Lob der Scham - Daniel Hell - E-Book

Lob der Scham E-Book

Daniel Hell

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Beschreibung

Weil Scham zumeist mit sozialer Schande oder narzisstischer Kränkung gleichgesetzt wird, genießt sie gemeinhin einen schlechten Ruf – doch zu Unrecht, wie Daniel Hell aufzeigt: Wir sollten sie als "Türhüterin des Selbst" achten und schätzen lernen. Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Hell gibt der Scham wieder diejenige Bedeutung zurück, die ihr im menschlichen Leben zukommt.

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Titel der Originalausgabe: Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen© 2018 Psychosozial-Verlag, Gießen,www.psychosozial-verlag.de

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Agentur IDee

Umschlagmotiv: © svetazi / AdobeStock

Satz und E-Book Konvertierung: Arnold & Domnick, Leipzig

 

ISBN Print 978-3-451-03145-8

ISBN E-Book 978-3-451-81686-4

Einleitung und Überblick

1. Scham als historisch konstante ­Herausforderung

Eine kurze Kulturgeschichte der Scham

2. Wie sich Scham beim ­Einzelnen ­entwickelt

Zur Biografie der Scham

3. Scham und Beschämung

Der sich schämende und der gekränkte Mensch

4. Die zwiespältige Struktur der Scham

Wer sich schämt, erkennt sich als Anderer

5. Scham als Verarbeitungsprozess

Die Chance und das Risiko der Scham

6. Soziale Scham und psychische ­Krankheit

Macht Scham krank?

7. Problematischer Umgang mit Scham

Von Schamabwehr, Deckaffekten und ­Zynismus

8. Konstruktiver Umgang mit Scham

Von Akzeptanz, Humor, Selbstironie und ­Psychotherapie

9. Scham heute

Führt Schamverlust zu einer ­Beschämungskultur?

Dank

Literatur

Der Autor

Einleitung und Überblick

Das Schamgefühl hat einen schlechten Ruf. Es wird meist mit Schande gleichgesetzt. Wer sich schämt, möchte sich verstecken.

Wie kann man – wie der Buchtitel vorgibt – Scham loben, wenn dieses Gefühl so quälend erlebt wird? Wie kann man – wie der Untertitel aussagt – Scham mit Selbstachtung in Zusammenhang bringen, wenn dieses Gefühl als so schändlich erfahren wird und mit einer Krise der Selbstachtung einhergeht? Es gilt doch Scham möglichst zu vermeiden. Sie ist eine »negative Emotion«. So jedenfalls wird meist argumentiert. Populäre Ratgeber postulieren sogar, dass das Schamgefühl depressiv machen und zu weiteren psychischen Störungen führen kann.

Unbestreitbar ist Scham ein besonders unangenehmes Gefühl, das oft noch schwerer als Angst, Ärger oder Traurigkeit auszuhalten ist. Selbst in leichter Form geht Scham mit Pein, einer Art seelischem Schmerz, einher. Wir sagen dann, dass uns etwas peinlich ist. Wir sind innerlich betroffen und wissen oft auch nicht damit umzugehen. Scham brennt und lässt niemanden kalt.

Ist aber Scham deshalb negativ zu bewerten? Oder lehnen wir Scham aus anderen Gründen ab, zum Beispiel weil sie ein Bote schlechter Nachrichten ist, die wir nicht hören wollen – etwa wenn das Schamgefühl uns auf Kratzer im Selbstbild hinweist. Oder haben wir Mühe mit Scham, weil wir sie als ein Zeichen von Schwäche missverstehen oder weil wir keinen Unterschied zwischen Schande und Scham machen. Damit setze ich mich in diesem Buch auseinander.

Ich suche die Scham vielschichtig zu charakterisieren und das Wesentliche herauszuarbeiten. Dadurch bekommt die Scham ein anderes Gesicht. Sie erweist sich als ein ganz besonderes Gefühl, das eine große Bedeutung für das soziale Zusammenleben, aber auch für die persönliche Entwicklung hat. So schwer Scham zu ertragen ist, so wichtig ist sie für eigene und zwischenmenschliche Grenzsetzungen. Schamgrenzen markieren Privates und Intimes. Sie setzen auch emotionale Schranken gegen zwischenmensch­liche Übergriffe.

Scham schreckt auf und schmerzt, weil es ihre Aufgabe ist, auf eine besondere Gefahr aufmerksam zu machen. Ganz ohne Schreck oder Weh wäre Scham als Alarmsignal untauglich. Dabei schützt Scham das Innerste eines Menschen. Während andere Gefühle auf äußerliche oder körperliche Risiken aufmerksam machen – beispielsweise Angst eine Unfallgefahr anzeigt oder Ekel vor Beschmutzung warnt –, macht Scham darauf aufmerksam, dass wir in Gefahr sind, unsere Identität einzubüßen, mindestens aber an Respekt zu verlieren. Ich verstehe Scham als einen Sensor der Selbstachtung. Dabei können wir unsere Selbstachtung dadurch gefährden, dass wir uns vor anderen blamieren oder bei wichtigen Bezugspersonen selbstverschuldet an Glaubwürdigkeit verlieren. In einem solchen Fall spreche ich von »sozialer Scham«. Andererseits können wir uns aber auch vor uns selbst schämen, ohne dass andere Menschen davon wissen. Wir können uns zum Beispiel im Stillen schämen, feige gewesen zu sein und gegen die eigene Wertvorstellung von Mut oder Aufrichtigkeit verstoßen zu haben. In diesem Fall spreche ich von »persönlicher oder personaler Scham«.

In beiden Fällen kann das Schamerleben als Aufforderung verstanden werden, sich zu verändern – einerseits um zwischenmenschlich und sozial kompetenter zu werden, andererseits um vermehrt zu den eigenen Werten zu stehen und authentischer zu werden. Beides setzt aber voraus, dass wir auf das Schamgefühl hören und es nicht abweisen.

