öffnet sich eine Tür nur, wenn sich eine andere zuvor geschlossen hat. Das ist der Deal. Tür um Tür, Auge um Auge, Zahn um Zahn – und Leben um Leben. Es ist ein langer Weg, viele Gänge, Treppe hoch, Treppe runter. Die Wände sind eierschalfarben, es zieht. Denn die Luft ist frei. Sie kann rein und raus und braucht keine Türen, selbst hier nicht. Im Königreich der Ritzen, die keiner abdichtet. Ist ja kein Palast. Die Frauen hier haben keinen Palast verdient. Jede Tür quietscht. Erbärmlich.

Türen, die klagen … gibt es auch nur hier. Hör auf zu jammern, denkt Hedi. Siehst du mich jammern? Eben.

Hedi jammert nicht, sie schweigt und schreitet. Trotz Handschellen. Ihr grauer Gefängniskittel schlackert um die schmalen Schultern. Sie ist blass, das Rot ihrer Haare wächst raus, aber sie hält den Kopf hoch erhoben, wie der Filmstar, der sie war. Sie ist kein Star mehr, alles, was je an ihr geglänzt hat, ist stumpf geworden. Dennoch: Du kriegst die Frau vielleicht aus Hollywood raus – aber Hollywood nicht aus der Frau. Sie mag nur noch ein Schatten ihres großen Ruhms sein, aber solange etwas einen Schatten wirft, ist es noch da.

Durch das Gitterfenster erblickt Hedi ihn zum ersten Mal. Er hat dunkle Haare und dunkle Augen, sein Jackett hängt über der Rückenlehne des Stuhls, sein Hut liegt vor ihm auf dem Tisch. Die Manschettenknöpfe sind golden, sie reflektieren die kalifornische Sonne, die durch die Oberlichter scheint. Es sind teure Knöpfe, nicht die allerbeste Qualität, aber gut genug für die New Yorker Society.

Hier drin sind sie gar nichts wert.

Bert schließt Hedi auf und lächelt. Er lächelt meistens, denn er mag sie. Weil er das Kino mag. Sie zwinkert ihm zu, tritt ein – und die Tür hinter ihr schließt sich, ohne dass sich eine andere öffnet. Hedi ist am Ziel. Weiter kommt sie nicht. Nie mehr.

»Hedi Belle …«, sagt der Besucher. »Guten Tag.«

Er spricht Deutsch. Hat er Hedi auf Deutsch angeschrieben? Sie weiß es gar nicht mehr. Wie lange hat sie diese Sprache nicht mehr gehört?

»Ich hab, was Sie verlangt haben«, sagt er jetzt und holt Geschenke aus seiner Tasche. »Zigaretten, Puder von Chanel …«

»Sie sind Deutscher.«

Er nickt und dreht die Puderdose um, sodass Hedi das Markenlogo lesen kann. CC Powder. »Ich war es mal«, sagt er. »So wie Sie.«

»Sie sind nicht wie ich.«

»Offensichtlich nicht.«

Er ist kein Star, will er damit sagen. Seine Augen betrachten Hedi, wie Filmstars immer betrachtet werden, wie sie betrachtet werden wollen. Auch Hedi. Scheiß auf das Sonnenlicht, das durch das schmale Oberlicht gleißt. Wenn sie etwas wiederhaben könnte, dann die Scheinwerfer. Dieses Licht will sie zurück, dieses Strahlen. Wer will schon ein Schatten sein? Niemand, der zum Film geht jedenfalls. Hedi schon gar nicht. Das wollte sie nie. Und doch ist sie hier gelandet, ohne Scheinwerfer. Ohne die unzähligen Blicke wie der von ihm. Aber erstens kriegt sie nichts zurück, gar nichts, und zweitens meinte sie nicht ihren Ruhm, der sie von ihm unterscheidet. Dieser junge Mann von der Ostküste ist aus ganz anderen Gründen nicht wie Hedi. Das sieht sie auf den ersten Blick. Seit sie acht war, kann sie das binnen Sekunden erkennen.

Er kramt noch einmal in der Tasche. »Und ich hab natürlich auch die Lösungsmittel.«

Er stellt zwei Glasfläschchen auf den Tisch. Hedi starrt sie an, die alten Freunde, die Erinnerung, die Vergangenheit, die Lösungsmittel.

»Und die Rosen«, sagt er.

