Lobster, Mord und Meeresrauschen – Tante Tilli ermittelt - Patricia Grob - E-Book
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Lobster, Mord und Meeresrauschen – Tante Tilli ermittelt E-Book

Patricia Grob

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Beschreibung

Ein Küstenmord an der Ostsee und Seniorin Tilli auf einer Mission: Hyggelige Krimispannung für Fans von Gisa Pauly  »›Nein nein‹, unterbrach sie ihn und musste wieder darauf achten, dass ihre Tonlage vor Aufregung nicht durch die Decke schoss. ›Ich meine damit gestorben.‹ ›Aaah‹, machte Jakobsen und signalisierte, er hätte verstanden, doch seine sich zusammenziehende Monobraue vermochte Kopenhagen mit Göteborg zu verbinden.«  Um ihrer geldgierigen Familie und der Einweisung ins Seniorenheim zu entgehen, tritt Tilli die Flucht nach vorne an: Sie bucht einen Flug nach Las Vegas. Jedoch strandet sie an der dänischen Küste im eigentlich idyllischen Grenaa. Zu allem Überfluss geht der Weiterflug erst in 48 Stunden und dann wird am Hafen auch noch die Leiche ihres Ex-Mannes angespült. Für die ehemalige Politesse gibt es nur eine Lösung – die Zeit sinnvoll nutzen und den Mörder ihres einstigen Göttergatten zur Strecke bringen. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Franz Leipold

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (adrianam13, sibadanpics, lifeonwhite, artbutenkov)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Nachwort der Autorin

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Familie

Kapitel 1

»Ach, Tantchen«, seufzte Alexander und drückte ihre Hand. Nur eine Spur zu fest. Gerade so, dass es die Verbissenheit in seinen Worten unterstrich, ihr aber keinen Schmerz zufügte.

»Ach, Jungchen!« Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Was sagte man zu seinem Neffen, der einem soeben wenig subtil eröffnet hatte, man habe nicht mehr alle Daten im Netzwerk? Und der mit einem farbenprächtigen Prospekt einer Seniorenresidenz vor den bisweilen nicht mehr ganz so scharf sehenden Augen herumwedelte? Der Leitsatz dieser Einrichtung lautete »Im Alter fit und munter – im Seniorenheim wird’s kunterbunter« und war genauso aufgebläht wie das Gesicht ihres Neffen.

Sein Blick blieb lange an ihrem sorgsam zurückgekämmten silbergrauen Haar hängen, und Tilli fühlte sich allmählich unter seiner prüfenden Miene unbehaglich, sodass sie sich den Stoff ihres Hosenanzuges über dem Knie zurechtzupfte. »Möchtest du noch Kaffee?«, fragte sie, langte nach der Porzellankanne mit Blümchenmuster auf dem Salontisch und schickte sich an, eine weitere Tasse einzuschenken. Als ob sein Gesicht nicht schon rot genug war!

»Lass nur«, sagte er schnell, und sie rückte die Kanne achselzuckend zurück auf das Stövchen.

Tilli Salter spürte, dass der Pflichtbesuch für ihn abgehakt war; er hatte seine Schuldigkeit getan. Sie stellte sich vor, wie erleichtert er war, Königstein im Südosten Sachsens gegen das wuselige Dresden eintauschen zu können. Wie aufs Stichwort erhob er sich. »Ich muss dann auch wieder, Christiane wartet schon mit den Kindern.« Hastig sah er auf die Uhr.

Sie wusste auch ohne Kontrollblick, dass genau eine halbe Stunde vergangen war, seit er ihre Wohnung betreten hatte. Wie jeden letzten Sonntag im Monat. Länger wäre über Gebühr gewesen. An einem schönen Sonntag im vergangenen Januar war sie vor seinem Eintreten bereits am Türspion gestanden und hatte beobachten können, wie er vor dem Klingeln nochmals tief Luft geholt und diese angehalten hatte. Nun machte sie sich jeweils einen Spaß daraus, den Türspalt in Zeitlupe zu vergrößern. Sollte er doch dabei ersticken!

»Also, du überlegst es dir noch mal, ja?« Er zeigte auf den Prospekt, den sie absichtlich achtlos auf die Couch neben sich gelegt hatte, ging einen Schritt auf sie zu, holte tief Luft und patschte ihr einen einsekündigen Kuss auf die Wange.

»Was soll ich mir noch mal überlegen?«, fragte Tilli in gespielter Unschuld, während sie kräftigen Schrittes zur Haustür voranging und ihn mit gerunzelter Stirn anblickte. Sie wusste, wie sie den 25-jährigen zur Weißglut bringen konnte.

»Herrgott Tantchen, worüber haben wir jetzt die ganze Zeit geredet?«

»Ich weiß nicht … Eigentlich hast doch nur du geredet.«

Er seufzte, hob kurz die Hände, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Es ist in deinem allerbesten Sinne. Mutti findet auch, dass das eine gute Lösung wäre.«

Mutti. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm! In deinem allerbesten Sinne, äffte Tilli im Geiste die zehn Oktaven zu hohe Sopranstimme ihrer vier Jahre jüngeren Schwester nach. So etwas behauptete die Frau, die in einer 300 Quadratmeter großen Villa im Herzen von Dresden wohnte und mit drei Bediensteten ihr »anstrengendes« Leben als Industriellenfreundin führte. Constanze hatte nichts unversucht gelassen, aus dem Zivilstand »Freundin« in eine »Gattin« zu mutieren, ihr Möchtegern-Zukünftiger hatte sich jedoch stets um Verbindliches foutiert. Tilli hatte es ihm nicht verdenken können, wenn sie sah, wie raffgierig ihre Schwester sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit verhielt; anscheinend hatte sie dies auch an ihre Blutlinie eins zu eins weitergegeben.