Scham unterscheidet sich von anderen Gefühlen vor allem dadurch, dass sie die Fähigkeit voraussetzt, ein Bild oder eine Vorstellung von sich zu haben. Insofern ist Scham sehr menschlich. Denn nur Menschen verfügen über ein Selbstbewusstsein im doppelten Sinne: erstens im Sinne einer »reflexiven Selbst­bewusstheit«, eines sich selber Erkennens, und zweitens im Sinne eines »wertenden Selbstbewusstseins«, eines sich selber Achtens. Wenn das eine oder andere verloren geht, tritt Scham auch nicht mehr auf. Wer an einer schweren Psychose oder an fortgeschrittener Demenz erkrankt, kann sich nicht mehr schämen. Und wer infolge schwerster biografischer Belastungen nicht in der Lage ist, sich selbst zu achten, ist auch von Scham befreit. Nur ist das kein wünschenswerter Zustand. Dann fehlt nicht nur eine ­psychische Alarmglocke. Es fehlen auch Schamgrenzen, die die Person selbst, aber auch die Mitmenschen vor Übergriffen schützen.

Schamfähigkeit zeichnet den Menschen aus. Sie kann aber auch belastende Nebeneffekte haben. So kann extreme Scham einen Menschen überwältigen und vorübergehend hilflos machen. Scham kann einen Menschen auch quälen, weil er höchst problematische Normen übernommen hat. Um sich nicht zu schämen, neigt er dann zur Überanpassung. Daraus leiten Soziologen ab, dass Scham als gesellschaftliches Sanktionsmittel eingesetzt werden kann. Das ist zweifellos richtig. Der Erfolg dieser Taktik setzt aber voraus, dass Menschen zunächst bestimmte Wertvorstellungen kulturell oder familiär vermittelt wurden, etwa dass Armut, körperliche Behinderung oder psychische Krankheit einen Menschen abwertet und beschämt. Genau genommen ist also nicht die Scham falsch, sondern falsch sind die übernommenen Werte, auf die das Schamgefühl verweist.

Tatsächlich schämen sich Menschen solcher Diskriminierungen nur so lange, wie sie diese negativen Wertvorstellungen auch teilen. Wenn sie sich davon distanzieren, löst sich die Scham schrittweise auf. Das gesellschaftliche oder familiäre Sanktionsmittel greift dann nicht mehr. Es weicht einem »Coming-out«, einem Herauskommen aus der Beschämungsfalle.

Es ist mir wichtig, diese Zusammenhänge im Buch detaillierter herauszuarbeiten, weil es zur Unterdrückungs- und Stigmatisierungstaktik gehören kann, die Scham selbst schlecht­zu­machen. Damit wird vom wirklichen Problem abgelenkt und werden Betroffene weiter geschwächt. Denn mit der Ablehnung dieses schwierigen Gefühls, das ich ja auch bin, lehne ich mich im Grunde selbst ab. Schamabwehr führt denn auch öfter zu größeren Problemen als die Scham selbst. Das ist ein anderer Fokus dieses Buches.

Nicht zuletzt ist es mir wichtig, den Unterschied zwischen Gekränkt-Sein und Scham herauszuarbeiten. Sogar in der wissenschaftlichen Literatur wird Scham noch oft mit sogenannter narzisstischer Kränkung in Zusammenhang gebracht. Auch wenn es Übergänge zwischen einer (narzisstischen) Kränkungsreaktion und Scham gibt, geht Scham doch mit Selbstkritik einher, während sich der gekränkte Mensch als Opfer eines Unrechts fühlt und Rachegefühle hegt. Dadurch geht der Kränkungsreaktion das Entwicklungspotenzial ab, das die Scham hat.

Wenn Narzissmus und Kränkungsreaktionen in einer Gesellschaft zunehmen, wird der Gemeinschaftssinn geschwächt. Stattdessen nehmen gegenseitige Beschämungen mangels Scham- und Taktgefühl ungebremst zu.

Zum Aufbau des Buches

Das Buch beginnt mit einer kurzen Kulturgeschichte der Scham. Das Schamgefühl lässt sich zwar in allen Epochen und Kulturen nachweisen, doch ist, was Scham auslöst, kulturell geprägt.

Das zweite Kapitel widmet sich verschiedenen biografischen Entwicklungsstufen der Scham: von Vorstufen wie Befangenheit (»Fremdeln« vor unbekannten Personen) im Kleinkindalter und Kränkungsreaktionen im frühen Vorschulalter über soziale Schamgefühle im Kindergartenalter bis hin zu persönlichen Schamformen im Schul-und Erwachsenenalter. Mit zunehmender Differenzierung löst sich Scham teilweise von sozio­kulturell vorgegebenen Normen. Sie bleibt aber ein Gefühl, das Grenzen setzt.

Auf diese einführenden Kapitel zur Kultur- und Individualgeschichte folgen konkrete Auseinandersetzungen mit dem Schamphänomen. Sie machen den Hauptteil des Buches aus und wurden stark von meiner klinischen Erfahrung als Psychiater und Psychotherapeut geprägt. Was Scham ausmacht, was sie von anderen Emotionen unterscheidet und welche Folgen sie hat, habe ich – neben der achtsamen Wahrnehmung eigener Gefühle und Empfindungen – vor allem von meinen Patientinnen und Patienten gelernt. Sie haben mir auch aufgezeigt, wie verschieden man mit Scham umgehen kann und womit einzelne Umgangsstile zusammenhängen.

Im Hauptteil des Buches beschreibe ich Scham

› phänomenologisch, wie sie erlebt wird (Kapitel 3)› anthropologisch, wie sie verstanden werden kann (Kapitel 4)› funktionell, was sie bewirkt (Kapitel 5)› psychiatrisch, worin ihre Probleme liegen (Kapitel 6)› psychologisch, wie mit ihr umgegangen werden kann (Kapitel 7 und 8)› soziokulturell, womit Schamverlust aktuell einhergeht (Kapitel 9)

Jedes Kapitel ist so geschrieben, dass es auch einzeln gelesen werden kann. Deshalb kommen zur besseren Lesbarkeit auch einzelne inhaltliche Wiederholungen vor.

