Lohn des Lebens - Jeffrey Archer - E-Book
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Jeffrey Archer

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Beschreibung

Erleben Sie 12 Kurzgeschichten von Jeffrey Archer, dem Schöpfer des Bestsellererfolgs »Die Clifton-Saga«. Archer, der geborene Erzähler, zeigt sich auf der Höhe seiner Meisterschaft und führt uns in seinen Erzählungen durch die Irrungen und Wirrungen des Lebens. Große Liebesgeschichten, die Welt der Kunst, elegante Verbrecher und diejenigen, die sich von ganz unten emporarbeiten müssen: Der Menschenkenner Jeffrey Archer spielt die ganze Klaviatur von Schicksal, großen Gefühlen und dem Glauben an das Gute.

Die in diesem Band enthaltenen Kurzgeschichten erschienen bereits in Deutschland: jetzt komplett neu überarbeitet und erstmals als Bundle.

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DAS BUCH

Erleben Sie 12 Kurzgeschichten von Jeffrey Archer, dem Schöpfer des Bestsellererfolgs »Die Clifton-Saga«. Archer, der geborene Erzähler, zeigt sich auf der Höhe seiner Meisterschaft und führt uns in seinen Erzählungen durch die Irrungen und Wirrungen des Lebens. Große Liebesgeschichten, die Welt der Kunst, elegante Verbrecher und diejenigen, die sich von ganz unten emporarbeiten müssen: Der Menschenkenner Jeffrey Archer spielt die ganze Klaviatur von Schicksal, großen Gefühlen und dem Glauben an das Gute.

Die in diesem Band enthaltenen Kurzgeschichten erschienen bereits in Deutschland: jetzt komplett neu überarbeitet und erstmals als Bundle.

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politiker-Karriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, »Kain und Abel« war sein Durchbruch. In Deutschland erscheinen seine großen Werke im Heyne Verlag. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands, sein historisches Familienepos »Die Clifton-Saga« begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREYARCHER

LOHN DES LEBENS

• 12 STORYS IN EINEM BAND •

KOMPLETT NEU ÜBERARBEITET

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige deutsche Ausgabe

Copyright © by Jeffrey Archer

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel

unter Verwendung von © shutterstock_752457352

(AnastassiaVassiljevashutterstock.com)

(Gebäude, Straße)/shutterstock_241655884

(Nejron Photo/shutterstock.com) (Paar)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-25872-6V001

www.heyne.de

Die chinesische Statue

Die kleine chinesische Statue war das nächste Objekt, das unter den Hammer kam. Los Nummer 103 rief jenes leise Gemurmel hervor, das der Versteigerung eines Meisterwerks stets vorausgeht. Der Assistent des Auktionators hielt den elfenbeinernen Gegenstand in die Höhe, damit ihn jeder in der dicht gedrängten Menge sehen konnte; der Auktionator seinerseits ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, um festzustellen, wo die ernst zu nehmenden Käufer platziert waren. Ich studierte meinen Katalog, der eine detaillierte Beschreibung sowie Angaben über die Herkunft der Figur enthielt.

Demnach war sie im Jahr 1871 in Ha Li Chuan erworben worden und stammte – wie das Auktionshaus Sotheby es wunderlicher Weise ausdrückte – »aus dem Besitz eines Gentlemans«. Eine derartige Feststellung deutet im Allgemeinen darauf hin, dass ein Mitglied des Adels in die missliche Lage geraten ist, sich von einem Erbstück trennen zu müssen.

Ich fragte mich, ob das auch im vorliegenden Fall zutraf, und beschloss, der Sache nachzugehen, um herauszufinden, auf welchem Wege der kleine Elfenbeinchinese – hundert Jahre nach seinem Ankauf – in die Auktion an diesem Donnerstagmorgen geraten war.

»Los Nummer 103«, verkündete der Auktionator. »Welches Gebot erhalte ich für dieses einmalige Stück aus …?«

Sir Alexander Heathcote war nicht nur ein Gentleman, sondern vor allem ein höchst genauer Mann. Er war genau einen Meter einundneunzig groß, stand jeden Morgen genau um punkt sieben Uhr auf, gesellte sich dann zu seiner Gemahlin an den Frühstückstisch, aß ein genau vier Minuten lang gekochtes Ei sowie zwei Scheiben Toast mit je einem Löffel Cooper’s Orangenmarmelade und trank dazu eine Tasse chinesischen Tee. Danach verließ er um genau acht Uhr und zwanzig Minuten sein Haus in Cadogan Gardens und bestieg eine Mietdroschke, um Schlag acht Uhr neunundfünfzig im Foreign Office einzutreffen; punkt sechs Uhr abends war er wieder zu Hause.

Sir Alexander war seit frühester Jugend ein Muster an Genauigkeit, wie es sich für den Sohn eines Generals ziemte. Im Gegensatz zu seinem Vater beschloss er jedoch, seiner Königin als Diplomat zu dienen, ein Beruf, der ebenfalls große Genauigkeit erforderte. Seine Laufbahn begann er an einem Gemeinschaftsschreibtisch im Foreign Office, wurde anschließend Dritter Sekretär an der Botschaft in Kalkutta, dann Zweiter Sekretär in Wien, Erster Sekretär in Rom, Gesandter in Washington und schließlich Botschafter in Peking. Sir Alexander war entzückt, als William Gladstone ihn aufforderte, seine Regierung in China zu vertreten, denn er hegte schon seit Langem ein beträchtliches Interesse für die Kunst der Ming-Dynastie. Nun, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, würde es ihm möglich sein, die herrlichen Statuen, Gemälde und Zeichnungen, die er bislang nur aus Büchern kannte, in ihrer angestammten Umgebung zu bewundern.

Nach einer fast zwei Monate dauernden Reise zu Wasser und zu Lande in Peking angelangt, überreichte Sir Alexander Kaiserin Tzu-Hsi sein Beglaubigungsschreiben nebst einem persönlichen Brief von Königin Victoria. Die Kaiserin, von Kopf bis Fuß in Weiß und Gold gekleidet, empfing den neuen Botschafter im Thronsaal des kaiserlichen Palastes. Während sie den Brief der britischen Monarchin las, verharrte Sir Alexander in Habachtstellung. Ihre Kaiserliche Hoheit verriet jedoch nichts von dessen Inhalt, sondern wünschte dem neuen Botschafter nur viel Erfolg in seinem Amt. Darauf verzog sie ihre Mundwinkel ganz leicht nach oben, womit, wie Sir Alexander richtig erfasste, die Audienz beendet war. Auf dem Rückweg durch die Säle des kaiserlichen Palastes in Begleitung eines Mandarins in der schwarzgoldenen Hoftracht ging Sir Alexander so langsam wie möglich, um einen Blick auf die beeindruckende Sammlung von Elfenbein- und Jadestatuen werfen zu können, die scheinbar wahllos über den ganzen Palast verstreut waren – ähnlich wie heutzutage in Florenz die Cellinis und Michelangelos kunterbunt durcheinanderstehen.

Da seine Bestellung als Botschafter in Peking auf nur drei Jahre befristet war, beschloss Sir Alexander, keinen Heimaturlaub zu nehmen, sondern in seiner Freizeit China zu Pferd zu durchstreifen, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Auf diesen Reisen wurde er von einem Mandarin des kaiserlichen Hofes begleitet, der ihm als Reiseführer und Dolmetscher diente.

Einmal, sie waren etwa fünfzig Meilen von Peking entfernt, ritten sie durch die schlammigen Gassen eines winzigen Dorfs namens Ha Li Chuan. Dort stießen sie auf die Hütte eines alten Handwerkers. Sir Alexander stieg vom Pferd, ließ seine Dienerschaft zurück und betrat die baufällige Werkstatt, deren Regale mit den zartesten Figuren aus Jade und Elfenbein vollgestopft waren. Zwar waren sie jüngsten Datums, jedoch offensichtlich von einem erfahrenen Künstler gefertigt, und so beschloss der Botschafter, eins der Stücke als Erinnerung an diese Reise zu erwerben. Die Hütte war sichtlich nicht für einen Besucher seiner Körpergröße gebaut, und aus Angst, eine der kleinen Figuren von den Regalen zu stoßen, blieb er stehen und sog wie verzaubert den zarten Jasminduft ein, der den Raum erfüllte.