»Grüß sie schön!«, erwiderte Tilli, anstatt auf seine Bemerkung einzugehen, was ihm erneut Sorgenfurchen auf die Stirn trieb.

»Mach ich, also dann bis …«

»Bis nächsten Monat, Alexander!« Sie lächelte ihn matt an, denn langsam war sie das Katz-und-Maus-Spiel leid.

Er sah sie irritiert an, schien abzuschätzen, wie viel Scharfsinn und Durchblick hinter ihren großen braunen Augen lag. Kleine grünliche Sprenkel verteilten sich um ihre Iris, und Tilli behauptete gerne, dass der liebe Gott ihr vor der Geburt im letzten Moment noch Verstand mit auf den Lebensweg hatte geben wollen. Der sei jedoch ausgegangen, weil er bereits zu viel für ihre Verwandten aufgebraucht hatte, sodass nur noch diese kleinen grünen Krümel übrig waren, die sich wie ein funkelnder Smaragd in ihren wachen Blick gruben.

»Denk gut über das Angebot nach. Ich komme wieder!« Seine Abschiedsworte klangen wie eine Drohung.

Als Tilli endlich die Haustür hinter Alexander geschlossen hatte, war es an ihr, tief auszuatmen; für einen Moment blieb sie mit dem Rücken gegen den Türstock gelehnt. Was fiel diesem Bengel eigentlich ein, ihr ein Seniorenheim vorzuschlagen? Sie gehörte noch lange nicht zum … zum Altmetall! Tilli Salter pfiff auf Rheumadecken und vermanschtes Rentneressen, das am Gaumen klebte, als sei es bereits vorgekaut worden. In ihrem Alter fing doch das Leben erst an! Jedenfalls dudelte das Udo Jürgens regelmäßig aus der Radiowelle, und sie hatte bisher noch immer jede Zeile lebensbejahend mitgesungen und dabei ihre steifen Hüften gewippt. Und bei ihr war »da oben« gar nichts morsch, wie Alexander unterstellte. Die zierliche Seniorin kokettierte zwar absichtlich damit, weil man ihn damit so herrlich reizen konnte, aber sie löste noch jedes Kreuzworträtsel ebenso schnell wie eine 20-Jährige. Und dazu kam noch eine gehörige Menge an Lebenserfahrung, die gemäß Alexander mit einem Verfallsdatum behaftet war, wenn man die Siebzig überschritt, aber seine Dreistigkeit löste schon lange keinen Groll mehr in ihr aus. Im Gegenteil: Es machte einen Heidenspaß, genau dann die Vergessliche zu mimen, wenn er siegessicher dachte, kurz vor dem Durchbruch zu stehen.

Doch nun hatte seine Penetranz einen solchen Punkt erreicht, dass selbst sie sich ängstigte. Der feste Druck seiner Hand, der rote Spuren auf ihrer Haut hinterlassen hatte. Sein unnachgiebiger Blick, der signalisierte, dass er ihre Faxen dicke hatte. Wie sahen wohl seine nächsten Schritte aus? Wäre er in der Lage, ihr mehr anzutun, statt nur auf sie einzureden und sie mit Vernunft und durchaus logischen Argumenten überzeugen zu wollen? Sie blickte auf ihre Hand, wo sie noch immer seine zu spüren glaubte.

Prompt ging sie auf die Knie, die ein wenig knirschten, wie um ihre gute körperliche Konstitution Lügen zu strafen, und zerrte ihren ledrigen Koffer, der zu DDR-Zeiten todschick war, unter dem Bett hervor. Er war noch mit verblassten Flugnummernaufklebern bestückt von Destinationen, die Tilli sofort wieder zum Träumen einluden. San Francisco, Shanghai und Singapur waren ihre »S«-Stationen gewesen. Ihre beste Freundin Katharina und sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, seit ihrer Jugend gemeinsam das Alphabet »abzufliegen«. Jedes Jahr schritt die Abfolge voran. Krankheitshalber hatte Katharina bei »L« aussetzen müssen, und Tilli hatte Rücksicht genommen und ebenfalls auf alle Destinationen mit dieser Chiffrierung verzichtet. Doch jetzt – sie musste an Udo Jürgens denken – wurde es Zeit. Zeit, alles Verpasste nachzuholen. Und nicht nur Udo lag ihr in den Ohren, auch Alexanders Bitte um ihre Autorisation hatte sie in ihrem Innersten wachgerüttelt. Sein knurriger Unterton hatte den Grad der Bitte zu einer Forderung und schließlich zu einem Ultimatum anwachsen lassen. Nein, solange ihre Gehirnzellen noch nicht Popcorn spielten, würde sie ihrem Neffen keine Unterschrift erteilen. Keine Seniorenresidenz und erst recht keine Vollmacht für ihre monetären Belange!

Tilli blieben jetzt genau 30 Tage Zeit, um sich aus Alexanders Greifarmen zu winden, ihre Spuren zu verwischen und auf Nimmerwiedersehen unterzutauchen. Und je eher ihr das gelang, umso besser. Deshalb musste sie diese verbleibende Zeitspanne unbedingt um 29 Tage unterbieten.

