Literarische Erfahrung - Robert Vellusig - E-Book

Literarische Erfahrung E-Book

Robert Vellusig

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Beschreibung

Mit vielen Tipps für die Schulpraxis! Wer liest, macht Erfahrungen. Das ist der Ausgangspunkt für die Überwindung eines zentralen Problems: Viel zu oft führen die Vorgaben des Interpretationsaufsatzes zum Verlust der Lesebegeisterung. Verhindern lässt sich das durch eine Didaktik der literarischen Erfahrungsbildung: Verstehen beginnt mit der persönlichen Leseerfahrung; sie im Austausch mit anderen zu artikulieren ist die eigentliche Aufgabe des Literaturunterrichts. Ein Plädoyer für eine grundlegende Neuorientierung des Literaturunterrichts.

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Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hans Lösener / Robert Vellusig

Literarische Erfahrung

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962341

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962341-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014615-6

www.reclam.de

Inhalt

I Einleitung

II Das Dilemma der Interpretation

1 Erziehung zur Unmündigkeit

2 Routinen und Handicaps

Die Form-Inhalt-Interpretation: Inhaltsparaphrase und Formanalyse

Risiken und Nebenwirkungen der exemplarischen Stoffvermittlung

Der Fabula-docet-Reflex oder das Belehrungsmissverständnis

Die lebensweltliche Banalisierung

Die Fallstricke des Interpretationsaufsatzes

3 Alternative Wege

III Grundbegriffe der Poetik

1 Mimesis: von Personen durch Personen für Personen

2 Mimesis des Sprechens: Rede und Schrift

3 Personalität: Figur und Person

4 Temporalität: Vergegenwärtigung von Prozessen

IV Erfahrung und Interpretation

1 Literarische Erfahrungen

2 Die Kunst des Verstehens

Kreatives Problemlösen

Interpretation und Geltungsprüfung

3 Die Reflexion des Erlebens

V Sprachausbau durch Textualität

1 Die Aufgabe des Deutschunterrichts

2 Vier Lernperspektiven

Sprachrichtigkeit

Sprachangemessenheit

Sprachmündigkeit

Sprachwirksamkeit

VI Lernen durch Erfahrung

VII Erfahrungslernen in literarischen Gesprächen

1 Verstehen und Lernen im Dialog

2 Kein Richtig und kein Falsch?

3 Forschende Literaturgespräche

4 Fragen auf dem Weg zum Verstehen

5 Von der Exposition zur Elaboration

VIII Schreiben und Lesen als Erfahrungsform

1 Schreibformen des Verstehens

2 Hörend und sprechend lesen

IX Rückblick und Ausblick

Literaturverzeichnis

Textnachweise

Zu den Autoren

[7]I Einleitung

Jeder weiß, was literarische Erfahrungen sind, weil jeder, der lesen kann, sie gemacht hat, und weil es so einfach ist, sie zu machen. Es genügt, ein Gedicht zu lesen, ein Hörbuch zu hören, ein Bilderbuch anzusehen: schon stellen sich literarische Erfahrungen ein – wie vielgestaltig auch immer sie sein mögen. Und jeder weiß, dass literarische Erfahrungen für die Sozialisation in die Schriftkultur, für das literarische Lernen und die literarische Bildung von elementarer Bedeutung sind. Denn literarische Erfahrungen sind Erfahrungen glücklichen Gelingens, sie sind verbunden mit Lesegenuss, Vorleseglück und Zuhörfreuden.

All das lässt sich nun aber von der literarischen Interpretation nicht behaupten. Stehen literarische Erfahrungen für die helle Seite des literarischen Lernens, so stellt die Textinterpretation die dunkle Seite des Literaturunterrichts dar. Denn beim Interpretieren hat man es mit Deutungshypothesen zu tun, mit historischem Kontext- und Gattungswissen, mit Fachterminologie, Textbelegen und argumentativer Schlüssigkeit und natürlich mit dem Interpretationsaufsatz, der Königsdisziplin des Literaturunterrichts in der Oberstufe.