Hinter seinem Stuhl steht ein großer Korb, aus dem er die Blumen holt. Es muss ihn ein Vermögen gekostet haben, das alles hier reinzubekommen. Aber was interessiert das Hedi? Sie interessiert sich allein für die Fläschchen mit der klaren Flüssigkeit. Die hübschen kleinen Flaschen, die hin und her schwappende Flüssigkeit, die Wellen des Damals, die Gezeiten des Rauschs … Ihr Mund wird trocken, die Handflächen werden feucht, ihr Herz rast …

Er stemmt die Hände in die Hüften, betrachtet die Lösungsmittel und schüttelt leicht den Kopf. »Sie müssen Ihre ganze Zelle desinfizieren wollen, wenn Sie für jedes Treffen je eine Flasche Äther und eine Flasche Chloroform verlangen.«

Hedi antwortet nicht und setzt sich an den Tisch. Sie zieht sein leeres Wasserglas zu sich und öffnet beide Flaschen. Sie schüttet aus jeder etwas in das Glas, gleichzeitig, keine Zeit mehr verschwenden, aber auch keinen Tropfen. Vorsichtig. Schnell und vorsichtig.

»Wollen Sie den Besucherraum auch desin…«, beginnt er und hält inne. Er betrachtet sie, scheint auszurechnen, wie viel Fläche man mit dem Inhalt eines Glases desinfizieren könnte. Offensichtlich kommt er auf kein befriedigendes Ergebnis. »Was machen Sie denn da?«

Sie stellt die Flaschen ab und streckt die Hand aus. »Die Rosen!«

Er reicht ihr den Strauß. Sein Blick wird immer verständnisloser, aber sie schaut ihn nicht an. Sie will es mehr, als sie dachte. Sie braucht es. Seit einem Jahr ist sie clean. Seit zwölf Monaten. Zwölfeinhalb eigentlich. Das hier sollte nur eine Kleinigkeit sein. Nur das Tüpfelchen auf dem i. Aber es ist der ganze Buchstabe, es ist ein Wort, das einzige, das Hedi noch aussprechen will.

»Ich dachte, pfirsichfarben könnte Ihnen gefallen.« Seine Stimme lächelt.

»Sie müssen weiß sein.« Sie streicht über die Blüten, umfasst sie mit der ganzen Hand und reißt sie vom Stängel. Sie lässt sie auf den Tisch rieseln. Blüte für Blüte, ein kleiner Rosenberg.

»Das tut mir leid, das hatten Sie nicht geschrieben, ich … Was machen Sie denn da?«

»Ich brauche nur die Blüten«, sagt sie, als wäre das eine Antwort.

»Wollen Sie die Blüten desinfizieren?«

»Sie müssen die Welt für sehr schmutzig halten«, murmelt Hedi.

»Natürlich tue ich das.« Er zeigt aus dem Fenster. »Der Dreck in den Städten, die Fabriken vor den Städten, überall rauchende Schlote … Haben Sie sich diese Welt in letzter Zeit mal angesehen?«

»Ich sitze im Gefängnis«, antwortet sie.

»Richtig. Verzeihung. Dann vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass die Welt ein Saustall ist.«

»Ich vertraue niemandem.«

Es ist wie Fahrradfahren. Äther und Chloroform mischen, dann das Blütenblatt mit spitzen Fingern halten und eintauchen, bis es sich zur Hälfte vollgesogen hat. Hedis Körper erinnert sich an alles. Jede Bewegung liegt ihr im Blut. Sie klopft das Blütenblatt leicht gegen den Glasrand, die überschüssige Flüssigkeit tropft ab. Kleine Perlen fallen zurück ins Gemisch und bilden Lösungsmittelringe auf der Oberfläche.

»Was machen Sie da?«, fragt er erneut.

»Frühstücken.«

»Was? Das können Sie nicht essen, das …«

Sie hört ihn gar nicht. Sie beißt in das Blütenblatt. Scharfer Geruch, noch schärferer Geschmack. Wie Nadelstiche auf ihren Schleimhäuten. Hedi liebt es.

»Okay«, murmelt er. »Offensichtlich können Sie das sehr wohl …«

»Man isst nur den getränkten Teil«, erklärt sie. »Wollen Sie den Rest?«

»Äh … Nein danke.«

»Sie waren damals nicht in Berlin, oder? In den Zwanzigern?«

»Doch, aber ich … Wir waren Kinder damals. Sie auch.«

»Ich denke nicht, dass ich je ein Kind war.«

Das Glück ist am schönsten, wenn es überraschend kommt. Das ist das Gute an der Abstinenz hier drinnen, sie hat Hedi sensibilisiert. Als sie um die Zutaten für all das gebeten hat, hat sie nicht damit gerechnet, dass er sie wirklich mitbringt. Die anderen haben es nicht getan. Und jetzt, da das Frühstückselixier wirkt, ist es fast wie beim ersten Mal. Alles ist leicht und schön und strahlt.

