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Dreizehn Jahre sind vergangen. Dreizehn Jahre, die die Seelenlosen für sich genutzt haben … Ein weiteres Unheiliges Jahr hat London fest im Griff. Neue Geister und andere Kreaturen bedrohen die Bevölkerung stärker als je zuvor. Besonders die Seelenlosen aus dem größten Verlorenen Ort der Stadt, dem alten Londoner U-Bahn-Netz, stellen eine tödliche Gefahr dar. Ohne die Hilfe der externen Geisterjäger hätten die Spuk Squads der Metro Police keine Chance, der Lage Herr zu werden. Auch Gabriel kämpft mit seiner Squad sowie den Ghost Reapers für die Sicherheit seines Stadtteils. Dabei stellen jedoch nicht nur die Seelenlosen eine wachsende Bedrohung dar, auch einige der Lebenden werden zu gefährlichen Herausforderungen. Gleichzeitig kämpfen Gabriels Söhne an ihren eigenen Fronten. Leo und Toby tragen noch den Geminus in sich. Wie werden sie mit dem dunklen Erbe umgehen, das man ihnen aufgezwungen hat? Neue Geister. Neue Monster. Neue Herausforderungen. Und zwei Teenager, die sich mit den gefährlichen Kreaturen auseinandersetzen müssen, die sie in sich tragen … Willkommen in einer neuen Unheiligen Zeit. Willkommen zurück bei den Totenbändigern.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
13 Jahre später
Band 1
Nadine Erdmann
Kuneli Verlag
Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main
Copyright © 2025 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage (Oktober 2025)
Coverdesign: Kuneli Verlag
Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com
ISBN Epub: 978-3-948194-84-0
www.kuneli-verlag.de
Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.
Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.
www.nadineerdmann.de
www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin
www.instagram.com/nadineerdmann
CyberWorld (Als E-Book)
Mind Ripper
House of Nightmares
Evil Intentions
The Secrets of Yonderwood
Burning London
Anonymous
Bunker 7
Lichtstein-Saga (Als Taschenbuch und E-Book)
Aquilas
Andolas
Fineas
Enyas
Die Totenbändiger (Als Taschenbuch und E-Book)
Sammelband 1 - Unheilige Zeiten
Sammelband 2 - Äquinoktium
Sammelband 3 - Geminus
Sammelband 4 - Samhain
Sammelband 5 - Zwillingskräfte
Sammelband 6 - Wintersonnenwende
Alles und Nichts - Kurzgeschichte
Schatten der Vergangenheit - Kurzgeschichte
London Underground (13 Jahre später - Band 1)
Haunted Hunters (Als Taschenbuch und E-Book)
Neue Wirklichkeit
Daemons
Raiders
Für alle, die sich noch einmal bei den Hunts zu Hause fühlen wollen. Das hier ist für euch.
Sonntag, 1. September, 14:17 Uhr
London
Altes Eisenbahnmuseum in der Nähe der Clapham Junction
Jen hielt sich im Schatten der ausrangierten Waggons und beobachtete die drei Eindringlinge, die sich seit gut anderthalb Stunden auf dem Gelände des alten Eisenbahnmuseums herumtrieben. Vielleicht waren sie sogar schon länger hier und sie hatte sie bloß nicht eher bemerkt. Das Scheppern eines Blecheimers oder Kanisters hatte sie aufgeschreckt und nachsehen lassen. Eigentlich war der Eisenbahnfriedhof aufgrund des Eisens von Schienen und Zügen recht sicher und die Sonne schien warm vom beinahe wolkenlosen Himmel. Aber die verdammten Wiedergänger und Shapeshifter wurden durch das Unheilige Jahr immer stärker und dreister.
Doch es waren weder Wiedergänger noch Shapeshifter, die ihren Frieden störten, sondern drei Jugendliche. Zwei Jungs und ein Mädchen. Alle drei ungefähr so alt wie sie – soweit sie das aus sicherer Entfernung erkennen konnte. Einer der Jungs hatte braunes Haar im Surfer-Style, war mittelgroß, schlank und sportlich. Er zeigte zwar durchaus Interesse an den alten Dampflokomotiven, die auf dem Gelände des ehemaligen Museums vor sich hin rosteten, schien aber nicht besonders detailversessen zu sein. Statt die Loks akribisch zu inspizieren, wie die anderen beiden es taten, kletterte er behände auf den alten Stahlriesen herum und sprang wie ein Traceur beim Parkour mit schlafwandlerischer Sicherheit von Lok zu Lok und Waggon zu Waggon. Bei den Loks war das nicht einfach. Er musste einen verdammt guten Gleichgewichtssinn haben.
Der zweite Junge war kleiner und sehr zierlich. Trotz der Wärme trug er eine weiße Beanie und hatte eine Kamera um den Hals, mit der er immer wieder Fotos schoss: Detailaufnahmen der Lokomotiven und Waggons, aber auch Aufnahmen vom Gelände. Er war ebenfalls auf zwei der Loks geklettert, aber nicht um hin und her zu springen. Er hatte von der erhöhten Position aus Fotos gemacht.
Die beiden Jungen waren weiß, das Mädchen hatte dunklere Haut. Sie war in etwa so groß wie der Traceur und ähnlich schlank und sportlich wie er. Ihr dunkles Haar hielt sie sich mit einem kurzen Pferdeschwanz aus dem Gesicht.
Obwohl es ziemlich warm war, trugen alle drei lange Jeans und Boots, und sie hatten Rucksäcke dabei, in denen zumindest das Mädchen und der Junge mit der Kamera Taschenlampen mitgebracht hatten. Jen hatte gesehen, wie sie sie eingeschaltet hatten, als die zwei nach den alten Dampfloks jetzt auch die nostalgischen Waggons inspizierten. Ihr Freund hatte einen beeindruckenden Sprung von einem der Wagendächer hingelegt und war ihnen dann gefolgt.
Mittlerweile streiften die drei jetzt schon eine ganze Weile durch Schlafwagen, Zugrestaurant, Salon und die Waggons der ersten, zweiten und dritten Klasse. Jen wusste, dass durch die völlig verdreckten Fenster nur dämmriges Licht fiel. Auch die drei waren vorbereitet gewesen. Offensichtlich waren sie nicht zum ersten Mal in einem Lost Place unterwegs. Außer den Lichtkegeln der Taschenlampen war auch immer wieder das Blitzlicht der Kamera durch die trüben Scheiben zu sehen.
Da die Erkundung der alten Museumswagen länger dauerte, hatte Jen sich einen Beobachtungsplatz auf dem Eisenbahnfriedhof, der an das Museumsgelände grenzte, gesucht. Hier standen in fünf langen Reihen ausrangierte Waggons der British Rail, die noch keine hundert Jahre auf dem Buckel hatten, sondern vermutlich in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren aus dem Verkehr gezogen worden waren.
Laut Internet war das Eisenbahnmuseum vor achtzehn Jahren wegen zu geringer Besucherzahlen geschlossen worden. Das Areal grenzte an das Bahnhofsgelände von Clapham Junction, dem größten innerstädtischen Verladebahnhof Londons. Sämtliche Güterzüge aus dem Süden Englands steuerten die Station an, um umgeladen zu werden.
Auch für den Personenverkehr spielte der Bahnhof eine wichtige Rolle. Über zweitausend Züge passierten Clapham Junction täglich. Oft trug der Wind die Lautsprecherdurchsagen oder das Quietschen der Bremsen bis zum Eisenbahnfriedhof und dem geschlossenen Museum.
So laut und betriebsam es auf dem restlichen Bahnhof auch war, hier im äußersten Westen des Geländes war es abgesehen von den Geräuschen der vorbeifahrenden Züge still und friedlich. Einen Wachschutz gab es nicht. Zumindest hatte Jen noch nie jemanden gesehen. Das alte Museum sowie der angrenzende Schrottplatz samt Eisenbahnfriedhof schienen selbst bei British Rail in Vergessenheit geraten zu sein.
Auch Urban Explorers hatte sie bisher noch nie hier gesehen. Das Museum tauchte allerdings auch in keiner der Listen mit Must-see Lost Places auf. Es war auch nicht besonders gut zugänglich. Im Osten und Süden gingen Schrottplatz und Eisenbahnfriedhof in den Verladebahnhof über. Dort herrschte Tag und Nacht reger Betrieb, sodass man kaum eine Chance hatte, ungesehen auf das Gelände zu kommen, außer man kannte sich gut aus. Im Norden lagen hinter der hohen Begrenzungsmauer vielbefahrene Bahngleise und die Mauer war so dicht mit Brombeerranken zugewuchert, dass man vermutlich eine Machete oder Heckenschere gebraucht hätte, um sich durchzukämpfen.
Einzig im Westen konnte man recht einfach auf das Areal gelangen. Hier führte eine schmale Zufahrtsstraße zu den ehemaligen Besucherparkplätzen vor dem Hauptgebäude der Museumsanlage. Die Straße lag allerdings genauso vergessen wie das Museum im verwilderten Teil des Holgate Green und diesen Ort mied so gut wie jeder. Da Magnesiumlichter sowie all das Eisen rund um den Bahnhof der Clapham Junction viele Geister abschreckten, war der Park hier in der Gegend ihr einziger Rückzugsort vor dem Tageslicht. Außerdem boten Drogendealer und Sexworker am nördlichen Ende von Holgate Green sich selbst und ihre Ware an. Geister, Drogen und Prostitution hatten der Gegend einen so schlechten Ruf eingebracht, dass der Park bei allen nur noch Hellgate Green genannt wurde, und jeder, der konnte, machte einen Bogen darum. Bäume, Büsche und Unkraut wucherten deshalb schon seit Jahren ungehindert und die Straße, die zum ehemaligen Museum führte, war nur noch eine holprige Piste, die besonders im Sommer kaum zu erahnen war.
