Lob der Erde - Byung-Chul Han - E-Book

Lob der Erde E-Book

Byung-Chul Han

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Beschreibung

Der international renommierte Philosoph Byung-Chul Han widmet sich der Schönheit der Erde und der Natur. Ein ungewöhnliches Buch über die Arbeit im Garten, über Jahreszeiten und die Romantik, über ein verändertes Zeitgefühl, Kants "Kritik der reinen Vernunft" und Schuberts "Winterreise". Eines Tages fasst Byung-Chul Han den Entschluss, sich täglich der Gartenarbeit zu widmen. Drei Frühlinge, Sommer, Herbste und Winter tut er dies. Seinen Berliner Garten nennt er Bi-Won (koreanisch: Geheimer Garten). Je länger er dort verweilt, desto mehr Respekt bekommt er vor der Schönheit der Erde. Er erfährt, was Fürsorge bedeutet und dass der Garten, ja jede Pflanze ein eigenes Zeitbewusstsein hat. Er lernt wieder, über die Erde zu staunen, über ihre Fremdheit, über ihre Einmaligkeit. Hans Philosophie des Gartens ist ein Liebesbekenntnis an die Erde und die Natur und ein Aufruf an die Menschheit, sie zu schonen.

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Das Buch

In »Lob der Erde – Eine Reise in den Garten« präsentiert sich Byung-Chul Han als leidenschaftlicher Gärtner. Drei Jahre lang hat er bis zur körperlichen Erschöpfung umgegraben und einen geheimen Garten auf-gebaut. Alle Jahreszeiten hat er durchlebt und berichtet davon in seinem Gartentagebuch. Bei seiner Gartenarbeit meditiert er philosophisch über veränder-tes Raum- und Zeitgefühl, über Warten, Geduld und Hoffnung, über Farben, Licht und Düfte, über Hortensien und Funkien, über Schuberts »Winterreise« und Romantik, über Leben und Sterben. Entstanden ist ein unzeitgemäßes Lob der Erde: Das Buch ist ein entschlossener Gegenentwurf zur digitalisierten Gesellschaft von heute. Es beschwört eine terrare Ordnung, eine kommende Erde. Angesichts der verheerenden Naturkatastrophen von heute ist es eine Warnung und ein Versprechen zugleich.

Der Autor

Byung-ChulHan, geboren 1959, studierte in Freiburg im Breisgau und in München Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter »Die Austreibung des Anderen«, »Die Errettung des Schönen«, »Die Müdigkeitsgesellschaft«, »Psychopolitik« und »Agonie des Eros«.

BYUNG-CHUL HAN

Eine Reise in den Garten

Mit Illustrationen von Isabella Gresser

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1754-0

© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlagabbildung: Isabella GresserUmschlaggestaltung: Rudolf Linn

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Motto

VORWORT

WINTERREISE

WINTERGARTEN

DIE ZEIT DES ANDEREN

ZURÜCK ZUR ERDE

ROMANTISIERUNG DER WELT

WINTERKIRSCHE

WINTERLINGE UND ZAUBERNUSS

SCHNEEFORSYTHIE

ANEMONEN

KAMELIEN

WEIDENKÄTZCHEN

KROKUSSE

FUNKIEN

ÜBER DAS GLÜCK

SCHÖNE NAMEN

VICTORIA AMAZONICA

HERBSTZEITLOSE

EIN TAGEBUCH DES GÄRTNERS

31. Juli 2016

7. August 2016

12. August 2016

23. August 2016

19. September 2016

29. September 2016

17. Oktober 2016

27. Oktober 2016

18. November 2016

27. November 2016

3. Dezember 2016

12. Dezember 2016

24. Dezember 2016

9. Januar 2017

19. Januar 2017

29. Januar 2017

27. Februar 2017

2. März 2017

17. März 2017

19. März 2017

21. März 2017

2. April 2017

5. April 2017

9. April 2017

15. April 2017

23. April 2017

2. Mai 2017

9. Mai 2017

14. Mai 2017

18. Mai 2017

26. Mai 2017

8. Juni 2017

12. Juni 2017

14. Juni 2017

17. Juni 2017

19. Juni 2017

21. Juni 2017

25. Juni 2017

30. Juni 2017

1. Juli 2017

10. Juli 2017

12. Juli 2017

17. Juli 2017

20. Juli 2017

21. Juli 2017

23. Juli 2017

25. Juli 2017

11. August 2017

15. August 2017

21. August 2017

25. August 2017

29. August 2017

3. September 2017

20. November 2017

Bilderverzeichnis

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Frage doch das Vieh, das wird dich’s lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir’s sagen.