»Sie bekommen nichts ab«, haucht Hedi in den Raum.

»Damit kann ich leben.«

Sie lacht in sich hinein. »Wenn Sie das ›leben‹ nennen …«

»Vielleicht sollten wir vorn anfangen. Mein Name ist Noah Goldenblatt, ich schreibe für die New York Times.«

»Sie machen den Klatsch.«

»Und Filmkritik.«

Aber das hier ist kein Film. Es ist Hedis Leben. Das sie im Gefängnis verbringt. Weil sie jemanden erschossen hat. Hedi ist jetzt Klatsch.

»Sie haben Louis Mercier umgebracht. Das Gericht urteilte: ›kaltblütig‹«, erklärt Noah, als wär sie nicht dabei gewesen.

Sie lacht wieder. Kaltblütig. Als würde die Temperatur ihres Blutes eine Rolle spielen …

»Die meisten Frauen benutzen Gift«, sagt er weiter. Er scheint in dieser Hinsicht recherchiert zu haben.

»Gift … Was ist schon Gift?« Hedi beißt in ein weiteres Blütenblatt. »Die Dosis macht das Gift.«

Er beugt sich zu ihr. »Wollen Sie mir erzählen, warum Sie ihn erschossen haben?«

»Nein.«

Hedi hat Hunderte Anfragen bekommen. Journalisten aus dem ganzen Land und einige aus Europa wollen diese Geschichte aufschreiben. Sie wollen wissen, warum sie Louis erschossen hat. Sie hat ein Leben beendet, und ihre Karriere. Sie hat gestanden und sonst nichts gesagt. Ein Mord ist keine Filmrolle, davon kann sie nicht erzählen.

»Aber ich erzähle Ihnen von Berlin damals«, bietet sie ihm an.

»Ich bin selbst in Berlin geboren«, sagt Noah. »Ich denke, ich kenne mich …«

»… aus?« Sie unterbricht ihn. »Sie kennen sich aus? Wo? In der Grunewald-Villa Ihrer Eltern?«

Noah muss jetzt auch lachen. »Eins zu null für Sie. Wo sind Sie aufgewachsen?«

»Zwischen Schnaps und Chloroform.«

»Wie bitte?«

»In der Mulackstraße. Scheunenviertel. Friedrichstadt.«

Er nickt, als verstünde er. »Im Osten.«

»Ja, im dreckigen Arbeiterosten.«

Seine Stirn ist gerunzelt. »Arbeiter lassen ihre Kinder mit Schnaps und Chloroform spielen?«

»Nein, das waren die Huren.«

»Huren? Prostituierte?«

Sie hat das noch nie erzählt. Fans halten bei ihren Stars nur ein gewisses Maß an Freizügigkeit aus. Sie kommen vielleicht mit einem unehelichen Kind zurecht, sie verzeihen einem zwei, manchmal drei Scheidungen. Sie empfinden Sympathie, wenn man von ganz unten kommt. Ganz unten stehen Arbeiter und Tagelöhner. Das ist das Fundament des Hauses, das unsere Gesellschaft errichtet hat. Wenn die schöne Diva von noch weiter unten kommt, quasi aus dem Kellerloch, dann hört die Bewunderung auf. Dann überwiegt die Scham, die Moral, die geheuchelte Christlichkeit …

Aber was hat Hedi zu verlieren? Sie kann nur noch gewinnen. Zum Beispiel erscheint Noah ihr wie jemand, den ihre Geschichte tief erschüttern wird. Und sie hat doch keine Freude mehr im Leben, außer Chloroform und die Möglichkeit, einen braven jüdischen Reporter von der Ostküste zu schockieren.

Hedi lächelt ihn an. »Ja, bei ihnen bin ich aufgewachsen. Bei Prostituierten, Fosen, Dominas, Strichern, Burschen, Kontrollmädchen, Stiefeldamen. Huren eben.«

»Sie haben als Kind unter Huren gelebt?«

»Sie sagen das, als sei es etwas Schlechtes.« Sie legt den Kopf schief und betrachtet ihn, während er nach Worten sucht.

»Na ja, ich …«

»Sie, Noah …« Hedi lehnt sich vor und flüstert: »Sie haben keine Ahnung.«

Berlin, 1927

Das Bett wackelt. Zwischen den Kissen nackte Haut,