Der alte Meister eilte herbei, um den Gast zu begrüßen; er trug ein langes blaues Kuli-Gewand und einen flachen, schwarzen Hut, unter dem ein pechschwarzer Zopf auf seinen Rücken hinabbaumelte. Er verneigte sich zunächst tief und blickte dann zu dem Riesen aus England empor. Dieser verneigte sich seinerseits, während der Mandarin dem Meister erklärte, wer der hohe Besucher sei und dass er wünsche, die Kunstwerke besichtigen zu dürfen. Der Alte nickte zum Zeichen des Einverständnisses, noch ehe der Mandarin zu Ende gesprochen hatte. Eine gute Stunde lang betrachtete Sir Alexander die kleinen Meisterwerke mit wohlgefälligem Lächeln; danach wandte er sich an den Alten und rühmte dessen Kunstfertigkeit. Dieser verbeugte sich abermals, sein scheues, zahnloses Lächeln verriet aufrichtige Freude über das Lob des Botschafters. Er deutete mit ausgestrecktem Finger in die Tiefe seiner Werkstatt und gab den beiden ehrwürdigen Gästen mit einem Wink zu verstehen, ihm zu folgen.

Sie betraten eine wahre Schatzkammer voll mit exquisiten Miniaturkaisern und anderen klassischen Figuren. Am liebsten hätte sich Sir Alexander mindestens eine Woche hier in diesem Elfenbeinreich eingenistet. Dank des sprachgewandten Mandarins führte er mit dem alten Meister ein sehr angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf Sir Alexanders große Liebe und profunde Kenntnis der Ming-Dynastie offenbar wurde. Plötzlich leuchtete das Antlitz des kleinen Mannes auf, und flüsternd wandte er sich an den Mandarin. Dieser nickte zum Zeichen des Einverständnisses und übersetzte: »Exzellenz, ich besitze ein Stück aus der Ming-Dynastie, das Sie vielleicht gerne sähen. Eine Figur, die sich seit mehr als sieben Generationen im Besitz meiner Familie befindet.«

»Es wäre mir eine Ehre«, antwortete der Botschafter.

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Exzellenz«, sagte das Männchen und schlurfte durch den Hinterausgang, wo es beinahe über einen streunenden Hund gestolpert wäre, in Richtung eines alten Bauernhauses, das nur wenige Meter von der Werkstatt entfernt war. Der Botschafter und der Mandarin blieben zurück. Denn Sir Alexander wusste, dass dem Alten nie in den Sinn gekommen wäre, einen so hochstehenden Gast in sein bescheidenes Heim zu bitten – nicht, ohne dass sie einander schon jahrelang gekannt hätten, und selbst dann nur, wenn er selbst zuvor als Erster von Sir Alexander zu diesem nach Hause eingeladen worden wäre.

Es verging einige Zeit, bis der Alte zurückgestapft kam, wobei der Zopf auf seinen Schultern auf und nieder hüpfte, mit einem kleinen Gegenstand in den Händen. An der Art, wie er ihn umklammert und an die Brust gepresst hielt, konnte man unschwer erkennen, wie wertvoll er ihm sein musste. Ehrfürchtig reichte er ihn Sir Alexander, der mit offenem Mund dastand und seine Erregung kaum verbergen konnte. Die kleine Statue war nicht höher als fünfzehn Zentimeter, stellte den Kaiser Kung dar und war zweifellos eines der besten Stücke aus der Ming-Zeit, die Sir Alexander je untergekommen waren. Er war sicher, dass es sich um eine Arbeit des großen Pen Q handeln müsse, eines hervorragenden Künstlers und Günstlings jenes Kaisers aus dem 15. Jahrhundert.

Der einzige Makel der Figur bestand darin, dass das Elfenbeinpodest fehlte, auf dem solche Statuen zu stehen pflegen. Stattdessen kam unter den kaiserlichen Gewändern ein Stück Holz zum Vorschein. Doch nichts schmälerte für Sir Alexander ihre allumfassende Schönheit. Die Augen des Alten strahlten angesichts des offenkundigen Interesses, das sein Gast beim genauen Betrachten der Statue erkennen ließ. »Meinen Exzellenz, dass das eine gute Arbeit ist?«, fragte er.

»Eine außerordentliche«, erwiderte der Botschafter. »Ganz außerordentlich.«

»Meine eigenen Arbeiten nehmen sich daneben recht armselig aus«, fügte der Alte bescheiden hinzu.

»Nein, ganz und gar nicht«, sagte der Botschafter. Aber der Alte merkte sehr wohl, dass sein Gast ihn nur nicht kränken wollte. Er konnte es allein daran ablesen, dass dieser die Figur schon mit ebenso liebevoller Behutsamkeit in Händen hielt wie er selbst.

Lächelnd gab Sir Alexander sie dem Meister zurück, und dabei ließ er die wahrscheinlich einzige undiplomatische Äußerung seiner fünfunddreißigjährigen beruflichen Laufbahn fallen, indem er sagte: »Was gäbe ich dafür, dass dieses Kunstwerk mir gehörte!«

Noch während der Mandarin seine Worte übersetzte, bereute er bereits, seine Gedanken laut geäußert zu haben. Denn er wusste sehr wohl, dass es alte chinesische Sitte war, den Wunsch eines Ehrengastes zu erfüllen, um so Ansehen in den Augen seiner Mitmenschen zu erwerben.

Mit traurigem Blick überreichte der Alte seinem Gast die Figur.

»Nein, nein, ich habe doch nur gescherzt«, sagte Sir Alexander und versuchte, den kostbaren Gegenstand seinem Besitzer zurückzugeben.

»Exzellenz würden mein bescheidenes Haus entehren, wenn Sie das Geschenk nicht annähmen«, entgegnete der Alte in großer Aufregung, und der Mandarin nickte ernst dazu.

Sir Alexander schwieg einen Moment. »Ich habe mein eigenes Haus entehrt«, sagte er dann an den Mandarin gewandt, der jedoch keine Miene verzog.

Der Meister verneigte sich tief und sagte: »Ich muss mich nach einem Sockel umschauen, damit Exzellenz die Figur auch aufstellen können.«

Und er öffnete eine hölzerne Truhe, die Hunderte Sockel für seine eigenen Statuen enthalten musste. Nach längerem Stöbern entschied er sich für ein Exemplar, das mit kleinen schwarzen Figuren verziert war. Sir Alexander gefiel der Sockel nicht sonderlich, er musste jedoch zugeben, dass er perfekt zu der kleinen Statue passte. Der alte Mann beteuerte, dass es sich, auch wenn er selbst die Herkunft des Sockels nicht kenne, um eine äußerst gediegene Arbeit handle.

Beschämt und verlegen nahm der Botschafter das kostbare Geschenk in Empfang und versuchte erfolglos, sich bei dem Alten zu bedanken. Der verbeugte sich zum Abschied nochmals tief, und Sir Alexander verließ mit dem Mandarin, der keinerlei Regung zeigte, die kleine Werkstatt.

Dann machten sie sich auf den Rückweg nach Peking. Der Botschafter befand sich in einem schrecklichen Zustand, sodass sein aufmerksamer Begleiter entgegen seiner Art als Erster das Wort ergriff. »Exzellenz kennen zweifellos die alte chinesische Sitte, wonach man die Großzügigkeit, die einem ein Fremder zuteilwerden ließ, erwidern muss, noch ehe das Jahr um ist.«

Mit einem Lächeln dankte der Botschafter dem Mandarin für diesen Hinweis, über den er lange nachdachte.