Oder rede mit der Erde, die wird dich’s lehren, und die Fische im Meer werden dir’s erzählen.

Wer erkennte nicht an dem allen, daß des HERRN Hand solches gemacht hat?

Hiob 12, 7–9

VORWORT

Eines Tages spürte ich eine tiefe Sehnsucht, ja ein akutes Bedürfnis, der Erde nahe zu sein. So habe ich den Entschluss gefasst, tagtäglich zu gärtnern. Drei Frühlinge, Sommer, Herbste und Winter, also drei Jahre lang, arbeitete ich im Garten, den ich Bi-Won (koreanisch: Geheimer Garten) genannt habe. Auf dem herzförmigen Schild, das mein Vorgänger an einem Rosenbogen angebracht hatte, steht noch Traumgarten. Ich habe es so belassen. Mein Geheimer Garten ist ja tatsächlich auch ein Traumgarten, denn ich träume dort von der kommenden Erde.

Die Gartenarbeit war für mich eine stille Meditation, ein Verweilen in der Stille. Sie ließ die Zeit weilen und duften. Je länger ich im Garten arbeitete, desto mehr Respekt bekam ich vor der Erde, vor ihrer betörenden Schönheit. Inzwischen bin ich tief davon überzeugt, dass die Erde eine göttliche Schöpfung ist. Der Garten verhalf mir zu dieser Überzeugung, ja zu der Einsicht, die für mich nun eine Gewissheit geworden ist, einen Evidenzcharakter angenommen hat. Evidenz bedeutet ursprünglich Sehen. Ich habe es gesehen.

Das Verweilen im blühenden Garten hat mich wieder fromm gemacht. Ich glaube, dass es den Garten Eden gab und geben wird. Ich glaube an Gott, an den Schöpfer, an diesen Spieler, der immer neu anfängt und dadurch alles erneuert. Auch der Mensch, als seine Schöpfung, ist dazu verpflichtet mitzuspielen. Die Arbeit oder die Leistung zerstört das Spiel. Sie ist ein blindes, blankes, sprachloses Tun.

Manche Zeilen des vorliegenden Buches sind Gebete, Bekenntnisse, ja Liebesbekenntnisse an die Erde und die Natur. Es gibt keine biologische Evolution. Alles verdankt sich einer göttlichen Revolution. Ich habe es erfahren. Die Biologie ist letzten Endes eine Theologie, eine Lehre Gottes.

Die Erde ist kein totes, lebloses, stummes Wesen, sondern ein beredtes Lebewesen, ein lebendiger Organismus. Selbst der Stein lebt. Cézanne, der besessen war von der Montagne Sainte-Victoire, wusste vom Geheimnis und von einer besonderen Lebendigkeit und Kraft der Felsen. Bereits Laotse lehrt:

Die Welt ist wie eine geheimnisvolle Schale. Man kann sie nicht fassen. Wer sie begreifen will, wird sie verlieren.

Die Erde als eine geheimnisvolle Schale ist zerbrechlich. Wir sind heute dabei, sie brutal auszubeuten, sie auf Verschleiß zu fahren und dadurch vollständig zu zerstören.

Von der Erde geht der Imperativ aus, sie zu schonen, das heißt sie schön zu behandeln. Das Schonen ist etymologisch mit dem Schönen verwandt. Das Schöne verpflichtet, ja gebietet uns, es zu schonen. Es gilt, mit dem Schönen schonend umzugehen. Es ist eine dringende Aufgabe, eine Verpflichtung der Menschheit, die Erde zu schonen, denn sie ist schön, ja herrlich.

