Literarisches Lernen. Aufsätze - Kaspar H. Spinner - E-Book

Literarisches Lernen. Aufsätze E-Book

Kaspar H Spinner

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Selten hat ein Aufsatz zur Literaturdidaktik so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie Kaspar H. Spinners Elf Aspekte des literarischen Lernens von 2006, die standardisierbare Kompetenzorientierung und literarisches Lernen zu verbinden suchen. Dass hinter der vielzitierten, griffigen Taxonomie dieses Aufsatzes aber viel mehr steht, nämlich eine Gesamttheorie des Literaturunterrichts, macht dieser Band sichtbar, der neben den Elf Aspekten acht weitere Aufsätze zum Thema enthält. Das konzise Nachwort von Hans Lösener arbeitet Zusammenhänge heraus und verortet Spinners Position in der gegenwärtigen Literaturdidaktik. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 242

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kaspar H. Spinner

Literarisches Lernen

Aufsätze

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962020-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014235-6

www.reclam.de

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Literarisches Lernen

Elf Aspekte literarischen Lernens

Literarisches und medienästhetisches Lernen

Sachtexte und literarisches Lernen

Lesen, Hören und Schreiben

Methoden: Vielfalt, aber keine Beliebigkeit

Explizites und implizites literarisches Lernen

Literatur

Sprachlich-literarische Bildung oder Lese-, Sprech- und Schreibkompetenz?

1 Die Infragestellung des Begriffs »Bildung«

2 Gründe für den Kompetenzbegriff

3 Ein Mehrebenenmodell als Vermittlungsvorschlag

4 Beispiel zur Verbindung sprachlicher und literarischer Bildung

5 Schluss

Literatur

Kreatives Schreiben zu literarischen Texten

1 Theorie

2 Kreativität und Imitation – ein Widerspruch?

3 Zusammenfassung der Zielsetzungen

4 Typologie der Verfahren und ihre Leistung

5 Klassenarbeiten und Bewertungsproblematik

Weiterführende Literatur

Werteorientierung im literarisch-ästhetischen Unterricht

Erziehender Literaturunterricht

Kohlberg und die Folgen

Literatur und das Leiden an der Domestizierung

Empathie

Literatur

Von der Filmerfahrung zur literarischen Textanalyse

Lesen als Kino im Kopf

Funktionale Analyse

Imagination

Personenbeschreibung

Erzähler

Point of view / Perspektive

Zeit

Raum

Symbolisches Verstehen

Figurenkonstellation

Schluss: Vom Film zum Text – der sinnvollere Weg?

Literaturverzeichnis

Ästhetische Bildung und Literaturunterricht

1 Sinnliche Wahrnehmung und Synästhesie

2 Blick für Detail und Komposition

3 Ästhetische Zeit-Erfahrung

4 Atmosphärisches Erleben

5 Imagination

6 Begriffliches und begriffloses Verstehen

7 Symbolisches und parabolisches Verstehen

8 Differenzerfahrung (Alterität, Verfremdung)

9 Reflektierte Subjektivität

10 Unabschließbarkeit der Sinnbildung

Schluss

Literatur

Symbolisches Verstehen als Kernkompetenz des poetischen Verstehens

1 Zum Begriff des symbolischen Verstehens

2 Entwicklung und Förderung des symbolischen Verstehens im Verlauf der Schuljahre

3 Interpretationsstrategien für die Erschließung symbolischer Sinnzusammenhänge

4 Symbolisches Verstehen als Beitrag zur Medienkompetenz (Literatur, Film, Werbetexte)

5 Symbolisches Verstehen in Testaufgaben

Schluss

Primärliteratur

Wie Fachwissen das literarische Verstehen stört und fördert

Störung des Verstehens: Ein empirischer Befund

Gattungswissen

Textanalysewissen

Literaturgeschichtliches (Epochen-)Wissen

Autorenwissen: Autorkonzepte und biographisches Wissen

Intertextuelles Wissen

Lösungswege

Schluss

Literatur

Empathie beim literarischen Lesen und ihre Bedeutung für einen bildungsorientierten Literaturunterricht

1. Wie Literatur Empathie vermittelt

1.1 Held und Gegenspieler

2. Identität und Alterität

3. Schluss

Editorische Notiz und Textnachweise

Nachwort

Literaturhinweise

[7]Vorbemerkung des Autors

Literarisches Lernen ist ein in der Literaturdidaktik heute gern genutzter Begriff, mit dem aber sehr Unterschiedliches bezeichnet wird. Viel zitiert wird die Konkretisierung des literarischen Lernens durch die »elf Aspekte«, die ich in dem gleichnamigen Beitrag vorgeschlagen habe, der zuerst 2006 als Basisartikel in der Zeitschrift Praxis Deutsch erschienen ist und der diesen Band eröffnet. Die Online-Zeitschrift leseräume etwa hat 2015 ein ganzes Heft diesen Aspekten gewidmet, mit Analysen, Kritik und Weiterführungen (http://leseräume.de/?page_id=308). Die weiteren hier abgedruckten Beiträge entstammen Sammelbänden, die im Buchhandel nicht mehr erhältlich sind und behandeln entweder einzelne Aspekte des literarischen Lernens weiterführend, stellen eine Verbindung zu anderen Lernbereichen des Deutschunterrichts (kreativem Schreiben, Filmdidaktik) her oder zeigen, wie literarisches Lernen einen Beitrag zu übergreifenden Bildungszielen leisten kann, also zu dem, was auch als Bildung durch Literatur bezeichnet wird. Es freut mich, dass diese bislang verstreut erschienenen Aufsätze hier erstmals versammelt dem Publikum vorgelegt werden können.