Die drei Urbexer mussten sie trotzdem gefunden haben. Ihre Fahrräder lehnten am Eisentor, das neben dem Hauptgebäude vom Parkplatz auf das Museumsgelände führte. Die beiden Torflügel waren zwar mit einer Eisenkette gesichert, ließen sich aber weit genug auseinanderschieben, dass sich schlanke Personen durchzwängen konnten. Wenn man geschickt war, bekam man sogar sein Fahrrad durch die Öffnung.
Jen hoffte sehr, dass die drei wieder verschwanden, sobald sie sich die historischen Loks und Waggons angesehen hatten, und sie sich nicht auch noch für die moderneren Züge auf dem Eisenbahnfriedhof jenseits der Museumsanlage interessierten. Sie hoffte auch, dass sie weder durch die angrenzenden Lagerhallen noch durch das alte Hauptgebäude streifen wollten. In den Lagerhallen standen Gerippe von Triebwagen und Waggons, die man – vermutlich auf der Suche nach Ersatzteilen – ausgeschlachtet hatte. Die meisten waren deshalb sicher nicht mehr besonders stabil. Wenn der Traceur auf denen herumkletterte, konnte das unschön enden, und Jen hatte wenig Lust auf einen Rettungseinsatz hier auf dem Gelände.
Auch das Hauptgebäude des Museums sollten die drei besser nicht betreten. In der letzten Vollmondnacht war klar geworden, dass all ihre Abwehrmaßnahmen nicht ausgereicht hatten, um zwei Shapeshifter im Untergrund zu halten. Seitdem herrschte zwar wieder Ruhe, aber genau wie Geister sprangen auch Shifter besonders auf die Lebensenergie von Kindern und Jugendlichen an.
Jen blickte hinüber zu dem alten Ziegelbau, der trügerisch friedlich in der warmen Nachmittagssonne lag. Alle Fenster und Türen waren mit Eisenplatten gesichert worden, als man das Museum geschlossen hatte.
Im Erdgeschoss hatte es einst eine Ausstellung mit alten Fotos, Zeitungsartikeln, Uniformen der Bahnangestellten und ähnlichem Kram gegeben. Einige der Exponate waren bei der Schließung zurückgelassen worden. Das obere Stockwerk war nur für Personal zugänglich gewesen. Dort befanden sich Büros und Aktenräume, in denen Ordner und Papiere Staub fingen. Außerdem besaß das Museum einen Kellerraum, der sowohl durch eine Treppe im Inneren des Gebäudes als auch durch eine Außentür betreten werden konnte. Auch diese Tür war durch eine Eisenplatte gesichert worden. Doch Feuchtigkeit und der Zahn der Zeit hatten die Platte rosten lassen, sodass sie während der letzten Vollmondzeit zwei Shapeshifter nicht hatte aufhalten können.
Jen hatte danach versucht, Kellerraum und Tür zu sichern. Dabei war locker ein ganzer Wochenlohn draufgegangen, doch das verschmerzte sie, wenn dafür keine Gefahr mehr drohte. Bisher schien es zu funktionieren, obwohl ihr klar war, dass die Sicherung bloß laienhaft war. Sie würde nicht ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass sie in den nächsten Vollmondnächten oder in der Unheiligen Nacht zu Äquinoktium standhielt.
Da die drei Eindringlinge sich immer noch in den Waggons herumtrieben, spielte Jen Zielwerfen mit ein paar Steinchen, die im Unkraut zwischen den Waggonleichen lagen. Als sie das Quietschen einer Tür hörte, blickte sie wieder hinüber zu den Museumswagen und sah, wie der Traceur aus der dritten Klasse sprang.
»Nehmt euch alle Zeit der Welt, wenn ihr weiter gekocht werden wollt. Aber ich muss aus dem stickigen Ding jetzt raus, sonst krieg ich einen Hitzschlag«, hörte Jen ihn zu seinen Freunden sagen.
Die antworteten etwas, das zu leise war, als dass Jen es hätte verstehen können.
»Nein, Mum«, schnaubte der Braunschopf dezent genervt. »Ich verspreche, ich mache keinen Mist.«
Jen konnte quasi hören, wie er dabei die Augen rollte, und musste schmunzeln.
»Ich gehe schon mal rüber zum Museum und sehe nach, ob es einen Hintereingang gibt, durch den wir reinkommen können.«
Sofort verging Jen das Schmunzeln und sie stand auf, als der Braunschopf ohne eine Antwort der anderen beiden abzuwarten Richtung Hauptgebäude lief. Jen huschte zwischen den Waggons hervor und sprintete zu einem bungalowähnlichen Nebengebäude, das direkt bei den Museumswagen stand und einmal ein Café beherbergt hatte.
Sie wollte gerade weiterhuschen und sich neben einer der Loks verstecken, als das Mädchen und der zweite Junge jetzt ebenfalls aus dem letzten Waggon sprangen. Sie redeten leise miteinander, als sie ihrem Freund folgten. Zu leise, als dass Jen sie hätte verstehen können. Sie duckte sich in den Schatten eines Fliederstrauchs, der an der Hauswand des Cafés wucherte, und sah die beiden jetzt zum ersten Mal aus der Nähe, als sie die Lücke zwischen zwei Waggons passierten.
Schwarze Linien zogen sich über die Schläfe des Jungen. Sie wirkten sehr filigran, stachen auf seiner hellen Haut aber mehr als deutlich hervor. Außerdem erkannte Jen, dass das, was sie für einen hellblauen Saum an der weißen Beanie gehalten hatte, die Haare des Jungen waren, die unter der Mütze hervorschauten.
Er war ein Totenbändiger.
Die anderen beiden etwa auch?
Aber selbst wenn, durfte sie nicht zulassen, dass die drei ins Museumsgebäude eindrangen. Nur weil sie Totenbändiger waren, hieß das schließlich nicht, dass sie automatisch mit Geistern, Wiedergängern oder Shapeshiftern klarkamen. In ihrer Schule hatte es einige Totenbändiger gegeben, die sich nicht im Geringsten für ihre Fähigkeiten interessierten und mehr Angst vor den Biestern gehabt hatten als Jen. Teilweise waren sie im Blocken sogar schlechter gewesen als ihre Normalo-Trainer.
Jen seufzte innerlich, als sie sah, wie der Braunhaarige an der hinteren Gebäudeseite des Museums den Treppenabgang ansteuerte, der zur Kellertür führte. Sie hatte gehofft, sich ihnen nicht zeigen zu müssen, aber das musste sie jetzt auf sich nehmen. Sie konnte die drei nicht in ihr Unglück rennen lassen.
»Sieht so aus, als hätten sich vor uns schon Urbexer durch den Keller einen Weg ins Haus gesucht.«
Leo begutachtete die mannshohe Eisenplatte, die bloß gegen die Tür gelehnt war. Dann schob er sie ein Stück zur Seite, um auch die Tür selbst in Augenschein nehmen zu können. Das Türblatt war völlig verrostet, schien aber ähnlich wie die Fenster im Erdgeschoss früher mal mit der Eisenplatte verschweißt gewesen zu sein.
Toby war zu seinem Bruder getreten. Tür, Schloss und Rahmen waren über die Jahre so rostig und porös geworden, dass man sie vermutlich ohne allzu große Probleme hatte aufbrechen können. Danach hatte man versucht, die Tür mit sechs gut zehn Zentimeter breiten Eisenstreben erneut zu sichern. Doch da Rahmen und Tür in einem so desolaten Zustand waren, hielten die Streben kaum.
Prüfend fuhr Leo mit den Fingern darüber. »Wir können die Eisenplatte zur Seite stellen und die Tür dann aufziehen. Das sollte kein Problem sein.«
»Nein, lasst es.« Maze hockte neben zwei Tonschalen und kratzte mit ihrem Taschenmesser durch die Überreste in der Asche. »Ich glaube, hier verbrennt jemand Bannkräuter.«
Sie richtete sich auf und blickte hinauf zu den Grünpflanzen, die neben dem Treppenabgang im Schatten des alten Ziegelbaus wild wucherten.
»Riecht es hier nicht auch nach Waldmeister?« Sie schnupperte. »Ich wette, da oben wächst Labkraut. Und Salbei steht da sicher auch irgendwo.«
Leo folgte ihrem Blick. Dass hier nicht nur der typische Sommergeruch von warmem Grünzeug herrschte, sondern es auch nach irgendwelchen Kräutern roch, war ihm auch aufgefallen. Allerdings hätte er nie im Leben benennen können, was er da roch. Grannys Kräuterkunde funktionierte bei ihm nur, wenn er die Pflanzen einzeln vor sich hatte, nicht, wenn sie in freier Wildbahn wuchsen und Gerüche sich vermischten.
Maze war dagegen ein Ass was Kräuter, Heil- und Bannpflanzen anging. Sie liebte es, gemeinsam mit Granny Schutzmischungen zum Verbrennen sowie Tees, Säfte und Sirups zusammenzustellen, die als Hausmittel halfen, wenn man krank war, Ruhe finden wollte oder Stärkung brauchte. Wenn Maze sagte, dass hier jemand Bannkräuter verbrannt hatte, glaubte Leo seiner Schwester uneingeschränkt.