Die Darstellungsweise der verschiedenen Kapitel ist dem jeweiligen Inhalt angepasst. So haben die einführenden kultur- und entwicklungsgeschichtlichen Kapitel (1 und 2) eher Berichts­charakter. Die Darstellung der Scham aus der Erlebensperspektive (Kapitel 3) ist Person-orientiert. Sie benützt oft bildhafte Vergleiche und enthält besonders viele Beispiele. Demgegenüber ist die anthropologische Charakterisierung der Scham (Kapitel 4) stärker theoretisch und philosophisch ausgerichtet. Das Kapitel 5 über die Funktionsweise der Scham nimmt eine Mittelstellung zwischen Theorie und Praxis ein. Es stellt in neuer Weise Scham auch als Prozess dar und geht besonders auf die soziale Scham ein. Das psychiatrisch orientierte Kapitel 6, das der Frage nachgeht, ob Scham – oder eher die Abwehr von Scham – psychisch krank macht, enthält unter anderem kritische Überlegungen zur methodischen Erfassung dieser Zusammenhänge. Sehr praktisch orientiert sind die psychologischen Kapitel 7 und 8. Sie machen einerseits auf ungünstige Umgangsweisen mit Scham aufmerksam und gehen andererseits auf Möglichkeiten ein, wie mit Scham konstruktiv und hilfreich umgegangen werden kann. Das Schluss­kapitel 9 stellt eine aktuelle Zeitdiagnose anhand des Schamphänomens. Es konstatiert eine vermehrte Schamabwehr, die mit einer Zunahme von Beschämungen und narzisstischen Kränkungen einhergeht. Das legt eine moderne Kultur der Beschämung nahe.

Insgesamt möchte dieses Buch aufzeigen, wie tief die Scham im Menschen verankert ist und wie stark die Persönlichkeitsentwicklung und die zwischenmenschlichen Beziehungen vom soziokulturellen und persönlichen Umgang mit Scham abhängen. Ich charakterisiere die Scham als Sozial-, Selbst- und Wertgefühl, frage nach ihren Auslösern und worauf sie verweist. Konkrete Beispiele aus meiner therapeutischen Praxis und aus der belletristischen Literatur illustrieren die einzelnen Aussagen.

Was die herangezogene Fachliteratur betrifft, habe ich nicht nur von psychiatrischen, psychotherapeutischen, psychologischen und soziologischen Studien zur Scham profitiert, sondern auch von kulturwissenschaftlichen Untersuchungen von Historikern, Philosophen und Theologen. Sie haben mir die Vielschichtigkeit und die kulturelle Bedeutung der Scham vor Augen geführt.

Ich bin aufgrund der Fachliteratur, meiner eigenen psychiatrischen Studien zu emotionalen Problemfeldern und meiner psychotherapeutischen Erfahrungen überzeugt, dass die Scham im menschlichen Leben eine Schlüsselrolle einnimmt. Die Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen Gefühl hilft, sich selbst und andere besser zu verstehen. Erkennbar an einer zunehmenden Beschämungstendenz gilt es aber auch einen gewissen Schamverlust oder eine vermehrte Schamabwehr zur Kenntnis zu nehmen. Das hat mich bestärkt, die positive Seite der Scham hervorzuheben, im Wissen um ihre gemeinhin betonten Gefahren. In der Scham gehen wir uns weder selbst verloren, noch kommt uns der Mitmensch abhanden. Scham hat mit Würde zu tun. Ich verstehe Scham als eine Art »Türhüterin des Selbst«, die aber auch als »Beschützerin der Gemeinschaft« dient.

Noch ein Wort zur vorliegenden Taschenbuchausgabe: Sie hat mir Gelegenheit gegeben, die ursprüngliche Hardcover-Version des Psychosozial-Verlags zu überarbeiten. So habe ich diese Einleitung neu verfasst, um den Einstieg ins Buch zu erleichtern und einen ersten inhaltlichen Überblick über das Buch zu geben. Das erste Kapitel zur Kulturgeschichte habe ich auf das Wesentlichste zusammengefasst. Weitere Kapitel habe ich etwas gekürzt und auch einzelne Abschnitte umgeschrieben. Viele Literaturhinweise im Text der ersten Buchausgabe habe ich weggelassen, um den Lesefluss zu steigern. Wer an einem Quellenstudium besonders interessiert ist, findet aber in der ursprünglichen Fassung des Psychosozial-Verlags detaillierte Hinweise.

Politisch unkorrekt, aber um der sprachlichen Einfachheit willen, habe ich darauf verzichtet, bei der Beschreibung von Personen und Gruppen immer die weibliche und die männliche Form anzuführen. Mit Patienten oder Therapeuten sind deshalb immer auch Patientinnen oder Therapeutinnen gemeint.

Wenn die vorliegende Überarbeitung meinen Text insgesamt griffiger und handlicher gemacht hat, so hat sie ihr Ziel erreicht. Eines steht fest: Ohne eine vorzügliche Lektorierung durch den Herder-Verlag wäre das nicht möglich gewesen.

1. Scham als historisch konstante ­Herausforderung

Eine kurze Kulturgeschichte der Scham

Es wird oft diskutiert, ob Schamgefühle in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen haben. Auch die Möglichkeit, dass man sich in der Neuzeit für anderes schämt als etwa im Mittelalter oder gar bei schriftlosen Stammesvölkern, wird dabei zu Recht in Erwägung gezogen. Fest steht, dass bisher in unserer Welt keine Bevölkerung gefunden wurde, in der Schamreaktionen fehlen. Auch geschichtlich finden sich keine Hinweise auf vergangene Kulturen, die frei von Scham gewesen sind. Die gesellschaftlichen Strukturen mögen sich noch so stark unterschieden haben – Scham fehlte in keiner von ihnen. Zwar finden sich in einzelnen Kulturen subkulturelle Gegenbewegungen, die Schamlosigkeit als Mittel einsetzen, um herrschende gesellschaftliche Normen bloßzustellen und zu bekämpfen. Ein drastisches Beispiel dafür ist die philosophische Schule der Kyniker in der griechischen Antike, zu dessen bekanntesten Mitgliedern Diogenes gehörte. Diogenes wohnte nicht nur in einer Tonne und wünschte sich von Kaiser Alexander, dass er ihm aus der Sonne gehe, sondern urinierte und onanierte auch in aller Öffentlichkeit, um damit gegen die herrschende Schamkultur zu demonstrieren. Doch seine Unverschämtheit konnte nur in die Geschichte eingehen, weil sie außerordentlich war. Im Grunde benutzte Diogenes gerade die Schamhaftigkeit der Menschen, um auf sein Anliegen besonders provokant aufmerksam zu machen. An der Verbreitung des Schamgefühls änderte sich nichts.

