Locked in - Henri Faber - E-Book + Hörbuch

Locked in Hörbuch

Henri Faber

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Beschreibung

Du bist gefangen. Doch dein Entführer liegt im Koma. Und deine Zeit läuft ab. In Heidelberg verschwinden Menschen. Die Hoffnung, sie lebend wiederzusehen, sinkt von Tag zu Tag. Als Kommissar Paul Maertens endlich eine Spur zum Entführer findet, kommt es bei der Festnahme zu einem fatalen Unfall. Der Täter fällt ins Wachkoma, und seine Opfer scheinen verloren. Um sie zu retten, bleibt Maertens nur eine Chance: Der berühmte Neurologe Dr. Theo Linde hat eine Methode entwickelt, mit der er die Gedanken von Komapatienten lesen kann. Gemeinsam dringen sie in das Bewusstsein des Täters ein, um das Versteck der Entführten zu finden. Doch die Uhr tickt. Hinter jedem Gedanken verbirgt sich ein Hintergedanke. Und das Böse lauert nicht nur im Kopf des Entführers.

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Zeit:11 Std. 30 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Felix HolmWolfgang BergerSebastian Seidel

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Über das Buch

In Heidelberg verschwinden Menschen. Die Hoffnung, sie lebend wiederzusehen, wird jeden Tag kleiner. Als Kommissar Maertens den Entführer endlich stellen kann, kommt es zu einem fatalen Unfall: Der Täter fällt ins Wachkoma. Die einzige Chance, das Versteck der Opfer zu finden, ist der Neurologe Theo Linde und sein neuartiges Verfahren, das die Gedanken komatöser Patienten entschlüsseln kann. Gemeinsam dringen sie in den Verstand des Täters ein. Doch hinter jedem Gedanken verbirgt sich ein Hintergedanke. Und das Böse lauert nicht nur im Kopf des Entführers.

 

Von Henri Faber sind bei dtv außerdem erschienen:

Ausweglos

Kaltherz

Gestehe

Henri Faber

LOCKED IN

Thriller

 

 

Für Anna

 

 

Nach einer wahren Begebenheit

Prolog

Die Welt steht kopf.

Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, aber alles bleibt verkehrt. Der Nachthimmel mit seinem blank polierten Sternenstuck erstreckt sich unter meiner Nasenspitze, während das Gestrüpp des Waldbodens über mir hinweggleitet und durch mein Haar streicht.

Ungewöhnlich.

Es piept. Ständig. Dann schlägt etwas gegen meine Schläfe: eine Tür. Ich hänge kopfüber aus dem Fond eines Autos, und es piept. Sehr ungewöhnlich. Ich brauche drei Anläufe, bis es mir gelingt, mich aufzurichten und meinen kraftlosen Körper ins Gleichgewicht zu bringen. Ich habe kein Zeitgefühl, keine Orientierung, keinen blassen Schimmer, wem der Wagen gehört, aber ich hoffe, nicht mir, denn an der Decke klebt Blut. Neben mir liegen ein kaputter Regenschirm, eine Sporttasche und eine Pistole. Wie ferngesteuert greife ich nach ihr, wiege sie in der Hand. Ist das meine?

Ich recke den Hals, spähe in die Fahrerkabine. Niemand lenkt den Wagen. Fahrer und Beifahrer hängen verrenkt in den Gurten, überall ist Blut. Sind sie tot? Habe ich diese Männer erschossen?

Ungläubig starre ich die Waffe an. Ein beunruhigendes Gefühl brandet in mir auf, jedoch nicht in einem Ausmaß, das der Situation angemessen ist. Als wären meine Emotionen Treibholz, das in einer Bucht trudelt, aber nie das Ufer erreicht. Vielleicht liegt es an der Spritze, die aus meinem Oberschenkel ragt. Ich sitze mit einer Pistole und zwei Toten in einem Auto, das niemand lenkt, und es lässt mich kalt.

Ungewöhnlich. Sehr, sehr ungewöhnlich.

Ich will meine Stimme probieren, zucke zusammen. Vorsichtig tastet sich meine Zungenspitze an der Zahnreihe entlang, bis sie ins Leere fährt. Eine Lücke. Der Geschmack von Eisen. Blut. Was ist das nur für ein Piepen? Der Gurtalarm?

Mein Blick fällt auf den Rückspiegel. Er wirft ein Gesicht zurück, das unmöglich meins sein kann. Diese groteske Fratze wirkt nicht einmal menschlich. Da ist kein vertrauter Zug, nichts Bekanntes, nur blutverkrustete Hautlappen, die in Fetzen von meinem Schädel hängen.

Jetzt werde ich doch unruhig. Mein Atem geht schneller, ich glaube, mir wird schlecht. Ich will hinaus an die frische Luft, aber als ich es versuche, begreife ich, warum mir das Gestrüpp vorhin durchs Haar gefahren ist: Wir bewegen uns. Wir bewegen uns rückwärts.

Automatisch drehe ich mich zur Heckscheibe. Ich sitze mit einer Pistole und zwei Toten in einem Auto, das niemand lenkt, und wir rollen einen Waldweg entlang, der sich dort vorne in der Dunkelheit verliert.

Ungläubig schließe ich erneut die Augen, öffne sie, und alles bleibt beim Alten. Doch diesmal verstehe ich. Diesmal kommt mit der Welt die Erinnerung zurück, mit der Erinnerung kommt die Panik, und mit der Panik kommt das Adrenalin, das meine Adern durchströmt, den Nebel, die Lethargie, die Droge fortspült und mich der bitteren Realität überlässt: Ich weiß wieder, wer ich bin. Und ich weiß, was ich getan habe. Ich weiß, dass die beiden Männer da vorne um ihren letzten Atemzug kämpfen, und ich weiß, dass dieser Waldweg nicht in Dunkelheit endet. Er führt direkt auf eine steile Böschung zu, an deren Fuß Bahngleise verlaufen. Jeder in diesem Fahrzeug wird sterben. Aber vermutlich ist das besser so.

Wir haben nichts anderes verdient.

TEIL EINS

»Hirnforschung vernachlässigt Locked-in-Patienten.«

welt.de | 11.12.2009

Maertens

Samstag, 18. Januar, 21:33 Uhr

 

Als ich das Polizeisiegel durchtrenne und die Wohnung betrete, steigt mir sofort ein vertrauter Geruch in die Nase. Cannabis und Räucherstäbchen.

Wann war ich das letzte Mal hier? Vor vier Monaten? Das süßlich-harzige Bouquet scheint sich förmlich in die Tapete gefressen zu haben. Damals erinnerte mich der Geruch an eine Razzia im Studentenwohnheim. Jetzt erinnert er mich an diesen Tatort. Und das ist gefährlich.

Erinnerungen sind Routine, und Routine macht blind. Der Geist ruht sich im Bekannten aus, übersieht Details. Eigentlich bräuchte ich einen frischen Blick von außen. Aber ich habe nur den Blick von Stefanie.

»Darf ich Sie etwas fragen?«

Fragen. Stefanie scheint nur daraus zu bestehen.

»Das ist der zweite Tatort, richtig?« Sie trottet mir hinterher und redet, ohne von der Fallakte aufzublicken. »Die Spurensicherung hat doch schon alles auf den Kopf gestellt. Warum sind wir dann hier?«

»Müssen etwas übersehen haben«, antworte ich knapp und zwänge meine Finger in die Einweghandschuhe.

»Okay. Und … was genau suchen wir?«

Ich seufze. Zugegeben: Meine neue Kollegin hat es nicht leicht. Ich kenne ihre Akte: Mutterschutz, Elternzeit, Teilzeit, Mutterschutz, Elternzeit und dann wieder Teilzeit. Nach ihrer Laufbahnausbildung zur Kriminalkommissarin war Stefanie de facto noch nie Kriminalkommissarin. Und jetzt hat unser Direktor sie ausgerechnet in diesen Fall geworfen. Gestern. Das ist nicht leicht. Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist, dass in Heidelberg Menschen verschwinden. Und wenn uns nicht bald etwas einfällt, bleiben sie auch verschwunden. »Wir suchen …«, setze ich an, komme nicht weit. Ihr Smartphone vibriert. Schon wieder. Ich tippe auf …

»Gerd, ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht ständig telefonieren kann.«

Der Ehemann.

»So schlimm? Wie klingt der Husten denn? Dann gib ihr ein Zäpfchen. Und lager sie höher.« Nach drei weiteren Anweisungen legt Stefanie auf und setzt ein verkrampftes Lächeln auf. »Tut mir leid, die Kleine hat starken …« Ihre Stimme erstirbt im offensichtlichen Desinteresse meiner Mimik. Eines meiner größten Talente, wenn es nach den Kollegen geht.