Schöne literarische Erfahrung – schreckliche Interpretation! Diesen Stoßseufzer kennen alle, die das Fach Deutsch unterrichten wollen oder es längst tun. Für sie ist dieses Buch geschrieben. Es richtet sich an Studierende, die wissen wollen, wie literarische Erfahrung zur Verstehensbildung führt, was literarisches Verstehen selbst zu einer beglückenden Erfahrung macht und was es dabei eigentlich zu lernen gibt. Es richtet sich an Hochschullehrende, die [8]feststellen, dass Studierende literaturwissenschaftliche Fachbegriffe für Prüfungen memorieren, aber danach nichts mehr mit ihnen anzufangen wissen, und nicht zuletzt an Lehrerinnen und Lehrer, die Orientierung im literaturdidaktischen Denken suchen, wenn es um den Umgang mit Literatur im Unterricht geht. Dabei will der Band keine Einführung in Arbeitsfelder, Konzeptionen und Methoden des Literaturunterrichts geben; er konzentriert sich auf literarische Erfahrungen als Modus der Begegnung, des Erlebens, des Verstehens (und Nicht-Verstehens) und als Lernbereich des Deutschunterrichts.

Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir davon überzeugt sind, dass das ambivalente, hell-dunkle Bild des Deutschunterrichts auf einer Reihe von Missverständnissen beruht, die einer dringenden Revision bedürfen. Dringend ist diese Revision, weil die Arbeit am literarischen Verstehen im Deutschunterricht keinen guten Stand hat und weil der Literaturunterricht selbst, vor allem in den nicht-gymnasialen Schulformen, zu den akut bedrohten Spezies gehört. Denn warum soll man Schülerinnen und Schüler mit Interpretationsritualen traktieren, wenn es so viele Dinge gibt, die wichtiger und angenehmer sind als das Grübeln über Sinn und Bedeutung eines Textes? Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir glauben, dass die Missverständnisse, von denen noch die Rede sein wird, bereits mit der Trennung von literarischer Erfahrung und literarischem Verstehen beginnen. Wer das eine ohne das andere denkt, verkennt beides: die Spezifik der literarischen Erfahrung und den Charakter des literarischen Verstehens. Und darüber wird das eine auf individuelle Anmutungen reduziert, und vom anderen bleiben nur Pflichtübungen für [9]Prüfungssituationen übrig. Wir wollen zeigen, dass es anders geht und wie es anders gehen kann, wenn man die Dinge anders zu denken beginnt.

Unser Ausgangspunkt ist denkbar einfach: Wir gehen von der Literatur selbst aus und davon, was passiert, wenn man anfängt, einen literarischen Text zu lesen. Es geht darum zu erkennen, dass literarische Erfahrungs- und Verstehensprozesse eine untrennbare Einheit bilden und doch unterschieden werden müssen, wenn man die Verstehensbildung in der Erfahrung und die Erfahrungsbildung im Verstehen zu begreifen sucht. Bei unserem Versuch, die Dinge anders zu denken, knüpfen wir an den ältesten Überlegungen an, die zu diesem Thema angestellt wurden, an die Poetik des Aristoteles, die in ihrer Modernität immer wieder zu entdecken ist (vgl. Schmitt in Aristoteles 2011). Es sind nur wenige Begriffe und Konzepte, die man braucht, um das Zusammenspiel von Erfahrungs- und Verstehensbildung bei der Begegnung mit einem literarischen Text zu beschreiben. Auf dieses Minimum beschränkt sich der erste, literaturwissenschaftlich ausgerichtete Teil des Bandes (Kap. II–IV), der mit einer Kritik der schulischen Interpretationsroutinen beginnt, in Grundbegriffe des literarischen Verstehens einführt und Grundformen literarischer Erfahrungsbildung anhand kurzer Leseübungen erläutert. Der zweite, literaturdidaktische Teil (Kap. V–VIII) fragt nach den Lernpotenzialen literarischer Erfahrungsbildung für das sprachliche Lernen im Deutschunterricht, führt in die Didaktik der Verstehensbildung in literarischen Gesprächen ein, stellt Schreibformen vor, die beim Umgang mit Literatur Erfahrung und Verstehen miteinander in Beziehung setzen und erläutert Prinzipien und Methoden des hörenden Lesens.