Die meisten Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass das Reaktionsmuster der Scham beim Menschen genetisch angelegt ist. Es braucht zwar weitere psychologische und soziale Voraussetzungen, damit es im Verlaufe der frühen Kindheit zum Ausdruck kommen kann. Doch ist unbestritten, dass Scham kein bloß gesellschaftliches oder erzieherisches Konstrukt ist. So findet sich der für Scham typische Gesichtsausdruck transkulturell in der ganzen Welt. Dazu gehört neben dem Senken der Augenlider, dem Abwenden des Blickes und einer Kopfdrehung zur Seite auch die besonders auffallende Rot- oder Dunkelfärbung der Haut, was im Übrigen dazu geführt hat, dass Scham in sehr vielen Sprachen mit der Farbe Rot assoziiert ist.

Manchmal wird gegenüber solchen Befunden kritisch eingewendet, es gebe doch schriftlose Primärkulturen wie Indianerstämme, bei denen sich Menschen ihrer Nacktheit und anderer natürlicher Verhaltensweisen nicht schämten. Dem ist allerdings nicht so. Körperscham findet sich in allen Kulturen, die studiert worden sind. Sie wirkt sich nur unterschiedlich aus. Doch bedeutet der Umstand, dass Menschen in solchen Primärkulturen unbekleidet leben, keineswegs, dass ihnen Körperscham fremd ist. Zum einen können bereits Schmuckstücke oder Tätowierungen einen Menschen kleiden. So reagieren etwa Yanomami-Frauen, die lediglich eine dünne Schnur um die Körpermitte tragen, höchst verlegen, wenn sie aufgefordert werden, diese abzulegen. In diesem Falle kann eben auch die Schnur eine Grenze bezeichnen, die es zu beachten gilt. Zum anderen müssen sich auch Menschen, die keineswegs »nackte Wilde« sind, bestimmten Verhaltensregeln unterwerfen:

»[Insbesondere] kennen und achten derartige Kulturen ein striktes Reglement der Blicke. Jemandem unverhohlen auf die Genitalien zu starren kann strengste Sanktionen nach sich ziehen. Von Nacktheit auf Zwang- und Zügellosigkeit zu schließen, ist ein modernes Phantasma. Den Leidenschaften wird in einfachen Kulturen keineswegs freier Lauf gelassen, es wird nicht ›wie wild‹ vor aller Augen kopuliert« (Paul, 2007, S. 81).

Ganz im Gegenteil unterliegt die sexuelle Tätigkeit – anders als bei Tieren inklusive Primaten – strengen Tabus. Sie wird den Blicken Dritter entzogen.

Übrigens blicken auch moderne Angehörige der FKK-Kultur einander in den Nudistencamps vornehmlich in die Augen. Auf den nackten Körper zu starren oder gar zuzuschauen, wie Paare miteinander schlafen, ist weitgehend tabu. Es wird auch nicht öffentlich uriniert oder defäkiert.

Nur Kleinkinder bilden hierzu in allen Kulturen eine Ausnahme. Sie haben meist kein Problem, sich nackt zu zeigen – manche genießen sogar das exhibitionistische Zurschaustellen ihrer Genitalien. Erst im Vor- und Grundschulalter verändert sich ihr Verhalten. Dann stellen auch Eltern, die ihre Kinder zu schamfreiem Umgang mit ihrem Körper oder dem anderen Geschlecht erziehen wollen, plötzlich Körperscham fest: Der Nachwuchs verhüllt den Körper und insbesondere die Genitalien.

Evolutionsbiologen wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt schließen daraus, dass es eine Art »Ur-Scham« gibt. Sie könnte ihren Ursprung in einem Reaktionsmuster der Primaten haben, die ebenfalls die Gesichtsfarbe verändern oder zu Boden schauen, wenn sie zum Beispiel von einem Alphatier in sexueller Hinsicht »gedemütigt« werden. Allerdings lässt eine physiologische Körperreaktion nicht sicher auf eine bestimmte Emotion schließen. Gesichtsrötung kann auch generell durch innere Erregtheit hervorgerufen ­werden.

Von Evolutionsbiologen wird zudem manchmal postuliert, dass die menschliche Tabuisierung der Geschlechts- bzw. Schamregion und das Zudecken dieser Körperteile mit Kleidern zu einer sexuellen Entspannung innerhalb der Stammesgemeinschaft beigetragen haben. Es habe die Konzentration auf andere Aufgaben ermöglicht und damit die menschliche Entwicklung gefördert.

Die postulierte Ur-Scham ist allerdings eine biologische Reaktionsweise, die durch die menschliche Kultur- und Individual­geschichte überformt und unterschiedlich ausgestaltet wird. Auch beschränkt sich die Scham in der menschlichen Entwicklung keineswegs auf die primären Geschlechtsorgane oder die erwachende Sexualität. Neben Körper- und Geschlechtsscham finden sich auch andere Schamformen, etwa die Scham, leistungsmäßig versagt zu haben (Kompetenzscham), die Scham, einen Fehler gemacht oder ein Unrecht begangen zu haben (moralische Scham), oder die Scham, nicht genügend selbst­ständig zu sein (Abhängigkeitsscham). In der kindlichen Entwicklung treten solche Schamformen sogar deutlich vor der diskutierten Körperscham auf. Davon wissen wir heute dank der Kleinkindforschung. So schämt sich zum Beispiel ein drei- oder vierjähriges Kind, wenn es eingenässt hat, nicht für seinen Körper, sondern dass ihm die gelernte Kontrolle misslang, auf die es sonst stolz ist.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob solche Schamformen nicht auch kulturgeschichtlich der Körper- und Geschlechtsscham vorausgegangen sein könnten. Wir wissen aber nicht, wie es in der Frühgeschichte der Menschheit war. Dazu fehlen uns die schriftlichen Zeugnisse. Doch können uns alte Mythen immerhin indirekte Hinweise geben, wie es damals gewesen sein könnte. In besonders eindrücklicher Weise kommen diese Zusammenhänge im biblischen Mythos von Adam und Eva zum Ausdruck. In der Bildersprache solcher Mythen drückt sich Scham vor allem dadurch aus, dass sich Menschen verbergen. Insbesondere die primären Geschlechtsorgane werden durch schützende Blätter oder geflochtene Schürze den Blicken entzogen. Menschen können sich aber auch hinter Büschen verstecken. Diese körperbezogene Darstellungsweise lässt das schamvolle Element in Mythen besonders eindrücklich zum Ausdruck kommen und dürfte auch aus diesem Grund gewählt worden sein. Schwieriger sind innere seelische Vorgänge abzubilden. Aber auch sie kommen in diesen Mythen indirekt zur Sprache. So wird aufkommende Scham oft mit einer Veränderung des Bewusstseins in Verbindung gebracht, indem von Menschen gesagt wird, dass sie sich und die Mitmenschen auf neue Weise sehen. Die Augen, in denen sich das seelische Erleben spiegelt, bekommen einen anderen Blick.