Zurück in Peking suchte Sir Alexander unverzüglich die gut bestückte Bibliothek seiner Residenz auf, in der Hoffnung, den Wert der kleinen Statue ermitteln zu können. Nach sorgfältiger Suche entdeckte er die Abbildung einer Figur, die seiner beinahe aufs Haar glich; mithilfe des Mandarins gelang es, deren Wert festzustellen: Er belief sich auf etwa drei Jahreseinkommen eines Botschafters im Dienste Ihrer Majestät, der Königin von England. Sir Alexander erörterte das Problem mit Lady Heathcote, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, was er zu tun habe.

So sandte er die Woche darauf per Privatboten ein Schreiben an seine Bank in London, worin er den Auftrag erteilte, ihm den Großteil seines Vermögens schnellstmöglich nach Peking zu schicken.

Knapp neun Wochen später traf das Geld ein, und Sir Alexander wandte sich erneut an den Mandarin, der binnen sieben Tagen Folgendes für ihn herausfand:

Der kleine Meister der Statue hieß Young Lee und entstammte der altehrwürdigen Familie Young Shan, deren Mitglieder seit etwa fünfhundert Jahren das Handwerk des Elfenbeinschnitzens ausübten. Des Weiteren erfuhr Sir Alexander, dass zahlreiche Arbeiten von Young Lees Vorfahren in den Palästen der Manchu-Prinzen standen. Als Young Lee alt geworden war, verspürte er den Wunsch, sich in die Berge oberhalb seines Dorfes zurückzuziehen, um dort der Familientradition folgend zu sterben. Sein Sohn fand sich bereit, die Werkstatt seines Vaters weiterzuführen.

Der Botschafter dankte dem Mandarin für die Auskünfte und äußerte noch eine letzte weitere Bitte. Der Mandarin hörte ihm wohlwollend zu und begab sich anschließend in den kaiserlichen Palast. Wenige Tage später kam aus dem Palast die Nachricht, dass die Kaiserin Sir Alexanders Ersuchen bewilligte.

Noch vor Ablauf des Jahres machte sich Sir Alexander, wieder in Begleitung des Mandarins, erneut auf die Reise von Peking in das Dorf Ha Li Chuan. Dort angelangt, stieg er vom Pferd und betrat die ihm wohlvertraute Hütte. Den flachen Hut ein wenig schief auf dem Kopf saß der alte Meister an seiner Werkbank, ein Stück unbehauenes Elfenbein liebevoll in den Händen haltend. Er erhob sich, und als er ganz nahe an den Fremden herangekommen war, erkannte er ihn wieder und verneigte sich tief vor dem hohen Gast.

Der ließ ihm durch den Mandarin sagen: »Noch ehe das Jahr abgelaufen ist, bin ich zurückgekehrt, um meine Schuld zu begleichen.«

»Das war nicht nötig, Exzellenz. Es ist eine Ehre für meine Familie, die kleinen Statue in einer großen Botschaft zu wissen. Und wer weiß, eines Tages werden sie vielleicht auch die Menschen Ihres Heimatlandes bewundern können.«

Der Botschafter wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Deshalb bat er den Alten nur, ihn auf eine kurze Reise zu begleiten. Der Meister willigte ein, ohne zu fragen, wohin es gehen solle.

Auf Eseln ritten sie über einen steilen, schmalen Pfad in nördlicher Richtung die Hügel hinter der Werkstatt des Alten hinauf. Als sie das Dorf Ma Tien erreichten, wurden sie von einem anderen Mandarin in Empfang genommen, der sich vor Sir Alexander verneigte und ihn aufforderte, er und der Meister sollten ihm von hier an zu Fuß folgen. Schweigend gingen sie ans andere Ende des Dorfs bis zu einer kleinen Senke, von der aus man einen wunderbaren Blick auf das Dorf Ha Li Chuan hatte. In der Senke stand ein nagelneues, wunderhübsches weißes Häuschen, dessen Eingang zwei steinerne Palasthunde bewachten.

Der Botschafter wandte sich nun an den alten Mann, der seit ihrem Aufbruch kein Wort gesprochen hatte. »Dieses kleine, unzulängliche Geschenk ist nichts als der bescheidene Versuch, Ihnen meine Dankbarkeit zu erweisen.«

Der Meister fiel auf die Knie und bat den Mandarin um Vergebung, denn es war einem Handwerker untersagt, Geschenke von Fremden anzunehmen. Der Mandarin half dem Zitternden wieder auf die Beine und versicherte ihm, dass die Kaiserin höchstpersönlich der Bitte des Botschafters stattgegeben hätte. Daraufhin trat ein freudiges Lächeln auf das Gesicht des Alten. Langsam ging er auf das Häuschen zu und konnte nicht widerstehen, seine Hand liebevoll über die Köpfe der zwei steinernen Palasthunde gleiten zu lassen.

Mehr als eine Stunde bewunderten die drei Reisenden noch das schmucke kleine Anwesen, ehe sie schweigsam und glücklich nach Ha Li Chuan zurückkehrten. Dort trennte man sich, nachdem der Ehre Genüge getan worden war, und Sir Alexander ritt höchst befriedigt darüber zurück, dass seine Geste die Zustimmung und den Beifall sowohl des Mandarins als auch Lady Heathcotes gefunden hatte.

Nach Beendigung seiner Mission in Peking verlieh die Kaiserin dem britischen Botschafter den Silbernen Löwen von China, und die englische Königin fügte seiner ohnedies langen Reihe von Auszeichnungen noch die eines Groß-Offiziers des Victoria-Ordens hinzu.

Wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus China trat Sir Alexander in den Ruhestand und zog sich ins heimatliche Yorkshire zurück – die einzige englische Grafschaft, deren Bewohner – den Chinesen nicht unähnlich – noch immer darauf hoffen, im selben Haus zu sterben, in dem sie geboren wurden.

Seinen Lebensabend verbrachte er im Haus seiner Väter, in Gesellschaft seiner Frau und des kleinen Ming-Kaisers. Dieser prangte auf dem Kaminsims des Wohnzimmers, für jedermann sichtbar und von jedermann bewundert.

Da Sir Alexander bekanntlich ein Muster an Genauigkeit war, verfasste er ein ausführliches Testament, in dem er auch exakt festlegte, was nach seinem Tod mit Kaiser Kung zu geschehen habe: Er vermachte ihn seinem ältesten Sohn, der ihn wiederum seinem Erstgeborenen vererben sollte und so weiter. Ausdrücklich bestimmte er außerdem, dass die Statue niemals veräußert werden dürfe – es sei denn, die Ehre der Familie stünde auf dem Spiel. An seinem siebzigsten Geburtstag Schlag Mitternacht verstarb Sir Alexander.

Zu dem Zeitpunkt, als er in den Besitz des Ming-Kaisers kam, stand Major James Heathcote, Sir Alexanders Erstgeborener und der Erbe, im Dienste Ihrer Majestät der Königin mitten im Burenkrieg. Er diente im Regiment des Herzogs von Wellington und war mit Leib und Seele Soldat. Für Kultur hatte er wenig übrig, war sich aber bewusst, dass das Erbstück aus China nicht irgendein x-beliebiger Kunstgegenstand war. Deshalb gab er die Figur als Leihgabe in die Offiziersmesse von Halifax, damit seine Kameraden sich am Anblick des Kaisers ergötzen konnten. Während der Feierlichkeiten anlässlich der Beförderung von James Heathcote zum Oberst stand der kleine Kaiser stolz inmitten der Siegestrophäen von Waterloo, Sewastopol, der Krim und Madrid – und dort blieb er auch bis zur Pensionierung von Oberst Heathcote. Danach kehrte er auf den Kaminsims im Wohnzimmer zurück. Der Oberst hielt sich streng an die testamentarische Verfügung seines Vaters und vermachte das Erbstück wiederum seinem Erstgeborenen, erneut mit der Verpflichtung, es an dessen Erstgeborenen weiterzugeben und nur zu veräußern, wenn die Familienehre in Gefahr wäre. Oberst James Heathcote, Inhaber des Military Cross, starb nicht den Heldentod, sondern entschlief eines Abends, am Kamin sitzend, sanft, die Yorkshire Post auf den Knien.