[10]Auch wenn dieser Band nichts voraussetzt, ist er selbst doch nicht voraussetzungslos. Er verdankt sich unterschiedlichen Begegnungen im Lesen und Denken. Für den literaturwissenschaftlichen Teil waren vor allem die Arbeiten von Gisbert Ter-Nedden wegweisend; für die den gesamten Band prägende Auffassung von einer Anthropologie der Sprache das Werk von Henri Meschonnic. Hinzu kommen zahlreiche andere Lektüre- und Denkwege, die hier nicht aufgezählt werden können. Ebenfalls nicht aufgeführt werden können an dieser Stelle alle lesenswerten Publikationen, die in der Didaktik zu dem Thema erschienen sind.1 Zwei Veröffentlichungen haben das Nachdenken über literarischer Erfahrung in der Didaktik jedoch so wesentlich geprägt, dass sie nicht unerwähnt bleiben können: Kaspar Spinners Basisartikel zum literarischen Lernen in der Zeitschrift Praxis Deutsch aus dem Jahr 2006 (Spinner 2022, 9–37) und Christoph Bräuers und Bernhard Ranks 2008 erschienener Aufsatz Literarische Bildung durch literarische Erfahrung (Bräuer/Rank 2008). Der Erfahrungsbegriff ist nicht nur in Spinners Beitrag zu den elf Aspekten des literarischen Lernens allgegenwärtig (vgl. Lösener in Spinner 2022, 217ff.); die in ihm erwogene Frage, wie [11]Erfahrung und Verstehen einander im Literaturunterricht bereichern können, ist auch für Bräuer und Rank zentral. Der vorliegende Band verfolgt ein ähnliches Ziel, beschreitet dabei aber neue Wege.

[12]II Das Dilemma der Interpretation

Bereits 1964 hat die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag ein leidenschaftliches Plädoyer Against Interpretation gehalten. Es wendet sich nicht pauschal gegen den Versuch, literarische Texte zu verstehen, sondern gegen eine bestimmte Art von interpretatorischer Praxis. Sontag hat ein Verfahren im Sinn, das einzelne Elemente des Textes aus dem Werkganzen isoliert und semiotisch entschlüsselt: »Die Arbeit der Interpretation ist im Grunde eine Übersetzungsarbeit. Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, dass X in Wirklichkeit A ist – oder bedeutet? Dass Y in Wirklichkeit B ist? Dass Z in Wirklichkeit C ist?« (Sontag 2008, 179).

Nun ist die Praxis, von der Susan Sontag spricht, so alt wie die Praxis der Interpretation selbst: Sie steht am Ursprung eines Konflikts, der mit der griechischen Aufklärung in die Welt kam und der als solcher unhintergehbar ist. Was Susan Sontag Interpretation nennt, ist eine kulturelle Praxis, die nach der »gegenwärtigen Brauchbarkeit [seemliness]« eines Textes fragt, dessen Sprache ihr fremd geworden ist (ebd.). In ihr dokumentiert sich ein elementarer Konflikt: der Konflikt zwischen der »ästhetischen Vergegenwärtigung« der Welt in Gestalt von Bildern, Figuren und Geschichten und ihrer »theoretischen Durchdringung« in Form begrifflicher Abstraktionen (Ter-Nedden 1987, 26). Er ist zugleich ein Konflikt zwischen dem, was eine entfaltete Schriftkultur zu denken vermag, und den Weltdeutungsmustern oraler oder protoliteraler Kulturen (vgl. Ong 1987, Havelock 1990, Schlaffer 1990). Die Sprache des Mythos, die der naturwissenschaftlich aufgeklärten Antike [13]fremd wurde, ist die Sprache des Erzählens und seiner personalen, personzentrierten Weltdeutung. Sie prägt noch unsere Alltagssprache und geht allen wissenschaftsförmigen Weisen der Weltaneignung voraus. Aufklärung war und ist ein Prozess der Desillusionierung dieses ichhaften Welterlebens und seiner naiven Intuitionen, die Unterscheidung zwischen der Art und Weise, wie wir die Welt erleben, und dem, was wir über die Welt wissen und mit guten Gründen behaupten können.

