Louisenstraße 13 - Der Erinnerungsladen - Petra Teufl - E-Book

Louisenstraße 13 - Der Erinnerungsladen E-Book

Petra Teufl

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Louisenstraße 13 birgt viele geheime Erinnerungen – sogar für den eigenbrötlerischen Robert Schröder. Der betagte Antiquitätenhändler kennt jede Geschichte hinter den einzelnen Objekten. Doch als die lebenslustige Julia ihm ein vergilbtes Foto vorlegt, das ihn und ihre Großmutter als Liebespaar zeigt, steht Schröder vor einem Rätsel. Er kann sich weder an die Frau noch an das Foto erinnern. Was geschah vor 50 Jahren, dass er diese Ereignisse aus seinem Gedächtnis gestrichen hat? Und warum will die inzwischen totkranke Frau ihn noch einmal sehen? Widerwillig begibt sich Schröder auf die Suche nach seiner Vergangenheit und entdeckt dabei dunkle Geheimnisse. Wie soll er mit diesem Wissen seiner alten Liebe gegenübertreten? Die Feel-Good- Romane der Serie „Louisenstraße 13“ werfen einen lebensbejahenden Blick auf die Themen Liebe, Freundschaft, Erinnern und Vergessen. Dabei kommt die Spannung nicht zu kurz. Wer amüsant geschriebene, tiefsinnige Geschichten liebt und gerne Carsten Henn, Nina George oder Mariana Leky liest, kommt hier auf seine Kosten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vor 35 Jahren

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Dank

Die Autorin

Über das Buch:

Im ersten Band über die Bewohner der Louisenstraße 13 geht es um den Hausbesitzer, Robert Schröder. Er kennt die Erinnerungen, die seine Kunden mit speziellen Objekten verbinden, in- und auswendig. Eines Tages betritt Julia sein Antiquitätengeschäft und legt ihm ein vergilbtes Foto vor. Darauf ist er mit ihrer Großmutter Isabelle als Liebespaar zu sehen. Doch Schröder erinnert sich nicht; weder an Isabelle noch an diese Liebe. Da Julia ihrer sterbenskranken Großmutter den Wunsch, den Mann auf dem Foto noch einmal zu treffen, unbedingt erfüllen will, begibt sich Schröder widerwillig auf die Suche nach seinen eigenen Erinnerungen. Was er findet, gefällt ihm überhaupt nicht und ebenso wenig, dass sein Sohn Patrick und Julia sich näherkommen.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung ›Impressumservice‹, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

© 2023, Petra Teufl · petrateufl.com

Lektorat: Ursula Hahnenberg · Büchermacherei · ­buechermacherei.de

Satz u. Layout / e-Book: Gabi Schmid · Büchermacherei · ­buechermacherei.de

Covergestaltung: OOOGrafik · ooografik.de

Bildquellen: #288233233 | AdobeStock

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-83098-1 ISBN Hardcover: 978-3-347-83103-2

EBook-Vertrieb: Tolino Media

ISBN: 978-3-757-91851-4 (Version 1.0)

Vor 35 Jahren

Schröder bereute, die Mieter seines jüngst erworbenen Hauses, Louisenstraße 13, zu einem ersten Gespräch in seine Küche gebeten zu haben. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Die Vertreter der vier Parteien standen wie eine Wand aus Fragen und Forderungen um seinen Küchentisch und er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt, sah er in die erwartungsvollen Gesichter seiner Mieter. Er sollte sie freundlich begrüßen. Eigentlich keine große Sache, doch er suchte vergeblich nach passenden Worten. Frau Woller, Mieterin der Wohnung im 1. Stock links, unterbrach das unangenehme Schweigen.

»Hier ist die Liste der Mängel im Haus. Wir haben sie schon mal zusammengetragen.« Sie streckte Schröder einen Zettel hin, den er ihr dankbar abnahm.