Kaspar H. Spinner

[9]Literarisches Lernen

»Literatur« und »Lernen« – das sind zwei Begriffe, die einander nicht so ohne Weiteres gewogen sind. Der eine assoziiert Fantasie, Spannung, Vergnügen, der andere Nützlichkeit, Überprüfbarkeit und Mühe. Wie kommen die beiden zusammen?

Der Begriff des literarischen Lernens gründet in der Auffassung, dass es Lernprozesse gibt, die sich speziell auf die Beschäftigung mit literarischen, das heißt hier: fiktionalen, poetischen Texten beziehen. Er grenzt sich ab vom Begriff der Lesekompetenz, der – vor allem seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie – stark pragmatisch geprägt ist und sich unterschiedslos sowohl auf literarische als auch auf nichtliterarische Texte beziehen lässt. Dass in der Deutschdidaktik der letzten Jahre der Begriff des literarischen Lernens vermehrt diskutiert wird, hat damit zu tun, dass man der Literatur weiterhin einen wichtigen Stellenwert im Unterricht einräumen und dafür spezifische Lernprozesse beschreiben will. Dass dies sinnvoll ist, zeigt auch eine vertiefende Analyse zu den PISA-Daten. In Ergänzung zur ursprünglichen Rahmenkonzeption von PISA haben Cordula Artelt und Matthias Schlagmüller die erhobenen Daten auch daraufhin untersucht, ob es einen Unterschied in der Kompetenz beim Umgang mit literarischen Texten im Vergleich zum Umgang mit anderen Texten gibt, und signifikante Abweichungen festgestellt (Artelt/Schlagmüller 2004). Sie kommen zur Schlussfolgerung, dass der kompetente Umgang mit literarischen Texten offenbar andere Lese- und Verstehensanforderungen stelle als der Umgang mit anderen Texten (wobei übrigens Jugendliche in Deutschland, im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, bei den literarischen Texten schlechter abschneiden als bei nichtliterarischen Texten). Bei IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) sind von vornherein Daten zum Leseverständnis von literarischen [10]und von Informationstexten auch einer getrennten Auswertung unterzogen worden (vgl. Bos u. a. 2003, S. 79–87).

Literarisches Lernen und Erwerb von Lesekompetenz sind allerdings nicht nur hinsichtlich der Textsorten, um die es geht, voneinander zu unterscheiden, sondern auch bezogen auf die mediale Vermittlung. Lesekompetenz bezieht sich auf das Lesen von Geschriebenem und Gedrucktem, während literarisches Lernen auch auditive und visuelle Rezeptionsformen, also etwa Hörbuch oder Theater, einschließt und deshalb schon vor dem Erwerb von Lesekompetenz eine Rolle spielt: Schon Kleinkinder machen – vor dem Lesenlernen – Bekanntschaft mit literarischen Texten, von den Einschlafliedern bis zum Anhören von Hörkassetten und zu (Puppen-)Theaterbesuchen. Orale Vermittlung von Literatur gewinnt heute auch für Jugendliche und Erwachsene immer größere Bedeutung (vgl. dazu Praxis Deutsch 185/2004 mit dem Titel »Literatur hören und hörbar machen«).

Als Verbindungsglied zwischen den Begriffen Literatur und Lernen kann der Kompetenzbegriff gelten. Er ist in der neuen Bildungstheorie und -diskussion zum Schlüsselbegriff geworden. Bezogen auf den Literaturunterricht bedeutet er, dass für den Umgang mit literarischen Texten bestimmte Kompetenzen zu beschreiben sind, die im Unterricht gefördert werden können. In einem kompetenzorientierten Literaturunterricht richtet man den Blick nicht primär darauf, ob man (zum Beispiel) zu einer angemessenen Interpretation gelangt, sondern darauf, ob die Schülerinnen und Schüler Fähigkeiten erwerben, die dann im Umgang mit anderen Texten wieder zum Einsatz kommen können. Ziel des literarischen Lernens ist in diesem Sinne die literarische Kompetenz (vgl. dazu z. B. Abraham 2005). Das schließt kumulatives Lernen ein und damit die Überlegung, ob und wie das, was man in einer Unterrichtseinheit vermittelt, aufbaut auf dem, was vorher gemacht wurde, [11]und auf weitere Lernprozesse vorbereitet. Diesen Anspruch erfüllt die herrschende Praxis des Literaturunterrichts oft nicht, weil man nur daran denkt, wie man dem jeweils behandelten Werk gerecht werden kann (so erkundigen sich auch Lehrkräfte, die eine Klasse übernehmen, zwar allenfalls danach, welche Texte behandelt worden sind, aber welche Kompetenzen – z. B. welche Untersuchungsstrategien mit welchen Begriffen – im Jahr vorher vermittelt worden sind, interessiert kaum, obschon in einem kompetenzorientierten Unterricht gerade darauf aufzubauen wäre). Zu beachten ist, dass die Fähigkeiten, die an einem Gegenstand erworben worden sind, nicht automatisch auf andere Gegenstände übertragen werden; der Transfer muss im Unterricht immer wieder eigens angeregt und unterstützt werden.