Der Konflikt zwischen einer prosaisch-wissenschaftlichen Kultur und einer literarisch-ästhetischen Kultur ist für das Projekt, das wir hier verfolgen, zentral, denn von der Frage, wie sich das, was sich uns in der Sprache der Bilder, Figuren und Geschichten mitteilt, in die Sprache des Begriffs übersetzen lässt, ist die Literaturwissenschaft in besonderem Maße herausgefordert – besteht ihre Aufgabe doch gerade darin, die Artikulationsleistung der poetischen Mimesis, emphatisch gesprochen: die »Lebenswahrheit« der Dichtung (Bruner 1997, 77), zu reflektieren und begrifflich einzuholen. Diese Herausforderung gibt sie an die Literaturdidaktik weiter. In der Schule begegnet sie als Konflikt zwischen der Erfahrung, die wir in der Begegnung mit literarischen Texten machen, und der Frage, wie sich literarische Texte (auf literaturwissenschaftlich angeleitete Weise) interpretieren lassen.

Die Dichter haben sich in diesem Konflikt auf die Seite der Schüler geschlagen: »Die Lektüre«, so Hans-Magnus Enzensberger, »ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzig richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln« (Enzensberger 1976, 432). Enzensbergers Klage ist überholt und doch weiterhin bedenkenswert. Überholt [14]ist sie, weil der Literaturunterricht die »idée fixe« von der »richtigen Interpretation« (ebd.) längst hinter sich gelassen hat. Er versucht, Rezeption und Interpretation gleichermaßen ins Recht zu setzen, und verfolgt zwei voneinander unterschiedene Ziele: Einerseits geht es ihm um den Inhalt und die Form von Texten, die objektiv gegeben sind und die sich deshalb auch objektiv beschreiben lassen, andererseits um die je individuelle Lektüreerfahrung, die immer subjektiv ist und über die sich deshalb nur sprechen lässt, wenn man über sich selbst spricht. Interpretieren ist das, was man lernen kann und was dem Deutschunterricht auch aufgegeben ist; Erfahrungen aber sind und bleiben Privatsache, die sich als Erfahrungen nicht oder nur sehr bedingt schulen lassen.

Enzensbergers Klage ist also überholt; gleichwohl wäre es verfehlt, sie ad acta zu legen. Bedenkenswert bleibt sie, weil die literaturdidaktische Antwort auf die Klage der Schüler, zu deren Sprachrohr sich der Dichter macht, Gefahr läuft, den Prozess des Verstehens und die Erfahrungen, die Lesende in der Begegnung mit literarischen Texten machen, voneinander zu trennen. Der Literaturunterricht, so Christine Garbe, soll den Schülern einen Sinn für literarische Darstellungstechniken und Darstellungsintentionen vermitteln, damit sie in der Lage sind, Texte zu analysieren und zu interpretieren; und er soll sie dazu ermutigen, das »Beteiligungsangebot«, das literarische Texte ihnen machen, kreativ zu nutzen und so das »wertvolle Potenzial von Literatur« zu bewahren (Garbe 2020, 93). Es liegt nahe, diese beiden Lernziele getrennt voneinander zu verfolgen: in Form von »Gesprächen über Literatur« einerseits und »literarischen Gesprächen« andererseits (vgl. ebd., 94f.). Im [15]ersten Fall ist die Lehrperson kraft ihrer wissenschaftlichen Kompetenz »im Besitz der ›richtigen‹ Analyse und Interpretation des Textes«; im anderen Fall versteht sie sich als gleichberechtigter Gesprächsteilnehmer, für den es eine »Deutungshoheit« über den Text nicht geben kann und nicht geben darf (ebd., 95; vgl. Zabka 2015).