»Als Erstes müssen Sie das Treppengeländer reparieren«, forderte Schmid, 2. Stock links, ein Mann in Anzug. »Das wackelt und ist nicht mehr sicher.«

Frau Mertens, eine grauhaarige Frau, 1. Stock rechts, nickte heftig. Schröder studierte die Liste. Ein zugiges Fenster, Schimmel im Schlafzimmer, welliger Flurboden, tropfende Wasserhähne und defekte Heizkörper. Typische Schwachpunkte eines Altbaus. Ein junger Mann mit langen Haaren, Studenten-WG zweiter Stock links, meldete noch einen Wackelkontakt in der Elektrik nach. Schröder schrieb es ans Ende der Liste. Arbeit für die nächsten Wochen, stellte er zufrieden fest. Das würde ihm helfen, im Haus, in der ungewohnten Rolle als Vermieter und überhaupt in seinem neuen Leben anzukommen. Er hätte gern sofort damit angefangen, doch die Leute standen immer noch in seiner Küche. Auf was warteten die denn noch? Eine Rede? Tee und Gebäck?

»Ich denke, wir sind fertig«, sagte er. »Ich komme bei jedem vorbei und sehe mir die Schäden an.«

»Sie sollten die Schäden beheben und nicht nur ansehen«, forderte der Anzug.

»Selbstverständlich«, bestätigte Schröder und drängte sich durch die Gruppe in den Hausflur.

»Und Ihre Familie? Gattin, Kinder, wann ziehen die ein?«, fragte Frau Mertens.

Schröder überhörte die Frage. Wen ging es etwas an, dass er nie geheiratet und hoffentlich auch keine Kinder gezeugt hatte? Schröder steckte den Schlüssel in das Schloss der Hintertür zum Ladenraum. Er hörte das Getuschel der Frauen aus der Küche. Er sei ja noch in den besten Jahren und sähe passabel aus, da könne noch so manches passieren.

»Lassen Sie doch den Mann in Ruhe«, wies Schmid die Nachbarinnen zurecht. »Sie sehen doch, dass er nicht darüber reden will.«

Das Schloss der Ladentür klemmte. Ungeduldig stemmte sich Schröder gegen das Türblatt, bis es nachgab. Erleichtert flüchtete er in den Laden und schloss die Tür hinter sich. Damit war hoffentlich allen klar, dass er das Haus nicht gekauft hatte, um mit Mietern, Nachbarn oder sonst wem sein Leben zu diskutieren.

»Und was machen Sie mit dem Laden?«, rief die Woller durch die Tür. »Ich hoffe nicht, dass Sie so einen Kiosk reinlassen, wo die Leute Bier kaufen und dann besoffen vor dem Haus herumlungern.«

Schröder verdrehte die Augen und atmete durch. »Keine Ahnung, Frau Woller. Ich habe noch keine Idee«, rief er und horchte auf das Knarzen der alten Holztreppe. Die Mieter zogen ab. Endlich kehrte Ruhe ein.

Er setzte sich gegen die Wand gelehnt auf den Boden und betrachtete den fast leeren Raum. Auf den dunkelbraun gestrichenen Eichendielen breitete sich der Schatten des Schriftzugs »Gerlach Bau GmbH« aus, der auf der grau verschmierten Schaufensterscheibe stand. Es drang gerade genug Tageslicht durchs Fenster, um die fleckigen Wände, Spinnweben und Staubflusen zu beleuchten. Schröder fuhr mit der Hand über die massiven Eichendielen. Zuerst würde er den alten Firmennamen von der Scheibe abkratzen, beschloss er, und dann die hässliche Farbe von den Bodendielen entfernen. Er stand auf und nahm das einzige Möbelstück im Raum in Augenschein, eine wuchtige Verkaufsvitrine, vermutlich aus den Fünfzigern. Schröder fuhr mit den Händen prüfend die Kanten entlang. Das Gestell und die Schubladen aus hell lackiertem Buchenholz, stabil, kaum abgenutzte Stellen. Die Glaswände hatten eine leichte Grünfärbung, dahinter fünfzehn Fächer. Der Staub auf der Abdeckplatte klebte. Mit dem Zeigefinger schrieb er »Schröders Laden« in die Schicht, hielt inne, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und malte ein Fragezeichen dahinter.

Später kam Schröder mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen vom Supermarkt zurück in die Louisenstraße. In Gedanken stellte er eine Liste der Werkzeuge und Materialien zusammen, die er in den nächsten Tagen für die Reparaturen in den Wohnungen brauchen würde. Auf der Mängelliste stand nichts, was er als geschickter Handwerker nicht selbst beheben konnte. Und was kam dann? Der Laden. Er könnte ihn selbst nutzen. Alte Möbel restaurieren zum Beispiel, darin war er gut. Solange er etwas mit seinen Händen tun konnte, war das Leben in Ordnung.