Literarisches Lernen als Erwerb von Lesekompetenz meint mehr als motivierende Leseförderung, die den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Leselust legt. Einem Gegensatz zwischen Leseförderung und literarischem Lernen (wie er in der Vergangenheit zum Teil herausgestellt worden ist) sollte allerdings nicht das Wort geredet werden (vgl. dazu z. B. Rosebrock 1999). Ein genaueres und vertieftes Verstehen von literarischen Ausdrucksweisen kann, didaktisch gut gestaltet, eine positivere Einstellung zum literarischen Lesen unterstützen. Zwar ist es immer noch so, dass vielen Schülerinnen und Schülern im Laufe der Schulzeit durch den Unterricht die Freude an der Literatur ausgetrieben wird, aber es gibt, wie die Lesesozialisationsforschung gezeigt hat, auch die andere Erfahrung, nämlich dass durch den Unterricht die Augen geöffnet worden sind für intensives, vertieftes literarisches Verstehen. Die folgende genauere Bestimmung des literarischen Lernens zielt auf einen Unterricht, der den Schülerinnen und Schülern den Erwerb literarischer Kompetenz als Gewinn erfahrbar macht. Das literarische Lernen wird dabei nicht auf die Fähigkeit der Analyse [12]spezifischer literarischer Ausdrucksmittel (Stilfiguren, Verslehre, Erzähltechnik …) reduziert; im Gefolge insbesondere der werkimmanenten Interpretation hat man zum Teil die Auffassung vertreten, man müsse vor allem durch solche Analyse dem ästhetischen Charakter literarischer Texte gerecht werden. Dabei bleiben jedoch so zentrale Aspekte wie die Imagination oder die Perspektivenübernahme beim Lesen unberücksichtigt. Deshalb wird in der jüngeren Diskussion dezidiert ein weiterer Begriff des literarischen Lernens vertreten. Mit Nachdruck hat die didaktische Forschung auch gezeigt, dass literarisches Lernen nicht nur eine Angelegenheit höherer Klassenstufen ist, sondern von Anfang an schon in der Grundschule wichtig ist (dazu vor allem Waldt 2003) und durch die vorschulische Lesesozialisation, vor allem durch Vorlesesituationen, vorbereitet wird (Wieler 1997).

Ausdrücklich sei betont, dass das literarische Lernen, so wie es im Folgenden dargestellt wird, nicht alle Zielsetzungen des Literaturunterrichts umfasst. Er dient beispielsweise auch der Erschließung von Inhalten (z. B. von moralischen Problemen), der Förderung psychologischer Einsichten, dem sozialen Lernen, dem Einblick in Geistesgeschichte und somit ganz allgemein der Vermittlung von Weltwissen. All dies meint literarisches Lernen hier nicht (bzw. nur in dem Sinn, dass eine bestimmte Art des Umgangs mit solchen Inhalten durch literarisches Lernen angeeignet wird).

Mit dem Kompetenzbegriff stellt die hier vorgestellte Konzeption literarischen Lernens einen Bezug zu den Bildungsstandards her, für die das Prinzip des »kumulativen Kompetenzerwerbs« (so in der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz vom 4. 12. 2003 zu den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss) ebenfalls wichtig ist. Die Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss fassen in einer Rubrik »literarische Texte [13]verstehen und nutzen« explizit Zielsetzungen für den Literaturunterricht zusammen; bei den Bildungsstandards für die 4. Klasse wird zwar nicht getrennt zwischen literarischen und Sach- und Gebrauchstexten, aber es finden sich auch da einzelne Bildungsstandards, die sich speziell auf literarische Texte beziehen. Die einzelnen Standards wirken dann allerdings bei allen Klassenstufen (4, 9 und 10) wie eine unverbundene Aneinanderreihung von Lernzielformulierungen. Es zeigt sich, dass die von der Kultusministerkonferenz vorgesehene Entwicklung schlüssiger Kompetenzmodelle eine Aufgabe ist, die von der Fachdidaktik noch zu leisten ist. In der folgenden genaueren Explikation dessen, was literarisches Lernen ist, verweise ich zumindest andeutungsweise bei einzelnen Aspekten auf die Kompetenzentwicklung im Laufe der Schulzeit. Für das erste bis sechste Schuljahr findet man im Übrigen bei Petra Büker (2002, S. 129–133) eine Art Curriculum des literarischen Lernens. Anhaltspunkte bilden auch die Untersuchungen zur Entwicklung des literarischen Verstehens (knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Eggert/Garbe 1995, S. 22–26), die vor allem in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchgeführt worden sind; sie bedürften allerdings heute einer breiteren empirischen Absicherung.