»Suchen Sie Dinge, die nicht ins Bild passen«, trage ich ihr auf, denn es besteht ein klein wenig Hoffnung, dass ihr tatsächlich etwas auffallen könnte, was bisher unbemerkt geblieben ist. Stefanie ist zum ersten Mal in der Wohnung. »Dinge, die ungewöhnlich erscheinen. Jedes Detail zählt – und sei es noch so unbedeutend.«

Sie nickt eifrig und wird sofort fündig. »So wohnt der Manager eines Zementkonzerns?«

Ihre Worte gehen runter wie Öl. Brennendes Öl. »Ludwig Schuch war das erste Entführungsopfer«, presse ich neben der aufsteigenden Magensäure hervor. »Das ist die Wohnung des zweiten Entführungsopfers.«

»Sorry.« Bußfertig schlägt sie erneut die Fallakte auf und liest sich selbst daraus vor. »Larissa Koch. Dreiunddreißig. Ledig. Lehrerin am Helmholtz-Gymnasium. Erschien am 20. September letzten Jahres nicht an ihrem Arbeitsplatz … besorgter Kollege kam zur Wohnung … spurlos verschwunden.« Sie senkt die Mappe und wirft einen brüskierten Blick auf den Aschenbecher, aus dem ein halb gerauchter Joint ragt. »Lehrerin?«, wiederholt sie und lüpft eine Augenbraue. »Biologie?«

»Chemie und Physik.«

»Okay, und dass ihr Verschwinden etwas mit Ludwig Schuch zu tun haben muss, wissen wir wegen des Gases, richtig?«

»Nicht Gas. Aerosol. Ein Fentanylderivat. Spuren davon im Teppichboden und an den Jacken der Garderobe. Das gleiche Aerosol wie bei Schuch und das gleiche wie jetzt.« Ich schnaube aus. Dieses Jetzt ist der wahren Bedeutung des Wortes unwürdig. Jetzt bedeutet: just in diesem Moment. Aber dieses Jetzt war gestern, genauer gesagt: vor ungefähr zwanzig Stunden. So lange ist es her, dass Opfer Nummer drei verschwunden ist. André Fechtner, achtunddreißig, Hauswart und gute Seele in einem Pflegeheim, Vater zweier Kinder. Das gleiche Aerosol. Das gleiche Muster: einfach wie vom Erdboden verschluckt.

»Und es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Opfern?«

»Nein.« Natürlich nicht. Die SOKO beißt sich seit Monaten die Zähne an diesem Fall aus. Gäbe es eine Verbindung, hätten wir eine Spur und könnten irgendwo ansetzen, aber wir haben rein gar nichts. Die Opfer kannten sich nicht, sind unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts und stammen aus unterschiedlichen Milieus. Kurzum: Wir sind vollkommen blind, auch was den Entführer betrifft. Er ist in der Lage, einen Körper ein paar Meter über den Boden zu schleifen, und hat wohl irgendeine Art von chemischer Ausbildung absolviert. Das macht ihn statistisch gesehen männlich und studiert. Praktisch haben Frauen genauso Muckis, und mit ein bisschen Grips kann man heutzutage jeden Giftcocktail nach Anleitungen aus dem Internet selber mixen. Für die Inhaltsstoffe braucht man nur an den richtigen Ecken in Heidelberg mit einem Geldbündel zu winken.

Wir können das Täterprofil genauso gut würfeln. In meiner gesamten Laufbahn als Ermittler hatte ich noch nie so wenig in der Hand. Es ist, als jagten wir ein verdammtes Hirngespinst. Konzentrier dich, Paul, du musst etwas übersehen haben. Irgendetw-

»Gerd! Jetzt beruhig dich!«

Gerd. Na klar. Helfen wir erst mal Gerd.

»Hast du das Zäpf- Hallo? Gerd?« Stefanie reißt sich das Smartphone vom Ohr und starrt auf das schwarze Display. »Shit.« Ihr Blick springt zu mir. »Haben Sie vielleicht ein Ladekabel dabei? Oder könnte ich … Es dauert wirklich nicht lange.«

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen. Dann entsperre ich mein Smartphone und reiche es ihr wortlos.

»Ja, ich bin’s. Ja, der Akku! Hör zu, beruhig dich. Das Zäpfchen braucht kurz, bis es wirkt.«

Na gut. Dann eben kein frischer Blick von Stefanie, nur der immer gleiche Blick von mir. Meine Augen haben den Tatort bestimmt ein Dutzend Mal gesehen, mein Kopf hat schon hundert Mal durchgespielt, wie alles abgelaufen sein könnte. Die einzige Hoffnung der Opfer beruht also darin, dass mir beim hundertundeinten Mal doch noch etwas auffällt, das mich zu ihnen führt. Tolle Aussichten.

Ratlos gleitet mein Blick durch die Wohnung, bleibt an einem gerahmten Foto hängen. Larissa Koch auf Klassenfahrt, umringt von feixenden Jugendlichen. Mit ihrer burschikosen Strubbelfrisur, dem Marvel-Hoodie und den Händen tief in den Taschen ihrer Cargo-Shorts vergraben hebt sie sich kaum von den Teenagern ab. Ihren Schülern zufolge war sie eher eine von ihnen als eine Lehrerin, ein waschechter Nerd, der die Grundregeln der Physik anhand von Superhelden erklärte. Spiderman und die Abenteuer der Zentripetalbeschleunigung, tss …

Meine Finger trommeln ungeduldig auf den Oberschenkeln. Vielleicht ist das ein Ansatz: einer von ihnen werden. In die Haut der Opfer schlüpfen. Etwas anderes fällt mir ohnehin nicht ein.

Entschlossen marschiere ich an Stefanie vorbei, verlasse die Wohnung und betrete sie gleich darauf wieder. Ich schließe die Augen, hole tief Luft und lasse sie in einem lang gezogenen Atemzug entweichen. Als ich die Augen öffne, bin ich nicht länger Paul Maertens. Ich bin Larissa Koch.

Es ist der Abend des 19. September. Ich komme nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause und habe nichts vor – zumindest habe ich keine Eintragungen in meinem Terminkalender. Ich komme zur Tür herein, streife die Collegejacke ab, lasse Tasche und Rucksack achtlos fallen – ich bin nicht gerade der ordentliche Typ. Jetzt ab in die Küche.

Laut Kassenbon habe ich schon während der Fahrt hierher zwei Snickers verdrückt, denn weder die Riegel noch die Verpackungen sind auffindbar. Ich schiebe mir ein Fertiggericht in die Mikro und öffne den Rotwein, den es im Sonderangebot gab. Dann gehe ich ins Bad, um die Kontaktlinsen herauszunehmen, ziehe mich nicht um – jedenfalls deutet die Faseranalyse des Teppichs darauf hin, dass ich in denselben Klamotten entführt werde, in denen man mich zuletzt gesehen hat, Jeans und Sweatshirt – und starte mit dem Ping der Mikrowelle in den wohlverdienten Feierabend: Couch, Fünf-Käse-Pasta, eine Flasche Sconto Rosso, ein Joint und … und … Unschlüssig betrachte ich den riesigen Flachbildfernseher an der Wand. Tierdokus? Sport? Was habe ich gesehen? Keine Ahnung. Das Gerät war bei der ersten Tatortbegehung im Standby-Modus.

Genervt wandert mein Blick zur Terrassentür. Dahinter liegt mein kleiner, verwilderter Garten, doch ich sehe bloß meine Spiegelung in den Scheiben und nicht, wer im Schutz der Dunkelheit lauert und mich beobachtet. Anhand der Aerosolspuren wissen wir, dass mich der Täter vorne an der Haustür überwältigt haben muss, aber er hat mich durch den Garten nach draußen geschleift und vermutlich in den Kofferraum seines Autos geladen. Der Dohlweg ist kaum beleuchtet, niemand sieht uns, niemand hört mich schreien, denn ich schreie nicht. Das Fentanylderivat ist tausendmal stärker als Morphium. Wirkung: beinahe sofortige Sedierung, Schmerzausschaltung, Atemdepression. Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Herzstillstand, Gedächtnisverlust und so weiter – eine Liste, die jeden Beipackzettel sprengt. Bei der Konzentration der Dosis sind sich die Labortechniker nicht einmal sicher, ob ich überhaupt in der Lage bin zu atmen.

Noch immer starre ich auf mein Spiegelbild. Ein abgekämpftes Wrack stiert matt und müde zurück. Auf dem Papier bin ich vielleicht dreißig, aber mein Gesicht sieht eher aus wie Mitte vierzig. Was mache ich mir eigentlich vor? Ich bin nicht Larissa Koch. Larissa Koch wurde vor vier Monaten entführt, Ludwig Schuch vor knapp einem Jahr. Sie sind tot. Und ich sitze hier und verplempere Zeit, bis auch für André Fechtner jede Rettung zu spät kommt.

»Wird der Husten weniger? Gut, dann leg dich zu ihr, ich komme bald.«

Kraftlos sinke ich auf der Couch zusammen und vergrabe mein Gesicht in den Handflächen. Hinlegen, das wär’s. Hinlegen und nie wieder aufstehen.

»Ist das Nico im Hintergrund? Morgen ist Schule! Du kannst ihn nicht die ganze Nacht zocken lassen!«

Ich zögere, überlege, spähe zum Fernseher. Zocken … Hier fehlt doch etwas! Hastig springe ich auf, stürze zu Stefanie und reiße ihr mein Telefon aus der Hand. »Ab ins Bett mit dem Jungen!« Gerd Ende. Galerie-App. Scrollen, zig Fotos, alle ähnlich. Die Wohnung von Larissa Koch vor vier Monaten. Eingangsbereich, Küche, Treppenaufgang, Wohnzimmer, Aufnahmen mit Weitwinkelobjektiv, dann Details: Couch, Aschenbecher, der Fernseher, und … Ich blicke auf. Tatsächlich! Sie fehlt!

Irritiert lasse ich das Smartphone sinken. Das Polizeisiegel war intakt – wie kann das sein? Mit einem Satz bin ich bei der Terrassentür, ziehe daran, sofort springt sie auf. Der Rahmen ist beschädigt. Jemand hat sie aufgehebelt. Einbrecher? Aber der Fernseher, die teure Soundanlage, die ganzen Smart-Home-Geräte, die hier herumstehen, alles noch da.