Als er am Südpark vorbeikam, lenkte ihn das Bellen einer Horde großer und kleiner Hunde ab. Die Meute tollte ausgelassen über eine Wiese, während die dazugehörenden Menschen am Rand standen und sich unterhielten. Schröder setzte sich auf eine Bank, lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und beobachtete vergnügt das Treiben der Hunde. Sie jagten sich, kläfften, knurrten und hin und wieder trollte sich einer mit eingezogenem Schwanz davon. Ein junger Mann setzte sich ans andere Ende der Parkbank. In den Händen hielt er eine kurze, geflochtene Lederleine. Eine Leine für einen großen, kräftigen Hund, den man am besten nahe bei sich führte. Schröder bemerkte eine riesige Dogge, einen Schäferhund und noch einen großen Zottelhund in der Hundemeute. Wenn einer von denen zu seinem Banknachbarn gehörte und auf diesen zurannte und womöglich an ihm hochsprang, war es schnell passiert, dass der Hund auch ihn sabbernd umwedelte.

»Gehört die Dogge zu Ihnen oder der Schäferhund?«, fragte er seinen Banknachbarn misstrauisch.

Den Blick auf das Treiben der Hunde geheftet, schüttelte der junge Mann den Kopf, wobei er das Leder drehte und knetete. »Nein, der Hund zu der Leine ist schon lange tot.«

Die Wehmut, die in der Stimme des jungen Mannes mitschwang, ließ Schröder aufhorchen. Der Tod eines Hundes hinterließ in der Regel keine andauernde Traurigkeit. Schröder setzte sich auf, stützte die Unterarme auf die Schenkel und wandte den Kopf leicht dem Banknachbarn zu, wobei er den Blick an ihm vorbei in die Ferne lenkte.

»Was ist passiert?«

»Boris, er hieß Boris. Er war ein Boxer«, erzählte der junge Mann. »Mein Vater hat ihn mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt. Kurz danach kam mein Vater bei einem Unfall ums Leben. Das war schlimm. Manchmal denke ich, ohne Boris hätte ich den Schock nicht überwunden. Na ja, und vor drei Jahren musste ich Boris einschläfern lassen. Seitdem liegt die Leine in einer Schublade. Immer, wenn ich sie öffne, sehe ich die Leine und das Bild von meinem Vater mit dem kleinen Boris auf dem Arm taucht in mir auf. Die Erinnerung schmerzt immer noch. Es wäre so viel leichter, wenn die Leine weg wäre, einfach nicht mehr da, wo ich bin. Verstehen Sie, was ich meine?« Der junge Mann sah Schröder zweifelnd an. Der nickte nur, den Blick auf die Hundewiese gerichtet.

»Ich schaffe es nicht, die Leine zu verschenken. Und im Keller vergammeln lassen oder in den Müll werfen geht auch nicht.«

»Dann geben Sie mir die Leine«, sagte Schröder aus einem Impuls heraus.

Der junge Mann sah ihn verständnislos an.

»Ich hebe die Leine für Sie auf«, versicherte Schröder. »Dann können Sie sehen, wie es Ihnen mit Ihrer Erinnerung geht. Die Leine ist bei mir guten Händen. Wenn Sie die Leine wieder haben wollen, dann kommen Sie bei mir vorbei und holen sie sich wieder.«

Der junge Mann atmete tief durch, während er die Hundeleine mehrmals durch seine Hand zog. Schließlich, mit einer ruckartigen Bewegung, als müsse er Zweifel an Schröders Angebot überwinden, übergab er die Hundeleine. Sie tauschten Namen und Adressen aus und Tom Bucher, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, ging davon. Zweimal sah er sich nach Schröder um. Noch bevor Tom um die Ecke bog, bemerkte Schröder, dass sein Gang leichter und seine Haltung aufrechter wurde.

Zurück im Ladenraum hängte Schröder die Hundeleine kurzentschlossen an einen Haken hinter der Verkaufsvitrine. Hier war sie nicht im Weg und ging auch nicht verloren.