Elf Aspekte literarischen Lernens

Die im Folgenden angeführten elf Aspekte literarischen Lernens erstrecken sich von der imaginativen Verstrickung in die Lektüre bis zum kognitiven und Distanzierung erfordernden literaturhistorischen Bewusstsein. Alle Aspekte sind jedoch auf allen Klassenstufen relevant (Grundschulkinder begegnen der Historizität von Literatur z. B. anhand altertümlicher Wörter in Märchen).

[14]Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln

Literarische Texte halten zur Vorstellungsbildung an. Otfried Preußler hat das einmal folgendermaßen beschrieben: »Der Leser muß […] nicht nur die stummen Chiffren der Buchstaben entziffern und zu Wörtern zusammenfügen, er muß Wörter und Sätze auch wieder in Bilder umsetzen – mehr noch: er muß sie für sich selber mit allen Sinnen wahrnehmbar machen. Er muß nicht nur sehen, wovon der Autor erzählt, er muß es auch hören, riechen und schmecken, mit Händen ertasten und mit dem Herzen nachfühlen. […] Er befindet sich gewissermaßen in der Rolle eines Regisseurs, dem mein Text als Drehbuch vorliegt, und der meine Geschichte nun anhand dieses Drehbuchs für sich selber in Szene setzen muß.« (Preußler 1998, S. 58 f.)

Die imaginative Vergegenwärtigung sinnlicher Wahrnehmungen ist ein grundlegender Aspekt (literar-)ästhetischer Erfahrung. In den Bildungsstandards für das 4. Schuljahr findet er sich in der Formulierung »lebendige Vorstellungen beim Lesen und Hören literarischer Texte entwickeln« wieder. Das soll, wenn es um das literarische Lernen geht, nicht ein beliebiges Fantasieren sein, sondern ein »Entfalten« (Köppert 1997) dessen, was im Text angelegt ist, und einem vertieften Verstehen dienen. Solche Vorstellungen können sich auf Schilderungen von Landschaften und Räumen, auf einzelne Gegenstände, auf Figuren, auf Geräusche, auf den Nachvollzug von Stimmungen usw. beziehen. Methodisch können kreativ-produktive Verfahren des Umgangs mit Texten die Vorstellungsbildung in besonderem Maße fördern. Im Hinblick auf die Lernprogression geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler zunehmend differenziertere Vorstellungen entwickeln, dabei Flexibilität zeigen (im Laufe einer Lektüre muss man aufgrund neuer Textinformation seine Vorstellungen immer wieder modifizieren) [15]und dabei auch verschiedene Vorstellungen miteinander in Beziehung bringen können (z. B. die Wohnungseinrichtung mit dem Charakter einer Figur). Kinder tendieren oft noch dazu, dem Text einfach eigene Alltagserfahrungen zuzuordnen und in diesen verhaftet zu bleiben, auch wenn der Text andere Perspektiven eröffnet (sog. Egozentrismus im Sinn der Entwicklungspsychologie Jean Piagets). Bei Jugendlichen dagegen besteht die Gefahr, dass sie sich um die Entfaltung von Vorstellungen gar nicht mehr bemühen, sondern mit einer generalisierenden Aussage den Text abtun und damit seine konkrete Anschaulichkeit hinter sich lassen (was manchmal durch einen Literaturunterricht, der nur auf die Intention des Autors oder eine allgemeine Erkenntnis abhebt, unterstützt wird). Es gilt also, im Verlauf der Schuljahre die kindliche Intensität der Vorstellungsbildung zu erhalten und einer zunehmenden Differenzierung, Flexibilität und textorientierten Genauigkeit zuzuführen.

Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen

In den Bemerkungen zur Imagination dürfte schon deutlich geworden sein, dass für intensives literarisches Verstehen persönliches Angesprochensein ebenso wie Aufmerksamkeit für den Text wichtig sind. Subjektive Involviertheit und aufmerksame Textwahrnehmung können sich dabei wechselseitig steigern, und darin liegt auch ein wesentliches Ziel des literarischen Lernens. In der Literaturdidaktik wird seit langem (in der Tradition sowohl der Hermeneutik als auch der Rezeptionsästhetik) das Spannungsverhältnis zwischen Subjektivität und Textbezug thematisiert; dies ist oft so didaktisch modelliert worden, dass von einer subjektiv »bornierten« [16]Erstrezeption (vgl. Kreft 1977, S. 379) zur objektiven Analyse fortgeschritten werden müsse. Diese Abfolge wird allerdings dem Wechselspiel von Subjektivität und Textorientierung, das für literarisches Verstehen kennzeichnend ist, nicht gerecht. So kann zum Beispiel ein Kinderbuch mit einer Hauptfigur, die unter Minderwertigkeitsgefühl leidet (ein Hauptthema gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteratur), zur Projektionsfläche eigener entsprechender Gefühle werden und gerade durch solche Betroffenheit eine intensiv mitvollziehende, genaue Lektüre bewirken. Durch diese können Aspekte wahrgenommen werden, die zunächst in den bewussten Eigenerfahrungen des Lesers nicht präsent sind, so dass es zu erweiterter Selbsterkenntnis kommt. Entdeckungen am Text können also Selbstreflexion anregen, und diese kann wiederum das Interesse an genauer Textwahrnehmung stärken. In solcher Wechselbeziehung zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Textwahrnehmung spielen Prozesse der Verfremdung und des Wiedererkennens eine wichtige Rolle: Man sieht sich und seine Erfahrungen im literarischen Text wie in einem Spiegel und wird zugleich irritiert.