Ich trete hinaus in den Garten, mache ein paar Schritte in die eisige Nacht hinein, aktiviere die Taschenlampenfunktion meines Smartphones. Links, rechts, nach hinten hin – überall mannshohes, verwildertes Gestrüpp. Ein einziger Zugang über ein Gartentor ohne Schloss. Jeder kann hier rein. Aber wieso nur eine Sache stehlen? Das ergibt keinen Sinn. Der Lichtkegel gleitet über die Hecke, lässt etwas Rotes erstrahlen. Ein Faden. Abgeknickte Äste. Meine Gedanken rasen. Eine Idee keimt auf. Das ergibt Sinn!

Ein Zweig bohrt sich mir in die Wange, ein anderer in die Rippen. Hinter mir ertönt Stefanies Stimme, aber das Rascheln der Blätter ist so laut, dass ich sie nicht verstehe. Als mich die Hecke auf dem Nachbarsgrundstück wieder ausspuckt, stolpere ich über ein BMX-Bike. Hier bin ich richtig.

»Aufmachen! Polizei!« Meine Faust hämmert im Stakkato gegen die Scheibe der Terrassentür des benachbarten Reihenhauses.

Nach einer Weile wird der Vorhang dahinter zur Seite geschoben, und eine blasse Frau mit hochgezogenen Schultern und einem Kerzenständer in der Hand schaut mich ängstlich an. Die Befragung der Nachbarn ist schon zu lange her, als dass mir ihr Name präsent wäre, aber ein paar Informationsbrocken spucken die grauen Zellen noch aus: Zahnarzthelferin, zwei Kinder, Mann abgehauen.

»Machen Sie die Tür auf.« Ich drücke meinen Dienstausweis gegen die Scheibe. »Maertens, Kripo Heidelberg.«

Sie kneift die Augen zusammen und mustert den Ausweis, wirkt jedoch nicht sonderlich überzeugt. Erst als Stefanie hinter mir aus der Hecke taumelt, scheint sie ihre Zweifel abzulegen.

»Was wollen Sie denn zu dieser Uhrzeit …«, beginnt sie verdattert, doch da bin ich längst an ihr vorbei. Mit großen Schritten marschiere ich durchs Wohnzimmer und haste die Treppe hoch. Bei Larissa Koch war das vierte Zimmer eine einzige Rumpelkammer. Hier ist es so etwas Ähnliches: das Kinderzimmer.

»Klopf, klopf«, sage ich und reiße die Tür auf, ohne anzuklopfen.

Zwei Jungs sitzen im Schneidersitz auf einem Etagenbett und schauen erschrocken vom Fernseher auf. Dass sie Brüder sind, erkenne ich sofort. Bei wem ich die Brechstange ansetzen muss, wird auch schnell klar.

»Polizei!«, herrsche ich den Zwerg an. Wie alt wird er sein? Elf? »Ihr seid verhaftet!« Er lässt den Videospiel-Controller der geklauten Konsole fallen, als würde er plötzlich glühen.

»Hey!«, fährt mich der ältere Bruder an und springt auf. »Wer sind Sie? Sie dürfen hier nicht rein!«

Ich beachte ihn gar nicht, widme mich ausschließlich dem Zwerg. »Weißt du, was man für Diebstahl bekommt? Fünf Jahre, mindestens!«

Die Augen des Kleinen werden glasig. Er rückt ganz nach hinten an die Wand.

»Wir haben nichts gemacht!«, protestiert der Ältere. »Sie können uns gar nichts, ich bin erst sechzehn! Timo ist elf und …«

»… aber eurer Mutter!«, würge ich ihn ab und bohre meinen Blick weiter in Timos unschuldige kleine Seele. »Sie ist für euch haftbar, sie wandert in den Knast, und dann? Was passiert mit Kindern ohne Eltern? Sie kommen ins Heim!«

»Kevin! Timo! Was ist da los!«, hallt es aufgeregt durch den Flur.

Ich wirble herum, werfe die Tür hinter mir zu und schiebe einen Stuhl davor, sodass die Rückenlehne die Klinke blockiert.

Kurz darauf donnert eine Faust dagegen. »Hallo? Was soll das? Was machen Sie mit meinen Jungs?«

»Mama!«, schreit Kevin.

»Kevin!«, schreit seine Mutter.

»Herr Maertens! Machen Sie auf!«, plärrt Stefanie dazwischen, aber nichts dringt zu mir durch. Das Klopfen, das Stimmenwirrwarr, die ganze Hektik des Augenblicks verhallt. Es gibt nur mich und den kleinen Timo.

»Du hast nur eine Chance, Kleiner«, knurre ich ihn an. »Eine einzige! Was habt ihr gestohlen?«

Es dauert keine Sekunde, und alle Schleusen brechen. »Das war Kevins Idee!« Seine Stimme überschlägt sich. »Er hat die Tür aufgebrochen!« Mit Tränen in den Augen springt er vom Stockbett und wirbelt durchs Zimmer. »Wir haben uns das nur geborgt, bis Frau Koch wieder da ist.«

»Halt die Klappe!«, zischt ihn sein Bruder an, aber Timo ist nicht mehr zu bremsen. »Das sind alle Spiele! Star Wars, Call of Duty, Halo, Diablo und die zwei Controller. Und die X-Box. Und wir haben eine Packung Chips ausgeliehen, die ist schon weg. Und das haben wir noch geborgt. Und das.« Er reißt Schranktüren auf, durchwühlt Schubladen, holt aus allen möglichen Ritzen das Diebesgut hervor und sammelt es auf der Bettdecke. Ein Pez-Spender, ein Taschenmesser, ein kleiner, durchsichtiger Beutel mit etwas, das aussieht wie Haschisch, eine Spiderman-Action-Figur, ein brauner Umschlag, ein …

»Das Geld haben wir wirklich nicht genommen. Es war schon weg!«

»Welches Geld?«

Timo stürzt zum Bett und schüttelt ein Portmonee aus dem Umschlag. »Das war jemand anderer. Ehrlich!«

Ich nehme die Geldbörse an mich und betrachte das Batman-Emblem darauf. Sie gehört eindeutig Larissa Koch. Ihre Krankenkassenkarte, ihr Personalausweis, alles noch da. »Wo habt ihr die her?«

»Die war in dem Umschlag. Der lag im Flur vor dem Briefeinwurf. Aber es war wirklich nichts drinnen! Bitte sperren Sie meine Mama nicht ein, bitte, bitte, bitte!«

»Wann war das?«, frage ich mit heiserer Stimme und mustere den Absender. Securitec Sicherheitsdienst.»Wann seid ihr drüben eingebrochen?«

Timo reißt den Mund auf, klappt ihn wieder zu und starrt verzweifelt in Richtung seines Bruders.

»Letzte Woche Samstag«, murmelt Kevin kleinlaut, nur um gleich darauf den Starken zu markieren. »Aber das war kein Einbruch! Die Terrassentür war offen! Und das Hasch seh ich zum ersten Mal.«

Er redet weiter, ich höre nicht zu. Meine Finger fliegen über das Display meines Smartphones: Google-App, tippen, Treffer. Die Seite des Unternehmens baut sich auf. Nummer, Nummer, ich brauche – da! Es läutet. Zum Glück sind solche Firmen rund um die Uhr besetzt.

»Securitec Sicherheitsdienst und Objektschutz«, meldet sich eine verrauchte Frauenstimme. »Was kann ich …«

»Maertens, Kripo Heidelberg«, kürze ich die Sache ab. »Ich habe hier einen Umschlag mit einem Geldbeutel darin, Absender ist Ihre Firma. Die Börse hat ein Batman-Symbol, können Sie mir dazu etwas sagen?«

Einen Moment lang herrscht Stille in der Leitung. Dann: »Ach die! Ja, ich erinnere mich. Es kommt nicht oft vor, dass unsere Mitarbeiter eine Brieftasche finden, in der noch Geld ist.«

Mein Blick trifft Kevin, der schweigend zu Boden starrt.

»Wo wurde die Börse gefunden? Und wann?«

»Vor zwei Wochen vielleicht? Warten Sie.« Etwas knackt, dann ertönt das Geräusch einer Tastatur. »Herr Sahin hat die Geldbörse gemeldet, das muss auf der Südostroute gewesen sein, da haben wir einige Aufträge. Wir schicken natürlich nicht alle Fundsachen per Post, aber wenn der Perso drinnen ist … Ah, hier steht es ja! Das war bei unserem Objekt in der Michael-Gerber-Straße.«

»Michael-Gerber-Straße«, wiederhole ich und schüttle den Kopf. »Wo ist das?«

»Am Schneckenbuckel, in Neckargemünd.«

»Und was ist das für ein Gebäude?«

»Kommt drauf an«, schnarrt es aus dem Hörer. »Der Kümmelbacher Hof war schon vieles. Ein Kurhotel, eine Brauerei, eine Klinik. Zuletzt war er ein Forschungszentrum, soweit ich weiß, aber das ist lange her.«

Ein Kribbeln jagt über meinen Rücken. »Das Gebäude steht leer?«

»Seit Jahren.«

Das Kribbeln erfasst meinen gesamten Körper und entzündet genau den Funken Hoffnung in mir, nach dem ich schon so lange giere. Das ist er, ich spüre es: der entscheidende Hinweis. Drei Menschen sind verschwunden. Niemand hat je etwas gesehen, niemand hat etwas gehört, es gab nichts, was uns einen Schritt weitergebracht hätte. Und jetzt liegt sie einfach so vor mir, direkt in meinen Händen: die Spur, die uns auf den richtigen Weg führt.

Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen, während ich mit dem Zeigefinger über das Fledermaus-Emblem der Geldbörse streiche. Wenn Larissa Koch noch lebt, wird sie vor Freude ausflippen. Ihr Retter ist kein Geringerer als Batman.

Maertens

Samstag, 18. Januar, 23:02 Uhr

 

Der Kümmelbacher Hof – warum sind wir da nicht eher draufgekommen? Eine abgelegene Ruine im Wald. Wir hätten den Hof längst durchsuchen sollen. Andererseits … die Gegend bietet Hunderte von Möglichkeiten für Verstecke. Allein die stillgelegten Bergwerke und Stollen reichen aus, um halb Heidelberg verschwinden zu lassen.

»Hier ist Ortsgebiet!«

Ich blicke vom Smartphone auf, nehme den Fuß vom Gas und widme mich mit einem Auge wieder dem Wikipedia-Eintrag. Der Kümmelbacher Hof war eine Brauerei, dann ein Hotel, im Zweiten Weltkrieg wurde er zur Klinik umfunktioniert, danach kaufte die Kaufhaus AG das …

»Rot!!«

Beherzt trete ich auf die Bremse. »Hab ich gesehen.« Ungeduldig trommle ich auf dem Lenkrad herum. Eigentlich war es nur dunkelorange.

»Wenn Sie mich schon nicht fahren lassen, könnten Sie dann wenigstens auf die Straße achten?«

»Ich komme aus dieser Gegend, ich kenn mich aus«, wiegle ich Stefanies Protest ab. Das Navi hat eine Fahrtzeit von dreißig Minuten berechnet. Mit ihr am Steuer würden wir bestimmt genau so lange brauchen. »Beim nächsten Mal.«

Die Ampel schaltet auf grün. Stefanie schaltet auf Konfrontationskurs. »Sie mögen mich nicht, oder?«

Oh nein, bitte nicht diese Nummer.

»Sie können es ruhig sagen, ich bin nicht beleidigt.«

Das behaupten sie alle. Dann sagt man etwas, und zack, wird man ins Präsidium zitiert und verbringt seine Zeit mit Supervisionsgesprächen und Teambuilding-Seminaren.

»Liegt es daran, dass ich nicht so viele Erfolge vorweisen kann wie Sie?«

Nicht darauf eingehen. Klappe halten und fahren.

»Oder weil ich eine Frau bin? Was stört Sie? Ich wüsste es einfach gerne!«

Ignorieren. Aussitzen. Mehr kann ich nicht tun. In ein paar Minuten sind wir da.

»Was kann ich anders machen, damit …«

»Nichts!«, bricht es aus mir heraus. »Sie können nichts machen.« Verdammt noch mal, warum kann ich nicht einfach meine Klappe halten. Aber jetzt ist es ohnehin zu spät. »Sie sind, wie Sie sind.«

Stille.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie die vorbeiziehende Straßenbeleuchtung Stefanies Stirn in Schatten taucht. »Wie bin ich denn?«

»Normal.«

Die Schatten werden tiefer. »Und … normal ist schlecht?«

»Normal ist normal«, entgegne ich knapp und werfe einen Blick auf das Navi, um die Abzweigung nicht zu verpassen. »Normal ist, wie alle sind. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Menschen, die ihr Leben leben und denen Familie und Freizeit wichtig sind. Ich habe nur etwas dagegen, wenn sie sich den falschen Job dafür aussuchen.«

Die blaue Linie auf dem Display macht einen scharfen Knick. Ich setze den Blinker und folge ihr, biege in die von Einfamilienhäusern gesäumte Michael-Gerber-Straße und fahre durch, bis die Familienidylle endet. Die Straße wird enger, der Belag rissiger, und bald schon holpern wir über einen mit Schlaglöchern durchsetzten Weg, bis uns das Dickicht vollkommen verschluckt.

Als wir an eine Biegung kommen und die Scheinwerfer eine Sperre erfassen, bremse ich abrupt ab. »Können Sie die Schranke öffnen?«

Stefanie rührt sich nicht. Sie sitzt bloß da, das Gesicht von mir abgewandt und blickt in die Dunkelheit. Irgendwann: »In Ihrer Welt gibt es nicht viel Platz für Kinder und Familie, oder?«

Schweigen.

»Was wäre Ihre Alternative? Aussterben?«

»Vielleicht«, seufze ich und kratze mit dem Daumennagel imaginären Schmutz aus den Einkerbungen am Lenkrad. »Eigentlich keine schlechte Idee.«

»Und mit dieser Einstellung wollen Sie ein besserer Polizist sein als ich?« Sie wendet ihren Blick vom Fenster und mustert mich eine Zeitlang, so als erwartete sie tatsächlich eine Antwort. Aber was soll ich darauf schon entgegnen? Touché?

»Die Schranke«, wiederhole ich mit verkniffenem Lächeln. »Bitte.«

Kopfschüttelnd schwingt sie sich aus dem Wagen und spielt mir einen letzten Kommentar zu. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Dann knallt die Tür ins Schloss.

Gedankenverloren sehe ich ihr nach, beobachte, wie sie sich an der angerosteten Schranke zu schaffen macht, sie hochdrückt und zu Fuß den Hang hinaufstapft.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hallen ihre Worte in mir wider. Stefanie ist nicht die Erste, die mir diesen Satz an den Kopf donnert, und sie wird auch nicht die Letzte gewesen sein. Der Fluch meines Namens verfolgt mich noch bis ins Grab.

 

Oben versperrt ein Bauzaun die Zufahrt. Ich parke, nehme die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und will gerade die Nummer anrufen, die mir der Sicherheitsdienst gegeben hat, als im Rückspiegel zwei Scheinwerfer aufleuchten.

»Herr Sahin?«

Der Mann steigt aus seinem Kastenwagen und blinzelt gegen den Strahl meiner Taschenlampe an. »Ja! Was ist denn los? Die Zentrale hat angerufen, dass ich …«

»Maertens, Kripo Heidelberg.« Ich schwenke den Lichtkegel die Auffahrt hinunter. »Die Dame, die sich den Weg hochquält, ist meine Kollegin Stefanie Krüger. Es geht um die Geldbörse, die Sie gefunden haben. Wo genau war das?«

»Das war auf dem Gelände. Vor dem Haupthaus.«

»Zeigen Sie es mir.«

»Jetzt?« Sahin schraubt die Augenbrauen hoch. »Mitten in der Nacht?« Abwechselnd sieht er zu mir und Stefanie, die jetzt schnaufend neben uns steht. Als keiner reagiert, zuckt er die Achseln, knipst seine Taschenlampe an und marschiert los. Kurz vor dem Gatter zieht er klimpernd einen massiven Schlüsselbund aus der Hosentasche und macht sich daran, das passende Gegenstück für das Vorhängeschloss zu finden.

Mein Blick gleitet den Zaun entlang, verfinstert sich augenblicklich. »Soll das ein Scherz sein?« Ich steige über eine große Pfütze hinweg, hebe mit einer Hand die Gitterkonstruktion aus dem Betonfuß und drücke sie auf. »Jeder Depp kommt auf das Gelände. Hier passt ein LKW durch!«

Sahin zuckt abermals die Achseln. »Wir haben schon lange gemeldet, dass die Verbindungsösen durchgerostet sind. Es kümmert niemanden, und wir werden bloß dafür bezahlt, das Grundstück zu bewachen.« Er lässt den Schlüsselbund wieder in seiner Tasche verschwinden und schreitet durch den offenen Bauzaun voran.

Stefanie und ich folgen.

Unter unseren Füßen knirscht der Unrat. Vor uns und um uns herum: Schwärze, so weit das Auge reicht. Nur die Lichtkegel der Taschenlampen ringen der Dunkelheit kleine Zugeständnisse ab. Schutt. Abfall. Rostige Stahlstäbe, die in kruden Winkeln aus Betonklumpen ragen, und überall Gestrüpp, das aus dem rissigen Asphalt sprießt wie die knochigen Finger von Untoten.

Sahin stolpert über eines der Büschel. »Man sieht ja die Hand vor Augen nicht«, mault er, und als hätte jemand da oben Mitleid mit ihm, schiebt der eisige Wind eine Wolkenwand zur Seite, sodass der fahle Schein des Mondes den Weg beleuchtet und das ganze Ausmaß des Verfalls offenbart.

Das Areal ist riesig, größer als ein Fußballfeld. Geschätzt siebentausend Quadratmeter voller Asphalt, Schrott und verwitterten Gebäuderesten.