Als er am nächsten Tag den Boden im Laden wischte, klopfte eine Frau in einem grauen Kostüm an die Ladentür. Schröder schüttelte den Kopf, rief, der Laden sei geschlossen, doch die Frau ließ sich nicht abwimmeln. Missmutig öffnete Schröder die Ladentür.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie störe«, sagte die Dame, die sich als Else Engelbrecht vorstellte. Während sie redete, drängte sie sich an Schröder vorbei in den Laden. »Mein Nachbar, Tom, ein netter junger Mann, hat mir eine erstaunliche Geschichte erzählt, die er gestern im Südpark erlebt hat. Ein gewisser Robert Schröder habe die Hundeleine …« Else Engelbrecht brach ab und zeigte auf die Leine an der Wand. »… da ist sie ja!«

»Wollen Sie sie abholen?«, fragte Schröder.

»Nein, nein«, entgegnete Else Engelbrecht, öffnete ihre Handtasche und zog einen einzelnen, in Seidenpapier eingeschlagenen weißen Handschuh heraus. Er war aus feinem Nappaleder, bestickt mit einer zierlichen Rosenranke.

»Was, Herr Schröder, … das sind doch Sie? Nicht wahr?«

Schröder nickte verwirrt.

»Gut. Also, was Sie für Tom getan haben, war großartig. Ich frage mich, ob Sie auch mir diesen Dienst erweisen könnten.«

»Was meinen Sie?«, fragte Schröder entgeistert. »Was habe ich denn getan?«

»Sie haben Toms …, wie soll ich sagen?« Else Engelbrecht tippelte durch den Laden auf die Hundeleine zu. Vor der Verkaufstheke drehte sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu Schröder um. »Erinnerungsstück! Die Hundeleine von Tom ist ein Erinnerungsstück. Eine Leine mit Erinnerung, verstehen Sie?«

Schröder zog die Augenbrauen zusammen. Die Frau redete eindeutig zu schnell und ein bisschen wirr. Denn so gesehen war jedes Ding ein Erinnerungsstück. Ein Gegenstand, gleich welcher Art, löste bei irgendjemandem irgendwelche Erinnerungen aus.

»Sie verstehen mich nicht«, stellte Engelbrecht nachsichtig fest. »Sie haben Toms Hundeleine samt seiner Erinnerungen in Obhut genommen. Eine wunderbare Idee!«

Sie betrachtete den Handschuh in ihrer Hand. »Das ist auch ein Erinnerungsstück«, sagte sie leise. Dann streckte sie Schröder den Handschuh entgegen.

»Würden Sie sich bitte auch meiner Erinnerung annehmen?«

Schröder stützte sich auf den Wischmopp. Was sollte er der Frau sagen? Sich um den Handschuh zu kümmern, war kein Problem, aber um die Erinnerung?

»Jetzt mache ich erstmal einen Tee«, entschied er und wies mit dem Wischmopp in Richtung Hinterausgang.

»Ich habe Sie überrumpelt, nicht wahr?«, fragte Else Engelbrecht besorgt.

»Mindestens«, murrte Schröder.

Bei einer Tasse Tee erzählte Else Engelbrecht die Erinnerungen, die sie mit dem Handschuh verband. Und Schröder nahm sich auch dieses Erinnerungsstückes an. Und wenn er danach dachte, dass mit dem Handschuh die seltsame Episode von Gegenständen und Erinnerungen erledigt gewesen wäre, so hatte er sich getäuscht. Denn im Laufe der nächsten Jahre kümmerte er sich um viele, um sehr viele Erinnerungsstücke.

Kapitel 1

Julia Pfeiffer lenkte den roten Mini Cooper durch die breite Kastanienallee direkt auf die wilhelminische Villa zu. Die Prachtfassade, Säulen und Ecktürme machten den Eindruck, hinter den Mauern spiele sich das Leben eines Luxushotels ab. Eine fiese Täuschung, stellte Julia jedes Mal fest, wenn sie hierherkam. Denn hinter diesen Vorhang verschwenderischen Prunks zogen sich betuchte Menschen am Ende ihres Lebens zurück. Bei der Einfahrt auf den Parkplatz atmete Julia erleichtert auf. Ein Leichenwagen war nicht zu sehen, und der für Notfälle bereitstehende Krankenwagen stand auf seinem Platz. Letzte Nacht war also kein Bewohner gestorben und es war kein Patient auf dem Weg auf die Intensivstation des nächsten Krankenhauses. Oma Belle erwartete sie zwar sterbenskrank, aber in stabilem Zustand auf ihrem Zimmer.