Sie ließ den geöffneten Koffer stehen, ging zurück ins Wohnzimmer und zog eine staubige Enzyklopädie aus dem Regal. Solange sie nicht wusste, wohin die Reise gehen sollte, konnte sie auch nicht adäquat packen. Sie schlug beim Buchstaben L auf, pustete die feinen Staubkörnchen in die Luft und schloss die Augen. Fast feierlich fuhr sie mit dem Zeigefinger die vielen bedruckten Linien entlang, ehe sie plötzlich laut »Stopp« sagte und ihn auf einer Zeile verharren ließ. Sie öffnete ein Auge, dann das andere und zog ein enttäuschtes Gesicht. Ludwigsburg. In Baden-Württemberg. Gewiss reizvoll, aber sie hatte sich etwas Schillernderes ausgemalt für ihr Vorhaben. Also auf ein Neues. Wiederum senkten sich ihre Lider. Tilli wurde zunehmend nervös, was sich durch ein Flattern in ihren Eingeweiden bemerkbar machte. Jetzt kam es darauf an. Dieser eine Moment – er konnte alles entscheiden. Wie um sich selbst auszutricksen, wendete sie das Nachschlagewerk noch im Uhrzeigersinn, wobei ihr Finger bei Buchstabe L eingeklemmt blieb. Nicht dass sie sich später selbst vorwarf, mit gezinkten Karten zu spielen. Dann legte sie das Buch auf ihren Knien ab und ließ – noch immer mit geschlossenen Augen – ihre linke Hand wie einen Metalldetektor langsam über das Buch wandern, um den verborgenen Schatz aufzuspüren. Sie atmete dreimal tief aus und schlug dann mit einem Ruck eine Buchhälfte auf. Ihre Lider vibrierten, als ihr Finger die beschriebenen Linien entlangfuhr. Drei – zwei – eins. Ihr Finger hielt inne. Hoffentlich nicht bei so einem unsinnigen Wort wie Ladenhüter. Oder Luftschloss. Sonst säße sie morgen noch hier mit dem dicken Wälzer auf ihren Beinen.

Erwartungsvoll und fast in Zeitlupe öffnete sie die Augen. Sie blinzelte die dunklen Schleier weg, und ihrer Brust entfuhr ein kleiner Jauchzer, als sie »ihre« Destination erblickte. Voller Freude sprang sie auf, wobei das Buch mit einem lauten Rumms vor ihre Füße flog. Mit siebzig Jahren, ja da fing das Leben an. Ade Königstein. Goodbye Sachsen. »Mathilde Clementine Salter«, sprach sie laut zu sich selbst. »Viva Las Vegas!«

Kapitel 2

Tilli sah auf die digitale Uhr in der rechten unteren Ecke ihres Laptops. Das Ding hatte fürwahr mittlerweile Sammlerwert und wurde vom Anbieter bestimmt gar nicht mehr repariert, doch solange es noch wie eine eins lief, sah sie keinen Grund für eine Neuanschaffung. Die Leute entsorgten sowieso wegen Nichtigkeiten ihre Geräte, anstatt sie zu reparieren oder wiederherrichten zu lassen, was Geldbeutel und Natur gleichermaßen schonen würde. Es waren drei Stunden seit Alexanders Abgang vergangen, und Tilli hatte keine Zeit zu verlieren.

Sie schob die Maus abermals verzweifelt auf den »Download«-Button des Buchungssystems, das ihr mittels eines Dialogfeldes weismachen wollte, sie habe den Flug bereits gebucht. Als ob sie das nicht selbst wüsste! Entnervt stieß sie sich vom Wohnzimmertisch ab, ging in die angrenzende Küche und setzte Teewasser auf. Wenn dieses Unterfangen in die Hose ging, würde sie bei den horrenden Flugpreisen fast eine ganze Monatsrente verlieren!

Als sie mit einem Apfelblütentee ins Wohnzimmer zurückkehrte, verhieß das inzwischen aufgepoppte Dialogfeld »e-Ticket jetzt laden« Gutes, und Tillis Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust. Sie klickte das Feld an. Während der sich drehenden Sanduhr setzte es dennoch einen Schlag aus. Ein eisiger Gedanke durchzuckte sie. Wie zum Teufel kam man denn an ein e-Ticket ohne das »e«? Sie konnte ja schlecht den Laptop am Terminal vorweisen? Gedankenversunken nahm sie einen großen Schluck aus der Tasse und verbrannte sich prompt daran. Sie schob das Getränk weit von sich und überlegte. Es half auch nicht, wenn sie versuchte, sich das Ticket auf das Handy zu laden. Ihr Nokia 3210 war ebenso geriatrisch wie der Laptop. Einen Drucker hatte sie zwar mal besessen, aber nur selten benutzt, sodass ihr ständig der Tintendruckkopf ausgetrocknet war; deshalb hatte sie ihn dem Nachbarsjungen in der Wohnung unter ihr für seine Schulaufgaben geschenkt. Ausdrucken kam somit auch nicht infrage. Sie ärgerte sich grün und blau. Warum hatte sie sich in der Vergangenheit nicht eher um solche Dinge gekümmert?

Das Computerbild flimmerte vor ihren Augen, und ihr wurde bewusst, dass sie nicht ohne etwas in der Hand am Flughafen aufkreuzen konnte. Die Bestimmungen hatten sich seit ihrem letzten Flug vor über zehn Jahren bestimmt geändert. Irgendetwas vorweisen musste man immer.