»Dort drüben.« Sahin schlägt einen Haken und steuert den Eingangsbereich des größten Gebäudes an. »An dieser Stelle lag die Börse … irgendwo.«

Vorsichtig trete ich näher und leuchte durch die leeren, bodentiefen Fensterrahmen ins Innere. Hier muss der Empfang gewesen sein. »Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Nein, sonst hätte ich es gemeldet.«

»Verstehe. Wie lautet der Name meiner Kollegin.«

»Wie bitte?«

»Der Name meiner Kollegin, wie lautet er?« Ich leuchte das Areal ab. Schlaglöcher, Unkraut, Schutt – der Weg über den Hof ist beschwerlich, aber nicht unpassierbar. »Und das Auto? Welches Auto fahre ich? Welche Marke war das?«

»Keine Ahnung … Was sollen diese Fragen?«

»Ein Test«, murmle ich und gehe in die Knie. »Ich überprüfe, ob ich Ihrer Aussage Glauben schenken kann. Wenn Sie sagen, Ihnen sei nichts Ungewöhnliches aufgefallen, muss ich wissen, ob Ihnen überhaupt etwas auffällt.« Tut es nicht, ergänze ich in Gedanken. Das könnte ein Reifenabdruck sein. Das hier Schleifspuren. Und das … »Welche Schuhgröße haben Sie?«

»Dreiundvierzig.«

Der Lichtkegel meiner Taschenlampe verharrt auf der Stelle. Gezackte Rillen. Wabenstruktur. Vermutlich Wanderstiefel. Das Profil hat sich so deutlich in den Morast gedrückt, dass man sogar die Ziffern der Schuhgröße erkennen kann. Sechsundvierzig.

»Licht aus«, zische ich Sahin an. Als er nicht sofort reagiert, knöpfe ich ihm die Taschenlampe ab und fische mein Smartphone aus der Brusttasche. »Passen Sie jetzt gut auf: Sie gehen zurück zu Ihrem Auto. Rufen Sie von meinem Handy diesen Kontakt an – Kriminaldirektor Konrad Brachmann –, sagen Sie Ihren Namen, unseren Standort, und dass Kriminalhauptkommissar Paul Maertens Verstärkung braucht. Hier ist mein Dienstausweis, nennen Sie diese Nummer. Die sollen das Gelände weiträumig abriegeln und einen Einsatztrupp herschicken.«

»Einsatztrupp?«, wiederholt Sahin verdutzt. Mechanisch nimmt er die Sachen entgegen, starrt erst mich an, dann Stefanie. Und vermutlich ist das, was er in ihrem Blick erkennt, der zündende Funke, um zu begreifen, dass er schleunigst verschwinden sollte. Abrupt wendet er sich ab und eilt davon.

Als er halb über den Platz ist, dringt Stefanies brüchige Stimme an mein Ohr. »Denken Sie, der Entführer ist hier?«

»Der Abdruck ist frisch«, antworte ich leise und reiche ihr Sahins Taschenlampe. »Wir kontrollieren die Ausrüstung, dann nehmen Sie sich das Erdgeschoss vor, klar? Keine Geräusche, kein unnötiges Licht, nichts, das uns ankündigt.« Ich klemme mir den Stiel der Lampe zwischen die Zähne, ziehe die Heckler aus dem Holster und lasse das Magazin herausgleiten. Stefanie sollte es mir gleichtun. Doch sie zögert.

»Wollen wir nicht auf Verstärkung warten?«

Mit einem leisen Klick rastet mein Magazin ein. »Wollen Sie, dass der Dreckskerl entwischt?«

Sie presst die Lippen zu einem Strich und senkt den Kopf. Sekunden verstreichen. Dann checkt sie ihre Waffe. Ihre Hände zittern so stark, dass ihr Ehering gegen das Metall klackert.

Ich sollte etwas sagen, um ihr die Angst zu nehmen, ihr gut zureden, Mut machen. Die Worte dafür habe ich gelernt – lernen müssen – in den Teambuilding-Seminaren, in die sie mich gesteckt haben. Sie liegen mir auf der Zunge. Aber in dem Moment, als ich sie aussprechen will, fühlen sie sich unendlich falsch an, und ich mache den Fehler, mir neue Worte zurechtzulegen, die sich noch falscher anfühlen. Also sage ich nichts, starre Stefanie zähneknirschend an und warte darauf, dass sie mich aus dieser Situation entlässt. Die richtigen Worte liegen vermutlich nicht auf der Zunge, sondern im Bauch oder im Herzen. Aber dort suche ich seit Jahren für mich selbst. Es wurde nichts hinterlegt.

»Zielen Sie tief«, knurre ich mit heiserer Stimme. »Wir brauchen ihn lebend.«

Schweigend stehen wir uns gegenüber, beobachten die Atemwolken aus unseren Mündern, als wären sie Rauchzeichen. Irgendwo bricht ein Schwarm Vögel lärmend aus dem Unterholz. Als das Flattern der Flügel in der Ferne verstummt, ist Stefanie hinter einer Ecke verschwunden. Ich warte noch einen Augenblick, dann knipse ich die Taschenlampe an und leuchte mir den Weg in Richtung Untergeschoss.

Ich mache mir keine Sorgen um Stefanie, sie wird auf nichts stoßen. Der Entführer hat drei Menschen verschwinden lassen, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen. Er ist clever genug, seine Beute im Keller zu verstecken. Hier kann er ungestört tun, was auch immer er diesen armen Seelen antut. Niemand sieht sie. Niemand kann ihnen helfen. Niemand hört ihre Schreie.

Maertens

Samstag, 18. Januar, 23:58 Uhr

 

Schweiß tritt aus meinen Poren, kriecht über meine Stirn bis zur Nasenspitze und verursacht dort einen Juckreiz, der mich schier in den Wahnsinn treibt. Doch ich traue mich nicht zu kratzen. Es wäre der Bruchteil einer Sekunde Unachtsamkeit. Und die kann hier unten den Tod bedeuten.

Ein Fuß vor den anderen. Mit Bedacht. Hier gibt es einiges, das mein Kommen verraten könnte. Umgekippte Regalstellagen, morsche Holzpaletten, verbogene Kleiderbügel, Rohre – die Trümmer stapeln sich in den engen Fluren, sodass jede meiner Bewegungen zum Drahtseilakt gerät. Zentimeter für Zentimeter arbeite ich mich voran. Mit Pistole und Taschenlampe im Anschlag und einer Schraubzwinge um die Brust, die das Hämmern meines Herzens nur noch deutlicher macht.

Das hier unten ist ein verdammtes Labyrinth. Der Lichtkegel meiner Lampe frisst sich immer nur ein paar Meter durchs Weltallschwarz, dann wartet die nächste Abzweigung, die nächste Ecke, ein Vorsprung, eine offen stehende Tür, irgendetwas, hinter dem der Entführer lauern könnte. Ich bin leise, aber nicht lautlos. Nur Geister sind lautlos.

Was war das?

Ich fahre herum. Irgendwo aus den Tiefen der Dunkelheit – etwas Metallisches, ein Quietschen, vielleicht eine Türangel. Meine Knie zittern. Jede Muskelfaser in mir ist bis zum Bersten gespannt, während ich mich vorwärts bewege. Erneut trifft der Lichtkegel auf ein Hindernis. Eine Abzweigung. Links oder rechts? Links oder rechts?

Da! Wieder ein Quietschen, eindeutig von rechts.

In einer raschen Bewegung wirble ich um die Ecke, sondiere das Terrain und knipse dann die Lampe aus. Das muss reichen. Er darf mich nicht kommen sehen.

Mit angehaltenem Atem verharre ich in völliger Dunkelheit und rufe ab, was ich mir gerade eingeprägt habe. Ein schlauchförmiger Gang, links ein kleines Regal, nach ungefähr zehn Schritten ein Haufen Schutt, dann ein paar Meter weiter eine Stahltür, angelehnt. Dahinter könnte er sein. Dahinter könnten sie alle sein: André Fechtner, Larissa Koch, Ludwig Schuch. Lebend oder tot …

Ein Frösteln huscht über meinen Rücken. Die Schweißperlen auf meiner Stirn scheinen zu Eiskristallen zu gefrieren. Einatmen. Ausatmen. Los! Leise, nicht gegen das Regal stoßen. Schritt für Schritt, acht, neun, zehn, stopp. Ich gehe in die Knie, taste mich durch die Dunkelheit, bis der Schutt unter meinen Fingern Gestalt annimmt. Das wird keine leichte Übung. Ich stütze mich an der Wand ab, strecke das Bein weit aus, führe es behutsam wieder nach unten, bis die Fußspitze den Boden berührt. Das zweite Bein folgt, schwebt über dem Schutt, platziert sich lautlos daneben. Erleichtert atme ich auf. Das Überraschungsmoment ist immer noch … Knirschen. Fuck! Leise nur, aber hier unten laut wie ein Böller. Fuck, fuck, fuck! Ich beiße die Zähne zusammen, zähle die Sekunden, bete. Es könnte eine Ratte gewesen sein, eine Maus, irgendein Vieh!

In den Tiefen der Dunkelheit herrscht Stille. Nichts rührt sich. Weiter! Mit ausgestreckter Hand voran. Fünf Finger, die nach einer Tür tasten, aber genauso gut in die Schneide eines Messers greifen könnten. Weiter, immer weiter. Endlich – die Tür. Mein Daumen legt sich auf den Schalter der Taschenlampe, mein Zeigefinger auf den Abzug der Pistole. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Und kein Zurück mehr für mich bedeutet kein Entkommen für ihn.

Licht!

Mit einem Satz bin ich im Raum, schwenke die Lampe hin und her. Durchgehender Fliesenspiegel, keine Fenster, Schutt, Abfall – Dutzende Informationsbrocken prasseln auf mich ein. Doch von all diesen Eindrücken erzählt einer die Geschichte des Raumes am schnellsten: der Geruch. Ich mache ein paar Schritte, schicke den Lichtkegel auf Wanderschaft, bis er findet, was meine Nase bereits entdeckt hat. Sie liegt in der Ecke, zusammengekauert wie ein Säugling: Larissa Koch, umschwirrt von unzähligen Fliegen. Ich komme zu spät.