Julia entschied sich für den längeren Weg zum Eingang der Villa. Sie zog die Ballerinas von den Füßen und spazierte barfuß über den kurz geschnittenen Rasen durch den Park, in dem die Villa stand. Der Anblick der Blumenbeete, einer malerisch eingewachsenen Gartenlaube und der alten Linde ließ Julia kurz vergessen, dass hinter einem der vielen Fenster Oma Belle ihre letzten Tage oder Monate oder, hoffentlich, Jahre verbrachte. Zwei steinerne Löwen bewachten den Eingang zum Elisabeth-Stift. Im Vorbeigehen strich Julia einem der Löwen über die Nase. Vielleicht brachte es ja Glück!

»Frau Pfeiffer, wie schön, Sie hier zu sehen! Herzlich willkommen«, rief die Rezeptionistin, die in ihrem Kostüm wie eine Stewardess aussah. Die Leitung des Hauses achtete bis ins Detail darauf, dass einem die Worte Krankheit und Tod nicht in den Sinn kamen, wenn man ins Haus kam.

»Danke«, erwiderte Julia, während sie die Schuhe anzog.

»Sie waren ja lange nicht mehr da. Isabelle wartet schon auf Sie«, erklärte die Rezeptionistin freundlich, doch Julia hörte einen versteckten Vorwurf. Ja, sie war viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Das wusste sie selbst. War alles andere als geplant gewesen, aber die Umstände und dann dieser ewig prasselnde Regen, der den Boden unbefahrbar gemacht hatte, und …

»Ich gehe gleich rauf«, sagte Julia und deutete zur Treppe. Sie durchquerte mit langen Schritten die große Eingangshalle, eilte über weiche Teppiche an Sitzgruppen vorbei, das lichtdurchflutete Treppenhaus nach oben. Die Wände des Stockwerks, auf dem Oma Belles Zimmer lag, war dunkelgrün tapeziert. Ölbilder von Landschaften in Goldrahmen und Wandleuchten voller Kristalltropfen reihten sich den Flur entlang aneinander. Für Julias Geschmack hatten die Einrichtungsprofis zu dick aufgetragen. Aber war das nicht meistens so? Sobald sich Reiche irgendwo länger aufhielten, war alles irgendwie zu viel. Julia kannte sich im Dunstkreis des Geldes aus. Dabei war das Einzige, was sie an dem Reichtum ihrer Familie schätzte, der Umstand, dass Oma Belle die Lebenszeit, die ihr der Krebs noch gönnte, in dieser stilvollen Umgebung mit bester medizinischer Betreuung verbringen konnte.

Vor einem Spiegel mit barockem Goldrahmen blieb Julia stehen, fuhr mit den Fingern durch ihre rotblonde Mähne, zupfte die Falten des apricotfarbenen Kleids zurecht, wischte den Straßenstaub von den Ballerinas und verzog ihr Gesicht zu einem übertriebenen Grinsen. Sie im Kleid und mit offenen Haaren! So lief sie selten durch die Welt. Normalerweise tat sie das als Reisefotografin in praktischen, khakifarbenen Outdoorklamotten. Doch sie stand vor der Zimmertür von Oma Belle, und die hasste Julias Weltenbummler-Kluft. Heute jedenfalls würde sie sich nicht über Julias mangelnde Sorgfalt in Bezug auf ihre Garderobe beschweren können.

Julia klopfte zaghaft an die Zimmertür. Keine Antwort. Als sie auch nach dem zweiten und dritten Klopfen nichts hörte, öffnete sie vorsichtig die Tür und trat ein. Das Zimmer war groß und hell. Ein hoher Bücherschrank, dessen vier Türen mit Intarsien im Art-Deco-Stil versehen waren, Sofa und Sessel von Designern der Bauhaus-Schule, ein großer Orientteppich sowie Kopien von Bildern französischer Impressionisten. Der einzige schwerwiegende Brocken in dem Raum war das Krankenbett. Auf ihm lag Isabelle Kellermann-Schäfer unter einem handgenähten Quilt und schlief. Die Decke hatte Julia von ihrer ersten großen Reise nach dem Abitur mitgebracht. Sechs Monate quer durch die USA. Das war vor zehn Jahren gewesen. Seitdem hatte sie ihren Fuß auf jeden Kontinent des Planeten gesetzt und sich dabei als Fotografin einen Namen gemacht.