Das vorliegende Buch versucht das zu vermeiden. Es will zeigen, dass die literarische Erfahrung und das Verstehen literarischer Texte Teile ein- und desselben Prozesses sind, es versucht den Prozess des Verstehens als Prozess der Erfahrung zu denken und es möchte deutlich machen, dass eben darin die Besonderheit literarischer Verstehensprozesse liegt.

Diesem Gedanken liegt ein Literaturverständnis zugrunde, das sich nicht von selbst versteht. Üblicherweise werden literarische Texte als fiktional, selbstreferenziell und mehrdeutig charakterisiert (vgl. Baasner/Zens 2005, 11–15; Garbe 2020, 92); das aber sind, wie noch zu zeigen sein wird, sekundäre Phänomene. Dichtung ist im Kern nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie fiktive Welten darstellt (und die Lizenz hat, das zu tun) oder von sprachlichen Normen abweicht (ohne dafür sanktioniert zu werden): Sie ist – mit Aristoteles zu sprechen: Darstellung von etwas in etwas auf bestimmte Weise, also »etwas Relationales« (Schmitt in Aristoteles 2011, 95): Wer eine literarische Darstellungsleistung nachvollziehen möchte, hat nicht nur den dargestellten Gegenstand zu erkennen, sondern muss sich von der Weise der Darstellung auch dazu anleiten lassen, sich zu ihm in ein Verhältnis zu setzen. Der Prozess des Verstehens hat deshalb, wie Arbogast Schmitt betont, immer auch eine emotionale Dimension: »Wer nicht begreift, dass Ödipus, indem er den Mörder des Laios verflucht, [16]zugleich sich selbst verflucht, wird nicht nur nicht in Furcht um ihn geraten, er wird überhaupt nicht emotional bewegt sein« (ebd.; vgl. 198ff.).

Darstellung von etwas in etwas auf bestimmte Weise: Die moderne Literaturtheorie hat sich darauf beschränkt, dieses Von-Etwas der Literatur als ihr »Aboutness« (Arthur C. Danto) zu bezeichnen. Literarische Texte handeln von etwas. Aber das ist so wahr wie nichtssagend. Die hier vorgeschlagene Antwort auf die Frage nach dem, was »das erste« (Aristoteles 1982, 5) ist, was sich über Literatur sagen lässt und über Literatur gesagt werden muss, ist schlichter, aber dezidierter: Fürs Erste mag es reichen zu sagen: Literarische Texte sind »verbale Zweitfassungen« des einzel- und zwischenmenschlichen Lebens, Erlebens und Handelns (Ter-Nedden 1997/98, 209). Ihr Gegenstand sind Handelnde und Handlungen. Sie vergegenwärtigen Weisen, Person zu sein und sich als Person zu sich selbst und anderen handelnd zu verhalten. Darin liegt ihre unaufhebbare Subjektivität (und zugleich auch ihre Unverzichtbarkeit). Und weil das so ist: weil literarische Texte personales Leben und Handeln vergegenwärtigen, ist die literarische Erfahrung selbst das erste und vielleicht auch das einzige Tor zur Literatur.

Nun ist die Frage, was das Erste und Grundlegende der Literatur ist, mit der Frage nach dem Ersten und Grundlegenden des Literaturunterrichts nicht identisch – sie liegt ihr voraus und zugrunde. Die Frage des Literaturunterrichts ist die Frage, auf welchem Weg Lehrende Lernende mit literarischen Texten vertraut machen und ihnen die Möglichkeit und den Spielraum erschließen, diese eigenständig zu erkunden. Die literaturtheoretischen [17]Orientierungen können in ihr aber nicht umstandslos thematisiert, sie müssen zunächst vorausgesetzt werden. Das ist vielleicht der Grund, weshalb ein »Gespräch über Literatur« die Schüler zu überfordern und zu übervorteilen droht. Nicht (nur) ein privilegiertes Wissen, nicht (nur) eine Deutungshoheit – eine andere Sprache trennt Lehrende und Lernende voneinander (vgl. Kap. VII.2).