Alexander Heathcote, der älteste Sohn des Obersts, war Geistlicher und stand als solcher der kleinen Gemeinde von Much Hadam in der Grafschaft Hertfordshire vor. Nachdem er seinen Vater mit allen militärischen Ehren beigesetzt hatte, stellte er den Kaiser auf den Kaminsims im Pfarrhaus; aber nur wenige seiner Schäflein wussten mit dem Chinesen etwas anzufangen, von einigen älteren Damen abgesehen, die die feine Schnitzarbeit bewunderten. Erst als der Pfarrer zum Bischof avanciert war und der Kaiser im bischöflichen Palais vor die Öffentlichkeit treten durfte, erfuhr er wieder die ihm gebührende Bewunderung. Die Geschichte, wie der Großvater des Bischofs in den Besitz der wertvollen Figur gekommen war und weshalb der Sockel eigentlich nicht recht dazupasste, lieferte zudem immer wieder anregenden Gesprächsstoff bei Tisch.

Gott ruft selbst seine irdischen Vertreter zu sich, wenn deren Zeit abgelaufen ist; das galt auch für Bischof Heathcote. Der aber hatte zuvor gewissenhaft in seinem Testament alle Verfügungen bezüglich des kleinen Kaisers getroffen, die sein Vater ihm einst aufgetragen hatte.

Der Sohn des Bischofs, Hauptmann James Heathcote, diente in demselben Regiment wie sein Großvater, und die Ming-Statue kehrte in die Offiziersmesse nach Halifax zurück. Während der Abwesenheit des kleinen Kaisers hatte sich die Trophäensammlung des Regiments um die Siegestrophäen von Ypres, Marne und Verdun erweitert. Wieder einmal stand das Regiment in einem Krieg gegen Deutschland, und der junge Hauptmann Heathcote fiel bei der Landung in Dünkirchen – ohne ein Testament zu hinterlassen. Da der Wunsch seines Urgroßvaters allgemein bekannt war, bestand nach englischem Recht kein Zweifel daran, dass die Statue in den Besitz seines zweijährigen Sohnes überzugehen hatte.

Alexander Heathcote war leider nicht aus demselben Holz geschnitzt wie seine Vorfahren und entwickelte im Laufe der Jahre keinerlei Verlangen, irgendjemandem anderen als sich selbst zu dienen. Nach dem tragischen Tod seines Vaters las ihm die Mutter jeden Wunsch von den Augen ab und überschüttete ihn – soweit es ihre karge Witwenpension zuließ – mit allerlei Geschenken. Sie erntete wenig Dank dafür, doch es war nicht allein die Schuld des Jungen, dass er sich – nach den Worten seiner Großmutter – zu einem selbstsüchtigen und unausstehlichen Bengel entwickelte. Er verließ die Schule kurz vor seinem Rauswurf und versuchte es in diesem und jenem Job, hielt es aber nirgendwo länger als ein paar Wochen aus. Auch gab er gern etwas mehr Geld aus, als er oder seine Mutter sich leisten konnten. Als Mrs. Heathcote dieses Leben nicht länger ertragen konnte, schied sie kurzerhand aus demselben.

In den Swinging Sixties kamen in England die Spielkasinos in Mode, und der junge Alex war überzeugt, hier endlich eine Einkommensquelle gefunden zu haben, ohne einen Finger dafür krumm machen zu müssen. Er entwickelte ein System, nach welchem man im Roulette nur gewinnen konnte. Dennoch verlor er, verfeinerte sein System – und verlor wieder. Er baute das System daraufhin weiter aus, was dazu führte, dass er sich Geld leihen musste, um seine Spielschulden zu begleichen. Warum auch nicht? Wenn alle Stricke rissen, konnte er immer noch auf den Ming-Kaiser zurückgreifen. Und in der Tat – alle Stricke rissen.

Eines schönen Montagmorgens erhielt Alex unerwünschten Besuch von zwei Herren, die fest entschlossen schienen, achttausend Pfund von ihm einzutreiben; die Sache müsse innerhalb von vierzehn Tagen in Ordnung gebracht sein, andernfalls …

Da gab Alex auf. Schließlich hieß es im Testament seines Ur-Urgroßvaters unmissverständlich: Wenn die Ehre der Familie auf dem Spiel stand, sollte die Ming-Statue verkauft werden.

Alex holte den kleinen Kaiser vom Kaminsims, warf einen kurzen Blick auf die kostbare Figur, und hatte immerhin so viel Anstand, ein wenig Bedauern dabei zu empfinden. Dann trug er das Erbstück zum Auktionshaus Sotheby’s und erteilte den Auftrag, die Statue unter den Hammer zu bringen.

Der Leiter der Orient-Abteilung war ein blasser, magerer Mann, der Statue nicht unähnlich, die er liebevoll streichelte. »Wir werden wohl einige Tage benötigen, um den genauen Wert der Figur festzustellen, aber so auf den ersten Blick würde ich wagen zu behaupten, dass dies eine Arbeit des großen Meisters Pen Q ist.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, antwortete Alex, »es genügt, wenn Sie mir innerhalb von vierzehn Tagen Bescheid geben.«

»Ich bin sicher, dass ich Ihnen bis Freitag den Mindestpreis nennen kann«, sagte der Fachmann.

»Umso besser.«

Im Laufe der Woche verständigte Alex seine Gläubiger; sie erklärten sich bereit, das Gutachten von Sotheby’s abzuwarten. Am Freitag begab er sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht in die Bond Street. Schließlich wusste er, was sein Ur-Urgroßvater für die Statue bezahlt hatte, und war sicher, dass sie inzwischen mehr als zehntausend Pfund wert war. Mit diesem Betrag würde er alle seine Schulden begleichen und mit dem Rest sein neuestes, endgültig unfehlbares System ausprobieren können. Als er die Stufen zu Sotheby’s erklomm, sandte er ein stilles Dankgebet zu seinem Urahn im Himmel. Am Empfang verlangte er den Leiter der Orient-Abteilung zu sprechen, der auch kurz darauf erschien – mit düsterer Miene. Alex rutschte das Herz in die Hosen bei dessen nun folgenden Worten.

»Ihr Kaiser ist eine nette, kleine Arbeit – aber leider Gottes eine Fälschung. Er ist etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Jahre alt und eine Kopie des Originals. Damals wurden öfters Kopien angefertigt, weil …«

»Was ist die Figur wert?« stammelte Alex.

»Siebenhundert, allerhöchstens achthundert Pfund.«

Genug, um einen Revolver samt Munition zu erstehen, dachte Alex voll Bitterkeit, während er sich abwandte, um zu gehen.

»Sir, soll ich nun …«, fragte der Orient-Experte.

»Jaja, verkaufen Sie das Ding«, sagte Alex, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Und was soll mit dem Sockel geschehen?«

»Mit dem Sockel?«

»Ja, mit dem Sockel. Er ist feinstes 15. Jahrhundert, zweifellos die Arbeit eines ganz großen Meisters; ich kann mir nicht erklären, wie …«

»Los Nummer 103«, verkündete der Auktionator. »Höre ich ein Gebot für dieses einmalige Stück aus …«

Der blasse Fachmann hatte richtig geschätzt. An diesem Donnerstagmorgen erwarb ich bei Sotheby’s den kleinen Kaiser für siebenhundertzwanzig Guineen. Und der Sockel? Den Sockel ersteigerte ein amerikanischer Sammler für zweiundzwanzigtausend Guineen.