Julia schluckte zweimal, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ihr letzter Besuch war drei Monate her. Wie konnte ein Körper so schnell in sich zusammenfallen? Auch wenn Julia nach Heulen zumute war, Tränen waren das Letzte, was Oma Belle sehen wollte. Noch war sie ja nicht tot. Noch lag ihr schmaler Körper unter der bunten Decke. Die Hände, wie immer mit diversen Ringen bestückt, ruhten gefaltet auf Oma Belles Bauch. Das Gesicht erschreckend faltig, schmal und fahl. Um den Kopf ein violettes Tuch zu einem Turban gebunden. Dennoch schön – alt und schön.

Julia setzte sich in den Lesesessel, lehnte den Kopf an und schloss die Augen. Schon das Warten auf einen Bus, einen Anschlusszug oder eine Fähre fiel ihr schwer. Unerträglich aber war es, hier zu sitzen und nichts tun zu können als zuzusehen, wie der geliebte Mensch Schritt für Schritt das Leben verließ. Was sollte sie nur ohne Oma Belle machen? Wer würde sie trösten, ihr Mut zusprechen, sie anschieben, mit ihr lachen und ihr das Leben erklären? Doch noch war Oma Belle da und die finsteren Visionen sollten sich verscheuchen lassen wie lästige Fliegen. Um sich von den schleppenden Atemzügen ihrer Großmutter abzulenken, zog Julia ihr Smartphone aus der Handtasche und wischte sich durch Apps und Nachrichtendienste.

Nach einer halben Stunde schlug Isabelle Kellermann-Schäfer mit einem tiefen Seufzer die Augen auf, erblickte ihre Enkelin und strahlte über das ganze Gesicht.

»Julia! Da bist du ja, wie schön!« Sie zog die Decke zur Seite und schob die Beine über die Bettkante.

Julia sprang sofort auf, um ihr zu helfen. Doch Isabelle winkte ärgerlich ab.

»Oh nein! So weit ist es noch nicht«, sagte sie grimmig, atmete durch, schob sich vor, atmete nochmal durch, schlüpfte in ihre Pantoffeln und stand langsam auf. Auch in dem zu weiten cremefarbenen Frotteeanzug verlor Isabelle nicht ihre gerade Haltung und die Eleganz ihrer Bewegungen. Dennoch bemerkte Julia, wie wackelig sie auf den Beinen stand, und hielt sich bereit Oma Belle aufzufangen, sollte es nötig sein.

»Du siehst wirklich reizend aus in dem Kleid«, stellte Isabelle fest, während sie vor einem Wandspiegel ihre Kopfbedeckung ordnete.

»Danke.« Julia knickste lachend wie ein braves Mädchen.

»Ach du!«, schimpfte Isabelle schmunzelnd. »Ich meine das ernst! Du erinnerst mich dann sehr an mich selbst, als ich jung war.«

»Ich weiß. Habe ich extra für dich angezogen«, sagte Julia. »Du siehst auch gut aus.«

»Ach was«, stöhnte Isabelle, während sie den Knoten des Turbans festzog. »Dass das immer so enden muss.«

»Was endet wie?«

»Das Leben, meine Liebe, es endet meist hässlich.«

Julia schlang zärtlich die Arme um das Bisschen, was von ihrer Großmutter noch übrig war.

Isabelle sank in einen Sessel und dirigierte Julia mit einer unmissverständlichen Geste auf das Sofa gegenüber.