Das ist auch so im biblischen Mythos von Adam und Eva. Knapp zusammengefasst wird im ersten Buch der Bibel, der Genesis, erzählt, wie Adam und Eva zunächst in ungebrochener Einmütigkeit im Paradies leben: »Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht« (Gen 2,25). Dann wurde Eva von der Schlange dazu verführt, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, von dem Gott ihnen zu essen verboten hatte. Auch Adam aß davon.

»Da gingen ihnen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Und sie flochten Feigenblätter und machten sich Schürze. Und sie hörten die Schritte des Herrn. […] Da versteckten sich der Mensch und seine Frau unter den Bäumen des Gartens. Aber der Herr, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Da sprach er: Ich habe deine Schritte im Garten gehört. Da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, und verbarg mich.« (Gen 3,7–9)

Im Grunde bringt diese biblische Geschichte ein prägnantes Bild, was modernen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen entspricht. Ohne ein Sich-selber-Erkennen, ohne Selbstbewusstsein, gibt es auch keine Scham. Scham ist Folge einer kognitiven und emotionalen Entwicklung. Sie ist tief menschlich. Sind wir uns einmal selbst bewusst und erkennen wir auch unsere eigenen Grenzen an, verändert sich mit dem Auftreten von Scham sowohl die Beziehung zu uns selbst wie auch unser Verhältnis zu den Mitmenschen.

Das dürfte in den frühesten Stammeskulturen nicht anders gewesen sein als heute. Weil Säuglinge und Kleinkinder zunächst in einer fast unbegrenzten Verbundenheit mit der Mutter leben, dann aber mit einsetzendem Selbstbewusstsein und abgrenzender Scham ein differenzierteres und selbstständigeres Eigenleben entwickeln, ist es eine der wichtigsten persönlichen und gemeinschaftlichen Aufgaben, wachsende Selbstständigkeit und verbleibende Abhängigkeit in ein Gleichgewicht zu bringen. Mit anderen Worten sollten Individualität und Sozietät gegenseitig so austariert werden, dass anhaltende individuelle und soziale Störungen vermieden werden können.

In diesem herausfordernden Prozess kommt dem Umgang mit Scham außerordentliche Bedeutung zu. Kein anderes Gefühl erfasst zwischenmenschliche Nähe und Distanz so sensibel wie das Schamgefühl. Es alarmiert bei verinnerlichten Normbrüchen und verhilft zur sozialen Anpassung. Andererseits grenzt es von Mitmenschen ab und verweist auf das eigene Anderssein. Der Doppelaspekt von Scham kommt auch darin zum Ausdruck, dass Scham die Selbstgrenzen und damit die Identität schützt, gleichzeitig aber die sozialen Bindungen stärkt, die zur Identitätsbildung und zur eigenen Sprachentwicklung nötig sind.

Scham ist unbestritten ein soziales Regulativ, als das sie oft einseitig verstanden wird. Sie ist aber auch eine »Türhüterin des Selbst« oder, wie der Schamforscher Léon Wurmser sagt, eine »Hüterin der menschlichen Würde«. Sie schützt den Privat- und Intimbereich eines Menschen und trägt wesentlich zur Individualisierung bei. Dieser Doppelaspekt lässt sich schon früh in alten Schriftkulturen nachweisen.

So wird Scham in der griechischen Antike zwar einerseits mit Schande in Verbindung gebracht und als soziales Sanktionsmittel benutzt. Es wird aber auch der persönliche Entwicklungswert der Scham gesehen. Insbesondere in den philosophischen Schulen wird gelehrt, dass nicht die Meinung der anderen entscheidend ist, sondern was man selbst für richtig hält. Man soll die Kontrolle über sein eigenes Leben wahren und sich nicht in Unfreiheiten und Abhängigkeiten begeben. So heißt es beim vorsokratischen Philosoph Demokrit (460–370 v. Chr):

»Man soll sich vor den Menschen nicht mehr schämen als vor sich selbst und nicht eher ein Unrecht begehen, wenn es niemand erfahren wird, als wenn es alle Menschen erfahren. Vielmehr soll man sich vor sich selber am meisten schämen und das soll als Gesetz für die Seele bestehen, sodass man nichts Unschickliches tut«.

Damit bezeichnet Demokrit das eigene Ich als moralische Richtschnur. Es soll sich nicht (mehr) an externen Sanktionen orientieren. In der altgriechischen Sprache wurde diese Differenzierung mit zwei unterschiedlichen Begriffen – als »Aidos« und als »Aischyne« – zu präzisieren versucht. Aischyne hat mehr mit Schande zu tun, also mit einem sozialen Ehrverlust, der beschämt. Aidos macht demgegenüber als Schamgefühl eher darauf aufmerksam, was einem persönlich wertvoll ist und was nicht verloren gehen sollte. Aidos steht somit für eigene und ethische Werte und wurde in der Regel als Tugend bewertet. Wer ohne Scham ist, dem geht Aidos ab, auch wenn er sich aus Furcht vor Schande (Aischyne) anpasserisch verhalten mag.

Diese sprachliche Differenzierung, die eine Abgrenzung von Schande/Ehrverlust und Scham/Würde anzeigt, lässt sich auch in der Entwicklung der deutschen Sprache aufzeigen. Schande ist wahrscheinlich der ältere deutsche Begriff, von dem sich das Wort Scham abgeleitet hat. So wurde zuerst zwischen Scham und Schande kein wesentlicher Unterschied gemacht. Nach dem Grimm’schen Wörterbuch überwiegt in den älteren germanischen Sprachen noch die Anwendung von Scham als Schande. Im weiteren Gang der Jahrhunderte hat sich dann das Konzept der Scham immer deutlicher vom Konzept der Schande gelöst (auch wenn es bis heute Überlappungen gibt). Scham wurde zu einem wichtigen Gefühl. Schande blieb eine abwertende Beurteilung.