Schonen verlangt nach Loben. Die folgenden Zeilen sind Hymnen, Lobgesänge an die Erde. Wie ein schönes Lied der Erde sollte dieses Lob der Erde erklingen. Für manche aber sollte es sich lesen wie eine Hiobsbotschaft, angesichts heftiger Naturkatastrophen, die uns heute heimsuchen. Sie sind die zornige Antwort der Erde auf die menschliche Rücksichtslosigkeit und Gewalt. Wir haben jede Ehrfurcht vor der Erde verloren. Wir sehen und hören sie nicht mehr.

WINTERREISE

Meine besondere Liebe gilt Schuberts Winterreise. Vor allem das Lied Frühlingstraum habe ich häufig gesungen.

Ich träumte von bunten Blumen,

So wie sie wohl blühen im Mai;

Ich träumte von grünen Wiesen,

Von lustigem Vogelgeschrei.

Und als die Hähne krähten,

Da ward mein Auge wach;

Da war es kalt und finster,

Es schrien die Raben vom Dach.

Doch an den Fensterscheiben,

Wer malte die Blätter da?

Ihr lacht wohl über den Träumer,

Der Blumen im Winter sah?

Warum beginne ich ein Buch über den Garten mit dem Winter und der Winterreise? Wo doch der Winter das absolute Ende der Gartenzeit bedeutet. Ich habe nicht die Absicht, hier von meinen Frühlingsträumen zu erzählen oder, etwa in der Nachfolge von Wilson Bentley, der fünftausend Schneekristalle fotografiert hat, mich nun den Eisblumen zu widmen.

Der Berliner Winter ist schrecklich, ja vernichtend. Das Höllenfeuer wäre erträglicher als diese ewige nasse, dunkle Kälte. Das Licht scheint ganz erloschen zu sein.

Es ist nichts als der Winter,

Der Winter kalt und wild!

Angesichts des ewigen Graus des Berliner Winters erwacht ein metaphysischer Wunsch nach einem hellen, blühenden Garten mitten im Winter.

Bertolt Brechts idealer Garten sieht leider für die kalten Wintermonate nichts vor. Er blüht nur von März bis Oktober:

Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel

Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten,

So weise angelegt mit monatlichen Blumen,

Daß er von März bis zum Oktober blüht.

Jene Weisheit des Gärtners fehlt mir offenbar, denn ich habe den Entschluss gefasst, einen Garten anzulegen, der durchgehend blüht, und zwar von Januar bis Dezember. Ich ziehe die Metaphysik, das metaphysische Begehren der Weisheit des Gärtners, seinem »Loslassen« vor.

WINTERGARTEN

Auch Die helle Kammer von Roland Barthes ist von jenem metaphysischen Begehren beseelt. Es ist ein Buch der Trauer, eine Trauerarbeit. Es beschwört die tote Mutter, mit der er zeitlebens zusammengelebt hat. Dem Buch liegt eine Fotografie zugrunde, die Barthes inständig umkreist, ja umarmt, umschwärmt, die aber darin nicht abgebildet ist. Sie glänzt durch Abwesenheit. Sie zeigt seine Mutter als fünfjähriges Mädchen im Wintergarten.

Ganz hinten im Wintergarten steht meine Mutter, ihr Gesicht verschwommen, verblaßt. Im ersten Moment war ich überwältigt: »Das ist sie! Das ist sie ja! Das ist sie endlich!«

Barthes unterscheidet zwei Elemente der Fotografie: studium und punctum. Das studium gilt den Informationen, die man aus ihr herauslesen kann. So kann man sie studieren. Das punctum hingegen liefert keine Information. Wörtlich bedeutet es das Gestochene und geht auf das lateinische Wort pungere (stechen) zurück. Es trifft und erschüttert den Betrachter.