»Erzähl, wie war es in Brasilien?«, fragte Isabelle. Sie legte die Hände in den Schoß, ihre Miene ganz gespannte Aufmerksamkeit, und Julia erzählte. Der Auftrag, die Arbeit einer Gruppe von Wissenschaftlern im Amazonas zu dokumentieren, sei einfach der Hammer gewesen. Sie erzählte von der eindrucksvollen Arbeit der Biologen, Geologen und Meteorologen, den hundert Facetten des Grüns der Vegetation, von Affen, Schlangen, Mücken in jeder Größe und dem Regen. Isabelle nickte immer wieder, ließ ein »Ach, ist ja spannend« oder »Hätte ich nicht gedacht« hören und lächelte über Julias sprudelnden Wortschwall. Julia redete und redete und hoffte, der unvermeidlichen Frage zu entkommen. Vergeblich! Kaum hatte sie von der chaotischen Fahrt mit dem Jeep über aufgeweichte Wege durch den Dschungel zum Flugplatz erzählt, holte Oma Belle Luft und fragte:

»Wo ist dieser Mike? Der Reporter aus Kairo? Wolltest du ihn mir dieses Mal nicht vorstellen?«

»Ja, oder besser nein – also Mike, ich glaube, das ist vorbei«, antwortete Julia unwillig.

»Du glaubst?«

»Nein, ich bin mir sicher. Es ist vorbei.«

»Ach Julia!«, seufzte Isabelle. »Du wechselst die Männer genauso schnell wie die Länder, die du bereist.«

»Oma Belle!«

»Ja, ja, schon gut«, beschwichtigte Isabelle. »Tut mir leid, aber ich habe gehofft, du würdest mir noch einen Mann vorstellen, an dem dir wirklich etwas liegt. Aber das kann ich wohl von meiner Wunschliste an das Leben streichen, was?«

»Hast du mir nicht eingetrichtert, dass Männer nicht der Mittelpunkt des Lebens sind?«, erwiderte Julia.

»Ja, aber nur, weil du dir mit sechzehn die Augen wegen eines Jungen ausgeheult hast«, gab Isabelle lachend zu.

»Dafür habe ich etwas anderes für dich«, sagte Julia, wobei sie in ihrer Handtasche wühlte und einen Flyer herauszog. »Hier der erste Entwurf für die Ankündigung einer Ausstellung meiner Fotos aus Brasilien in der Fotogalerie Habicht & Klausner.«

Isabelle schnalzte anerkennend, studierte die Beschreibung der Ausstellung. »Na, da hoffe ich mal, dass ich dann noch lebe und sie mir noch anschauen kann.«

»Oma Belle!«, stieß Julia empört aus. Hatte ihre Großmutter nicht selbst verlangt, dass die Worte Krankheit, Tod Krebs und Verfall in ihren Gesprächen vorkommen dürften?

»Was?«, entgegnete Isabelle. »Man muss doch realistisch bleiben.«

»Gut, also realistisch gesehen wirst du als Ehrengast bei der Vernissage sein«, behauptete Julia trotzig.

Eine pflegende Stewardess brachte ein Tablett mit Gebäck, Geschirr und einer Teekanne. Während sie alles auf einem Tischchen anrichtete, holte Isabelle eine Mappe aus einer Schublade und legte sie ebenfalls auf den Tisch. Julia registrierte, wie sorgfältig Isabelle die Bänder aufzog, die die Mappe zusammenhielten. Als sie den Deckel aufschlug, lag ein Stapel aus alten Schwarzweißfotos und ausgeblichenen Farbfotos vor ihnen. Oma Belle hob eine Tasse an ihre Lippen und schlurfte den heißen Tee. Julia bemerkte ein leichtes Zittern der alten Hände.

»Was sind das für Fotos?«, fragte sie vorsichtig, als Isabelle sich ein Foto nach dem anderen dicht vor die zusammengekniffenen Augen hielt.

Julia reichte ihr eine Brille, die auf dem Tisch lag.

»Hier, damit geht es leichter.« Mit einem missmutigen Schnauben nahm Isabelle die Brille und schob sie auf die Nase. »Damit sehe ich aus wie eine Eule«, schimpfte sie, zog dann aber zielsicher ein Foto aus dem Stapel.

»Na, da ist es ja!«, stellte sie erfreut fest, um gleich darauf in einen düsteren Ernst zu verfallen. Julia griff ihre Hand und drückte sie sanft.