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst

Das erste Mal waren sich die beiden Männer begegnet, als man sie, fünfjährig, nebeneinander auf dieselbe Schulbank setzte, und zwar aus keinem zwingenderen Grund, als dass ihre Namen, Thomson und Townsend, im Klassenbuch hintereinanderstanden. Bald waren sie dick befreundet, in diesem Alter ein Band, das fester verbindet als jede Ehe. Nachdem sie die Grundschule hinter sich gebracht hatten, kamen sie ihn ihrer Heimatstadt in die Mittelschule, ohne dass sich irgendwelche Timpsons, Tooleys oder Tomlinsons zwischen sie geschoben hätten, und nach sieben Jahren an dieser Bildungsanstalt waren sie reif, sich für Beruf oder Studium entscheiden zu müssen. Sie wählten Letzteres, einfach deshalb, weil man Arbeit so lange wie möglich hinausschieben soll. Glücklicherweise besaßen sie genug Grips und Witz für einen Studienplatz an der Durham Universität, und sie schrieben sich beide für Anglistik ein.

Die Studienzeit erwies sich als ebenso vergnüglich wie die Jahre in der Grundschule. Die Vorlesungen machten ihnen ebenso viel Spaß wie Tennis, Kricket, gutes Essen und Mädchen. Glücklicherweise unterschieden sie sich aber geringfügig in ihren Vorlieben für Letztere. Michael, ein eins neunundachtzig großer, drahtiger Typ mit dunklen Locken, bevorzugte hochgewachsene, vollbusige Blondinen mit blauen Augen und langen Beinen. Adrian, ein kräftiger, untersetzter Bursche von einem Meter siebenundsiebzig mit vollem blondem Haar, verliebte sich immer wieder in zierliche, schlanke Mädchen mit dunklen Haaren und dunklen Augen. Sooft also einer von beiden einem Mädchen begegnete, das dem anderen gefiel – gleichgültig ob, es sich um eine Mitstudentin oder um eine Kellnerin handelte –, schilderte er ihr die Vorzüge seines Freundes in den leuchtendsten Farben. So verlebten sie gemeinsam drei idyllische Collegejahre in Durham und eroberten in dieser Zeit weit mehr als nur einen Abschluss. Da allerdings keiner von beiden die Prüfer genügend beeindruckte, um es gerechtfertigt erscheinen zu lassen, zwei weitere Jahre auf die Erlangung eines Doktorats zu vergeuden, konnten sie dem Ernst des Lebens nun nicht mehr länger aus dem Wege gehen.

Die beiden Brüder Leichtfuß begaben sich nach London, wo Michael eine Ausbildungsstelle bei der BBC fand, während Adrian von der internationalen Werbeagentur Benton & Bowles angestellt wurde und in der Buchhaltung landete. Sie mieteten gemeinsam eine kleine Wohnung in der Earls Court Road, die sie in Orange und Braun strichen, und machten mit ihrem fröhlichen Junggesellendasein weiter wie gehabt – jedenfalls sahen sie selbst es so.

Auf diese Weise verbrachten sie weitere fünf Jahre als unbekümmerte Singles, bis sich jeder von ihnen in ein Mädchen verliebte, das seinen jeweiligen Ansprüchen gerecht wurde. Beide heirateten in einem Zeitabstand von nur wenigen Wochen: Michael eine große Blonde mit blauen Augen, Adrian eine schlanke, glutäugige Dunkelhaarige, der der Werbeetat von Kellogg’s Cornflakes anvertraut war. Sie fungierten als Trauzeuge füreinander und machten sich beide daran, in Jahresabständen drei Kinder zu zeugen, wobei allerdings Unterschiede zutage traten, wenn auch nur wieder geringfügige: Michael bekam zwei Söhne und eine Tochter, Adrian zwei Töchter und einen Sohn. Jeder wählte den anderen als Taufpaten für seinen erstgeborenen Sohn.

Das Eheleben änderte so gut wie nichts an ihrem Verhältnis, denn sie behielten ihre alten Gepflogenheiten weitgehend bei, spielten an den Wochenenden im Sommer Kricket und im Winter Fußball miteinander, ganz zu schweigen von ihren regelmäßigen gemeinsamen Mittagessen unter der Woche.

Nach der Feier seines zehnten Hochzeitstages gestand Michael, der inzwischen Produktionsleiter bei Thames-Television war, seinem Freund Adrian ein wenig verlegen, dass er sich zum ersten Mal auf eine Affäre eingelassen hatte.Er war einer hochgewachsenen, gutgebauten Blondine aus dem Sekretariat erlegen, die mehr zu bieten hatte als hundertfünfzig Silben Kurzschrift in der Minute. Nur wenige Wochen später konnte auch Adrian, der es inzwischen bei Pearl & Dean zum stellvertretenden Abteilungsleiter in der Buchhaltung gebracht hatte, der Versuchung nicht widerstehen, und er erkor dazu eine Journalistin aus der Fleet Street, die Informationen über eine der Gesellschaften brauchte, welcher er vertrat. Sie wurde für ihn ein von der Steuer absetzbarer Posten.

Nach diesen Seitensprüngen fielen die beiden Männer bald wieder in ihren alten Trott zurück. Großzügig unterstützten sie einander, wo sie nur konnten, was dank ihres unterschiedlichen Geschmacks nie zu Interessenskonflikten führte. Ihr Eheleben hatte darunter nicht zu leiden – jedenfalls redeten sie sich das ein –, und mit fünfunddreißig, nachdem sie ohne seelische Narben die freizügigen Sechzigerjahre hinter sich gebracht hatten, stürzten sie sich begeistert in die Siebzigerjahre.

Am Beginn dieses Jahrzehnts beschloss man bei Thames-Television, Michael nach Amerika zu schicken, wo er für das britische Fernsehen einen Film über das Leben in New York produzieren sollte. Adrian, der die amerikanische Ostküste immer schon einmal hatte kennenlernen wollen, gelang es mühelos, zeitgleich eine Reise zu arrangieren, indem er behauptete, schwer zugängliches Informationsmaterial für eine angloamerikanische Zigarettenfirma beschaffen zu müssen. Die beiden genossen abwechslungsreiche Tage in New York, deren Höhepunkt eine am letzten Abend vom amerikanischen Fernsehnetwork ABC veranstaltete Party mit einer Voraufführung von Michaels Film über New York darstellte. Der Streifen hieß: »Ein Engländer in New York.«

Als Michael und Adrian in den Filmateliers von ABC eintrafen, war die Party bereits in vollem Gang, und sie betraten den Schauplatz mit der Absicht, sich ein paar Drinks zu gönnen und dann früh schlafen zu gehen, weil sie am nächsten Tag nach England zurückfliegen mussten.

Beide erspähten sie genau im selben Augenblick.

Sie war mittelgroß und schlank, hatte sanfte grüne Augen und kastanienfarbenes Haar – eine verblüffende Mischung ihrer beider Idealvorstellungen. Schlagartig wusste jeder von ihnen ganz genau, wo er diese Nacht verbringen wollte, und mit nur einem einzigen Ziel im Kopf gingen sie gleichzeitig entschlossen auf sie zu.

»Hallo, ich bin Michael Thompson.«

»Hallo«, antwortete sie, »ich heiße Debbie Kendall.«

»Und ich bin Adrian Townsend.«

Sie streckte ihnen die Hand entgegen, und beide versuchten, sie zu erhaschen. Als die Party zu Ende ging, hatten sie herausgefunden, dass Debbie Kendall in der Nachrichtenredaktion von ABC arbeitete. Sie war geschieden und hatte zwei Kinder, die bei ihr in New York lebten. Aber weder Michael noch Adrian war es geglückt, einen tieferen Eindruck auf sie zu machen, schon weil jeder alles daransetzte, den anderen auszustechen; alle beide gaben fürchterlich an und stritten sich darum, wer der neuen Angebeteten etwas zu essen und wer ihr einen Drink bringen durfte. Die Abwesenheit des jeweils anderen wurde dazu genutzt, dem Freund subtil, aber gründlich, die Suppe zu versalzen.

»Adrian ist ein netter Kerl, nur trinkt er leider ein bisschen viel«, sagte Michael.

»Ein Supertyp, dieser Michael, seine Frau ist zauberhaft – und Sie sollten erst einmal seine drei reizenden Kinder sehen«, ereiferte sich Adrian.