Viel zu spät.

Beklommen stehe ich da und starre auf den verwesten Körper. Ich weiß nicht, ob es die Fassungslosigkeit ist, die mich so lähmt, oder die unendliche Enttäuschung, versagt zu haben, aber ich kann mich nicht rühren, bin wie gebannt vom Anblick ihrer Leiche. Ein Moment der Trauer. Ein Moment des Schocks. Ein Moment, in dem ich vergesse, warum ich eigentlich hier bin. Ein kurzer Moment … und dennoch ausreichend. Der Bruchteil einer Sekunde der Unachtsamkeit kann den Tod bedeuten.

Hinter mir ertönt ein Knarren. Ich wirble herum, reiße die Pistole hoch, doch als ich den Schatten auf mich zuschnellen sehe, ist es bereits zu spät.

Scheppern, ohrenbetäubend.

Die Stellage kracht über mir zusammen, begräbt mich unter Dutzenden von Kanistern und Dosen. Die Welt verschwindet hinter einer Welle aus Schmerz, aber nur für die Dauer eines Atemzugs. Dann taucht sie wieder auf. Mit ihr ein bleischwerer Druck, der meine Brust abquetscht, das scharfe Stechen spitzer Kanten, die mein Fleisch malträtieren, und die giftigen Dämpfe der Lackfarbe, die mir in den Haaren klebt. Ich fühle mich, als wäre ich in eine Müllpresse geworfen worden, aber wenigstens fühle ich noch etwas. Schmerz hilft. Er lässt mich die Zähne zusammenbeißen und die Stellage anheben, um darunter hervorzukriechen. Ich fühle, also bin ich. Und ich bin sauer. Richtig sauer.

Das Stakkato schneller Schritte hallt durch den Gang. Meine Rechte umfasst den Griff der Heckler, die Linke ist leer. Die Taschenlampe … sie muss mir aus der Hand gerutscht sein. Fahrig taste ich über den Boden – nichts. Die Schritte werden leiser. Meine Wut lauter. Scheiß drauf.

Blind stürze ich los, stoße gegen Kanten und Ecken, finde irgendwie aus dem Raum heraus. Erinnerungen überschlagen sich. Ein Haufen Schutt, links ein kleines Regal, dann die Abzweigung. Meine Füße fliegen über den Unrat, berühren kaum den Boden, katapultieren mich alle paar Meter gegen Spitzes, Dumpfes, Hartes, aber ich halte nicht an, rase weiter durch die Schwärze, jage etwas, von dem ich mir einbilde, dass es sich immer deutlicher in der Ferne abzeichnet: ein Glühwürmchen. Der Kerl hat eine Taschenlampe. Das ist der Polarstern, der mich leitet. Und plötzlich bin ich wieder draußen.

Benommen vor Erschöpfung taumle ich aus dem Treppenhaus in die Helligkeit des Erdgeschosses. Das Mondlicht dringt durch die eingeschlagenen Fenster, taucht alles in diesen bleiweißen Schein, der selbst das blühendste Leben welk erscheinen lässt. Mühsam blinzle ich gegen den Schweiß und den Schwindel an, wirble herum auf der Suche nach dem Glühwürmchen, dem Polarstern, dem Arschloch, das Larissa Koch auf dem Gewissen hat. Du entkommst mir nicht!

Dumpfer Krach. Über mir. Die Treppe.

Aus dem Stand sprinte ich hoch in den ersten Stock, nehme drei Stufen auf einmal, werde geleitet von dem Donnerschlag seiner Tritte. Ihm nach! Keine Pause, keine Orientierung, einfach ihm nach. Da vorne! Da ist er. Immer nur eine Andeutung, ein Schatten, der um die Ecke saust, aber er ist da. »Auch nur ein Mensch«, fauche ich atemlos. Ein Mensch wird müde. Ein Mensch macht Fehler. Weiter! Schneller! Komm schon!

Mein Herz rast. Meine Lunge brennt. Jeder Schritt ist nur noch ein Wegknicken, ein Wegbrechen, ein Schlingern und Taumeln. Mein Körper macht schlapp. Der Wichser hängt mich ab. Schon habe ich ihn wieder aus dem Blick verloren. Schon sind es bloß noch die Geräusche seiner Tritte, denen ich folge. Und dann … überschlägt sich die Welt. Der Abgrund ist der Himmel, und der Himmel stürzt auf mich herab, während ich falle und falle und falle und aus.

Keine Sekunde Pause …

Der metallische Geschmack von Blut breitet sich in meinem Mund aus, vermischt sich mit dem Gestank des Lacks, der sich in meine Haut gefressen hat. Wahrscheinlich sind die beißenden Dämpfe das Einzige, was mich bei Bewusstsein hält.

Rücklings liege ich da, starre zwischen all den gleißend hellen Punkten, die vor meinen Augen tanzen, auf das klaffende Loch in der Decke, durch das ich gefallen sein muss, als einer der Punkte aus der Reihe tanzt. Ich überstrecke den Kopf. Das Glühwürmchen! Der Polarstern! Wie ist er so schnell hier heruntergekommen? Er huscht draußen von Fenster zu Fenster. Verfolg ihn, drängt eine Stimme in mir. Kann nicht, hallt es aus tausend Kehlen wider. Und doch bewegen sich meine Glieder. Etwas in mir übernimmt. Etwas Altes. Etwas, das schon da war, bevor ich da war. Etwas, das die letzten Kräfte in mir mobilisiert, meine Hand führt und meinen Finger auf den Abzug legt. Nenn es Verzweiflung, nenn es Hass oder Rache, aber egal, was es ist: Es zögert keine Sekunde.

Ich drücke ab.

Der Schuss peitscht durch die Luft, verhallt im Gemäuer.

Angestrengt starre ich auf das letzte Fenster in der Reihe, wage kaum zu blinzeln.

Nichts passiert. Das Fenster bleibt leer.

Besinnung kriecht wieder in meine Zellen, übernimmt die Kontrolle. Steh auf. Sieh nach. Sofort! Ich tue, wie mir gesagt, zwinge mich aufzustehen, humple quer durch den Raum auf die Fenster zu, als draußen plötzlich doch ein Glühwürmchen im Rahmen erscheint.

Meine Waffe schnellt hoch.

»Nicht schießen! Ich bin’s!«

Ich senke die Pistole wieder. Stefanie. Ich hatte sie vollkommen vergessen. »Geht es Ihnen gut?«, frage ich mit brüchiger Stimme, doch sie antwortet nicht, stiert bloß auf etwas, das vor ihr auf dem Boden liegt. Das Glühwürmchen.

Zögerlich trete ich ans Fenster und folge ihrem Blick.

Es ist nicht so, dass ich nicht ahnen würde, wer da liegt. Es ist vielmehr so, dass ich es nicht wahrhaben will. Ich will, dass es ein Trugbild ist, ein Streich, den mir meine Wahrnehmung spielt, hervorgerufen durch die giftigen Dämpfe des Lacks. Aber so viel Glück habe ich nicht. Was ich sehe, ist echt: der leblose Körper, die verrenkten Glieder, die teerschwarze Lache um seinen Kopf, die größer und größer wird. Das Glühwürmchen ist nicht mehr. Sein letztes Opfer ist immer noch da draußen, in irgendeinem Verlies. Und niemand weiß, wo es ist.

»Zielen Sie tief«, höre ich meine Stimme wie aus einem anderen Leben hallen. »Wir brauchen ihn lebend.«

Im Verlies

Samstag, 18. Januar, 23:59 Uhr

 

Stille. Undurchdringlich, bedrohlich, fremd.

Dann Brennen. Es dringt aus meiner Brust hoch, quält sich durch meine staubtrockene Kehle, will entweichen, darf nicht. Meine Lippen kleben aneinander wie Klettstreifen. Keine Energie, um sie zu teilen. Kein Speichel, der sie befeuchtet. Das Brennen verebbt in meiner Mundhöhle, hinterlässt einen giftigen Geschmack auf der Zunge, zu intensiv für einen Albtraum. Es ist schlimmer als das: Es ist real.

Meine Lider flattern. Mir gelingt es zu schlucken, die Nase zu rümpfen. Das Leben kehrt zurück, mit ihm der Drang, sich zu bewegen, und mit der Bewegung kommt der Schmerz. Explosionsartig. Als wären meine Knochen aus Glas und meine Muskeln und Sehnen aus Stacheldraht. Was ist passiert? Was zur Hölle ist nur passiert?

Adrenalin schwemmt meine Blutbahnen, treibt mich an. Meine Lippen bersten auseinander. Mein Körper bäumt sich auf. Ich bin Innerstes nach außen gekehrt. Ich bin ein blank liegender Nerv. Ich bin eine pochende Wunde im Nichts, denn das ist alles, was ich sehe: rein gar nichts. Völlige Schwärze umgibt mich. Ich reiße meine Lider auf, weit, weiter als je zuvor, so als könnte ich der Dunkelheit das Weiß meiner Augen aufzwingen. Doch sie weicht nicht zurück. Es gibt nur den Schmerz und mich. Und in diesem Moment begreife ich noch etwas. Alles ist schwarz. Auch in mir.