Trotzdem sah er stirnrunzelnd von den Tontöpfen zur maroden Tür. »Warum verbrennt hier jemand Bannkräuter? Wenn im Haus Geister sind, die nicht raussollen, hätte man die Tür besser sichern müssen.«
Wieder fuhr er mit den Fingern über die Eisenstreben und die Überreste der zerbrochenen Schweißnähte. »Vermutlich hätte man dann eine ganz neue Tür einbauen müssen. Der Rahmen ist völlig von Rost zerfressen. Daran irgendwas festzuschweißen, wird nicht lange halten.«
»Wahrscheinlich fehlen Gelder«, mutmaßte Maze. »Wie immer. Und weil hier mit den alten Zügen, Schienen und dem ganzen anderen Schrott genug Eisen herumliegt, hofft man vermutlich, dass das Gebiet damit für Geister unattraktiv genug ist.«
»Für oberirdische Geister vielleicht. Die unterirdischen stören sich daran aber nicht. Vielleicht verbrennt hier deshalb jemand Bannkräuter.« Toby war ebenfalls in die Hocke gegangen und inspizierte nicht nur die Tontöpfe, sondern auch den Boden. »Hier liegt Salz.« Er deutete auf die Türschwelle. »Eine ganze Menge sogar. Das mögen die Seelenlosen aus dem Untergrund definitiv nicht.«
Maze und Leo blickten ihm über die Schultern.
»Dann sichert hier jemand die Kellertür gegen Shifter und unterirdische Geister?« Wieder runzelte Leo die Stirn. »Aber dann müsste in dem Gebäude ein Zugang zum Untergrund liegen und den gibt es nicht. Das haben wir überprüft und Daddy hat es gegengecheckt. Es waren keine offiziellen Wartungszugänge auf dem Museumsgelände verzeichnet.«
Maze blickte die Fassade hinauf. »Es muss ja nicht unbedingt ein offizieller Wartungszugang sein. Abwasserleitungen führen auch in den Untergrund. Wenn da irgendwas marode geworden und gebrochen ist, reicht das vermutlich schon aus, damit die Biester an die Oberfläche kommen können.«
»Exakt.«
Die fremde Stimme ließ die drei heftig zusammenschrecken und alle fuhren herum.
Ein Mädchen in ihrem Alter stand am Ende der Treppe und blickte zu ihnen herab. Sie trug abgewetzte schwarze Boots, dunkelblaue Skinny-Jeans und ein verwaschenes schwarzes T-Shirt hing lose um ihren drahtigen Körper. Strohblondes, kinnlanges Haar, das aussah, als hätte sie es selbst geschnitten, umrahmte strubbelig ihr schmales Gesicht. Sie wirkte riesig, was aber vermutlich bloß daran lag, dass sie oben auf der Treppe stand.
»Shit, hast du mich erschreckt.« Maze strafte sie mit einem grummeligen Blick.
»Ja, mich auch.« Leo nahm es aber deutlich weniger krumm als Maze. Neugierig musterte er das Mädchen. »Wer bist du? Auch eine Urbexer?«
»Lehnt erst mal die Eisenplatte zurück an die Tür und kommt aus dem Loch raus. Im Keller ist wirklich eine kaputte Rohrleitung und wir müssen mit unserer leckeren Lebensenergie nicht unbedingt irgendwas Seelenloses zu uns locken.«
»Guter Punkt. Und danke für die Warnung.« Mazes Blick wurde sofort deutlich weniger grummelig und sie rückte mit Leo die Eisenplatte wieder vor die Tür. »Vielleicht sollten wir die Warnung für andere Urbexer auf die Platte schreiben.«
»Verstößt das nicht gegen die Regeln der Urban Explorers?«, fragte das Mädchen. »Take nothing but pictures. Leave nothing but footprints. Ist das nicht euer Motto?«
»Im Prinzip schon«, nickte Leo. »Aber wenn man in einem Lost Place eine Gefahrenstelle entdeckt wie eine instabile Treppe oder einen Bereich mit Geistern oder ungesichertem Zugang zum Untergrund, lässt man eine Warnung da. Niemand will, dass jemand auf seiner Erkundungstour den Tod findet.«
Er stieg die Stufen hinauf und musterte die Fremde dabei weiter interessiert. Die Perspektive hatte definitiv getäuscht. Sie war nicht riesig. Bloß normaler Durchschnitt und ein bisschen kleiner als er.
»Hi, ich bin Leo. Das sind Maze und Toby. Wer bist du?«
Maze war Leo die Stufen hinauf gefolgt und betrachtete das Mädchen mit ähnlichem Interesse. Toby hatte noch ein paar Fotos von der Tür und den Töpfen mit den verbrannten Überresten der Bannkräuter geschossen und kam jetzt ebenfalls die Treppe hinauf.
»Ich bin Jen.«
»Und du bist offensichtlich keine Urbexer«, stellte Maze fest.
Jen schüttelte den Kopf. »Nein. Ich helfe meinem Vater. Er arbeitete beim Wachschutz des Bahnhofs und ist für das alte Museum, den Eisenbahnfriedhof und den Schrottplatz zuständig.«
Maze verzog das Gesicht und sah sich um. »Ist dein Vater auch hier? Will er uns rausschmeißen?«
»Nein. Ich mache heute seine Runde für ihn. Aber ich kann euch auch rausschmeißen«, stellte Jen klar. Sie musste selbstbewusst auftreten, damit sie die Oberhand behielt. Die anderen waren schließlich zu dritt.
»Aber das tust du nicht, oder?« Leo setzte sein gewinnendes Lächeln ein, bei dem ihm nur selten jemand etwas abschlagen konnte – seine Familie ausgenommen. Besonders seine Dads und seine Geschwister waren dagegen dummerweise immun. Bei Jen hoffte er allerdings auf Erfolg.
»Da du uns ja offensichtlich beobachtet hast, weißt du, dass wir uns nur die alten Loks und die Waggons angesehen haben. Wir haben weder randaliert noch irgendwas gestohlen. Du kannst gern unsere Rucksäcke kontrollieren, wenn du willst. Wir haben auch nichts Gefährliches angestellt. Es gibt also keinen Grund, uns rauszuschmeißen.« Wieder versuchte er, sie mit einem Lächeln für sich zu gewinnen.
Jen hob eine Augenbraue. »Nichts Gefährliches? Du bist ziemlich waghalsig über die Zugdächer gehüpft.«
»Das ist nicht gefährlich«, winkte Leo ab. »Ich hab Parkour ganz offiziell in einem Sportverein gelernt. Ich weiß, worauf ich beim Klettern und Springen aufpassen muss.«
»Berühmte letzte Worte.«
Leo grinste. »Na, offensichtlich fandest du mein Hüpfen ja nicht so besorgniserregend, dass du mich sofort da runtergeholt hättest.«
Jen musste schmunzeln. Der Typ war gut. Und mit diesem spitzbübischen Grinsen konnte er vermutlich halb London um seinen Finger wickeln.
»Ihr begeht hier Hausfriedensbruch«, merkte sie trotzdem an.
»Das hier ist kein Haus und wir haben keinerlei Frieden gebrochen«, übernahm jetzt Maze deutlich weniger charmant als ihr Bruder. »Schlimmstenfalls ist es Betreten ohne Erlaubnis.«
»Aber das könnten wir ja schnell ändern«, fiel Leo ihr rasch ins Wort und lächelte wieder einschmeichelnd in Jens Richtung. »Du erteilst uns einfach die Erlaubnis. Dafür teilen wir unsere Snacks mit dir. Himbeeren und Brombeeren aus unserem Garten. Außerdem gibt’s selbstgebackene Kekse. Die sind echt lecker und du wärst schön blöd, wenn du dir die entgehen lässt.«
Er deutete hinüber zum Café. An dessen Frontseite gab es einen gepflasterten Bereich, auf dem einst die Außentische gestanden hatten. Jetzt spross jede Menge Unkraut durch die Ritzen zwischen den Steinen. Besonders einladend wirkte der Platz damit nicht, aber er lag im Schatten des Gebäudes.
»Wir haben auch Wasser dabei und da drüben werden wir nicht von der Sonne gegrillt.« Leo ging los und steuerte die Außenwand des Cafés an, ohne eine Antwort abzuwarten.
Maze und Toby folgten ihm. Jen zögerte kurz, schloss sich ihnen dann aber an.
Am Café angekommen, reichte Toby Maze seinen Rucksack. »Ich will noch ein paar Fotos machen.«
Er wandte sich zum Eingang des Cafés.
»Die Tür ist abgeschlossen«, sagte Jen. »In den Bau kommt man nicht rein.«
»Das ist schon okay. Ich mache Fotos durch die Fenster.«
Im Gegensatz zum Museumsgebäude, an dem alle Fenster mit Eisenplatten verbarrikadiert worden waren, hatte man sich die Mühe bei der großen Glasfront des Cafés nicht gemacht. Vermutlich, weil es zu aufwendig und kostspielig gewesen wäre. Dann hätte man sich den Aufwand am Museum allerdings eigentlich auch sparen können, oder nicht?
Oft fand Toby die Entscheidungen, die Erwachsene trafen, ziemlich verwirrend. Er trat an eins der verdreckten Schaufenster und versuchte, ins Innere zu spähen.
»Außer ein paar Stühlen und der Verkaufstheke ist in dem Laden nichts mehr drin«, hörte er Jen sagen, als er mit der Faust ein Guckloch in den Dreck der Scheibe rieb.