In der jüdisch-christlichen Geschichte rücken Schuld und Sünde in den Vordergrund, während Scham wie Schande als gerechte Strafe für eine Schuld verstanden wird. Erst Hiob wehrt sich dagegen. Er kommt zur Erkenntnis, dass sich niemand schämen muss, wenn es ihm schlecht geht. Diese Einsicht wird im neuen Testament noch überboten. Jesus von Nazareth verteidigt Menschen, die sich schämen, und attackiert jene, die beschämen. So stellt er sich schützend vor eine gedemütigte »Ehebrecherin«. In der Bergpredigt spricht er nicht die damals sozial geachteten Menschen selig, sondern diejenigen, die an ihrer Erniedrigung leiden und sich auch schämen. Jesus selbst erfährt in der Passion die schlimmsten Kränkungen (Verrat von Judas, Verleugnung von Petrus, Ablehnung vom Volk, Verspottung und Geißelung durch Soldaten, Kreuzweg und schändlichste Todesart). Nach seinem Tod bleibt er als Stigmatisierter in Erinnerung. Die Schande der Kreuzeswunden ist nun ein Zeichen der Auserwählung.

Was Jesus lehrt und erleidet, ist für die antike Welt ungeheuerlich. Der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat fasst es so zusammen: »Inhalte, über die ihr euch empört und schämt, sind nicht diejenigen, die dieser Gefühle würdig sind …« Was zählt, ist nicht der alte Ehrenkodex, sondern Aufrichtigkeit und Vertrauen. Scham verdient Achtung.

Diese Einsicht hat sich im Abendland aber nicht anhaltend durchgesetzt. Im Recht herrscht das römisch inspirierte Schuldrecht vor. Auch in der Theologie rückt im Mittelalter die Schuldfrage wieder ins Zentrum. Scham ist allenfalls ein Nebenthema, vor allem wenn es um sexuelle und Geschlechtsfragen geht. Auch in der Aufklärung und in den aufkommenden Natur- und Geisteswissenschaften der Neuzeit, sogar in der Psychologie, wird Scham kaum behandelt, und wenn, dann in der Tendenz ab­schätzig.

Hintergründig breitet sich aber das Schamempfinden aus. Während körperliche Vorgänge wie der Stuhlgang und das Wasserlassen im Mittelalter wenig tabuisiert waren, beginnt man sich jetzt mehr und mehr dafür zu schämen, diese Verrichtungen in der Öffentlichkeit zu tätigen. Daraus hat der Soziologe und Historiker Norbert Elias in seinem beeindruckenden Buch Über den Prozess der Zivilisation (1976 [1939]) eine generelle Zunahme der Schamgrenzen in der Bevölkerung abgeleitet. Während es im Mittelalter – selbst am Hofe von Königen und Kaisern – an der Tagesordnung war, im Beisein von anderen Menschen Wasser zu lassen oder die Hosen herunterzulassen, seien zu Beginn der Neuzeit solche Verhaltensweisen, ebenso wie Schnäuzen, Rülpsen und Furzen in der Öffentlichkeit, tabuisiert worden. Erst jetzt hätten sich Sitten etabliert, die heute als zivilisiert gelten. Vor allem in Verbindung mit dem Namen und der Konzeption von Adolph Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788) sind wesentliche Aspekte dieser Entwicklung in ihren späten Ausläufern bis heute in unser kulturelles Gedächtnis eingeprägt.

Elias hat in der vermehrten Schamentwicklung überhaupt einen wichtigen Beitrag zur modernen Zivilisation gesehen und den Modernisierungsprozess in Europa generell mit einem Überhandnehmen von Scham in Beziehung gebracht. Obwohl er in seinem Werk vor allem eine vermehrte schamhafte Kontrolle körperlicher Bedürfnisse beschreibt, folgert er, dass in der Neuzeit – über die körperbezogene Scham hinaus – ganz generell jede Art von Scham zugenommen habe. Nach Auffassung von Elias spielt dabei die neuzeitliche europäische Staatenbildung eine wesentliche Rolle. Sie habe den mittelalterlichen Kriegeradel entwaffnet, die feudalistischen Umgangsformen abgeschafft und demokratische bzw. partizipative Beziehungsweisen gefördert. Dadurch sei es zur Verinnerlichung von Sitten und Normen gekommen. Es hätte also ein Wechsel von gewaltsam auferlegten Fremdzwängen zu innerpsychischen Selbstzwängen stattgefunden, die sich auch inhaltlich den neuen bürgerlichen Sozialstrukturen angepasst hätten. Dabei hätten sich auch die Schamanlässe verinnerlicht.

Diese historische Analyse von Elias ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Hans Peter Duerr bringt in Der Mythos vom Zivilisationsprozess (1988–2002), einem fünfbändigen Werk mit mehreren tausend Seiten, sehr viele Belege dafür an, dass das Mittelalter keineswegs frei von Scham war. Zudem belegt Duerr mit extrem reichem Quellenmaterial, dass Scham zu allen Zeiten bis in die Frühkulturen hinein eine große gesellschaftliche Bedeutung zukam. Doch wie oben ausgeführt, spielt die körperbetonte Scham – auch nach den Befunden von Duerr – im Mittelalter trotzdem eine bedeutend geringere Rolle als früher und später. Diese spezielle Situation des Hoch- und Spätmittelalters wird soziologisch manchmal so erklärt, dass in dieser Epoche ein enormer gesellschaftlicher Umbruch stattfindet, in dessen Verlauf es vor allem in den aufblühenden Städten zu einem Verlust an sozialer Kontrolle kommt. Gleichzeitig fehlt ein (reformatorischer oder demokratischer) Internalisierungsprozess, der diesen äußeren Verlust durch einen inneren kompensieren könnte. Diese Verinnerlichung auch von Scham findet – so die psychosoziologische Hypothese – erst in der Neuzeit statt.

Sicher ist, dass im Mittelalter beschämende und grausame Strafmaßnahmen bei Rechtsbrechern besonders häufig eingesetzt werden, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Insbesondere öffentliche Schande dient dazu, Menschen gefügig zu machen. So werden ungehorsame Schüler bestraft, indem sie eine Eselsmaske aufsetzen müssen, Verbrecher am Pranger oder in Halseisen der Öffentlichkeit vorgeführt und Frauen, denen Beleidigungen vorgeworfen werden, mit sogenannten Schandsteinen geächtet, die sie herumtragen müssen.