Da ist kein Name, keine Erinnerung, da ist nichts. Wer bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Ich weiß es nicht. Aber ich muss es wissen, irgendetwas muss es doch geben!

Meine Hände schwärmen aus, suchen Halt, Orientierung, krallen sich an alles, was sie zu fassen bekommen, doch keine Berührung scheint vertraut. Da ist kein Wecker, der sagt, du bist zu Hause. Kein steifer Kissenbezug, der sagt, du bist im Hotel. Kein Gesicht, das einen in Geborgenheit wähnt. Nur unbekannte Stücke und Bruchstücke, Kanten und Formen, die alles und nichts sein können. Und der Schmerz. Er ist mein einziger Begleiter. Mein Orientierungspunkt.

Atme ruhig. Versuche, dich zu beruhigen. Streng dich an: Was weißt du? Oben ist da, wo der Kopf ist. Unten ist da, wo die Füße sind. So muss es sein. Zitternd gehe ich in die Knie, taste mich von den Schuhspitzen ausgehend weiter. Der Boden ist da, wo er sein soll – sehr gut, das ist doch schon mal was. Bestimmt habe ich mich noch nie so über den Boden gefreut wie in diesem Moment. Ungelenk sacke ich auf alle Viere, lasse meine Handflächen weiterwandern. Kalte Glätte. Rillen in gleichmäßigen Abständen. Das sind Fliesen. Außerdem sind da Körner und Kiesel und Brocken, die zwischen meinen Fingern zerbröseln. Ich krieche durch Dreck. Wo bin ich?

Blind taste ich mich vorwärts, ecke immerzu an, gelange irgendwann zu einer Wand, an der ich mich aufrichte, dabei mit dem Schienbein gegen irgendein sperriges Teil stoße, dann über ein anderes Teil stolpere, zu Boden gehe, wieder aufstehe, meine Hände weiter entlang der Wand führe, bis da etwas ist, das sich davon abhebt. Ein kleines, viereckiges Gebilde. Meine Finger betasten es, erfühlen die Erhebung darauf, drücken sie nieder. Klack. Hinter mir ertönt ein Surren, dicht gefolgt von kalten Lichtblitzen, die unregelmäßig und wild zuckend mit der Dunkelheit um Vorherrschaft ringen.

Ich wirble herum, hebe die Hand vors Gesicht, um meine Augen vor dem gleißenden Hell zu schützen, und spähe durch meine Finger hindurch in den Raum, der sich nach und nach vor mir zusammensetzt. Quadratisch oder rechteckig, vielleicht zwanzig Quadratmeter. Allerlei Gerümpel kreuz und quer verteilt. Keine Fenster. Gefliester Boden, geflieste Wände, eine unverputzte Betondecke, durch deren Mitte fünf Neonröhrenlampen verlaufen, von denen nur eine einzige halbwegs intakt zu sein scheint. Wo ist die Tür?, schießt es mir durch den Kopf. Instinktiv wende ich mich zum Lichtschalter – da! Ich stürze auf sie zu, rüttle daran, werfe mich dagegen, einmal, zweimal, klopfe, hämmere. Doch es ändert nichts. Sie bleibt verschlossen.

Erschöpft sinke ich auf den Boden, starre schwer atmend in mein Verlies. Ich kann kein Waschbecken ausmachen, keine Toilette, keine Leitungen, die Wasser führen. Meine Kehle ist rau wie Sandpapier. Ich habe Durst, so entsetzlich starken Durst …

Und plötzlich löst sich doch ein Fragment aus den Untiefen meines Gedächtnisses. Aber es ist keine Erinnerung, die etwas über meine Vergangenheit verrät. Es sind bloß ein paar Sekunden aus einem Fernsehbeitrag, den ich gesehen habe.

Vier Tage. So lange kann man ohne Wasser überleben.

Sechsundneunzig Stunden. Und die Uhr tickt.

Linde

Samstag, 18. Januar, 03:11 Uhr

 

Ein Kollege an der Universität meinte einmal im Scherz zu mir, ich würde noch meinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre. Das ist bestimmt schon zwanzig Jahre her, vielleicht länger. Es war nicht böse gemeint, ich weiß ja, dass ich ein Schussel bin. Dennoch ließ mein Stolz damals nichts anderes zu, als den Kollegen mehrere Wochen lang zu schneiden. Heute bin ich oft noch zerstreuter. Das macht das Alter. Und manchmal, wenn ich so aufwache wie jetzt, fällt mir dieser Spruch wieder ein: Kopf vergessen.

Es fühlt sich tatsächlich so an. Als hätte ich ihn irgendwo liegen lassen und wäre nur noch Körper ohne Geist. Eine Menschenkulisse quasi, ein sehender Blinder, der seine Umwelt erfasst, jedoch nicht erkennt. Als wäre meine Netzhaut mit Teflon beschichtet: Ich blicke, aber ich erblicke nicht. So wie jetzt.

Es ist Nacht. Da ist ein speckiger Ohrensessel – jemand sitzt darin, lehnt eine Gesichtshälfte an die Polsterung. Da ist eine Hand, die auf übereinandergeschlagenen Beinen ruht, zwei abgewetzte braune Budapester an den Füßen, darunter ein Orientteppich, der eine Reinigung vertragen könnte. Er hat einige Brandlöcher, vermutlich, weil er vor einem offenen Kamin ausgelegt wurde. Das Feuer darin ist längst erloschen. Übrig sind nur noch vereinzelte Glutnester, die in einem übergroßen Aschehaufen vor sich hin glimmen und kaum Wärme spenden. Jemand hat den Schürhaken derart achtlos neben die Feuerstelle gelehnt, dass er die Fransen des Teppichs angesengt hat. Es riecht sogar noch verbrannt, es riecht …

Der Geruch!

Eau de Maison Linde. Natürlich.

Dreißig Millionen Nervenzellen auf fünf Quadratzentimetern Riechschleimhaut jagen die Geruchspartikel direkt ins limbische System. Emotionen, Erinnerungen, Triebe – hier sitzt, was uns ausmacht. Der Geruchssinn ist der unmittelbarste menschliche Sinn: Alle anderen Signale müssen erst in der Großhirnrinde verarbeitet werden, Gerüche wirken sofort. Sie bestimmen, wen wir mögen und wen nicht, ohne dass ein Wort gewechselt wurde. Sie warnen uns vor Gefahren, bevor wir sie sehen. Und sie erwecken Erinnerungen. Eau de Maison Linde. Der Geruch unseres Hauses. Der Geruch von Bahnschwellen.

Die Dielen, die Fensterläden, die Wandvertäfelung: Bahnschwellen. Als Leiter des hiesigen Reichsbahn-Ausbesserungswerkes hat mein Vater alle möglichen Dinge aus dem Bestand abgezweigt – ich denke, das ganze Haus war einmal eine Bahnstrecke. Zumindest riecht es danach, selbst nach all den Jahren. Ein unverwechselbarer Duft aus Eichenholz, gestocktem Maschinenöl und der herben Note des Steinkohlenteer-Destillats, mit dem das Holz imprägniert wurde.Der Geruch ist mir unendlich vertraut. Und sofort weiß ich wieder, wer und wo ich bin.

Ich bin ich. Und ich bin zu Hause.

Das sind mein speckiger Ohrensessel, meine eingeschlafenen Beine, meine schmutzigen Straßenschuhe, und ich war es auch, der den Schürhaken so achtlos drapiert hat. Natürlich hätte ich sofort wissen müssen, dass ich ich bin. Das ist mein Haus. Auf dem Kaminsims stehen gerahmte Fotos von mir – ich bekomme Preise verliehen, übergroße Schecks überreicht, die Hände geschüttelt –, das bin ich, ich, ich. Aber manchmal, so wie jetzt, weiß ich es nicht sofort. Es sind diese gewissen Momente nach dem Erwachen, in denen mein nächtliches Traum-Ich scheinbar sämtliche Übergabeprotokolle verloren hat und mein Tag-Ich ohne Informationen über sich selbst hilflos im Trüben fischt.

Mir gefällt dieses Bild des schusseligen Traum-Ichs, es könnte aus einem der Märchen stammen, die ich als Kind so geliebt habe. Ich habe diesen Gedanken nur einer einzigen Person anvertraut, keinem Kollegen, versteht sich. Man stelle sich vor: Der Neurowissenschaftler Professor Doktor Theo Linde und seine Ausführungen zum schusseligen Traum-Ich – die lachen sich schlapp an der Universität. Selbst Erstsemesterstudenten wissen, dass es sich lediglich um eine der harmloseren Parasomnien handelt: Elpenor-Syndrom, Schlaftrunkenheit, wie es im Volksmund so schön heißt. Das Gehirn ist in der Tiefschlafphase, die Hirnströme verlangsamen sich, nicht einmal Träume entstehen. Werden manche Menschen genau in dieser Phase aus dem Schlaf gerissen, sind sie wirr und desorientiert und haben kein Gefühl für Raum, Zeit und sich selbst. Bei schweren Fällen kann so etwas schon mal zehn oder zwanzig Minuten dauern. Bei mir dauert es höchstens ein paar Sekunden.

Die Frage ist nur: Was hat mich geweckt?

Wie spät ist es überhaupt? Es ist stockfinster. Blind greife ich nach der Zugkette der Messinglampe auf dem Beistelltisch, ziehe daran, stutze. Was ist das? Mit spitzen Fingern klaube ich eine Fotografie vom Boden und betrachte die Person darauf einige Augenblicke. Manchmal hält der Zustand der Schlaftrunkenheit doch länger an als ein paar Sekunden. Aber eins nach dem anderen. Erst mal ein Schl-

Motorengeräusche.