Martin Wagenschein hat diese Sprache die »Sprache des Verstandenen« genannt und von der »Sprache des Verstehens« unterschieden (vgl. Ruf/Gallin 2011, 25). Die Sprache des Verstandenen ist die Sprache, die jemand spricht, dem sich sein Gegenstand begrifflich erschlossen hat. Es ist die Sprache der Experten, die wissen, was Sache ist, die wissen, wovon sie sprechen, und die gelernt haben, das diszipliniert zu tun. Die Sprache des Verstandenen ist geprägt durch das begriffliche Inventar, mit der eine Disziplin ihren Gegenstand konturiert. Die Sprache des Verstehens hingegen ist die Sprache, mit der man unvertrautes Terrain erkundet – eine tastende Kontaktnahme, die auf die Lizenz angewiesen ist, ins Blaue hinein zu formulieren, eine »Sprache im Fluss«, »im Gespräch geschaffen und weiterentwickelt«, durchdrungen »von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen« (ebd.).

Die Sprache des Verstandenen ist einer Karte vergleichbar, die es den Erfahrenen und Kundigen erlaubt, sich in einem Gebiet zurechtzufinden und Wege des Verstehens zu bahnen. Schüler aber müssen allererst lernen, dass es solche Karten gibt, und sie müssen lernen, sie zu benutzen. Zunächst sind sie auf eigene Faust unterwegs und das erste Lernziel des Literaturunterrichts kann deshalb nur darin bestehen, die Schüler auf ihren Streifzügen kundig zu [18]begleiten, damit sie zweierlei lernen: dass es sich überhaupt lohnt, sich im Gebiet der Literatur umzutun, und dass es vielleicht sogar gewinnbringend ist, die Karte der Literaturwissenschaft kennenzulernen. Nur wer sich auf die Sprache des Verstehens einlassen darf, kann auch einen Sinn dafür entwickeln, dass es sich lohnt, die Sprache des Verstandenen zu erlernen.

Der erste Teil des Buches ist den Kartierungsversuchen der Literaturwissenschaft gewidmet und der Kunst, die Karten der Disziplin sinnvoll zu nutzen. Der zweite Teil gilt der Erschließung des Gebiets, der Literaturvermittlung im Rahmen eines integral konzipierten Deutschunterrichts, und den Herausforderungen, vor die Lehrerinnen und Lehrer gestellt sind.

1 Erziehung zur Unmündigkeit

Die Schulung des Umgangs mit dem Gegenstand beginnt mit der Förderung des Interesses für den Gegenstand. Nur sie erlaubt es, authentische Erfahrungen mit diesem Gegenstand zu machen. Auch deshalb steht am Anfang des Literaturunterrichts die literarische Erfahrung. Das Mittel der Wahl, sie zu fördern, liegt im Versuch, sie zur Sprache zu bringen und sich dem zuzuwenden, was befremdet oder fasziniert, was unverständlich ist oder unmittelbare Resonanz erzeugt. Fragend entwickelte Unterrichtsgespräche stehen im Verdacht, diese Begegnung mit dem Gegenstand zu verhindern. Nicht zu Unrecht, aber die Barrieren, die sich im Literaturunterricht etabliert haben, sind größer, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie sind Teil des [19]didaktischen Brauchtums und sie gehören zu den Vorgaben, die nicht nur in vielen Interpretationshilfen, sondern auch in den Lehrplänen und den Erwartungshorizonten für das Abitur anzutreffen sind.

Wenn hier von einer Erziehung zur Unmündigkeit die Rede ist, dann gilt diese Klage einem Dilemma, vor dem, wer Literatur und Lernende liebt, die Augen nicht verschließen darf: Der Literaturunterricht soll zum Verstehen literarischer Texte anleiten und das Verständnis literarischer Texte fördern – die Praxis aber zeigt, dass er nicht selten das Gegenteil erreicht. Allzu oft tragen die Lernformate des Literaturunterrichts selbst zur Unmündigkeit des Verstehens bei. Die Muster des Interpretierens lassen den Schülern wenig Raum, ihre eigenen Erfahrungen zur Sprache zu bringen oder, grundlegender noch: eine solche Sprache zu entwickeln.