Diese vielfach unmenschlichen Schandstrafen weisen wohl darauf hin, dass es im Mittelalter gröberer Mittel bedurfte, um Scham zu wecken. Doch könnte auch umgekehrt die Ungehemmtheit der mittelalterlichen Lebensführung zu solchen rabia­ten Sozialisierungsmaßnahmen beigetragen haben. Diese Maßnahmen sind ja selbst auf ihre Weise schamlos.

In der Neuzeit werden solche Schandstrafen zunehmend weniger angewandt. Allerdings braucht diese Entwicklung viel Zeit. Auch wird sie immer wieder von Rückfällen – etwa in Gestalt von Schauprozessen oder öffentlichen Hinrichtungen – unterbrochen. Insbesondere der einsetzende Demokratisierungsprozess führt aber allmählich in Europa und den USA zu einer stärkeren Betonung der Selbstverantwortung und damit zu größerer Beachtung des eigenen Willens und des Rechts.

In der Moderne erhält das Verhältnis zu sich selbst fortlaufend mehr und mehr Beachtung. Es ist kein Zufall, dass sich im Zuge dieser zunehmenden Aufmerksamkeit neue Begriffe wie das »Selbst« bilden, die konzeptionell die eigene Erfahrung und die persönliche Reflektion sprachlich präziser fassen und damit deren Verteidigung, Diskussion und Kritik ermöglichen. Vermutlich lässt sich eine gerade Linie vom Begriff der »Selbstbehauptung« im 18. und 19. Jahrhundert über die »Selbstverwirklichung« im 20. Jahrhundert bis zur »Selbstoptimierung« im 21. Jahrhundert ziehen. Bei einer solchen Betonung des »Selbst« wird es für moderne Menschen jedoch zugleich immer wichtiger – und mitunter auch zwingend –, wie sie sich selbst einschätzen. Davon ist auch das Schamgefühl betroffen. Es bekommt eine selbstbewusste, innere Dynamik (zwischen vorgestelltem Wunsch und erfahrener Realität) und ist weniger stark an soziale Auslöser (wie Schande) gebunden. Die Einschätzung des eigenen Selbstwertes beeinflusst zunehmend, ob jemand Scham erlebt. Vor allem ein Verlust der Selbstachtung löst nunmehr Schamgefühle aus.

Dieser offensichtliche Zusammenhang wird aber in Psychologie und Psychotherapie relativ spät erkannt. In der Psychoanalyse wird Scham zunächst von Sigmund Freud in seinem trieb­orientierten Ansatz als hemmender Mechanismus gedeutet, der sich der Schaulust (Voyeurismus) und der Zeigelust (Exhibitionismus) entgegenstelle. Scham diene, so Freud, der Hemmung solcher infantiler Antriebe.

Auch wenn Freud später den Begriff des Narzissmus einführt und von narzisstischer Kränkung spricht, schenkt er dem Schamgefühl keine spezielle Aufmerksamkeit. Insbesondere grenzt er es nicht deutlich genug vom Narzissmus ab. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, dass Scham bei ihrer späteren Neuentdeckung in der Freud’schen Psychoanalyse mit dem narzisstischen Problemkreis verknüpft wurde und nicht als ein vom Narzissmus unabhängiges Phänomen gewürdigt wurde.

Tatsächlich wird Scham in der Psychoanalyse erst Ende des 20. Jahrhunderts zu einer eigenständigen und gewichtigen Thematik. Dazu trägt bei, dass das trieborientierte Freud’sche Konzept in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch psychosoziale Ansätze und insbesondere durch die Beziehungsdimension erweitert wird. Einerseits rückt damit – in der sogenannten Objektbeziehungstheorie und in der Selbstpsychologie – die Beziehung des Menschen zu sich selbst in den Fokus, andererseits wird nun auch der Beziehung zu anderen Menschen – im sogenannten Intersubjektivismus oder »relational turn« – vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt.

In der Verhaltenstherapie setzt im gleichen Zeitraum eine emotionale, kognitive und beziehungsorientierte Wende ein, die auch der Scham als sozialem Beziehungsregler zunehmend Beachtung schenkt. Zuvor hatten schon humanistische Psychotherapieschulen und familientherapeutische Ansätze der Beziehungsdimension größere Aufmerksamkeit geschenkt und sich dabei mit dem Schamgefühl auseinandergesetzt.

Die vermehrte Beachtung von Scham im Bereich der Psychotherapie ist jedoch kein isoliertes Phänomen. Sie spiegelt soziokulturelle Veränderungen im ausgehenden 20. Jahrhundert wider, die die Menschen auch in anderen Lebensbereichen vermehrt schambewusst machen. Dabei wird das Schamgefühl allerdings meist, wie bereits in der Einleitung kurz diskutiert, negativ beurteilt. Zunächst wird es als Hemmfaktor einer gesunden und emanzipatorischen Entwicklung eingeschätzt – auch in der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie. Erst in den letzten Jahren werden immer häufiger positive Aspekte der Scham diskutiert, wozu nicht zuletzt neue empirische Befunde beitragen konnten (Zusammenfassung bei Kwon, 2016). Diese belegen zum Beispiel, dass Menschen, die sich wegen eines Fehlers schämen, in zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen kooperativer sind als Menschen ohne Scham. Auch weisen sie bei sich schämenden Menschen eine größere Motivation nach, sich selbst zu verbessern. Insbesondere belegen erste Studien, dass sich maßvoll schämende Menschen ein größeres Entwicklungspotenzial haben als beispielsweise narzisstisch gekränkte Menschen (vgl. hierzu auch Kapitel 5).

Nun sind aber die Lebensbedingungen in der Moderne extrem unterschiedlich gewesen. So haben im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege und eine vernichtende Wirtschaftskrise die Menschen sichtlich an ihre Grenzen gebracht. Sehr viele mussten ums Überleben kämpfen. Aufgrund der umgreifenden Extremsituation war Scham dabei in der Regel kein Thema. Darüber hinaus haben tiefe Kränkungen im letzten Jahrhundert so große seelische Wunden hinterlassen, dass ein reflexives Gefühl wie »ich schäme mich« schwerlich möglich war. Stattdessen empfanden sich viele Menschen als Opfer schamloser Ungerechtigkeiten. Die Kränkung verdrängte die Scham.