Das punctum von Die helle Kammer ist für mich der nicht abgebildete Wintergarten mit der Mutter als seiner einzigen Geliebten. Ich sehe den Wintergarten nun doppelt. Er ist ein symbolischer Ort für Tod und Wiederauferstehung, ein Ort der metaphysischen Trauerarbeit. Die helle Kammer ist in meinen Augen ein blühender Garten, ein helles Licht im winterlichen Dunkel, ein Leben inmitten des Todes, eine Feier des wiedererwachenden Lebens inmitten des tödlichen Lebens heute. Ein metaphysisches Licht verwandelt die chambre noir in eine chambre claire, in einen hellen Wintergarten.

Roland Barthes liebte romantische Lieder. Er nahm Gesangsunterricht. Ich hätte ihn gerne singen gehört. Oft habe ich das Gefühl, dass Barthes singend schreibt oder schreibend singt. Die helle Kammer ist selbst eine Art romantischer Liederzyklus mit einundvierzig Liedern / Kapiteln. Das neunundzwanzigste Lied heißt Das kleine Mädchen.

Die helle Kammer klingt für mich wie eine Winterreise. Roland Barthes reist auf der Suche nach seiner Mutter, nach seiner Geliebten, durch das »Reich der TOTEN«. Auf der Suche nach der Wahrheit der Mutter begibt er sich auf eine endlose Wanderschaft.

Noch etwas konnte ich aus meiner Betrachtung nicht ausklammern, daß ich dieses Photo entdeckt hatte, indem ich mich in der ZEIT zurückbewegte. Die Griechen betraten das Reich der Toten rückwärts: was sie vor sich hatten, war ihre Vergangenheit. In solcher Weise durchmaß ich ein Leben, nicht das meine, sondern das eines Menschen, den ich liebte.

Die Fotografie des Wintergartens sei »wie die letzte Musik, die Schumann schrieb, bevor er in Umnachtung sank, dieser erste Gesang der Frühe, der mit dem Wesen meiner Mutter und zugleich mit dem Kummer, den mir ihr Tod bereitet, in Einklang stand«. Die Gesänge der Frühe, ein Zyklus von fünf kleineren Klavierstücken, sind das letzte Klavierwerk von Schumann. Drei Tage vor seinem Selbstmordversuch bezeichnete er sie als »Sammlung von Musikstücken, die die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern«. Clara Schumann reagierte zunächst ratlos auf diese Komposition: »Ganz originelle Stücke wieder, aber schwer aufzufassen, es ist so eine ganz eigene Stimmung darin.«

Die Gesänge der Frühe sind von der Sehnsucht nach dem neuerwachenden, wiederauferstehenden Leben beherrscht. Sie sind Gesänge der Trauer. Eine tiefe Melancholie ist zu vernehmen. Es geht um Tod und Wiederauferstehung. Bereits Schumanns Spanisches Liederspiel besingt das sehnsüchtige Warten auf den Morgen, auf das neuerwachende Leben:

Wann, wann erscheint der Morgen,

Wann denn, wann denn!

Der mein Leben löst aus diesen Banden?

Ihr Augen, vom Leide so trübe,

Saht nur Qual für Liebe,

Saht nicht eine Freude,

Saht nur Wunde auf Wunde,

Schmerz auf Schmerz mir geben,

Und im langen Leben

Keine frohe Stunde.

Wenn es endlich doch geschähe,

Daß ich säh’ die Stunde,

Wo ich nimmer sähe!

Wann erscheint der Morgen,

Der mein Leben löst aus diesen Banden.

Eine geheimnisvolle Aura umgibt den ersten Gesang der Frühe. Die abgründige Melancholie rettet sich dann in ein Delirium. Sie wird unterbrochen von verhalten jubilatorischen Momenten und von Augenblicken der Verklärung und Verzückung, in denen die ersten, zögernden Lichtscheine das Dunkel durchbrechen.

Jene Frühe des Morgens ist eine Vor-Zeit, die der gewöhnlichen Zeit vorgelagert ist und in der die vergängliche Zeit, die Zeit von Leben und Tod, aufgehoben ist. Diese Gesänge der Frühe beleben, be-stimmen meine Phantasie für den blühenden winterlichen Garten. Sie bilden die Grundstimmung dieses vorliegenden Buches.