Die Unmündigkeit, in die die Schüler interpretierend geraten, zeigt sich zunächst daran, dass sich ihre Aufmerksamkeit unwillkürlich vom Text auf die Lehrperson verschiebt. Fragen nach dem Verständnis des Textes oder einzelner Passagen werden von den Schülern als Prüfungsfragen wahrgenommen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Text, sondern versuchen zu ergründen, was der Lehrer von ihnen hören möchte. Sie unterstellen, dass es da ein Wissen gibt, das der Lehrer hat und sie selbst auch haben sollten. Einen Text zu verstehen, bedeutet dann, die Fragen des Lehrers richtig zu beantworten. Dieses Missverständnis trennt die Schüler von ihren Leseerfahrungen und provoziert die Vorstellung, dass die eigene Interpretation nur in seltenen Fällen die richtige Interpretation ist.

[20]2 Routinen und Handicaps

Die Form-Inhalt-Interpretation: Inhaltsparaphrase und Formanalyse

Die ängstliche Orientierung an der Erwartung des Lehrers zeigt, wie schwer es ist, die Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, ohne sie zu gängeln. Das Literaturverständnis, das den Unterricht prägt, macht die Aufgabe nicht leichter. Nicht selten stützen sich Lehrende auf ein Verständnis von Literatur, das zwischen dem paraphrasierbaren Inhalt eines Textes und dessen formalen Merkmalen unterscheidet. Diese Form-Inhalt-Unterscheidung hat sich im Deutschunterricht als besonders krisenfest erwiesen (vgl. Lösener 2009). Sie verbindet die Verständigung über das, was der Text ›eigentlich‹ sagt, und die Klärung dessen, was in der fiktiven Welt der Fall ist, mit der Analyse seiner literarischen Techniken. Das geschieht z. B. dadurch, dass man ein Gedicht zunächst metrisch und rhetorisch analysiert und dann die poetischen Bilder paraphrasiert oder nach dem Modell »A steht für B« (oder »A meint eigentlich B«) auflöst. Die Kunst der Interpretation besteht dann darin, die vom Inhalt zunächst unterschiedene Form des Textes wieder auf seinen Inhalt zu beziehen und danach zu fragen, in welchem Verhältnis Inhalt und Form zueinander stehen. So wird »das im Gedicht Gesagte auf ein Gemeintes reduziert« (ebd., 21).

Diese Form-Inhalt-Interpretation kann im glücklichen Fall zwar lehren, wie man literarische Texte analysiert; was es heißt, literarische Texte zu verstehen, wird damit aber nicht geschult. Analysen sind keine Interpretationen; sie [21]beschreiben literarische Texte und klassifizieren sie mithilfe textanalytischer Kategorien, aber sie interpretieren sie nicht, d. h. sie geben keine Antwort auf die Frage, weshalb literarische Texte so sind, wie sie sind. Weshalb Texte so sind, wie sie sind, kann man ihnen nicht ansehen; dazu bedarf es eines Deutungshorizonts, der mit der noch so genauen Beschreibung des Textes nicht identisch ist (vgl. Kindt 2015).

Risiken und Nebenwirkungen der exemplarischen Stoffvermittlung

Wenn die Schüler den Eindruck haben, dass die Lehrer etwas wissen, das ihnen verborgen ist, dann haben sie damit durchaus recht. Denn die schulische Interpretation vermittelt nicht nur textanalytisches Wissen, sondern auch kanonische Deutungen kanonischer Texte. Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten ist deshalb in nicht zu unterschätzendem Maß Teil der Stoffvermittlung. Vermittelt werden dabei nicht nur kanonische Deutungen, sondern auch Deutungshorizonte: Handbuchwissen über literarische Epochen und Strömungen, literarische Gattungen und Autoren. – Das ist als solches nicht falsch, ganz im Gegenteil. Die Vermittlung von Sinnhorizonten, die es erleichtern, einen Text verständnisvoll nachzuvollziehen, droht aber immer auch, Versatzstücke des Verstehens zu generieren, die den Blick auf den einzelnen Text eher verstellen, als ihn zu schärfen.