»Das macht ihm nichts aus«, antwortete Leo. »Er kann so ziemlich alles auf seinen Fotos spektakulär aussehen lassen.«
Toby mochte das warme Gefühl, das der Stolz in Leos Stimme in ihm auslöste. Wie zum Ausgleich ließen ihn die nächsten Worte seines Bruders dafür aber prompt die Augen verdrehen.
»Er ist allerdings ein Intro. Nimm es also nicht persönlich, wenn er lieber weiter hier herumstreift und Bilder schießt, statt sich mit dir zu unterhalten.«
›Danke, Leo!‹, grollte Toby in Gedanken und war einmal mehr froh darüber, dass ihm meistens egal war, was andere von ihm dachten. Hauptsache, sie ließen ihn in Ruhe.
»Ein Intro?«, hakte Jen nach. »Was ist ein Intro?«
»Er ist introvertiert«, erklärte Leo. »Er steht nicht so auf soziale Kontakte. Besonders mit Fremden tut er sich schwer. Wundere dich also nicht, wenn er eher still ist und zuhört, statt selbst zu reden. Das bedeutet nicht, dass er dich nicht leiden kann, sondern nur, dass er halt introvertiert ist.«
Maze schnaubte. »Na, zum Ausgleich redest du dafür ja mal wieder mehr als genug«, meinte sie bedeutungsvoll.
Toby grinste. Danke, Maze!
Die Verbindung zwischen ihm und Leo war etwas ganz Besonderes, aber er liebte seine Schwester genauso sehr wie seinen Bruder. Sie war der pragmatisch sarkastische Ich-sag-wie-es-ist-Part in ihrem Trio und wusste sowohl ihn als auch Leo mit all ihren Sonderbarkeiten zu nehmen. Leo und er revanchierten sich damit, dass sie Maze den Rücken freihielten. Immer.
Zufrieden blendete Toby die anderen drei zu einem Hintergrundbrabbeln aus, schoss durch sein Guckloch ein paar Fotos und streifte dann weiter umher. Alte verlassene Orte übten eine unglaubliche Faszination auf ihn aus und er entdeckte immer unzählige Dinge, die es wert waren, auf Fotos festgehalten zu werden.
Im Schatten an der Frontseite des Cafés hatten Maze und Leo Wasserflaschen sowie Obst und Kekse ausgepackt.
Leo bot eine der Dosen Jen an. »Die Kekse sehen ein bisschen wild aus, schmecken aber prima.«
Jen war überrascht, wie selbstverständlich die zwei ihre Snacks mit ihr teilten, auch wenn sie sich vermutlich erhofften, dadurch länger auf dem Gelände bleiben zu dürfen. Sie öffnete die Dose und Zitronenduft schlug ihr entgegen. Gleichzeitig sah es so aus, als wären ein Farbkasten, Glitzer und mehrere Dosen mit Streudeko explodiert.
»Wow. Wild ist nicht übertrieben.«
Grinsend fischte Leo einen Keks in Form eines buntbeklecksten Schmetterlings mit Sternchen, Glitzer und Zuckerkügelchen aus dem Chaos.
»Nope. Aber Louie, Anna und Hailey hatten Spaß. Sie sind erst vier und zweieinhalb. Ihre Feinmotorik beim Plätzchenverzieren ist noch ausbaufähig. Ach ja, und wundere dich nicht über die Schneemänner und Schneeflocken. Anna und Louie fanden, dass die Ausstechförmchen traurig sind, wenn sie immer nur im Winter benutzt werden.« Er hielt den Schmetterling hoch. »Vermutlich gibt es im Winter dann welche von denen hier, weil die Schmetterlinge ja traurig wären, wenn sie nur im Frühling und Sommer zum Einsatz kommen.«
Jen musste schmunzeln und nahm sich eine giftgrüne Schneeflocke mit schimmernden Zuckerherzchen. »Sind die drei deine kleinen Geschwister?«
»Jein.« Leo nahm sich eine Handvoll Beeren. »Toby, Maze und ich sind Geschwister. Anna, Hailey und Louie sind offiziell unsere Cousinen und unser Cousin. Die drei fühlen sich aber eher wie kleine Geschwister an. Unsere Familie ist ziemlich groß und weil wir alle nicht ohne einander können, wohnen wir zusammen in zwei Häusern am Ende einer Sackgasse. Daher sind wir für unsere Minis wie große Geschwister.«
»Klingt ziemlich chaotisch.«
Leo zuckte die Schultern und lächelte schief. »Ja, manchmal schon. Aber wir stehen drauf und halten zusammen wie Pech und Schwefel.«
Solche Familien klangen für Jen immer wie etwas, das es nur in Filmen oder Büchern gab. Oder in Mafia-Clans.
»Wie viele seid ihr denn?«, fragte sie.
»In unseren beiden Häusern? Neunzehn.«
Überrumpelt sah Jen zwischen Leo und Maze hin und her. »Neunzehn? Ernsthaft?«
»Yep.« Maze nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
»Das sind aber nur wir Hunts«, fügte Leo hinzu. »Mit dem angeheirateten Rifkin-Clan kommen noch einundzwanzig dazu. Die wohnen aber nicht bei uns, sondern über ganz Camden verstreut.« Er grinste gespielt diabolisch. »Man könnte sagen, unsere Großfamilie hat den Stadtteil fest im Griff.«
Jen grinste zurück, weil sie offensichtlich in dieselbe Richtung dachten. »Aha. Dann seid ihr so was wie die Mafia von Camden Town? Und wenn ich euch hier vom Gelände schmeiße, schickt eure Familie jemanden vorbei, der mir ein paar hübsche Schuhe aus Beton verpasst und mich damit in der Themse versenkt?«
Leo lachte und schüttelte den Kopf. »Das wäre zwar echt cool, aber nein, ganz im Gegenteil. Wir sind die Guten. Einer unserer Dads ist Chief bei der Metro Police. Er leitet die Spuk Squad von Camden. In der Squad sind auch Jaz und Cam, eine unserer Tanten und ein Onkel. Außerdem gehört noch Evan dazu. Er ist so ein Quasi-Onkel, weil er schon ewig mit Jack, unserem echten Onkel zusammen ist. Sky, eine weitere Tante, ist Ausbilderin der Spuks an der Polizeiakademie. Unser zweiter Dad führt zusammen mit seiner Schwester Nell die Ghost Reapers, eine Agentur, an die man sich wenden kann, wenn man Probleme mit Geistern, Wiedergängern oder Shapeshiftern hat. Einer unserer Grandpas arbeitet zusammen mit Jules – noch einem unserer Onkel – im Health Center unseres Stadtteils. Unsere anderen beiden Grandpas führen zusammen mit einer unserer Grandmas das Mean & Evil. Das ist ein Pub, der in Camden eine lange Tradition hat. Dort findet man immer Hilfe, wenn man welche braucht. Besonders als Totenbändiger. Unsere andere Grandma ist Physiotherapeutin und Klinikwächterin und sorgt für die Sicherheit von Patienten und Personal, wenn Patienten sterben und zu Geistern werden. Außerdem waren unsere beiden Grandmas mehrere Jahre die gewählten Vertreterinnen der Gilde der Totenbändiger im Stadtrat.«
Er warf sich eine Himbeere in den Mund, bevor er weiter aufzählte.
»Ella, Cleo und Adam – noch zwei Tanten und ein Onkel – haben in den letzten zehn Jahren in Camden das Common Ground aufgebaut, ein Gemeindezentrum, das ursprünglich mal als Begegnungsstätte für Normalos und Totenbändiger gedacht war. Mittlerweile ist es aber ein Zentrum für alle: alt und jung, schwarz und weiß, Totenbändiger und Normalos – völlig egal. Jeder ist willkommen. Es gibt ein Café und Bingonachmittage für Senioren, eine Spielgruppe und Turnen für Minis, verschiedene Angebote für Jugendliche und jede Menge Hobbykurse für jedes Alter. Das CG hat einen großen Innenhof mit Spielplatz und Hochbeeten, in denen sie Sachen fürs Café anbauen, und sie stellen verschiedenen Begegnungs- und Selbsthilfegruppen Räume in ihrem Haus zur Verfügung. Ist ein ziemlich cooler Ort.«
Wieder warf er sich eine Beere in den Mund.
»Cleo und Adam kümmern sich um alles Organisatorische. Ella leitet verschiedene Hobbykurse und eine Gruppe, in der sich Normalo-Eltern treffen, die Totenbändigerbabys bekommen haben. Früher haben solche Eltern diese Babys nie behalten und hätten sie sogar ungestraft töten dürfen. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei und mittlerweile gibt es einige Normalo-Eltern, die ihre Kinder behalten, wenn sie als Totenbändiger zur Welt kommen. Dann haben sie aber oft Fragen und fühlen sich überfordert, weil sie nicht wissen, was die Kräfte ihrer Kinder beinhalten und wie sie damit umgehen sollen. Sie können es ihrem Nachwuchs ja nicht selbst beibringen. Ella bringt diese Eltern zusammen, hilft bei Fragen und Unsicherheiten und sie leitet verschiedene Kindergruppen, in denen die Minis lernen, was es heißt, Totenbändiger zu sein und wie ihre Silberenergie funktioniert.«
Er hielt kurz inne. »Hab ich jemanden vergessen? Ach ja, Connor. Er ist auch ein Onkel und erforscht im Tower Geister, Wiedergänger und Shapeshifter. Er ist aber kein Labor-Nerd, sondern viel mit unseren Dads unterwegs, wenn sie bei Einsätzen sind. In freier Wildbahn verhalten sich die Seelenlosen anders als im Labor, deshalb arbeitet Connor oft draußen. Er ist ein Normalo, genauso wie Evan, zwei unserer Grandpas und Granny, unsere Uroma. Connor ist verheiratet mit Sky und sie haben zwei Töchter, Jade und Amy. Die vier leben mit unseren beiden Dads, Toby, Maze und mir in einem unserer Häuser im Crescent Drive. Gegenüber wohnen Granny, Grandma und Grandpa. Außerdem Ella und Jaz. Sie sind die Mums von Anna und Hailey. Im Dachgeschoss wohnen Jules und Cam mit Louie. Amy, Anna und Hailey sind leibliche Kinder, der Rest von uns hat mordsmäßiges Glück gehabt, dass wir bei den Hunts gelandet sind, als unsere Normalo-Eltern uns nicht wollten oder wir in Heimen oder unter anderen beschissenen Umständen gelebt haben.«
Da er sich gerade auf ein Terrain quatschte, das er lieber nicht betreten wollte, steuerte Leo rasch gegen, bevor Jen womöglich nachhakte.