Tilli atmete tief aus. So weit hatte sie es also gebracht. Da war sie 70 Jahre alt, lebte allein überschaubar in einer Zweizimmerwohnung und geriet unverrichteter Dinge vor solche Hindernisse. Sie konnte bestens für sich sorgen; selbst Ungeziefer aus der Wohnung zu befördern und einen Nagel in die Wand zu schlagen war für sie kein Problem. Selbstständig wie sie war, hatte bisher nie ein Mann an ihrer Seite gefehlt, um etwas zu beheben oder zu organisieren, wozu sie selbst nicht in der Lage war. Und jetzt sollten ihre neuen Lebenspläne an einem einzelnen dämlichen Buchstaben scheitern? Auf keinen Fall!

Katharina!, überlegte sie. Sie wusste immer, was zu tun war. Ihre alleinstehende Freundin wohnte nur ein paar Straßen weiter. Nachdem sie sich telefonisch vergewissert hatte, dass Katharina nicht gerade wie sie vorher einen Besuchsslot an die Familie vergeben hatte, machte sie sich auf den Weg zur ihr.

***

Wie erwartet, hatte Katharina die IT-Lage sofort erfasst und beinahe binnen Sekunden gelöst. »Besser krieg ich es auf die Schnelle auch nicht hin«, erklärte sie, als sie Tilli das ausgedruckte Ticket hinhielt. Der Barcode war allerdings voller Schlieren und mehr schlecht als recht lesbar. Wenn das mal kein schlechtes Omen war!

»Musst du wirklich bereits morgen aufbrechen?«, fragte Katharina zweifelnd. Die Sorge um ihre Freundin war ihr deutlich anzumerken.

Tilli nickte beflissen. »Je eher ich abdüse, desto länger habe ich Zeit, ehe Alexander mein Verschwinden auffällt, und umso besser kann ich irgendwo untertauchen.«

»Ich weiß ja, wie geldgierig deine Familie ist, aber ist das nicht ein wenig … übertrieben?«

Das hatte Tilli sich in der Tat erst auch gefragt. Doch dann dachte sie zurück an Alexanders warnende Worte, seinen unnachgiebigen Blick und wie fest er ihre Hand gepackt hatte. In den vergangenen Monaten hatte er sie immer stärker auf ihren angeblichen geistigen Verfall aufmerksam gemacht. Doch heute war es das erste Mal gewesen, dass er seinem Unmut auch körperlich Ausdruck verliehen hatte. Auf eine weitere Episode wollte es Tilli gar nicht erst ankommen lassen. Sie schluckte ihre erneut aufwallende Angst herunter und schüttelte den Kopf.

Katharina fuhr sich nervös durch den schicken Pixie-Cut, den sie seit Neuestem trug und bei dem Tilli sich fragte, ob es einen männlichen Grund dafür gab. Tilli bedauerte sehr, dass sie keine Zeit hatte, um den neusten Klatsch mit ihr auszutauschen.

Katharina schien es ähnlich zu gehen, denn sie fragte nur mit brüchiger Stimme: »Wann sehen wir uns wieder?«

Die Antwort, die sie ihrer gleichaltrigen Freundin geben musste, brach Tilli fast das Herz: »Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe bald.«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, entgegnete sie trocken.

Tilli nickte, weil sie genau wusste, worauf ihre Freundin damit anspielte. Sie verstaute das Ticket in ihrer Tasche und nahm Katharina zum Abschied fest in die Arme.

Als sie sich widerwillig losließen, schwammen dicke Tränen in den Augen beider Frauen. »Vergiss nicht«, Katharinas Stimme brach, »morgen Nacht ist Zeitumstellung.«

»31. März, Zeitumstellung, Zeitumstellung«, murmelte Tilli leise vor sich hin, als sie Katharinas Wohnung verließ und die Treppenstufen zum Ausgang hinuntereilte. Das durfte ihr keinesfalls entfallen, bis sie wieder zu Hause war.

Kapitel 3

Ihr Magen sackte ein Stück nach unten. Nur ein kleines bisschen; etwa so, wie wenn man auf einer Schaukel sitzt und ein wenig zu kräftig angeschubst wird. Irritiert sah sie um sich, bis ihr Blick schließlich auf dem im Rücksitz vor ihr verbauten Monitor haften blieb. Da ruckelte ein kleines Miniaturflugzeug auf einer Linie bis nach … Aarhus. Einen kurzen Moment hoffte Tilli, dass sich der Flughafen in Las Vegas so nannte. Schillernde Flughafen-Namen wie »Paris-Charles-de-Gaulle« oder »Boston Edward Lawrence Logan«. Oder noch besser, dass sie träumte und jeden Moment erwachte; erhaben über den schrecklichen Moment als sie dachte, einem irrwitzigen Zufall zum Opfer gefallen zu sein. Doch Tillis Hoffnungen versiegten jäh, als sie der Verbindungslinie von Dresden bis über die dänische Grenze folgte. Und in der Folge verbrüderte sich ihr noch winterblasser Teint mit ihren kurzen grauen Haaren. Herrje, das war doch jetzt wohl ein Scherz! Sollte sie unwissentlich Protagonistin bei »Verstehen Sie Spaß« sein?

»Entschuldigen Sie, bitte?«, versuchte sie, die Flugbegleiterin aufzuhalten, die soeben an ihr vorübereilte und die Gepäckfächer über den Sitzen schloss.