Die didaktisch-methodische Umsetzung dieses Teilaspekts des literarischen Lernens wird durch die Tatsache erschwert, dass er kaum überprüfbar ist; es handelt sich um individuelle Prozesse, die nicht direkt beobachtbar sind und für die die Schülerinnen und Schüler auch den Schutz der Intimität beanspruchen dürfen. In Lesebiografien, wie sie beispielsweise in der Lesesozialisationsforschung erhoben und ausgewertet worden sind, zeigt sich aber, dass gerade dieser Aspekt intensive und langfristig in Erinnerung bleibende Leseerfahrungen bewirkt. Sie sind nicht nur in der privaten Lektüre, sondern auch im Deutschunterricht möglich, wie die positiven Äußerungen zum Literaturunterricht (die es ebenso wie die negativen in der Lesebiografieforschung gibt) immer wieder zeigen. [17]Die Grenzen der Überprüfbarkeit dürfen deshalb nicht zum Argument werden, diesen Aspekt im Unterricht auszuklammern.

In der Grundschule ist es noch relativ unproblematisch, den subjektiven Bezug explizit zum Thema zu machen. Das kann durch das Wiedergeben eigener ähnlicher Erfahrungen, die man mit dem Text vergleicht, geschehen. Mit fortschreitendem Alter der Schülerinnen und Schüler wird man zunehmend die Tatsache nutzen, dass Literatur es ermöglicht, im Gespräch über Fiktion (oder auch in produktiv-kreativer Gestaltung) Eigenes zu verarbeiten, ohne dass anderen deutlich werden muss, wie groß der subjektive Anteil jeweils ist (deshalb verbieten sich Lehrerfragen wie »Wie war das denn bei dir, als du mal verliebt warst?«). Lehrerinnen und Lehrer haben meistens ja durchaus den Blick (oder soll man sagen: das Gespür) dafür, ob ihr Unterricht die Schülerinnen und Schüler in ihrer Person erreicht und ob ein Zuwachs an Komplexität in der individuellen Auseinandersetzung stattfindet.

Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen

Zur genauen Textwahrnehmung, die im vorigen Abschnitt angesprochen worden ist, gehört auch die Aufmerksamkeit für die sprachliche Gestaltung, die für die ästhetische Wirkung literarischer Texte wichtig ist. Sie reicht vom mehr intuitiven Empfinden von Klang und Rhythmus bis zur Textanalyse einschließlich der Sprach- und Stilanalyse. Wichtig ist, dass dabei die Funktion für die ästhetische Wirkung erkannt und erfahren wird. Wenn die Analyse zur bloß formalen Bestimmung etwa von Reimschemata degeneriert und sich von der Klangerfahrung abkoppelt, kann von sinnvollem literarischem Lernen nicht mehr die Rede sein. Schon Grundschulkinder sind offen [18]für einfache literarische Formen wie Parallelismus, Reihung, Wiederholung, Oppositionen, die sich in Kinderliedern, in Bilderbüchern und Erzählungen für Kinder in großer Zahl finden. Überlegungen zum Beispiel darüber, wann Wortwiederholungen in einem Text sinnvoll sind und welche Wirkung sie bei uns auslösen, schulen auf elementarer Ebene die Aufmerksamkeit für sprachliche Gestaltung. So kann die Einsicht in die Abweichung literarischer von alltagssprachlicher Ausdrucksweise angebahnt werden. Anzustreben ist, dass die Schülerinnen und Schüler zunehmend selbstständig Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung anstellen können und dabei eine gewisse Entdeckerfreude entwickeln. Eigene Experimente mit formalen Strukturen, zum Beispiel nach dem Muster literarischer Vorlagen eigene Texte schreiben, können besonders nachhaltig erfahrbar machen, wie mit Gestaltungsformen bestimmte Wirkungen erzielt werden können. Solche produktiven Verfahren zu sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten reichen vom Einsetzen weggelassener Wörter in Texten bis zum Umschreiben in eine andere Erzählperspektive, das erzähltechnische Einsichten vermittelt.

Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen

Bei erzählenden, teilweise auch bei dramatischen und lyrischen Texten spielt für den Leser (oder Hörer) die Wahrnehmung der Figuren eine zentrale Rolle. Dabei kommt die schon erwähnte Imaginationsfähigkeit zum Tragen: Über Figuren wird in literarischen Texten nicht nur informiert, vielmehr gibt der Text Anweisungen, sie sich vorzustellen. Wiederum geht es in der Rezeption um das Wechselspiel zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Textwahrnehmung, und zwar hier im Sinne von Identifikation und Abgrenzung (dazu vor allem [19]Hurrelmann 2003). Ein intensiver Bezug zu literarischen Figuren entsteht in der Regel dadurch, dass man eigene Gefühle und Sichtweisen, auch Wunschvorstellungen anderer Lebensmöglichkeiten im Text wiederfindet; aber zugleich heißt literarisches Verstehen, dass man in der Logik des Textes denkt und auch die Fremdheit von Figuren wahrnimmt. Die Alteritätserfahrung, also die Irritation durch die Andersartigkeit, kann wiederum zu gesteigerter Selbstreflexion führen. In den Bildungsstandards wird die Perspektivenübernahme beim Lesen schon für das 4. Schuljahr ausdrücklich genannt, und zwar mit der Formulierung »bei der Beschäftigung mit literarischen Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen«.

Eine zentrale Rolle für das Figurenverstehen spielt der Zusammenhang von innerer Welt (Gefühle, Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen der Figuren) und äußerer Handlung, der in den Texten zum Teil explizit entfaltet ist, oft aber auch, ausgehend von den Signalen im Text, vom Leser erschlossen werden muss. Da insbesondere moderne Literatur den Schwerpunkt stärker auf die inneren psychischen Prozesse der Figuren legt, kommt der Perspektivenübernahme von der mitfühlenden Empathie bis zur kognitiven Auseinandersetzung mit Fremdheit eine zunehmende Bedeutung zu. Das gilt schon für die Kinder- und Jugendliteratur, bei der in den letzten Jahren eine starke Psychologisierung stattgefunden hat (das gilt sogar für das Bilderbuch).

Neben der differenzierten Wahrnehmung einzelner Figuren und ihrer Innenwelt spielt für das literarische Verstehen das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren eine Rolle. Damit ist ein Hauptthema von Literatur angesprochen, das im Drama am stärksten zur Entfaltung kommt. Neben der äußeren Interaktion geht es in literarischen Texten um die inneren Verwicklungen, darum, wie Zuneigung, Liebe, Hass, Eifersucht, [20]Minderwertigkeitsgefühle, Gleichgültigkeit usw. das Zusammenleben von Menschen bestimmen.

Für die Fähigkeit der literarischen Perspektivenübernahme kann aufgrund der bisherigen einschlägigen Forschung ein Entwicklungsverlauf festgestellt werden, der Grundlage für die Erarbeitung eines Kompetenzstufenmodells sein könnte (dafür wären allerdings noch vertiefende empirische Untersuchungen notwendig). Auf einer elementaren Ebene verstehen Kinder literarische Texte überwiegend aus der Perspektive einer einzigen Figur, mit der sie sich aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrung identifizieren können. Eine zweite Stufe ist erreicht, wenn der Unterschied zwischen Figuren (bezogen auf ihren Charakter, ihre Gefühlsregungen, ihre Ansichten) genau erkannt wird. In einfacher Form stehen solche Wahrnehmungen noch unverbunden nebeneinander. Wenn auch die unterschiedlichen Sichtweisen, Einstellungen usw. der Figuren aufeinander bezogen und der Zusammenhang mit ihrer Lebenswelt benannt werden kann, ist wiederum eine höhere Stufe erreicht. Noch anspruchsvoller ist es, auch die Erzählweise und damit die Perspektivierung durch den Erzähler ins Spiel zu bringen (z. B. Ironisierung der Figurendarstellung bei Thomas Mann). Alle genannten Aspekte miteinander in Verbindung bringen zu können, würde eine besonders elaborierte Form des Figurenverstehens bedeuten (die Darstellung ist hier in Anlehnung an Andringa 2000, S. 94 f. vorgenommen worden). Ergänzend zu diesem auf die Interaktion von Perspektiven abhebenden Modell zeigt sich Lernzuwachs auch darin, dass Schülerinnen und Schüler immer besser mit ambivalenter (widersprüchlicher, uneindeutiger, unstabiler) innerer Verfasstheit von Figuren umzugehen wissen. Das bedeutet zum Beispiel, dass mit Kategorien wie gut/böse, traurig/froh, willentlich/unwillentlich usw. beim Interpretieren zunehmend flexibler umgegangen wird.