»Außerdem gibt es noch drei Vierbeiner, die wir aus dem Tierheim geholt haben, nachdem unsere alten Vierbeiner gestorben waren.«
Maze gab ein abgrundtiefes Stöhnen von sich, lehnte ihren Kopf gegen die Fassade des Cafés und bedachte Jen mit einem mitfühlenden Blick. »Falls dir gerade der Kopf raucht, du aus den Ohren blutest und es zutiefst bereust, ihm eine Frage gestellt zu haben, darfst du ihm übrigens jederzeit sagen, dass er die Klappe halten soll. Ich mach das ständig. Beides. Sowohl bereuen, dass ich ihm eine Frage gestellt habe, als auch sagen, dass er die Klappe halten soll. Toby hat dagegen die beneidenswerte Gabe, Leo einfach ausblenden zu können, wenn er uns ohne Punkt und Komma zulabert.«
Sie legte Zeige- und Mittelfinger aneinander, beugte sich zu ihrem Bruder und hielt ihm die Finger vor die Lippen. »Manchmal helfen Schweigefinger. Ansonsten fesseln und knebeln wir ihn oder klauen ihm Energie und schicken ihn schlafen. Das geht aber nur, wenn unsere Dads es nicht mitbekommen.«
Leo lachte empört auf und schob ihre Hand beiseite. »Erzähl nicht so einen Müll! Toby würde so etwas nie tun. Bei mir schon gar nicht.«
»Das stimmt leider.« Maze seufzte abgrundtief. »Er ist definitiv zu gut für diese Welt.«
»Du würdest das auch nicht tun.«
Wieder seufzte sie übertrieben. »Ja, unsere Dads haben uns echt zu viel Anstand und Moral beigebracht.« Sie zog die Keksdose zu sich. »Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass Daddy das ein oder andere Mal schon selbst kurz davor war, dich auszuknocken, wenn du uns beinahe tot gequatscht hättest.«
Wieder lachte Leo empört und knuffte ihr gegen die Schulter. Grinsend knuffte Maze zurück und es war klar, dass sie solche Kabbeleien öfter ausfochten. Einer der Gründe, warum Jen gern Geschwister gehabt hätte. Nicht alles allein durchstehen zu müssen, sondern jemanden an ihrer Seite zu haben, hätte all die verdammten Jahre vielleicht erträglicher gemacht.
Doch das war ein Gedanke, der nichts brachte. Sie hatte gelernt, allein klarzukommen, und so, wie es jetzt war, war es gut. Nur noch ein paar Monate, dann hatte sie es geschafft. Dann konnte ihr niemand mehr irgendetwas vorschreiben und sie konnte stolz darauf sein, dass sie es allein gemeistert hatte.
Jetzt gerade mochte sie allerdings sehr, Gesellschaft zu haben, und es machte ihr nichts aus, dass Leo viel redete. Sie war sich zwar sicher, dass sie sich nicht alle Namen und wer wie zueinanderstand, gemerkt hatte, aber sie hörte Leo gern zu. Abwechslung tat gut. Außerdem war es besser, die beiden erzählten von ihrer Familie, als dass sie Jen Fragen zu ihrer stellten.
»Einer eurer Dads ist Chief bei der Metro Police und hat kein Problem damit, dass ihr euch als Urban Explorers unerlaubt Zugang zu Lost Places verschafft?«, fragte sie deshalb. Nicht nur, um von sich abzulenken. Es interessierte sie wirklich.
Maze hob die Schultern. »Unsere Dads haben sich früher selbst gern in diesen Orten herumgetrieben. Sie verstehen daher, dass wir sie cool finden. Sie finden sie ja selbst auch immer noch cool.«
»Und wir haben ein Abkommen mit ihnen«, fuhr Leo fort. »Wir machen nichts Leichtsinniges oder Gefährliches. Wir beschädigen nichts und stehlen nichts. Wenn man uns erwischt, machen wir keinen Ärger, bitten um Entschuldigung und darum, dass wir gehen dürfen.«
Er hatte ein Bein angezogen und zupfte am Knie an seiner Jeans. »Meistens bekommt es aber keiner mit, wenn wir uns die Orte ansehen. Viele sind schon so lange verlassen, dass es keinen Wachschutz mehr gibt. Die paar Male, die wir erwischt wurden, gab es keinen Ärger und wir durften einfach gehen. Zweimal haben wir den Wachleuten sogar geholfen und ein paar Geister gebändigt, die ihnen Ärger gemacht haben. Wir tun also sogar etwas Gutes, wenn wir uns Lost Places ansehen. Wenn da Geister herumlungern, erledigen wir sie.«
Er grinste wieder und Jen konnte nicht anders, als zurück zu grinsen.
Ja, Leo redete enorm viel, aber dieses Offene, Unbekümmerte war ziemlich cute.
»Dann tretet ihr, was das Geisterjagen angeht, also in die Fußstapfen eurer Dads?«, hakte sie nach. »Und auch in die von ein paar Onkel und Tanten, oder? Es gibt ja einige in eurer Familie, die so ihr Geld verdienen, oder hab ich mir das gerade falsch gemerkt?«
»Nee, das stimmt«, nickte Leo. »Es hat aber nicht unbedingt was mit Tradition zu tun, dass wir alle Geisterbändigen lernen. Wir wohnen direkt am Waldrand vom verwilderten Hampstead Heath. Der ist tagsüber ein ähnlicher Unterschlupf für Geister wie der Park da drüben.« Er machte eine Geste in die Richtung in der Holgate Green lag. »Allerdings gibt es bei uns zum Glück keine Drogendealer oder Zuhälter.«
Jen nickte nachvollziehend. Camden und Hampstead waren multikulturelle Mittelschichtsviertel, die besonders wegen der Camden Markets ein Touristenmagnet waren. Auch der kultivierte Bereich des Hampstead Heath zog viele Leute an und auf der weiten Grasfläche fanden immer wieder kleinere und größere Veranstaltungen statt. Am kommenden Wochenende gab es dort das End-of-Summer-Festival, ein buntes Sommerfest für die ganze Familie. Klar, dass man da dafür sorgte, dass sich zu den Problemen mit Seelenlosen nicht auch noch welche mit Drogen und Prostitution gesellten.
»Zu den Dämmerzeiten oder bei Nebel ist unsere Sackgasse nicht sicher«, sprach Leo weiter. »Deshalb ist es wichtig, sich gegen Geister wehren zu können. Maze, Toby und ich ziehen meist ein oder zwei Mal in der Woche los und erledigen ein paar Biester am Waldrand. Das ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber das Motto der Spuks ist: ›Jeder erledigte Geist ist ein guter Geist, weil er keine anderen Geister verursachen kann‹. Und wenn wir schwache Geister vernichten, können die nicht zu Schatten oder Seelenfressern werden. Und natürlich auch nicht zu Wiedergängern oder Shapeshiftern.« Er hob die Schultern. »Wir tun also was Gutes, wenn wir die Population ausdünnen. Außerdem ist es coole Action und gutes Training für mich. Ich will im Januar an die Polizeiakademie und ein Spuk werden.«
Bei Leos familiärem Hintergrund kam das jetzt nicht überraschend. Jen musste trotzdem schmunzeln. »Dann sehen wir uns dort. Ich will im Januar auch an die Polizeiakademie und eine Spuk werden.«
Leo musterte sie überrascht. »Echt? Das ist ja mega. Hast du auch vor den Ferien dein Abi gemacht? Oder hattest du schon vorher genug von der Schule?«
»Nein, ich hab mein Abi gemacht. Man muss ja eh volljährig sein, um an die Polizeiakademie zu dürfen, und so ätzend fand ich die Schule nicht. Ich werde aber erst im Dezember achtzehn, deshalb muss ich jetzt noch ein halbes Jahr überbrücken.«
Leo nickte. »Ist bei mir so ähnlich. Ich werde im Januar achtzehn.« Er machte eine Geste hinaus aufs Gelände. »Jobbst du bis dahin hier beim Wachschutz und hilfst deinem Vater?«
»Auch.« Mittlerweile war sie so gut im Lügen geworden, dass es ihr leichtfiel, die Wahrheit spontan so zu verdrehen, dass es passte. »Aber nur selten. Eigentlich jobbe ich in einem Corner Shop in der Nähe vom Bahnhof. Hier auf dem Schrottplatz helfe ich nur ab und an aus. Dad wollte heute ein paar Kumpel treffen und er hat durch die ganzen Urlaubsvertretungen jetzt im Sommer schon mehr als genug Überstunden gesammelt. Deshalb bin ich eingesprungen und verdiene mir ein bisschen was extra.«
Sie sah sich nach Toby um. Bisher war er auf der anderen Seite des Cafés umhergestreift und hatte Fotos von einem riesigen Graffiti-Drachen geschossen, den jemand auf die Wand einer der Lagerhallen gesprüht hatte. Außerdem hatte er eine halbe Ewigkeit auf dem Boden gehockt, weil sich anscheinend irgendetwas mega Spannendes in einem Unkrautbüschel verbarg. Jetzt war er jedoch aus ihrem Blickfeld verschwunden und Jen fluchte innerlich, weil sie nicht darauf geachtet hatte, wie lange er schon weg war. Der Gedanke, dass Toby zwischen den ausrangierten Waggons auf dem Friedhof herumstöberte, gefiel ihr nicht.