Gemeinsam begleiteten sie Debbie heim und verabschiedeten sich zögernd an der Schwelle ihres Hauses in der achtundsechzigsten Straße. Sie küsste beide flüchtig auf die Wange, dankte ihnen für den schönen Abend und wünschte ihnen eine gute Nacht. Schweigend gingen sie zum Hotel zurück.

Als sie ihr Zimmer im neunzehnten Stock des Hotels Plaza betraten, ergriff Michael als Erster das Wort.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe mich wie ein Vollidiot benommen.«

»Ich hab mich genauso mies aufgeführt«, sagte Adrian. »Wir sollten uns wegen einer Frau nicht in die Haare geraten. Das haben wir schließlich bisher nie getan.«

»Stimmt«, sagte Michael. »Wie wär’s mit einer Vereinbarung zwischen Ehrenmännern?«

»Was schlägst du vor?«

»Da wir beide schon morgen früh nach London zurückfahren, könnten wir uns doch darauf einigen, dass derjenige, der zuerst wieder nach New York kommt …«

»Großartig«, sagte Adrian, und sie schüttelten sich die Hand, um ihr Abkommen zu besiegeln, als wären sie immer noch zwei Schuljungen auf dem Kricketplatz, die sich entscheiden müssen, wer als Erster den Ball schlägt. Dann stiegen sie in ihre Betten und schliefen tief und fest.

Kaum in London angelangt, unternahm jeder der beiden Männer alles, was in seinen Kräften stand, um einen Vorwand für eine Fahrt nach New York zu finden. Keiner versuchte Debbie Kendall telefonisch oder brieflich zu erreichen, denn dadurch hätte er ihr Gentlemen’s Agreement gebrochen, aber als aus Wochen allmählich Monate wurden, begannen sie schon die Hoffnung aufzugeben, weil es so aussah, als würde sich keinem die Gelegenheit zu einem Wiedersehen bieten.

Dann erhielt Adrian eine Einladung nach Los Angeles, wo er bei einer Konferenz von Medienfachleuten einen Vortrag halten sollte. Seine Genugtuung über diesen Auftrag überstieg jedes erträgliche Maß, denn er war überzeugt, es würde ihm schon gelingen, auf dem Rückweg nach London Zwischenstation in New York zu machen. Michael fand jedoch heraus, dass British Airways billige Flugtickets für Ehefrauen anbot, die ihre Männer auf Geschäftsreisen begleiteten, weshalb es für Adrian ausgeschlossen war, via New York heimzureisen.

Michael stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der sich in ein Triumphgeheul verwandelte, als man ihn dazu erkor, aus Washington über die Eröffnungsrede des Präsidenten vor dem Kongress zu berichten. Er redete dem Chef der Auslandsabteilung ein, es sei sinnvoll, die Rückreise in New York zu unterbrechen, um die Kontakte zu ABC, die er beim letzten Mal angebahnt hatte, zu intensivieren. Den Chef der Auslandsabteilung überzeugte dieses Argument, doch schärfte er Michael ein, er müsse tags darauf wieder daheim sein, um über die Eröffnungssitzung des britischen Parlaments zu berichten.

Adrian rief Michaels Frau an, um sie über billige Transatlantikflüge für Ehefrauen zu informieren, die ihre Männer auf Geschäftsreisen begleiteten. »Wie lieb von dir, daran zu denken, Adrian, aber leider bekomme ich von meiner Schule während des Semesters keinen Urlaub, und außerdem habe ich entsetzliche Angst vorm Fliegen.«

Michael zeigte größtes Verständnis für die Ängste seiner Frau und buchte einen Einzelflug.

Am darauffolgenden Montag flog er nach Washington und rief von seinem Hotelzimmer aus Debbie Kendall an; er fragte sich, ob sie sich wohl noch an die beiden aufgeblasenen Engländer erinnerte, denen sie vor einigen Monaten begegnet war, und, wenn ja, ob sie auch noch wissen würde, welcher von beiden er war. Nervös wählte er ihre Nummer und lauschte auf den Klingelton. War sie zu Hause, war sie zurzeit überhaupt in New York? Endlich machte es »Klick«, und eine sanfte Stimme meldete sich.

»Hallo Debbie, hier spricht Michael Thompson,«

»Hallo Michael, was für eine nette Überraschung! Sind Sie in New York?«

»Nein, in Washington, aber ich denke daran hoch zu fliegen. Sie hätten nicht zufällig am Donnerstag Zeit, mit mir essen zu gehen?«

»Warten Sie, ich sehe einmal in meinem Kalender nach.«

Michael hielt den Atem an, während er wartete. Stunden schienen zu vergehen.

»Ja, ich glaube, das sieht gut aus.«

»Ist ja fantastisch! Soll ich Sie so gegen acht abholen?«

»Ja, gerne, Michael. Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.«

Ermutigt durch diesen schnellen Erfolg schickte Michael auf der Stelle ein Beileidstelegramm an Adrian, dem er zu dem schweren Verlust sein Mitgefühl aussprach. Von Adrian kam keine Antwort.

Kaum hatte er am Donnerstagnachmittag die redaktionelle Fassung der Inaugurationsrede des Präsidenten für sein Londoner Büro beendet, nahm Michael den Shuttleflug nach New York. Nachdem er ein Hotelzimmer bezogen hatte – diesmal eines mit Doppelbett, für den Fall, dass Debbies Kinder daheim waren –, badete er und rasierte sich gründlich, wobei er sich zweimal schnitt und auch ein bisschen zu viel Aftershave auftrug. Er durchwühlte seinen Koffer, um die vorteilhaftesten Kleidungsstücke und die eindrucksvollste Krawatte auszuwählen, und als er endlich angezogen war, betrachtete er sich im Spiegel und frisierte sorgfältig sein frisch gewaschenes Haar, damit die langen, allmählich dünner werdenden Strähnen gleichermaßen lässig wie kaschierend über jene Partien fielen, wo sich allmählich Geheimratsecken bildeten. Nach einem letzten Kontrollblick gelangte er endlich zu der Überzeugung, dass man ihm seine achtunddreißig Jahre nicht ansah.

Zufrieden bestieg Michael kurz darauf den Lift ins Parterre, ging hinaus auf die neonerleuchtete Fifth Avenue und marschierte gut gelaunt in Richtung der achtundsechzigsten Straße. Unterwegs erwarb er in einem kleinen Laden Ecke fünfundsechzigste Straße und Madison Avenue ein Dutzend Rosen, wonach er, vergnügt vor sich hin summend, weiterging. Fünf Minuten vor acht stand er vor Debbie Kendalls kleinem Ziegelhaus.

Als Debbie die Tür öffnete, dachte Michael, dass sie noch schöner war, als er sie in Erinnerung hatte. Sie trug ein langes blaues Kleid mit einem duftigen weißen Spitzenkragen und Manschetten, und obwohl es ihren Körper vom Hals bis zu den Knöcheln bedeckte, hätte sie nicht begehrenswerter sein können. Sie war kaum geschminkt, hatte nur eine Spur Lippenstift aufgelegt, den Michael im Lauf des Abends zu beseitigen gedachte. Ihre grünen Augen schimmerten.

»Sagen Sie doch etwas«, sagte sie lächelnd.

»Sie sehen überwältigend aus, Debbie«, war alles, was ihm einfiel, als er ihr die Rosen überreichte.

»Ach, wie lieb von Ihnen«, erwiderte sie und bat ihn ins Haus. Michael folgte ihr in die Küche, wo sie die Enden der langen Stiele flachklopfte und die Blumen in einer Porzellanvase liebevoll anordnete. Anschließend führte sie ihn ins Wohnzimmer und stellte die Rosen auf ein ovales Tischchen neben die Fotografie von zwei kleinen Jungen.