Als Beispiel sei die Situation Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, mitsamt der empfundenen Kränkung durch die Versailler Verträge, herangezogen. Viele Deutsche erlebten den Zusammenbruch ihrer stolzen Nation als schwere Kränkung. Als die Wirtschaftskrise ihre Situation trotz großer Anstrengungen verschlimmerte, wuchs das Empfinden, Opfer von Unrecht zu sein, noch weiter an. Schwer gedemütigt blieb kaum Raum für Selbstkritik und Scham. Der quälende Druck tiefer Kränkung fand vielmehr ein Ventil im Hass auf jene, die für die Beschämung verantwortlich gemacht wurden. Dafür mussten vor allem die Juden herhalten. Auch wurde die Schuld in einer kapitalistischen oder bolschewistischen Weltverschwörung gesucht. Beides verhalf Hitler und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die Macht zu ergreifen. Die Empfindung, »radikale Verlierer« (Enzensberger, 2005) zu sein, wurde von den Nationalsozialisten aufgegriffen und mit militärischem Protz und narzisstischer Selbsterhöhung kompensiert. Der Hass, der durch die erwähnte Kränkung ausgelöst worden war, und die grandiose Selbstüberschätzung, die als Abwehr dazu diente, trugen maßgeblich dazu bei, dass die deutsche Bevölkerung mehrheitlich Hitler in den Zweiten Weltkrieg folgte (und auch dann wenig Einsehen hatte, als die Niederlage Deutschlands schon lange feststand). Deutschland erlebte eine unermessliche Kata­strophe, die jene des Ersten Weltkriegs noch weit übertraf.

Trotzdem erlitten die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht das gleiche Schicksal wie nach dem Ersten Weltkrieg. Das unglaubliche Elend, das der Krieg mit sich gebracht hatte, wurde mindestens teilweise als selbst verschuldet beurteilt. Sehr viele Deutsche nahmen wahr, wohin die nationalsozialistische Verblendung sie geführt hatte. Viele schämten sich der kriegerischen Exzesse ihres Vaterlandes und der grausamen Verfolgung und massenhaften Ermordung der Juden und weiterer Gruppen, die für ein »Volk der Dichter und Denker« unvorstellbar schien. Dass nun Scham möglich war und die Kriegsniederlage nicht wieder schamlose Kränkung zur Folge hatte, dürfte mit dem Marshallplan der Alliierten, dem raschen Erstarken der Wirtschaft und dem gelungenen Wiederaufbau zusammenhängen, aber auch mit einer schrittweise einsetzenden selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Sie weckte selbstbewusste Schamgefühle und half passive Kränkungsempfindungen zu überwinden. Das war durchaus ein Glück für Deutschland.

Heute haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen, nicht nur in Deutschland, nochmals grundlegend verändert. Der Wohlstand ist in den meisten westlichen Staaten so stark angewachsen wie nie zuvor. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat die physische Lebensführung enorm erleichtert und die Mobilität der Menschen extrem erhöht. Gleichzeitig hat sich aber auch der Arbeitsmarkt liberalisiert und globalisiert. Die Schere der Einkommensunterschiede hat sich nicht nur zwischen Reich und Arm, sondern auch zwischen der breiten Mittelschicht und der schmalen Einkommenselite in einem früher unvorstellbaren Maße aufgetan. Zudem ist auch der Abstand zwischen reichen und armen Ländern um ein Mehrfaches größer geworden. Immer mehr Menschen fühlen sich im Vergleich zu den besser gestellten Personen als Verlierer. In extremis fühlen sich einige so gekränkt, dass sie sich in Amokläufen oder in terroristischen Akten dafür rächen.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat diese Verhältnisse in einem Essay prägnant charakterisiert. Er schreibt rück- und vorausschauend:

»In den letzten 200 Jahren haben sich die erfolgreicheren Gesellschaften neue Rechte, neue Erwartungen und neue Ansprüche erstritten; sie haben mit der Vorstellung eines unabwendbaren Schicksals aufgeräumt; sie haben Begriffe wie Menschenwürde und Menschenrechte auf die Tagesordnung gesetzt; sie haben den Kampf um Anerkennung demokratisiert und Gleichheitserwartungen geweckt, die sie nicht erfüllen können; und zugleich haben sie dafür gesorgt, dass die Ungleichheit allen Bewohnern des Planeten 24 Stunden täglich auf allen Fernseh­kanälen demonstriert wird. Deshalb hat die Enttäuschbarkeit der Menschen mit jedem Fortschritt zugenommen« (Enzensberger, 2005, S. 175).

Diese Konstellation fördert eher Kränkung als Scham. Man kann aber Scham nie ganz auslöschen. Sie ist biologisch angelegt und wird kulturell geprägt. Auf der einen Seite dürfte eine Zunahme von Kränkungen dazu führen, dass Scham häufiger abgewehrt wird. Auf der anderen dürften Schamgefühle infolge der Förderung von Bildung und Selbstverantwortung eher Beachtung finden. In jedem Fall besteht Grund, Schamgefühle ernst zu nehmen und damit konstruktiv umzugehen.

Schlussfolgerung

Auch ein knapper historischer Rückblick macht deutlich, dass Scham vielschichtig ist und historisch keine einfache, lineare Entwicklung genommen hat. Es gibt zwar einen Trend von äußerer, sozial bedingter Scham hin zu innerer, selbstreflexiver Scham. Aber es ist auch ein Hin und Her zwischen verschiedenen Differenzierungsgraden der Scham auszumachen. Kulturepochen, in denen Scham eher ein Ausdruck menschlicher Würde ist, wechseln mit anderen Zeiten ab, die Scham als Zeichen von Schande und Schuld beurteilen oder als minderwertig und als Schwächezeichen abwerten.

Scham kommt in allen Epochen und Kulturen vor, was für eine genetische Anlage spricht. Sie dürfte schwerlich zum Verschwinden gebracht werden. Nur die Situationen und Werte, die Scham auslösen, ändern sich. Umso wichtiger ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen, die heute Scham auslösen, wenn sie nicht eingehalten werden.

2. Wie sich Scham beim ­Einzelnen ­entwickelt

Zur Biografie der Scham

Auf dem Weg zur Scham: »Fremdeln« als Vorstufe