»Wo ist Toby hin?«
Auch Leo sah sich jetzt kurz um, zuckte aber nur unbekümmert die Schultern, als er seinen Bruder nicht sah.
»Keine Ahnung.« Er bedachte Jen mit einem gewieften Blick. »Er nutzt aus, dass wir dich mit unseren Snacks ablenken, um so viele Fotos wie möglich zu schießen, bevor du uns gleich vom Gelände schmeißt.«
Jen schnaubte. »Er kann so viele Fotos schießen, wie er will. Aber er sollte hier nicht allein herumlaufen.«
»Keine Sorge«, winkte Maze ab. »Ihm passiert schon nichts. Er ist nicht so waghalsig wie der da.« Sie deutete mit dem Daumen auf Leo. »Er klettert nicht überall drauf rum und kann gut auf sich selbst aufpassen.«
Sie schob sich eine Brombeere in den Mund, runzelte dann aber die Stirn. »Oder gibt es hier noch einen Ort mit einem ungesicherten Zugang zum Untergrund wie drüben den Keller? Oder dunklen Bereiche, in denen ein Schatten oder ein Seelenfresser lauern könnte?«
Jen schüttelte den Kopf. »Nein. Die Lagerhallen sind sicher. Zumindest ist von dort noch nie etwas aus dem Untergrund gekommen. Der Keller im Museum ist der einzige unsichere Ort hier.«
»Wie oft sind denn da schon Biester rausgekommen?« Leo nahm sich einen Keks.
Jen hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube, nicht oft. In den Vollmondnächten vor zwei Wochen gab es Angriffe von zwei Shiftern in den Straßen jenseits des Hellgates. Ob sie wirklich aus dem Museumskeller kamen, weiß ich nicht. Dad und seine Kollegen haben bei ihrem Kontrollgang aber gesehen, dass die Tür herausgebrochen war und unten im Keller haben sie das kaputte Abwasserrohr entdeckt. Es kann also gut sein, dass die Biester dort aus dem Untergrund gekrochen sind.«
Maze runzelte erneut die Stirn. »Und warum wurden Rohr und Tür dann noch nicht wieder versiegelt?«
Wieder hob Jen die Schultern. »Sie haben es der Stadt gemeldet und die wollen jemanden schicken. Aber Material und Arbeitskräfte sind im Moment knapp, weil überall in der Stadt Löcher zum Untergrund gestopft werden müssen. Die Shifter-Plage ist durch das Unheilige Jahr echt übel geworden und es gibt ständig irgendwo in London Angriffe. Da wir hier auf dem Schrottplatz genug Eisen herumliegen haben, haben sie gefragt, ob wir den Bereich selbst sichern könnten. Das haben wir gemacht. Auf dem Kellerboden ist Salz verstreut. Die Tür ist mit einer Eisenplatte gesichert und wir verbrennen kurz vor der Dämmerung Bannkräuter davor. Leider ist nicht nur die Tür, sondern auch ihr Rahmen total hinüber. Die müssen komplett ausgetauscht und neu ins Mauerwerk eingefügt werden. Aber eine passende Tür samt Rahmen haben wir hier leider nicht zwischen dem Schrott herumliegen. Die musste Dad bestellen und bis alles geliefert wird, dauert es noch. Deshalb muss unsere provisorische Sicherung leider erst mal ausreichen.«
Yep, im Lügen war sie wirklich gut geworden.
Trotzdem wollte sie jetzt sehr gern das Thema wechseln.
Noch lieber wäre sie aufgestanden und hätte nachgesehen, wo Toby sich herumtrieb, aber das wäre vermutlich zu auffällig gewesen, nachdem die anderen beiden ihr gerade versichert hatten, dass ihr Bruder prima allein klarkam.
»Dass gefühlt überall nur noch improvisiert wird, ist echt Kacke«, schnaubte Maze.
»Ja«, sprang Jen schnell darauf an. »Außer in den Nobelvierteln. Da wird alles erstklassig gesichert. Und natürlich haben sie dort auch zuerst den Untergrund gesäubert und alle Biester, die in U-Bahnhöfen und Tunneln der Nobelviertel gehaust haben, wurden in die übrigen Stadtteile verdrängt. Hauptsache, bei den Schönen und Reichen ist alles sicher, bevor die dunkle Jahreszeit anbricht.«
Sie sah zwischen Maze und Leo hin und her. »Camden ist zwar kein Nobelviertel, aber es gibt bei euch viele Touristen. Da muss euer Dad mit seiner Squad doch sicher auch den Untergrund säubern.«
Maze nickte. »Mittlerweile finden die Säuberungen in allen Stadtteilen statt.«
»Bei uns in Camden laufen sie schon seit dem Frühjahr«, erzählte Leo weiter. »Und es sind sogar beide unserer Dads dabei. Daddy mit der Spuk Squad und Dad hilft mit den Ghost Reapers. Bei größeren Aktionen wie der Säuberung des Untergrunds holt sich die Metro Police oft externe Geisterjäger zur Verstärkung hinzu. In Camden sind dann die Ghost Reapers immer mit dabei. Genauso helfen Daddy, Cam, Jaz und Evan bei den Reapers aus. Maze, Toby und ich helfen ebenfalls. Übermorgen stehen ein Kontrollgang und ein paar Vorbereitungen für die Säuberung der Chalk Farm Station an. Da darf ich mitgehen. Maze und Toby können leider nicht, weil für sie morgen die Schule wieder losgeht. Aber wenn es für mich übermorgen gut läuft, gibt Commander Pratt hoffentlich grünes Licht und ich darf auch bei der Säuberung der Chalk Farm dabei sein. Die steht nächsten Donnerstag an.«
Jens Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Eure Dads nehmen euch echt mit zu Einsätzen in den Untergrund?«
Leo nickte. »Yep. Die Ghost Reapers haben dieses Jahr ein Personalproblem und sind gerade nur zu dritt. Deshalb verstärken Toby, Maze und ich ihr Team so gut wir können. Eigentlich waren die Reapers immer zu fünft, aber ein Pärchen, das für sie gearbeitet hat, ist letztes Jahr ausgestiegen. Sie haben ein Kind bekommen und wollten vor dem Unheiligen Jahr aus London raus und aufs Land ziehen. Die beiden, die für sie nachrücken sollten, haben nicht lange durchgehalten und sind irgendwann einfach nicht mehr gekommen. Seitdem versuchen Dad und Nell, neue Leute zu bekommen, aber das Unheilige Jahr hat die Seelenlosen echt krass werden lassen. Vielen ist die Arbeit als Geisterjäger deshalb zu riskant. Selbst aus den Spuk Squads haben sich einige versetzen lassen, weil ihnen der Job zu gefährlich wurde.«
Jen musterte ihn und Maze stirnrunzelnd. »Und dann nehmen eure Dads euch trotzdem mit, obwohl es so gefährlich ist?«
»Nicht immer«, stellte Maze klar. »Bei allem, was zu gefährlich ist, sind wir raus. Aber wir sind wirklich gut im Geisterbändigen und wir waren neugierig auf den Untergrund, deshalb haben wir so lange gebettelt, bis wir auf einen der Kontrollgänge mitgehen durften.«
»Kontrollgänge sind harmlos«, versicherte Leo. »Dabei geht es nur darum, in bereits gesäuberten Bereichen die Magnesiumlichtscheiben auszutauschen. Deren Akkus halten leider nur eine Woche lang. Wir haben Dad und Daddy so lange genervt, bis wir mitdurften. Ist ziemlich cool da unten. Zweimal durften wir auch beim Säubern eines kurzen Tunnelabschnitts helfen. Da waren aber nur Geister drin, keine Shifter.«
Er blickte auf, als Toby um die Hausecke kam. »Da bist du ja wieder. Hast du noch tolle Motive gefunden?«
Toby setzte sich zu ihnen in den Schatten. »Ja, es ist echt genial hier.«
Er legte die Kamera ab und kramte eine Wasserflasche aus einem der Rucksäcke.
Jen musterte ihn kurz, doch Toby machte nicht den Eindruck, als hätte er auf seinem Rundgang irgendetwas entdeckt, das er nicht hätte finden sollen.
Glück gehabt.
»Wollt ihr zwei auch zur Polizeiakademie, wenn ihr mit der Schule fertig seid?«, fragte sie an Maze und Toby gewandt. Zum einen interessierte es sie wirklich, zum anderen verhinderten Fragen an die drei hoffentlich weiter jegliche Fragen in ihre Richtung.
»Nope.« Maze reichte Toby die Dose mit den Keksen. »Ich will zur Crime Scene Unit. Dafür muss man ans College. Forensic Science und Tatortermittlung unterrichten sie nicht an der Polizeiakademie, weil sie dort keine Labore haben.«
»CSU? Wow, das klingt echt cool«, meinte Jen beeindruckt.