»Haben wir Zeit für einen Aperitif?«

»Sicher. Ich habe bei Elaine’s einen Tisch für acht Uhr dreißig bestellt.«

»Mein Lieblingsrestaurant«, sagte sie mit einem Lächeln, das ein kleines Grübchen auf ihre Wange zauberte. Ohne zu fragen, goss Debbie zwei Whiskys ein und reichte Michael das eine Glas.

Was für ein gutes Gedächtnis sie hat, fiel ihm auf, während er, nervös wie ein Halbwüchsiger beim ersten Rendezvous, sein Glas abwechselnd hinstellte und wieder aufnahm. Kaum hatte Michael ausgetrunken, schlug Debbie vor zu gehen.

»Elaine hält einen Tisch keine Minute lang frei, nicht einmal für Henry Kissinger.«

Michael lachte und half ihr in den Mantel. Während sie die Tür entriegelte, stellte er fest, dass kein Babysitter zu sehen und kein Laut von Kindern zu hören war. Sie sind wohl bei ihrem Vater, dachte er. Auf der Straße hielt er ein Taxi an und nannte dem Fahrer die Adresse. Michael war noch nie im Elaine’s gewesen. Ein Bekannter bei ABC hatte ihm das Restaurant empfohlen und ihm versichert: »In der Bude steigen deine Chancen.«

Sie betraten den überfüllten Raum, und während sie an der Bar warteten, bis ihnen ein Tisch zugewiesen wurde, bemerkte Michael, dass das Lokal zu jenen zählte, in denen hauptsächlich reiche und berühmte Leute verkehren, und er fragte sich, ob er seiner Brieftasche eine solche Ausgabe wohl zumuten konnte und vor allem ob diese sich auch lohnen würde.

Ein Kellner führte sie zu einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Lokals, wo sie noch einen Whisky tranken, während sie die Speisekarte studierten. Als der Kellner wiederkam, um die Bestellung aufzunehmen, wollte Debbie keine Vorspeise, sondern nur eine Piccata Milanese, und so bestellte Michael das Gleiche für sich. Als sie darum bat, die Knoblauchbutter wegzulassen, stiegen Michaels Hoffnungen für den weiteren Verlauf des Abends.

»Wie geht’s Adrian?« fragte sie.

»Oh, gut wie gewöhnlich«, erwiderte Michael. »Er schickt Ihnen natürlich Grüße und Küsse.« Er betonte das Wort Küsse.

»Wie schön, dass er sich noch an mich erinnert. Richten Sie ihm doch bitte aus, dass ich ihm auch einen schicke. Was führt Sie diesmal nach New York, Michael? Wieder ein Film?«

»Nein. In New York hat zwar jeder zu tun, aber ich bin diesmal nur gekommen, um Sie zu sehen.«

»Um mich zu sehen?«

»Ja, ich musste in Washington eine Sendung aufnehmen, wusste aber, dass ich damit bis heute Mittag fertig werden könnte. Deshalb hatte ich so gehofft, dass Sie Zeit hätten, den Abend mit mir zu verbringen.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Das ist aber die Wahrheit.«

Sie lächelte. Das Kalbfleisch wurde aufgetragen.

»Sieht gut aus«, sagte Michael.

»Schmeckt auch gut«, sagte Debbie. »Wann fliegen Sie zurück?«

»Leider schon morgen Vormittag, mit der Elf-Uhr-Maschine.«

»Da haben Sie aber nicht viel Zeit.«

»Ich bin nur gekommen, um Sie wiederzusehen«, wiederholte Michael. Debbie kaute an ihrem Kalbfleisch. »Sagen Sie mir, Debbie, was bringt einen Mann auf den Irrsinnsgedanken, sich von Ihnen zu trennen?«

»Ach, etwas nicht gerade Originelles, fürchte ich. Er hat sich in eine zweiundzwanzigjährige Blondine verliebt und seine zweiunddreißigjährige Frau sitzen lassen.«

»So ein Idiot. Er hätte doch mit der zweiundzwanzigjährigen Blondine eine Affäre haben und seiner zweiunddreißigjährigen Frau treu bleiben können.«

»Schließt sich das nicht gegenseitig aus?«

»Nein, gar nicht, glaube ich. Jemand anderen begehrenswert zu finden, erscheint mir nicht unnatürlich. Schließlich dauert ein Leben ziemlich lange. Da kann man doch kaum erwarten, dass ein Mann nie eine andere Frau begehrt.«

»Ich bin mir nicht so sicher, dass ich Ihre Meinung teile«, meinte Debbie nachdenklich. »Ich wäre gerne einem einzigen treu geblieben.«

Verdammt, dachte Michael, keine besonders vielversprechende Ansicht. »Fehlt er Ihnen?«, versuchte er es noch einmal.

»Ja, doch, manchmal. Es stimmt schon, was in diesen feinen Magazinen für Leute in mittleren Jahren steht. Man fühlt sich oft ziemlich einsam, wenn man so plötzlich ganz auf sich selbst gestellt ist.«

Das klingt schon besser, dachte Michael und hörte sich sagen: »Ja, das versteh ich gut, aber so jemand wie Sie wird wohl nicht sehr lange einsam bleiben.«

Debbie erwiderte nichts.

Michael füllte ihr Glas fast bis zum Rand und hoffte, es würde ihm gelingen, eine zweite Flasche zu bestellen, noch ehe sie den Hauptgang beendet hatten.

»Wollen Sie mich betrunken machen, Michael?«

»Wenn Sie meinen, dass es hilft«, lachte er.

Debbie lachte nicht. Michael versuchte es noch einmal.

»Waren Sie im Theater in letzter Zeit?«

»Ja, vorige Woche, in Evita. Ich fand es fabelhaft« – wer hat dich da wohl ausgeführt, dachte Michael –, »aber meine Mutter ist mir im zweiten Akt glatt eingeschlafen«, fuhr sie fort. »Ich glaube, ich muss noch mal hingehen, und zwar allein diesmal.«

»Wie gerne würde ich bleiben und mit Ihnen gehen.«

»Das wäre ein Spaß«, sagte sie.

»Stattdessen werde ich mich damit begnügen müssen, das Musical in London zu sehen.«

»Mit Ihrer Frau.«

»Ober, noch eine Flasche Wein.«

»Für mich bitte nicht mehr, Michael, wirklich nicht.«

»Na, ein bisschen können Sie mir schon noch dabei helfen.« Der Kellner zog sich zurück. »Kommen Sie manchmal nach England?« fragte Michael.

»Nein, ich war nur einmal dort. Damals hat Roger, mein Exmann, die ganze Familie mitgenommen. Ich habe mich sofort in das Land verliebt. Es hat alle meine Erwartungen übertroffen, obwohl wir natürlich nur das unternommen haben, was man von amerikanischen Touristen erwartet. Tower, Buckingham Palace, danach Oxford und Stratford und anschließend noch eine Reise nach Paris.«

»Wie traurig, England so zu erleben. Ich hätte Ihnen so viel mehr zeigen können.«

»Ich habe den Verdacht, dass Engländer, die nach Amerika kommen, auch nicht viel mehr sehen als New York, Washington, Los Angeles und, wenn’s hochkommt, San Francisco.«

»Das stimmt«, sagte Michael, der nicht widersprechen wollte. Der Kellner räumte die leeren Teller ab.

»Kann ich Sie zu einem Dessert verführen, Debbie?«

»Nein, nein, ich versuche gerade ein bisschen abzunehmen.«

Sanft legte Michael ihr die Hand um die Hüfte, »Das haben Sie doch nicht nötig«, sagte er. »Sie fühlen sich einfach perfekt an.«

Sie lachte. Er lächelte.