»Ich komme sofort nach dem Start zu Ihnen.«

»Dann ist es zu spät«, sagte Tilli, doch ihr Satz ging im anschwellenden Dröhnen der Maschine unter. Eingebettet wie das Fleisch im Burger, presste Tilli ihre Arme eng an ihren Körper. Ihre Mitreisenden links- und rechterhand von ihrem Sitz nahmen keine Notiz von ihr und hatten es sich sehr ausladend bequem gemacht. Der junge Mann rechts neben ihr war trotz Startbeschleunigung und Rütteln des Flugzeuges bereits eingeschlafen. Beneidenswert. Tilli brach kalter Schweiß aus. Aarhus. Das hatte nichts mit Stars and Stripes gemein. Im Gegenteil. Weißes Kreuz auf rotem Grund. Nicht ganz wie jenes der Schweiz, viel schmaler und nicht so demonstrativ neutral. Sie wollte doch zu den einarmigen Banditen und den verrückten Mottohotels und nicht in die Gegend der Wikinger!

»Dänemark halt.« Das kam von der blonden Frau zu Tillis linken. Nun fiel ihr auf, dass sie unmerklich laut gesprochen hatte. – Wo fliegen wir hin? – Dänemark halt.

Gedankenfetzen zuckten durch ihr Hirn wie Blitze am Himmel. Die Zeitumstellung. Der falsch getimte Wecker! Die eine Stunde, die ihr beim Boarding gefehlt hatte. Das Rennen durch sämtliche Abflughallen inklusive Hürdengalopp über die Koffer der Mitreisenden, die plötzlich überall im Weg standen. Und warum bemerkte sie erst jetzt die Diskrepanz vorhin am Gate? Die nette Frau des Bodenpersonals hatte sie eilig zu sich gewunken, weil sie die letzte noch fehlende Passagierin des Fluges war. Doch die hatte sie »Frau Schmidt« genannt. Warum hatte ihr Verstand das komplett ignoriert? »Gebenedeite Mutter Maria«, wisperte Tilli und erntete einen irritierten Blick ihrer Sitznachbarin. War das denn überhaupt zu fassen? Sie saß im falschen Flugzeug! Es gab nur einen Weg, wie der Flug noch verhindert werden konnte. Sie könnte jetzt frisch fröhlich »Bombe« durch die Kabine krähen. Dann würde sie zumindest nicht in Aarhus landen, dafür aber gefesselt in einer Untersuchungshaftzelle. Immerhin würde es dort Kaffee umsonst geben. Und dann wäre dieser Flug für lange Zeit ihr letzter gewesen. Nein, sie verwarf die Idee sofort wieder. Tilli spürte, wie sich die Nase des Airbus’ nach oben zog. Am Fenster schossen Wolken vorbei wie überdimensionale Bälle aus Zuckerwatte. Sie klammerte sich nun doch an den Armlehnen fest und schluckte tief das Ploppen in ihren Ohren weg. Bye-bye Las Vegas!

Kapitel 4

Beklommen stand Tilli in der Ankunftshalle am Flughafen Aarhus. Mitreisende hasteten an ihr vorbei in die Arme von wartenden Angehörigen, oder sie trieben in einer Traube auf den verglasten Ausgang zu. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie sah sich ratlos in der Halle um. Aarhus. Die Stadt sagte ihr mehr, als ihr lieb war. Sie schob die unangenehmen Gefühle rasch beiseite; sie mussten dringend durch Las-Vegas-Glitzer ersetzt werden. Am Ende der Halle entdeckte sie die Aufschrift »Rejsebureau« über einem kleinen Kabäuschen. Sie schnappte sich ihren Koffer und straffte die Handtasche über ihrer linken Schulter. Na, dann würde sie den Herrn, der einsam darin saß und auf einen Monitor starrte, mal etwas beschäftigen!

***

Erleichtert stellte Tilli fest, dass der Mitarbeiter des Reisebüros nach der anfänglich dänischen Begrüßung ins Deutsche wechselte. Sie hätte sich zwar auf Englisch verständigen können, doch es war einfacher, von ihrem dümmlichen Missgeschick in ihrer gewohnten Sprache zu lamentieren. Er hatte sie höflich an seinen Beratungstisch gewunken, und Tilli hatte sich dankbar hingesetzt. Da sie den zentnerschweren Koffer einfach nicht unter dem Tisch unterbringen konnte, ließ sie ihn daneben stehen. Nun lauschte ihr Gegenüber schweigend, während sie von ihrem Fauxpas berichtete; nur hin und wieder zog er die buschigen Augenbrauen zusammen oder – und das sah Tilli ganz genau – verkniff sich ein amüsiertes Lächeln. Sie hielt es für besser, ihren Leidensweg im Flugzeug zu verschweigen, und kam schließlich zum Punkt ihres Anliegens.

Doch Minuten später war sie erneut ziemlich mutlos. »Was heißt hier nichts?«

»Nichts. So wie no oder kein Zimmer frei oder vergessen Sie’s.« Dann grummelte er etwas von einem Kongress und dass die Stadt seit Wochen ausgebucht sei. »Sie können froh sein, wenn Sie hier noch eine freie öffentliche Toilette finden.«

Tilli nagte an ihrer Lippe und sah nach draußen. Es hatte zu regnen begonnen. Die schweren Wolken hüllten den kleinen Raum trotz Deckenbeleuchtung in undurchdringliches trübes Licht.