»Yep, finde ich auch.« Maze strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Deshalb trainiere ich auch Geisterbändigen so gut ich kann. Da Geister bei Gewaltverbrechen entstehen, lungern sie an so ziemlich jedem Tatort herum. Gut im Bändigen der Biester zu sein, ist deshalb für eine Ermittlerin bei der CSU äußerst praktisch und bringt mir hoffentlich ein paar Extrapunkte, wenn ich mich irgendwann bei der Metro bewerbe.« Sie grinste. »Und meine Hilfe bei den Ghost Reapers sowie bei Kontrollgängen im Untergrund sind mega Referenzen. Außerdem sind die alten U-Bahn-Stationen echt geniale Lost Places.«
Jen blies die Backen auf und stieß die Luft aus. »Das glaube ich sofort. Wenn ich die Chance bekäme, mir die anzusehen, wäre ich auch sofort dabei. Ich finde es echt stark, dass eure Dads euch das erlauben.«
»Na, dein Dad lässt dich hier ja auch Rundgänge übernehmen, obwohl im Museumskeller ein ungesicherter Zugang zum Untergrund liegt.« Leo nahm sich noch einen Keks und bot sie dann auch noch mal Jen an.
Die bedachte ihn mit einem schiefen Blick. »Einen Rundgang über einen alten Eisenbahnfriedhof kann man wohl kaum mit diesen Kontrollgängen im Untergrund vergleichen.«
»Okay, vielleicht nicht. Wenn du eine Spuk werden willst, hast du dann schon viel Erfahrung mit Geistern?«, fragte Leo dann.
Jen hob die Schultern. »Nur das Übliche. Ich hab im Geisterkundeunterricht in der Schule Blocken gelernt. Dafür gab es die üblichen drei Gruppen: Anfänger, Fortgeschrittene und Profis.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wobei Profis verglichen mit dem, was ihr vermutlich könnt, sicher lachhaft ist. In meiner Schule gehörte ich aber zu den Profis und konnte mich so gut gegen die starken Geister verteidigen, dass ich als Trainerin eine Anfängergruppe anleiten durfte. Dafür hat meine Trainerin mir sogar den Umgang mit einer Auraglue beigebracht, obwohl man den Waffenschein dafür erst mit achtzehn machen darf. Fürs Training in der Schule gibt es aber Ausnahmen.« Sie sah zwischen den drei hin und her. »Aber das wisst ihr ja sicher. Blocken wird ja an fast allen Schulen sehr ähnlich unterrichtet. Oder ist es bei euch anders?«
Maze schüttelte den Kopf. »Nein. Es läuft genauso.«
»Wenn du andere trainieren durftest, musst du schon echt gut sein«, meinte Leo beeindruckt. »Wenn du willst, frag ich meine Dads, ob du mal auf einen Kontrollgang in den Untergrund mitkommen darfst. Außerdem könnten Toby, Maze und ich dich zum Geisterjagen bei uns im Heath mitnehmen. Wäre für dich sicher gutes Training, damit du bis zum Start an der Polizeiakademie nicht aus der Übung kommst. Schlafen könntest du bei uns, sonst gäbe es ein Problem mit der Sperrstunde. Außerdem wäre es zu gefährlich im Dunkeln vom Heath nach Clapham zu fahren. Wohnst du überhaupt hier in Clapham? Sorry, ich hab dich total mit unserem Kram zugetextet und du hast noch kaum etwas über dich erzählt.«
»J-Ja, ich wohne in Clapham«, antwortete Jen überrumpelt. »Ist das dein Ernst?« Sie sah von ihm zu Maze und Toby. »Ihr würdet mich wirklich zum Geisterjagen mitnehmen? Das wäre genial!«
Maze hob die Schultern und nickte. »Sicher.«
Toby schloss sich an. »Klar.«
Jen lachte auf und fuhr sich durch die Haare. »Wow. Wenn das echt klappt, wäre das mega. Danke!«
Auch Leo gefiel die Vorstellung verdammt gut. Er mochte Jen und die Aussicht, sie an seiner Seite zu haben, um die ätzende Wartezeit bis zum Start an der Polizeiakademie zu überbrücken, war genial.
»Den Kontrollgang kann ich dir nicht versprechen, aber Geisterjagen mit Toby, Maze und mir ist kein Problem. Dass du danach bei uns schläfst, geht auch klar.« Leo zog sein Handy aus der Hosentasche, damit sie Nummern tauschen konnten. »Das Problem könnten höchstens deine Eltern sein. Denkst du, sie sind damit einverstanden?«
Jen winkte ab. »Ich bin fast achtzehn und mein Dad bemuttert mich nicht. Er findet es toll, dass ich eine Spuk werden will, und er wird nichts dagegen haben, dass ich mich mit euch auf die Ausbildung vorbereite.«
»Und deine Mum?«
Jen fingerte ihr Handy aus der Hosentasche. »Die ist schon lange tot.«
Betroffen hielt Leo inne. »Shit, das tut mir leid.«
Wieder winkte Jen ab. »Ich war zwei, als sie starb. Ich kann mich nicht an sie erinnern.«
»Ist trotzdem sicher nicht schön, ohne sie zu sein. Hast du noch Großeltern?«
»Nein.«
»Geschwister?«
Jen schüttelte den Kopf und speicherte Leos Nummer ab.
»Tanten oder Onkel?«
»Nein. Mein Dad und ich sind allein.«
Leo runzelte die Stirn, weil er sich kaum vorstellen konnte, wie das wohl sein mochte. »Aber wie –«
Toby hielt seinem Bruder Schweigefinger vors Gesicht. »Zu viele Fragen.«
»Danke«, seufzte Maze. »Er hat die Ärmste vorhin schon zugetextet und ihr unsere komplette Familie erklärt.«
»Ernsthaft?«
»Leider ja.«
Leo ignorierte seine Geschwister und sah betreten zu Jen. »Sorry, ich wollte dir nicht zu nahe treten oder dich nerven.«
Abwinkend schüttelte sie den Kopf. »Schon okay.«
Toby schloss die Keksdose und hielt sie ihr hin. »Nimm sie mit zu deinem Dad. Vielleicht kannst du ihn damit bestechen, falls er doch Bedenken haben sollte.«
Er schenkte Jen ein kleines Lächeln, dann stand er auf und bedeutete seinen Geschwistern, dasselbe zu tun. »Wir sollten jetzt langsam los, sonst kommen wir zu spät zur Grillparty.«
17:11 Uhr
Wald des Hampstead Heaths
»Leo! Maze! Wartet mal!«
Sie hatten fast den Waldrand erreicht, als Toby anhielt und seine Geschwister zurückrief.
»Alles okay?« Leo drehte sofort um und stoppte sein Rad neben Tobys.
Auch Maze radelte zurück zu ihrem jüngeren Bruder.
»Ja, alles okay.« Toby zog sein Handy hervor. »Ich wollte euch nur etwas zeigen, bevor ihr den anderen gleich von Jen erzählt.«
Er öffnete einen Ordner mit Fotos und hielt seinen Geschwistern das Handy hin. Die Bilder zeigten einige der ausrangierten Personenwagen vom Eisenbahnfriedhof. Auf den ersten Blick wirkten alle Waggons gleich. Die Nahaufnahmen, die Toby von einem der Wagen gemacht hatte, zeigten jedoch, dass man von innen die Fenster mit Eisenplatten verbarrikadiert hatte. Da die Scheiben durch jahrelangen Staub und Dreck fast völlig blind waren, fielen die Schutzmaßnahmen von außen kaum auf. Weitere Bilder zeigten Tontöpfe mit verbrannten Kräuterresten, die versteckt unter dem Waggon standen. Außerdem gab es Spuren von Salz, das jemand um den Wagen herum verstreut hatte.
»Wow«, entfuhr es Maze und Leo runzelte die Stirn.
»Du denkst, Jen wohnt da?« Er nahm seinem Bruder das Handy ab und zog eins der Bilder größer. Es zeigte die Tür des Wagens. Vor ihr war eine ganze Menge Salz verstreut worden. Daneben standen zwei Tontöpfe mit Ascheresten unter dem Waggon.
Toby hob die Schultern. »Es scheint zumindest irgendjemand dort zu wohnen und da wir außer Jen niemanden gesehen haben …« Er ließ die Schultern wieder sinken.
»Was sie uns erzählt hat, klang schon etwas abenteuerlich«, meinte Maze. »Klar kann es sein, dass sie für ihren Vater Rundgänge übernimmt. Wir helfen Dad bei den Reapers ja auch. Aber dass der Wachschutz den Keller des Museums nicht besser geschützt hat, kam mir schon ein bisschen seltsam vor.« Sie zupfte an ihrer Unterlippe. »Andererseits hört man im Moment ja wirklich ständig, dass Material knapp ist und viele Leute, die Arbeiten an Lücken zum Untergrund durchführen sollen, kündigen. Sooo abwegig war es daher nicht, dass der Keller noch nicht wieder versiegelt wurde.«
»Warum hast du denn nicht direkt etwas gesagt?« Leo reichte Toby das Handy zurück.