Ich blicke auf. Besuch? Mitten in der Nacht? Selbst tagsüber habe ich seit Jahren niemanden mehr im Haus empfangen. Ächzend stemme ich mich aus dem Ohrensessel, humple mit eingeschlafenem Bein zum Fenster und schiele durch die Balken hinaus auf den Hof.

Eine Sekunde später schießt ein grellgrünes Taxi die Einfahrt hoch und kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Wer ist das? Und warum steigt niemand aus? Der Motor knurrt, das Licht der Scheinwerferkegel bohrt sich durch die Lamellenschlitze und blendet mich, sodass ich kaum etwas erkennen kann. Immer noch rührt sich nichts. Nur die streunende Katze der Nachbarn huscht über die Veranda – wahrscheinlich hat sie mal wieder irgendein halb aufgefressenes Nagetier angeschleppt, das ich entsorgen darf.

Plötzlich tut sich doch etwas. Autotüren werden aufgerissen, das Licht blendet ab, links und rechts schälen sich zwei Hünen aus dem Fond und schauen sich mit grimmiger Miene um. Jetzt schwingt auch die Beifahrertür auf. Für einen kurzen Moment glimmt die Innenraumbeleuchtung auf. Der Fahrer trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad, der Beifahrer …

Der Beifahrer.

Mit einem Schlag fällt nun auch die restliche Schlaftrunkenheit von mir ab. Hastig eile ich durch das finstere Haus, durchstöbere die anderen Fotos – tatsächlich, er ist es. Die Aufnahme ist unscharf, und das halbe Gesicht ist verdeckt – man erkennt ihn kaum, aber er ist es eindeutig: Der Mann auf dem Beifahrersitz ist der Mann auf dem Foto ist der Mann, den ich suche. Die Tatsache, dass er hier aufgekreuzt, kann nur eines bedeuten: Er sucht mich ebenfalls. Und er hat mich gefunden.

»Professor!«, gellt seine Stimme über den Hof. »Professorchen!«

Ich zucke zusammen. Was jetzt? Was tun? Die Polizei rufen? Nein, das macht alles nur komplizierter. Mir bleibt nur verstecken, andere Alternativen habe ich nicht. Die Tür ist schwer, das Schloss stark, die Fensterläden sind geschlossen. Falls sie es doch ins Haus schaffen sollten, bleibt immer noch der Keller. In dem Chaos da unten findet niemand irgendetwas.

»Wir wissen, dass Sie da sind.«

Instinktiv kauere ich mich hinters Sofa, werde eins mit der Dunkelheit. Die Außenbeleuchtung aktiviert sich. Sie sind auf der Veranda.

»Wo sollten Sie denn sonst sein?«

Er rüttelt an der Tür, wirft sich dagegen, sie bewegt sich keinen Zentimeter. Gute Tür. Starke Tür. Bahnschwellen! Er versucht es an den Fensterläden.

Ich sauge Luft in meine Lungen, sperre sie in mir ein, zehre unendlich lange von ihr, während das Fenster zittert und ich zittere und mein Blick starr auf die Lamellenschlitze gerichtet ist, hinter denen die dumpfen Stimmen der Hünen ertönen.

Dann wird es still.

Einen Moment lang hoffe ich, dass sie wieder abgezogen sind, im nächsten sprießt eine schlanke Klinge im Spalt zwischen den Läden. Ich schlucke. Mein Herz hämmert gegen die Rippen, während sich das Messer höher schiebt, immer weiter, bis es auf den Metallhaken stößt, der die Läden geschlossen hält. Die Luft schwindet mir. Der Haken springt aus der Öse. Ein Lichtreflex huscht über die Klinge. Licht?

Panisch fährt mein Kopf herum. Die Messinglampe!

Meine Hand schnellt zur Zugkette.

Die Läden schwingen auf.

Das Licht erlischt.

Ich kneife die Lider zusammen, kämpfe gegen den Drang, nach Luft zu schnappen, verharre, während die Zeit den Moment zur Unendlichkeit gefriert. Hat er mich gesehen?

»Keiner da«, ertönt es gedämpft.

Heureka! Ich reiße die Augen auf, sauge mit einer unbändigen Gier Luft in meine Lungen, spähe zum Fenster.

Der Hüne lässt mit einer kunstvollen Bewegung die Klinge des Butterfly-Messers verschwinden und lugt durch seine hohlen Hände herein. »Ziemliches Chaos da drinnen«, erklärt er mit slawischem Zungenschlag. Er weicht zurück, nickt zum Fenster. »Sollen wir …?«

Einen Augenblick später tritt der Mann ins Licht, dem die Frage galt und der offensichtlich das Sagen hat. Der Beifahrer. »Na, meine Kleine?«, säuselt er seltsam träumerisch.

Etwas rekelt sich auf seinem Arm. Die Katze! Dieses hinterhältige Biest kann ihre Mäusekadaver in Zukunft auf einer anderen Veranda zerteilen.

»Miez, miez.« Behutsam wiegt der Mann das Fellbündel hin und her, streichelt, tätschelt, krault das Köpfchen. »So eine Süße.«

»Sollen wir?«, wiederholt der Hüne, diesmal etwas lauter.

Der Mann lässt nur widerwillig von der Katze ab, hebt den Kopf und wendet sein Gesicht dem Fenster zu. Wir starren einander an, ohne uns zu sehen. Er ist es. Der Mann von dem unscharfen Foto. Es vergehen bestimmt drei Sekunden, bis mich die Erkenntnis trifft: Das ist die perfekte Gelegenheit.

Mein Blick springt zur Kamera, wieder zum Fenster und zurück. Wenn ich mich jetzt bewege, sieht er mich. Ich muss den richtigen Moment abpassen. Da! Die Katze lenkt ihn ab! Danke, du herzallerliebstes Tier! Ich bekomme den Riemen sofort zu fassen und reiße daran, sodass meine Spiegelreflex direkt in meine Arme hopst. Vorsichtig schraube ich den Schutzdeckel vom Objektiv, führe die Kamera ans Auge und hole mir den Kerl in den Sucher. Klick. Perfekt. Klick. Noch besser. Klick, klick, klick.

Zufrieden setze ich die Kamera wieder ab, wische mir den Schweiß von der Stirn. Auf der alten Aufnahme erkannte man ihn kaum, aber jetzt, aus diesem Winkel, illuminiert vom Schein der Verandaleuchten – mit den Abzügen könnte er sich Passfotos entwickeln lassen.

»Wir könnten das Fenster aufhebeln«, schlägt der Hüne draußen vor.

»Wozu?«, wendet der Mann ein, immer noch verzückt von der Katze. »Wenn keiner da ist, ist keiner da.«

Er blickt erneut auf, starrt durch die Scheiben, doch ganz anders als gerade eben. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht … Es ist, als ob er mich sehen könnte. Als wüsste er genau, dass ich hinter der Couch kauere und ihn beobachte. Seine Lippen teilen sich. »Könntest du dem Professor eine Botschaft ausrichten, Miezi?«

Gebannt verfolge ich, wie er die Katze an sich drückt und ihr etwas ins Ohr flüstert, während sein Blick eisern auf mich gerichtet bleibt. Dann wendet er sich abrupt ab und verschwindet aus meinem Blickfeld. Der Hüne zuckt mit den Achseln und trottet hinterher.

An ihren Schritten höre ich, dass sie sich Zeit lassen. Postieren sie sich etwa vor meinem Haus? Warten sie auf mich? Rauchen sie eine? Die Verandaplanken knarzen. Dann plattes Tappen schwerer Stiefel auf der Steintreppe, Knirschen, ein Motor wird gestartet. Sie hauen ab, endlich. Autotüren schlagen zu, Kies spritzt, und es wird still.

Es dauert noch eine kleine Ewigkeit, bis die Stille so durchdringend ist, dass sie mich überzeugt. Ich wage mich hervor und trete ans Fenster. Keiner mehr da. Nur ich und mein abgeschiedenes Häuschen am Rande von Dossenheim. Ich öffne das Fenster, tauche mein Haupt in die kalte Nacht, atme tief ein. Ist das gerade wirklich passiert? Jetzt, mit all der klaren Luft in den Lungen, erscheint mir die Szene geradezu absurd. Professor Doktor Theo Linde und die Kredithai-Schlägertruppe vor seinem Haus – das klingt doch irrwitzig.

Und während ich noch überlege, ob das alles tatsächlich nur ein böser Traum gewesen sein könnte, den mein schlaftrunkenes Hirn aus den Untiefen meiner Angst gesponnen hat, schiebt sich die Antwort in meine Augenwinkel. Und schlagartig wird mir klar: Es war echt.

Die Katze wird nie wieder Mäuse auf meiner Veranda ausweiden. Sie wird mir auch keine Botschaft überbringen. Sie ist die Botschaft. Die Männer haben ihr den Schwanz ausgerissen, in Blut getränkt und neben ihrem aufgeschlitzten Körper zwei Wörter auf die Verandadielen geschmiert, die mir unmissverständlich klarmachen, wie echt das alles ist: Vier Tage. So lange habe ich Zeit. Dann kommen sie wieder. Und wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, wird es mein Blut sein, das die Veranda tränkt.

Vier Tage.

Maertens

Sonntag, 19. Januar, 8:02 Uhr