»Trotzdem nur Kaffee für mich, bitte.«

»Einen kleinen Cognac?«

»Nein, danke, nur Kaffee.«

»Schwarz?«

»Schwarz.«

»Zweimal Kaffee, bitte«, sagte Michael zu dem wieder herbeischwebenden Kellner. Dann wandte er sich wieder Debbie zu. »Hätte ich Sie doch nur irgendwo anders hingeführt, wo es ein bisschen stiller ist und man nicht so auf dem Präsentierteller sitzt.«

»Warum?«

Michael nahm ihre Hand in seine. Sie fühlte sich kalt an. »Ich hätte Ihnen gerne manches gesagt, was die Leute am Nebentisch nicht zu hören brauchen.«

»Die Leute in diesem Restaurant können Sie gar nicht schockieren, Michael, was Sie auch sagen.«

»Also gut. Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«

»Das nicht, aber ich glaube schon, dass einem jemand gefallen kann, den man zum ersten Mal sieht.«

»Dann muss ich Ihnen gestehen, dass es mir mit Ihnen so gegangen ist.«

Erneut sagte sie nichts darauf.

Der Kaffee wurde gebracht, und Debbie entzog ihm ihre Hand, um einen Schluck zu trinken. Michael nahm ebenfalls einen.

»An dem Abend, an dem wir uns begegnet sind, Debbie, waren wenigstens hundertfünfzig Frauen im Saal, und doch konnte ich meine Augen nicht von Ihnen losreißen.«

»Auch nicht während des Films?«

»Den blöden Film hatte ich schon mindestens hundertmal gesehen. Angst hatte ich nur, dass ich Sie vielleicht nie mehr sehen würde.«

»Ich bin gerührt.«

»Aber wieso denn? Sowas muss Ihnen doch ständig passieren.«

»Hie und da schon«, sagte sie. »Aber seit mich mein Mann verlassen hat, habe ich niemanden mehr wirklich ernst genommen.«

»Das tut mir leid, Debbie.«

»Muss es nicht. Es ist nur nicht so leicht, darüber hinwegzukommen, wenn man mit jemandem zehn Jahre lang zusammengelebt hat. Ich glaube nicht recht, dass es viele frisch geschiedene Frauen gibt, die bereitwillig mit dem Erstbesten, der daherkommt, ins Bettchen hüpfen, wie einem das in all diesen neueren Filmen weisgemacht wird.«

Michael nahm wieder ihre Hand und hoffte inständig, dass er nicht in dies Kategorie fiel.

»Es war ein so schöner Abend. Wollen wir nicht noch ins Carlyle gehen und uns dort Bobby Short anhören?« Michaels Bekannter bei der ABC-Film hatte ihm einen Revierwechsel empfohlen, sollte er das Gefühl haben, noch im Rennen zu sein.

»Ja, das würde ich gerne«, sagte Debbie.

Michael verlangte die Rechnung – siebenundachtzig Dollar. Wäre ihm seine Frau gegenübergesessen, hätte er jeden Posten sorgfältig überprüft, so aber legte er einfach fünf Zwanzigdollarscheine auf den Teller mit der Rechnung und wartete nicht auf das Rückgeld. Als sie auf die Straße hinaustraten, nahm er Debbies Hand, und sie gingen die Second Avenue hinunter. In der Madison Avenue blieben sie vor Schaufenstern stehen, und er kaufte ihr einen Pelzmantel, eine Uhr von Cartier und ein Modellkleid von Balenciaga. Debbie fand, es sei ein Glück, dass die Läden alle geschlossen waren.

Ins Carlyle kamen sie gerade rechtzeitig zur Elf-Uhr-Show. Ein Kellner mit einem zur Taschenlampe umfunktionierten Kugelschreiber führte sie durch das verdunkelte Parkett zu einem Ecktisch. Michael bestellte eben eine Flasche Champagner, als Bobby Short einen Akkord anschlug und gefühlvoll zu singen begann: »Georgia, Georgia, oh my sweet …« Da er mit Debbie über den Lärm der Band hinweg nicht sprechen konnte, begnügte Michael sich damit, ihre Hand zu halten, und als der Entertainer sang »This time we almost made the pieces fit, didn’t we, gal?«, beugte er sich vor und küsste sie auf die Wange. Sie wandte sich ihm zu und lächelte – las er da leises Einverständnis in ihren Zügen, oder war das nur Wunschdenken? –, dann nippte sie an ihrem Champagner. Punkt zwölf Uhr klappte Bobby Short den Klavierdeckel zu und sagte: »Gute Nacht, Freunde, höchste Zeit, dass ihr braven Leute jetzt ins Bett geht – und ihr schlimmen auch.« Michael lachte etwas zu laut, freute sich aber, dass auch Debbie lachte.

Sie schlenderten über die Madison Avenue bis zur achtundsechzigsten Straße und plauderten über alles Mögliche, während Michaels Gedanken nur auf eine einzige Sache gerichtet waren. Vor dem Haustor in der achtundsechzigsten Straße zog Debbie den Schlüssel aus der Tasche.

»Möchten Sie vielleicht noch einen Drink zum Abschluss?«, fragte sie, ohne jeglichen zweideutigen Unterton.

»Nein, Debbie, danke. Keinen Drink mehr, aber sehr gerne hätte ich noch einen Kaffee.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer.

»Die Blumen haben sich gut gehalten«, scherzte sie und ließ ihn allein, während sie den Kaffee zubereitete. Michael vertrieb sich die Zeit damit, eine alte Nummer von Time durchzublättern; er betrachtete flüchtig die Bilder, ohne den Text zu beachten. Nach ein paar Minuten kam sie mit einer Kaffeekanne und zwei Mokkatassen auf einem Lacktablett zurück. Sie schenkte den Kaffee ein, wieder schwarz, und setzte sich dann zu Michael auf die Couch, schlug dabei ein Bein unter das andere und neigte sich ein wenig zu ihm. Michael stürzte den Kaffee in zwei großen Schlucken hinunter und verbrannte sich fast die Lippen. Dann stellte er seine Tasse ab, beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf den Mund. Sie hielt sich immer noch an ihrer Mokkatasse fest. Ihre Augen öffneten sich einen Augenblick weit, während sie die Tasse auf ein Abstelltischchen hinüberbalancierte. Nach einem zweiten langen Kuss löste sie sich von ihm.

»Ich muss morgen sehr früh aufstehen.«

»Ich ja auch«, sagte Michael, »aber mehr Kummer bereitet mir der Gedanke, dich lange nicht wiederzusehen.«

»Wie hübsch das klingt«, erwiderte Debbie.

»Nein, es besorgt mich einfach«, sagte er, bevor er sie wieder küsste.

Diesmal erwiderte sie seinen Kuss; er legte eine Hand auf ihre Brust, während er mit der anderen Hand die kleinen Knöpfe auf dem Rücken ihres Kleides zu öffnen begann. Sie entwand sich ihm wieder.

»Lass uns nichts tun, was wir nachher bedauern würden.«

»Ich weiß genau, wir werden es nicht bedauern«, entgegnete Michael.

Dann küsste er ihren Hals und ihre Schultern und streifte ihr Kleid ein Stück hinunter, während er sich geschickt bis zu ihrer Brust vortastete und zu seinem Entzücken entdeckte, dass sie keinen Büstenhalter trug.

»Gehen wir hoch, Debbie? Ich bin zu alt für Liebe auf dem Sofa.«

Wortlos stand sie auf und führte ihn an der Hand in ihr Schlafzimmer, das schwach und köstlich nach ihrem Parfüm duftete.

Sie schaltete eine kleine Nachttischlampe an und schlüpfte aus den restlichen Kleidern, die sie einfach fallen ließ, wo sie stand. Michael konnte den Blick nicht eine Sekunde von ihrem Körper lösen, während er selbst sich auf der anderen Seite des Bettes ungeschickt entkleidete. Er schlüpfte unter die Laken und vereinte sich rasch mit ihr. Als es vorüber war, ein Erlebnis, wie er es so intensiv seit Langem nicht genossen hatte, lag er stumm da und grübelte, warum sie sich ihm hingegeben hatte, noch dazu beim ersten Mal.

Schweigend lagen sie sich in den Armen, ehe sie sich ein zweites Mal liebten, und es war genauso köstlich wie beim ersten Mal. Dann überwältigte Michael der Schlaf.