Sie wandte ihren Blick zurück auf den Reisebüromitarbeiter, dessen Name – J. M. Jakobsen – auf einem kleinen metallenen Schild angeschrieben war. Darüber stand der Zusatz »Filialleiter«. Er war ein kantiger Mann; sein Brummen ließ es nur erahnen, doch seine breiten Schultern und die hervorstehenden Wangenknochen verstärkten diesen Eindruck. Tilli versuchte mit einem intensiven Blick in seine von einer Nickelbrille umrandeten Augen, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Doch er starrte an ihr vorbei auf seinen Bildschirm, als sei bereits alles gesagt. Sehr hilfsbereit, diese Dänen.

Wo sollte sie denn jetzt hin? In ihr tobte ein Kampf, den ein kleiner roter Teufel in ihrem Kopf mit einem leisen »Es ist doch nur für eine Nacht« gewann. »Gut, dann gehe ich halt doch nach Grenaa«, entschloss sich Tilli, stand auf und drückte mühsam den schweren Stuhl zurück.

»Was wollense denn in Grenaa?«

Alleine sein Ton stieß Tilli sauer auf. Er hatte sich soeben von einem desinteressierten Filialleiter in einen desinteressierten ungehobelten Filialleiter verwandelt. Neugierde war ein schmaler Grat. Tilli zuckte als Antwort mit den Schultern. Was gingen den Typen schon ihre Beweggründe an? »Können Sie mir bitte eine Bahnfahrkarte organisieren?«

Jakobsen zog die Augenbrauen zusammen, hämmerte dann aber doch auf die Tastatur ein.

Tilli suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy und wählte die Nummer, die längst verstaubt im Keller lagern würde, wenn sie denn ein richtiger Gegenstand wäre, und nicht nur eine zufällig zusammengewürfelte Zahlenabfolge. Sie ging die paar Schritte zum Ausgang des Büros und hielt sich das Handy ans Ohr, während es die Verbindung aufbaute. Sie beobachtete weiter Jakobsen, der betont gleichgültig mehrmals dieselbe Taste hintereinander drückte. Wenn das mal alles gut ging! »Komm schon – komm schon«, murmelte sie leise vor sich hin und wandte sich ab. Wie zu erwarten gewesen war, nahm niemand ihren Anruf entgegen. Vermutlich hatte er ihre Nummer sowieso gelöscht. Heutzutage konnte man ja sogar Leute blockieren. Tilli seufzte und kehrte an die Beratungsinsel zu Jakobsen zurück. »Können Sie bitte mal nachsehen, ob Sie wenigstens eine Unterkunft in Grenaa finden?«

»Grenaaaa«, murmelte er, wobei er die Endung bewusst in die Länge zog, und wandte sich wieder dem Computer zu. »Also am schnellsten reisen Sie per Straßenbahn dorthin. Die Linie L1. Oooder«, er strich sich mit der Hand die Mundwinkel glatt, »mit dem Taxi.«

Tilli schloss kurz die Augen. Na wunderbar.

»Und wegen der Uuunterkunft …«, er klickte wild diverse Punkte auf seinem Display an und zog den Satz in die Länge, als wisse er nicht, wie er es ihr schonend beibringen sollte, »… ist alles ausgebucht.«

»Lassen Sie mich raten, der Kongress …«

»So isses …«

Ermattet sank Tilli gegen die Stuhllehne zurück und blickte Jakobsen ins Gesicht. Wäre nicht dieser verkniffene Gesichtsausdruck gewesen, hätten seine Augen, die kleine Lachfältchen umspielten, beinahe bezaubernd auf sie gewirkt. Doch Tilli konnte sich nicht erklären, wie diese Sympathieträger sich in sein Gesicht verirrten; unvorstellbar, dass dieser unterkühlte Mann jemals auch ohne Schadenfreude lächelte.

»Keine Möglichkeit?«, hakte sie nach.

»Nej.« Er schüttelte den Kopf.

Sie pumpte Luft in ihre Backen und blies sie lautstark wieder aus.

Jakobsen sah sie einen Moment unbeirrt an. Dann kam plötzlich Leben in seine emotionslose Maske; er erhob sich, und Tilli bemerkte, dass er viel größer war, als er auf dem Stuhl wirkte. Er ging zu einem Korpus hinter der Beratungszone und kehrte mit einer vollgekritzelten Karteikarte zurück. Die Chinos standen ihm gut, und er kombinierte sie mit kleidsamem Flair, wie Tilli mit einem verstohlenen Blick auf das Hemd feststellte. In modischen Belangen kannte sie sich gut aus, das war ein Hobby von ihr.

»Grenaa, ja?«, vergewisserte er sich, während er sich wieder ihr gegenübersetzte; sie senkte schnell den Blick und nickte wenig überschwänglich.

»Allenfalls hätte ich hier etwas … Es ist zwar nicht das Ritz, aber bestimmt besser als eine Bahnhofsbank.«

Tillis Augenbrauen wanderten fragend nach oben.

»Eine kleine Pension – nichts Schickes, aber passabel.«

»Es ist ja nur für eine Nacht«, entgegnete sie und winkte lässig ab. Ein Bett und eine Dusche genügten.

»Ich rufe schnell an und kläre die Möglichkeiten.« Schon wählte er eine Nummer und legte lässig ein Bein über sein anderes Knie.