DIE ZEIT DES ANDEREN

Die Jahreszeiten erlebe ich im Garten viel intensiver. Entsprechend groß ist auch das Leiden angesichts des nahenden Winters. Das Licht wird schwächer, dünner und fahler. Ich war nie so aufmerksam für das Licht gewesen. Das sterbende Licht schmerzt mich. Im Garten werden die Jahreszeiten vor allem körperlich wahrgenommen. Die eisige Kälte des Wassers aus der Regentonne bohrt sich tief in den Körper. Der Schmerz, den ich dabei spüre, ist jedoch wohltuend, ja belebend. Er gibt mir die Realität, ja die Körperlichkeit zurück, die heute in der wohltemperierten digitalen Welt immer mehr verlorengeht. Sie kennt keine Temperatur, keinen Schmerz, keinen Körper. Der Garten aber ist reich an Sinnlichkeit und Materialität. Er ist viel welthaltiger als der Bildschirm.

Seitdem ich im Garten arbeite, spüre ich die Zeit anders. Sie vergeht wesentlich langsamer. Sie dehnt sich aus. Die Zeit bis zum nächsten Frühling kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Das nächste Herbstlaub rückt in eine unvorstellbare Ferne. Auch der Sommer ist mir unendlich weit. Der Winter schon dauert ewig. Die Arbeit im winterlichen Garten verlängert ihn. Noch nie kam mir der Winter so lang vor wie in meinem ersten Gärtner-Jahr. Unter Kälte und Dauerfrost habe ich sehr gelitten, aber nicht meinetwegen, sondern vor allem wegen der Winterblüher, die ihre Blüten, selbst mitten im Schnee und Dauerfrost, behielten. Meine Sorge, die eine Fürsorge war, galt vor allem den Blumen. Der Garten entfernt mich einen Schritt mehr von meinem Ego. Ich habe keine Kinder. Mit dem Garten aber lerne ich langsam, was die Fürsorge, die Sorge um andere bedeutet. Der Garten ist ein Ort der Liebe gewesen.

Die Zeit des Gartens ist die Zeit des Anderen. Der Garten hat seine Eigenzeit, über die ich nicht verfügen kann. Jede Pflanze hat ihre Eigenzeit. Im Garten kreuzen sich viele Eigenzeiten. Herbstkrokusse und Frühlingskrokusse sehen sich ähnlich, aber sie haben ein ganz anderes Zeitgefühl. Es ist erstaunlich, dass jede Pflanze ein ausgeprägtes Zeitbewusstsein hat, vielleicht sogar mehr als der Mensch, der heute irgendwie zeitlos, zeitarm geworden ist. Der Garten macht eine intensive Zeiterfahrung möglich. Während meiner Arbeit im Garten bin ich zeitreich geworden. Der Garten, für den man arbeitet, gibt viel zurück. Er gibt mir Sein und Zeit. Das ungewisse Warten, die erforderliche Geduld, das langsame Wachstum bringen ein besonderes Zeitgefühl hervor. In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant die Erkenntnis als eine Erwerbstätigkeit. Sie arbeite, so Kant, an dem »wirklich neuen Erwerb«. In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant statt vom »Erwerb« vom »Anbau«. Was könnte Kant dazu veranlasst haben, in der zweiten Auflage »Anbau« durch »Erwerb« zu ersetzen?

»Anbau« mochte Kant vielleicht zu sehr an die bedrohliche Kraft des Elements, an die Erde, an die dieser immanente Ungewissheit, Unberechenbarkeit, an den Widerstand, an die Macht der Natur erinnert haben, die das Gefühl der Autonomie und Freiheit des kantischen Subjekts empfindlich gestört hätte. Der städtische Erwerbstätige wird seine Arbeit unabhängig vom Wechsel der Jahreszeiten verrichten können, was dem Bauern, der ihrem Rhythmus unterworfen ist, unmöglich ist. Das Warten oder die Geduld, die Kant zur »weiblichen Tugend« erniedrigt, die man aber dem langsamen Wachsen des der Erde Anvertrauten entgegenzubringen hat, ist dem kantischen Subjekt womöglich fremd. Die Ungewissheit, der der Bauer ausgesetzt ist, mag ihm unerträglich erscheinen.

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