Wieder zog Toby die Schultern hoch. »Weil Jen offensichtlich nicht wollte, dass wir das wissen. Wenn ich sie mit den Bildern konfrontiert hätte, wäre sie sicher nur wütend geworden und hätte alles abgestritten.«
»Aber wir müssen ihr helfen.« Leo wies auf Tobys Handy. »Diese Schutzmaßnahmen sind zwar nicht schlecht, aber für die dunkle Jahreszeit reichen sie niemals.«
»Ja, das ist mir klar«, gab Toby zurück. Genauso klar war ihm, dass das Ganze jetzt Leos Beschützerinstinkt auf den Plan rief. Wenn sie nicht aufpassten, von Null auf Hundert. »Ich will ihr auch helfen. Aber dafür sollten wir uns eine Strategie überlegen und sie nicht total überfallen. Sonst macht sie womöglich dicht und haut ab, weil sie Angst hat, dass wir ihr das Jugendamt auf den Hals hetzen. Und so einfach findet sie bestimmt kein neues Versteck, das genauso sicher ist wie der Waggon.«
Maze nickte nachdenklich. »Wir müssen ihr klar machen, dass wir ihr helfen wollen – aber zu ihren Bedingungen.« Sie wandte sich an Leo. »Ich weiß, das wird für dein Helfersyndrom schwierig, weil du immer willst, dass alle glücklich sind und es allen gut geht. Aber ich sehe das wie Toby. Wir dürfen Jen nicht überfahren oder ihr irgendwas aufzwingen, sonst haut sie womöglich ab. Kriegst du das hin? Denn es ist so was von klar, dass du morgen zu ihr fahren und sie zur Rede stellen willst. Aber Toby und ich haben leider Schule und können nicht verhindern, dass du sie in die Flucht quatschst.«
Sie bedachte ihren Bruder mit einem vielsagenden Blick.
Leo rollte genervt die Augen und sah dann von ihr zu Toby. »Hast du mich deshalb vorhin abgewürgt, als ich sie nach ihrer Familie gefragt hab? Weil du fandest, dass ich sie bedränge?«
Toby nickte. »Wenn sie von zu Hause abgehauen ist, ist sie mit ihrer Familie sicher nicht besonders gut klargekommen. Fragen zu ihnen sind also bestimmt nicht angenehm für sie. Außerdem wollte ich nicht, dass sie lügen muss, um uns die Wahrheit zu verschweigen.«
Leos Blick wurde deutlich weicher. Das war typisch Toby. Weil er so still und zurückhaltend war, dachten viele, er würde sich nicht für die Menschen in seinem Umfeld interessieren. Aber das Gegenteil war der Fall. Er beobachtete sehr genau und wenn jemand Hilfe brauchte, lag ihm genauso viel daran, zu helfen wie Leo. Toby tat es nur sachter und subtiler.
»Deshalb hast du ihr auch die Kekse dagelassen.« Seufzend fuhr Leo sich durch die Haare. »Du wolltest sie ihr als Proviant geben.«
Toby nickte. »Wir wissen nicht, ob sie wirklich einen Job hat oder wie sie sonst an Geld für Essen und was sie so braucht, kommt. Die Kekse machen zwar keinen riesigen Unterschied, aber wenn du morgen zu ihr fährst, kannst du ja wieder Snacks mitnehmen und mit ihr teilen.«
Leo nickte ebenfalls. »Sicher.«
»Und wenn du sie mit Tobys Fotos konfrontierst und ihr sagst, dass wir ihr helfen wollen, frag dich dabei einfach: ›Wie würde Toby das jetzt machen?‹« Neckend knuffte Maze ihrem älteren Bruder gegen die Schulter. »Denkst du, das kriegst du hin?«
Leo strafte sie mit einem weiteren Augenrollen und knuffte sie zurück. »Für wie unsensibel hältst du mich eigentlich?«
»Für unsensibel gar nicht. Du redest nur manchmal schneller als du nachdenkst.« Sie wies mit dem Daumen auf Toby. »Im Gegensatz zu ihm. Er denkt oft nur und teilt uns viel zu selten mit, was in seinem hübschen Kopf vor sich geht.«
Blitzschnell stahl sie ihrem jüngeren Bruder die Beanie und wuschelte durch seine hellblauen Haare.
Toby schnaubte empört und eroberte seine Mütze zurück. »Das stimmt gar nicht. Hiermit teile ich euch mit, dass ich denke, wir sollten Jen unserer Erzieherfraktion gleich erst mal bloß mit der Geschichte vorstellen, die sie uns heute erzählt hat. Die Sache mit dem Museumskeller lassen wir weg.« Er sah zu Leo. »Wenn du morgen mehr herausgefunden hast, sehen wir weiter. Einverstanden?«
Er hielt seinen Geschwistern seine Hand mit dem Armband hin, das jeder von ihnen trug. Es war ein Lederband, in das ein kleines Silberschildchen mit fünf eingravierten Handabdrücken eingeknotet war. Wichtige Entscheidungen oder Versprechen besiegelten sie mit einem Händesandwich – oder wenn sie entschieden, dass bei ihren Dads ›Kenntnis nur bei Notwendigkeit‹ gelten sollte.
Maze stapelte ihre Armbandhand auf Tobys. »Einverstanden.«
Leo schloss sich ihr an. »Ich auch.«
»Okay, dann jetzt ab nach Hause.« Maze schwang sich wieder auf ihr Rad. »Ich hab Hunger.«
***
Der Duft von Holzkohle hing in der Luft, als die drei aus dem Wald in ihre Sackgasse radelten. Ihre beiden Villen ragten hinter einem Kastanienbaum auf der einen und verschiedenen Obstbäumen auf der anderen Straßenseite in den strahlendblauen Spätnachmittagshimmel. Hinter der Weißdornhecke von Villa 2, in der Toby mit seinen Dads, Leo und Maze sowie Sky, Connor, Jade und Amy wohnte, herrschte die vertraute Geräuschkulisse ihrer gemeinsamen Sommertage. Wann immer es das Wetter zuließ, aßen sie draußen, um die Zeit im Freien auszunutzen, bevor die Seelenlosen sie bei einsetzender Dämmerung in die Häuser trieben.
Heute feierten sie in ihrer Familie traditionell das Ende der Sommerferien. Das Wetter sollte zwar weiter sonnig und warm bleiben, nichtsdestotrotz brachte der September den Herbst. Am 22. war Äquinoktium, die zweite Unheilige Nacht des Jahres, die ganz offiziell die dunkle Jahreszeit einläutete.
»Hey, da seid ihr ja endlich!«
Jade und Amy hatten sich in der Sackgasse einen Parcours aufgebaut, kurvten auf ihren Skateboards um die Hindernisse herum und sprangen die Bordsteine rauf und runter. Abgesehen von den beiden Wochen, die ihre Familie wie jedes Jahr in Cornwall am Strand von Penaloe’s Cove verbracht hatte, waren die beiden Zwölfjährigen jeden Tag der Ferien mit Ella im Common Ground gewesen. Auf dem Hof des Gemeindezentrums gab es neben Spielgeräten für Minis auch eine Halfpipe sowie einen Slalomparcours zum Skaten für die größeren Kids.
Kaum dass Jade sie angekündigt hatte, erschienen Anna und Hailey am Gartentor und winkten den drei Heimkehrenden freudig zu.
»Ihr seid wieder da!«
Beide Mädchen sahen aus wie Mini-Versionen von Ella: dieselben Gesichtszüge, dasselbe blaugrüne Haar und ebensolche Augen. Um ihre Füße sprangen Edgar, Ellen und Poe, ihre beiden Katzen sowie der Familienhund. Alle fünf wuselten fröhlich zwischen Leo, Maze und Toby hin und her, als sie ihre Räder durchs Tor schoben und auch die übrigen Familienmitglieder begrüßten.
Zwei große Tische standen im Schatten des Kastanienbaums, der wie ein stiller Wächter neben der alten Villa thronte. Entlang der Hecke, die den Garten vom Waldrand abgrenzte, stand ein Klettergerüst mit Aussichtsturm, Rutsche und Schaukeln neben einem Geräteschuppen für Rasenmäher, Fahrräder und Gartenmöbel. Dieser Garten war zum Spielen und gemütlichen Beisammensein eingerichtet. Den Garten von Villa 1 gegenüber nutzten sie dagegen zum Anbauen von Obst und Gemüse. Die Selbstversorgung entlastete nicht nur die Haushaltskasse, es war auch ein Hobby, das die ganze Familie teilte.
»Toby!«
Louie kam durch die Tür vom Wintergarten und stürmte begeistert auf seinen Cousin zu. Toby drückte Leo sein Fahrrad in die Hand, damit er den Kleinen auffangen konnte.
»Hey, kleiner Mann. Alles gut bei dir?« Toby ließ nicht leichtfertig Menschen in sein Herz. Doch als Cam und Jules Louie vor vier Jahren aus der Klinik nach Hause gebracht hatten, hatte Toby seinen kleinen Cousin einfach in sein Herz schließen müssen, weil der Neugeborene genau das gebraucht hatte. Er hatte den Winzling über seine Silberenergie wissen lassen, dass jetzt alles gut werden würde und er auf ihn aufpassen und ihn liebhaben würde. Obwohl Louie noch keinen Tag alt gewesen war, hatte er sofort auf Tobys Silberenergie reagiert und seitdem waren die beiden ein Herz und eine Seele.
Louie schlang seine Arme fest um Tobys Mitte und nickte. »Habt ihr tolle alte Eisenbahnen gesehen?«, wollte er aufgeregt wissen.
»Ja, haben wir.« Toby drückte ihn an sich. »Und ich hab ganz viele Bilder gemacht.«
»Cool!« Freudig zog Louie seine Arme noch fester um ihn. »Können wir die gleich zusammen auf dem Laptop angucken?«