»Heejj«, sagte er langgezogen in den Hörer. Ab dann verstand Tilli nichts mehr. Jakobsen gestikulierte, fuhr sich durchs kurze braunmelierte Haar, sagte dann »godt«, schielte kurz zu Tilli und schien sich zu verabschieden. Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst, als er sich ihr zuwandte. »Also, Katrine ist bereit, Sie aufzunehmen. Für eine Nacht …«, er kratzte sich an den Bartstoppeln, »rein aus Goodwill.«

Goodwill? Was erlaubte sich dieser distinguierte Schnösel eigentlich? Sie schielte auf ihr Handy. Doch momentan schien ihr diese Katrine noch die beste Option zu sein.

»Also gut«, willigte sie ein. Doch die Aussicht, sich mit ihrem großen Koffer durch die Straßenbahn quälen zu müssen, minderte ihre Aufbruchsstimmung.

»Hier ist die Adresse.« Jakobsen reichte ihr einen Notizzettel. »Brauchen Sie sonst noch was?«

»Offen gefragt, gibt es einen Transfer für den hier?« Tilli nickte zu ihrem schweren braunen Koffer, der neben ihrem Stuhl abgestellt war. Schließlich konnte es auch in Las Vegas nachts kühl werden, deshalb hatte sie quasi für zwei verschiedene Jahreszeiten gepackt, da eine Rückkehr in absehbarer Zeit ohne jeden Zweifel undenkbar wäre. Und so war alles ein wenig voluminöser geworden als geplant. Am Check-in war sie nur knapp einem Übergepäckzuschlag entgangen. Und das bereits auf dem Hinweg!

Das Gepäckstück rang dem Leiter des Reisebüros nun doch ein Grinsen ab. »Wollen Sie auswandern?« Er stand auf und versuchte, den Koffer anzuheben.

»Nicht, dass Sie das etwas angehen würde, aber … wären Sie so freundlich, es liefern zu lassen?«

Jakobsen hob ihn ein wenig über den Boden an und ließ ihn Sekunden später wieder auf den Teppich knallen. Er blickte kurz auf das untere Drittel und suchte vermutlich die Rollen, die einen Transport erheblich vereinfacht hätten. Doch bei einem Koffer aus den 1980er-Jahren war das vergebliche Liebesmüh.

»Meinetwegen, aber rein aus Good…«

»Goodwill, ja, ich weiß. Danke!«

»Ich sehe, was sich machen lässt. Aber erwarten Sie keine Wunder! Und nehmen Sie die Zahnbürste besser in Ihr Handgepäck!«

Dabei kam schon seine mühsam erzwungene Hilfsbereitschaft einem Ritterschlag gleich! Dass er sie für geistig so wenig auf der Höhe hielt, dass sie nicht von vorneherein die wichtigsten Utensilien ins Handgepäck genommen hatte, ärgerte sie. Schließlich saß ihm eine routinierte Globetrotterin gegenüber! Doch in der jetzigen Situation waren er und diese Katrine die einzige ihr dargebotene Hand – also sollte sie nicht gleich reinbeißen.

Sie rang sich ein »Danke« ab, erhob sich und fragte: »Wo geht’s denn hier zur Straßenbahn?«

Kapitel 5

 

Jakobsen hatte Herz gezeigt und Tilli seinen Regenschirm mitgegeben. Sie trat aus dem rötlichen Flughafengebäude und sah kurz zum Himmel, der gerade seine Schleusen öffnete und alles hergab, was die Wolken in den letzten Tagen angesammelt hatten. Was für ein Schietwetter! In Las Vegas hätten sie mindestens 25 Grad erwartet.

Sie erwog kurz, die zuletzt gewählte Telefonnummer auf dem Handy erneut zu drücken. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder, schließlich gab es ja so etwas wie Überraschungen, nicht? Auch ohne mannshohen Koffer empfand Tilli die Fahrt mit der Straßenbahn als anstrengend.

Nachdem sie anderthalb Stunden später in Grenaa angekommen war, saß ihr der Reisetrubel noch tiefer in den Knochen. Sie freute sich auf eine ausgiebige Dusche und ein warmes Bett. Den Concierge würde sie bitten, sie am nächsten Morgen erst um neun Uhr zu wecken, und vielleicht könnte sie sich eine kleine Mahlzeit aufs Zimmer bringen lassen.

Am Bahnhofsvorbau saß in sich gekauert eine ältere, randständige Frau. Tilli blickte sich um, doch niemand würdigte sie eines Blickes. Geld mochte sie ihr nicht geben, Tilli war entschieden gegen jede Suchtförderung. Sie ging zurück zu der kleinen Sandwichtheke, an der sie bei der Ankunft vorbeigekommen war, und kaufte ein großzügig belegtes Brötchen und eine Wasserflasche. Dann reichte sie es der Frau mit einem aufmunternden Blick, die es dankbar entgegennahm. Tilli half anderen Menschen gerne, auch wenn Alexander ständig warnte, dass man ihre Gutmütigkeit nur ausnützen würde und sie viel zu freigiebig sei. Ihr mangelte es an nichts, weshalb sollte sie in Not geratenen Menschen nicht helfen? Nein, dachte sie mit einem Blick auf die eifrig kauende Frau, da konnte ihr seelenloser Neffe sich auf den Kopf stellen. Irgendwo in den Weiten des Universums gab es bestimmt jemanden mit einem Rechenschieber, der die Pluspunkte im Leben zusammenzählte.