[21]Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen

Mit dem Verweis auf die Bedeutung, die dem Beziehungsgeflecht der Figuren in literarischen Texten zukommt, ist schon angesprochen, dass für kompetentes literarisches Verstehen die Herstellung innertextlicher Bezüge wichtig ist. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der literarische Text nicht primär auf außertextliche reale Gegebenheiten verweist; die literarische Welt muss aus dem Textzusammenhang erschlossen werden. Den Bottom-up-Prozessen (vom Einzelnen zum Ganzen), wie die Kognitionspsychologen sagen, kommt so beim literarischen Lesen eine besonders große Bedeutung zu. Vieles versteht man nur, wenn man es in Beziehung setzen kann zu etwas, was schon vorher im Text gestanden hat. Was in der Alltagswahrnehmung als zufällig gelten kann (z. B. die Farbe des Kleides einer Person), gewinnt im literarischen Text Bedeutung, weil es in die Logik des Textes eingebunden ist. Im Gegensatz etwa zu einem argumentierenden Text, bei dem in der Regel logische Verknüpfungen explizit hergestellt werden, überlässt der literarische Text die Herstellung der Zusammenhänge stärker dem Leser. Fontane sagt nicht explizit, welche Bedeutung Effis Schaukeln für den Sinnzusammenhang des Romans besitzt, das muss der Leser selbst erschließen, und ebenso muss das lesende Kind in Kirsten Boies Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein selbst aus den verschiedenen Stellen, bei denen der Wunderstein eine Rolle spielt, dessen Bedeutung erfassen. Für Lesende, die solche Bezüge erkennen (oder besser: herstellen) können, werden die Texte aussagekräftiger, aspektreicher und damit interessanter.

Schon in der Grundschule muss der Blick auf den Textzusammenhang, darauf, dass vieles sich nur erschließt, wenn man verschiedene Textstellen zueinander in Beziehung setzt, unterstützt werden. Im weiteren Verlauf der Schulzeit kann [22]dies an zunehmend komplexen Texten erfolgen, auch solchen, die teilweise Kohärenzbildung verweigern (etwa moderne Theaterstücke) oder durch nichtlineares Erzählen erschweren.

Mit Fiktionalität bewusst umgehen

Dramaturgische und narrative Handlungslogik hängen mit dem fiktionalen Charakter literarischer Texte zusammen; mit Fiktionalität ist hier die Tatsache gemeint, dass literarische Texte nicht direkt auf die außertextliche Wirklichkeit verweisen, sondern ein eigenes Bezugssystem schaffen. Kinder tun sich noch schwer, den Unterschied zwischen fiktionalen Texten und direkten Wirklichkeitsaussagen zu erkennen. Unvertraut ist ihnen Fiktionalität allerdings nicht, denn in ihren Rollenspielen praktizieren sie sie selbst. So geht es in gewisser Weise darum, etwas ins Bewusstsein zu heben, was ihnen schon intuitiv vertraut ist.

Nun ist allerdings Fiktionalität durchaus kein einfaches Phänomen, da in der Literatur in vielfacher Weise Fiktion und Realitätsbezug ineinander verwoben werden. Gerade die moderne Literatur bewegt sich oft auf der Grenzlinie zwischen beidem – zum Beispiel wenn Uwe Timm in Am Beispiel meines Bruders von authentischen Dokumenten ausgeht, aber in seiner Suche nach der Wahrheit das Vergangene in der eigenen Fantasie rekonstruieren muss und es mit literarischen Mitteln zur Darstellung bringt. Auch die parabolischen Bedeutungen literarischer Texte, wenn also mit Mitteln der Fiktion Erkenntnisse oder ein Nachdenken über die Wirklichkeit vermittelt werden sollen, gehören zum Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeitsbezug.

Ein aspektreiches, schon Grundschulkindern zugängliches einschlägiges Phänomen sind die Tierfiguren in literarischen [23]Texten. Sie erscheinen oft so vermenschlicht, dass der fiktionale Charakter deutlich erkennbar ist. Dann gibt es aber die Bücher, die sich auf Erkenntnisse der biologischen Forschung beziehen wie Marion Dane Bauers Wolfsgeschichte Winzling (München: dtv, 2005); das ist zwar ein fiktionaler Text, aber die Autorin will, wie sie im Nachwort ausführt, durchaus auch etwas vom tatsächlichen Verhalten von Wölfen vermitteln. So erhält die Erzählung teilweise Aspekte eines Sachbuches. Die Bemerkung im Nachwort »Winzling und sein Rudel sind natürlich frei erfunden. Doch fast alles, was die Wölfe in dieser Geschichte tun – außer dem Sprechen –, beruht auf den Beobachtungen von Wolfsexperten« zeigt den Doppelcharakter, der in dieser Weise auch für Grundschulkinder nachvollziehbar ist. Im Verlauf der Schuljahre kann der Umgang mit dem Problem der Fiktionalität bis zu erkenntniskritischen Fragen führen. Ein Konstruktivist würde sagen, dass auch das, was wir für Wirklichkeit halten, Fiktion sei.

Weil Fiktion und Wirklichkeit keine einfachen Gegensätze sind und weil gerade darin vielfältige Wirkungsmöglichkeiten von Literatur liegen, trägt das Heft von Praxis Deutsch, das diesem Thema gewidmet ist, auch den Titel Vom Spiel der Fiktionen mit Realitäten (180/2003).

Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen

Das Verstehen metaphorischer und symbolischer Ausdrucksweise gilt vielen Lehrerinnen und Lehrern als zentrale Zielsetzung des Literaturunterrichts (die Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss sprechen von »sprachlichen Bildern«, diejenigen für den Mittleren Schulabschluss erwähnen ergänzend die »Metapher«). In der neuesten Theorie ist allerdings nicht mehr unbestritten, dass Metaphorik wirklich ein [24]Kennzeichen von Literarizität ist, denn Metaphern sind ein verbreitetes Phänomen gerade auch nichtliterarischer Sprache (man denke z. B. an Maus, Menü, Ausschneiden, Fenster in der Computersprache). In literarischen Texten funktionieren Metaphern und Symbole jedoch nicht so wie in der Alltagssprache. Wenn ich von der Maus meines PCs spreche, stelle ich mir nicht eine tatsächliche Maus vor. In literarischen Texten ist dagegen auch die wörtliche Bedeutung präsent. Wenn Eichendorff in seinem berühmten »Mondnacht«-Gedicht formuliert »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus«, wäre es nicht angemessen, nur eine übertragene Bedeutung wahrzunehmen; vielmehr geht es darum, dass in diesem Gedicht mit dem »Ausspannen der Flügel« eine Imagination des Fliegens geschaffen wird. In ähnlicher Weise ist auch symbolische Ausdrucksweise nicht einfach aufzulösen in eine abstrakte Bedeutung, sondern auf der Bildebene ernst zu nehmen.

Metaphern und Symbole ordnen sich in literarischen Texten in der Regel in einen satzübergreifenden Bildzusammenhang ein; so erscheint das bildhafte Motiv des Fliegens in Nicky Singers Jugendroman Norbert Nobody oder Das Versprechen (München: dtv, 2002) in mehrfacher Variation und verbindet die verschiedenen Handlungsstränge auf metaphorisch-symbolischer Ebene (ein wirkliches Fliegen findet in dieser Geschichte nicht statt).

Kinder können Metaphern und Symbole noch kaum erklären; das heißt aber nicht, dass sie kein intuitives Verständnis dafür haben, etwa für den Wald als den Ort der Gefahr und der Bewährung im Märchen. Einfache Zugänge zu symbolischen Bedeutungsdimensionen können beispielsweise dadurch erfolgen, dass man mit eigenen Bedeutungsassoziationen und dem Bezug zur Sichtweise von literarischen Figuren arbeitet, zum Beispiel: »Was fällt dir zu ›Wald‹ ein, was bedeutet der Wald für Rotkäppchen, für Hänsel und Gretel?« Damit soll [25]deutlich werden, dass »Wald« in einem literarischen Text einer Bedeutungsanreicherung unterliegt und dass diese aus dem Textzusammenhang (also nicht nur aus den eigenen Assoziationen) erschlossen werden kann. Im Verlauf der Schulzeit kann immer bewusster an den metaphorischen und symbolischen Zusammenhängen in einem Text gearbeitet werden. Auch hier geht es, wie bei der Handlungslogik, darum, nach Bezügen innerhalb des Textes zu suchen. Erst sie können zeigen, ob ein Fluss in einer Geschichte beispielsweise mit Vergänglichkeit oder mit Heimatlosigkeit oder mit Freiheit usw. in Verbindung gebracht werden kann. Das Wissen um tradierte Symbolik kann bei der Interpretation helfen, aber immer ist am Text zu prüfen, ob eine symbolische Bedeutung im konkreten Fall tatsächlich plausibel ist. Es gibt in den oberen Schulklassen die Gefahr sehr willkürlicher, spekulativer Symboldeutungen (wie es in der Literaturwissenschaft die Gefahr spitzfindiger Überinterpretation gibt). Eine gewisse Vorsicht gehört deshalb auch zum kompetenten Umgang mit Metaphorik und Symbolik – das schließt ein, dass es durchaus angebracht ist, Deutungen als möglich zu bezeichnen (etwa: kann man einen Bezug sehen …). Dies führt zum folgenden Aspekt.

Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen

Die reflektierende Vorsicht, die beim Deuten angebracht ist, wird auch nahegelegt durch die Tatsache, dass literarische Texte Sinnbildungsprozesse anregen, die nicht ohne Weiteres zu einem definitiven Ende kommen (so wie ein Symbol nicht einfach in eine feste abstrakte Bedeutung übertragen werden kann). Dies hat in literaturwissenschaftlicher Sicht vor allem die Rezeptionsästhetik und die Dekonstruktion [26]herausgearbeitet. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, mit dieser Offenheit literarischer Texte umzugehen. Das fällt ihnen nicht immer leicht, weil sie – wesentlich bedingt durch die schulische Sozialisation – feste Ergebnisse haben möchten. Ziel von Literaturunterricht darf aber nicht sein, den Texten jede Rätselhaftigkeit zu nehmen, vielmehr geht es gerade um die Bereitschaft, sich in Verstehensprozesse verwickeln zu lassen, die kein bündiges Ergebnis versprechen und deshalb aspektreich sind. Das schließt ein, auf ungewohnte Ausdrucksformen nicht mit vorschneller Abwehr zu reagieren. Nur so kann Literatur auch ihre Funktion als Problematisierungsmedium entfalten. Dass sie sich nicht einfach einfügt in das routinierte Alltagsverstehen, führt durchaus zu Irritation, aber macht immer wieder auch ihre Faszination aus.