Sie hielt sich an Jakobsens Beschreibung und folgte der Kannikegade, bog in die rechts abgehende Søndergade ein und folgte der Fußgängerzone, bis sie an einer imposanten Kirche vorbeikam. Tilli hätte nicht sagen können, ob sie reformierter oder katholischer Herkunft war, dennoch gefiel ihr die Bauweise der mehrschiffen Kirche und der aus Granitquadern hochgezogenen roten Mauern. Eine Statue stand in unmittelbarer Nähe, irgendein Herr namens Søren Kanne. Sie konnte die dänische Inschrift auf der Säule nicht lesen, ging aber davon aus, dass es sich um einen wichtigen Mann handeln musste, so stolz, wie er geradeaus in die Ferne blickte. Nur die einfach gehaltene Kleidung legte nahe, dass es sich hierbei nicht um einen Feldherrn oder Aristokraten handelte. Aber vielleicht gab es die zwischen 1801 und 1860, in der Zeit, in der er gelebt hatte, hier in Grenaa auch nicht.

Tilli schluckte mehrmals stark, als sie die Hejland Køh erreichte, die Jakobsen ihr aufgeschrieben hatte und die drei weitere Querstraßen vom Friedhof entfernt vor ihr lag.

Perplex glitt Tillis Blick an diesem Schandhaufen entlang, an dessen Fassade das verwitterte Schild »Pension« klebte. Schräg und mit Spinnweben überzogen, bog es sich von der Wand ab, als wolle es selbst die Flucht ergreifen. Tilli schluckte. »Velkommen« prangte über der Eingangstür, wo Dänemarks ausgebleichte, an den Säumen eingerissene Fahne im Wind flatterte. Aus der Dachrinne lugte noch das tote Laub vom vergangenen Herbst hervor – oder aus weiter zurückliegenden Dekaden. Die Flechten zogen sich an der Frontseite hinauf, als wollten sie sich des Gebäudes bemächtigen.

Dieser große dreistöckige Kasten, der wie ein verwunschenes Relikt aus einer längst vergessenen Zeit wirkte, lag eingebettet zwischen zwei anderen Fachwerkhäusern. Das gesamte Ensemble beschrieb einen Bogen in einer Sackgasse unmittelbar neben dem Friedhof. Nervös blickte Tilli nach links und rechts das einsame Sträßchen entlang. Es hätte sie nicht erstaunt, wenn Graf Dracula um die Ecke geschossen wäre, und es konnte keine Rede davon sein, dass der kleinen Pension hier direkt die Bude eingerannt wurde; sie war die einzige Touristin, die ratlos vor der schmiedeeisernen Eingangstür stand. Vielleicht sollte sie sich vom ersten Blick nicht täuschen lassen? Womöglich offenbarte sich im Innern ein richtiges Schmuckstück? Wenigstens flüsterte das ihr Optimismus zu.

Tilli widerstand dem Drang, sich zu bekreuzigen, ehe sie eintrat. Und wie Katharina zu sagen pflegte, die Hoffnung stirbt sprichwörtlich zuletzt, so wie sie den schmalen Flur entlangschritt, der von einem langen befleckten Läufer gesäumt wurde und vor einem Empfangstresen mündete. Dieser trotze einsam und verlassen dem übrigen Verfall des Gebäudes. Es schüttelte Tilli durch Mark und Bein. Das war hier alles andere als kuschelig.

»Oh, hej!« Eine drahtige Frau mit hochgebundenen pechschwarzen Haaren und grauem Haaransatz trat aus einem Raum, hinter dessen Tür Tilli jede Menge Heizungsrohre erhaschte. Sie strich sich eine Haarsträhne noch weiter ins gerötete, verschwitzte Gesicht und wischte sich rasch ihre schmutzigen Hände an der Schürze ab, ehe sie an den Empfangscounter eilte. Der Druck einer Taste erzeugte dennoch kein Licht auf dem Computerbildschirm, und Tilli kam der Verdacht, dass sie gar keine waschechte Rezeptionistin war, die den ganzen Tag nichts anderes tat, als Gäste zu begrüßen.

»Sie müssen Tilli Salter sein.«

Tilli überraschte ihr fließendes Deutsch. »Mein Ruf muss mir vorauseilen.« Oder sie war einfach der einzige Gast hier.

»Nein, aber Jakobsen.«

»Er ist hier?« Weshalb zuckte sie jetzt bei diesem Namen so zusammen?

»Nein, er hat sie angekündigt.«

Ja, jetzt ergab es einen Sinn.

»Mist, dieses Bild verschwindet hier immer«, fluchte die Frau, während sie verzweifelt mit der Computermaus auf einer Unterlagenmatte herumfuhr. Tilli schielte derweil auf die Tapete an der langen Treppe am Ende des Flurs, die stark abgeblättert war und den Verputz freigelegt hatte. Sie war sich fast sicher, dass dort am Ende der Stufen schon einiges mehr verschwunden war – oder dass sich jemand das Genick gebrochen hatte.

Die Aushilfs-Rezeptionistin drückte verschmitzt den Powerknopf und wartete darauf, dass der Computer zum Leben erweckt wurde.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, entschuldigen Sie. Ich bin Katrine. Einfach nur Katrine.« Sie hielt Tilli ihre Hand hin.

»Tilli Sal… Einfach nur Tilli.« Sie schüttelte Katrines Hand. Die sofortige Tuchfühlung ging ihr zwar einen Tick zu schnell, aber es war ja nur für eine Nacht.

»Ich muss noch schnell den Raum fertig… ähm … lüften, aber danach kannst du gleich einziehen.«