»Was ist los, Oma?«

»Eine unschöne Geschichte«, seufzte Isabelle und reichte Julia das Schwarzweißfoto. »Das bin ich mit Peter Gerlach, auf unserer Reise durch Italien. Das muss so 1971 gewesen sein.«

Julia sah ein junges Paar vor einem Olivenbaum. Er, groß, schlank, fast schlaksig, dunkle, schulterlange Haare. Unter dem Vollbart versteckte sich ein strahlendes Lächeln. Sein Arm lag um Isabelles Taille und seine Augen schienen in ihren zu versinken. Isabelle, in einem Minirock, einer bunt bestickten Bluse, Stirnband um die langen, welligen Haare gebunden, lehnte wie hingegossen an seiner Schulter. Sie strahlte das aus, was Julia von ihrer Großmutter über Fotos und Erzählungen wusste. Oma Belle war eine Schönheit gewesen, frech, heiter, intelligent und impulsiv. In den Blicken der beiden erkannte Julia die Zeichen einer frisch entflammten Liebe.

»Das ist nicht Opa Hermann!«, stellte sie bestürzt fest. »Ich dachte immer, Opa wäre, na du weißt schon, der Einzige in deinem Leben und so. Aber ihr zwei auf dem Foto seid offensichtlich sowas von verliebt.«

»Stell dir vor, meine Liebe, ich hatte ein Leben, bevor ich Hermann kennengelernt habe«, erwiderte Isabelle mürrisch.

Julia schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, aber das kann ich mir nicht vorstellen.« Oma Belle und Opa Hermann waren für Julia immer das Ideal des glücklichen Paars gewesen. Sie hatten alles, was man sich von einer funktionierenden Ehe wünschte, Liebe, Vertrauen, Humor und dieses gewisse Extra. Vor zwei Jahren war Hermann gestorben. Ein Foto von ihm als junger Mann stand auf Isabelles Nachtkästchen. Die Spuren auf dem Glas verrieten, dass sie es oft in Händen hielt. Julias Blick wanderte vom jungen Mann im Hippie-Look auf dem Foto vor ihr zum Bild von Hermann mit korrekter Seitenscheitelfrisur und weißem Hemd. Größer konnte der Unterschied zwischen zwei jungen Männern gar nicht sein.

»In der Zeit, als das Foto aufgenommen wurde, schwebten Peter und ich im siebten Himmel. Alles schien wundervoll und grenzenlos«, seufzte Isabelle.

»Und dann? Was ist passiert?«

»Nun, das kann ich dir nicht erzählen«, antwortete Isabelle, wobei sie die Brille abnahm, die Bügel einklappte und auf den Tisch legte. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster über den Park hinaus in eine weite Ferne. Julia wartete und zählte ihre Atemzüge. Eine von Oma Belles Lehren: Wenn die Neugier deine Gedanken mit Fragen überschüttet, warte zehn Atemzüge lang – das Wesentliche liegt hinter diesen Fragen. Wie lange würde sie zählen müssen, bis ihre Großmutter den Faden der Erinnerung abgewickelt hatte?

Julia war bei zwanzig angekommen, als Oma Belle sagte: »Finde Peter Gerlach!« Dabei hörte sie sich an, als gebe sie ihrem Hausmädchen den Auftrag die Gardinen zu waschen. Eindeutig und nicht verhandelbar.

»Bitte?« Julia glaubte, sich verhört zu haben. »Warum jetzt? Ich meine, zwischen dem Foto und heute liegen Jahrzehnte. Warum hast du den Mann nicht schon längst ausfindig gemacht?«

Isabelle legte die restlichen Fotos sorgsam zurück in die Mappe und schnürte die Bänder zusammen. Dann schob sie das Bild mit ihr und Peter Gerlach über den Tisch zu Julia.

»Ich hatte beschlossen, die ganze Sache zu vergessen«, sagte Isabelle. »Du weißt schon, Schwamm drüber, abhaken oder so ähnlich. Das ist mir auch gelungen, das dachte ich jedenfalls. Und jetzt bin ich hier. Alles ist so still und ich habe nichts mehr zu tun, außer manierlich zu sterben. Da bricht so manche Mauer ein, die man sich im Laufe des Lebens sorgfältig gebaut hat. Hinter einer tauchte Peter Gerlach auf. Ich muss ihn noch einmal sehen.«

Julia war sprachlos. Fragen türmten sich in ihr auf. Doch das Gesicht von Oma Belle sprach Bände. So ist es, liebes Kind, und da kannst du noch so viel zweifeln und hinterfragen, die Sache ist ganz einfach: Bring mir den Hippie von damals.

»Ich bitte dich, Julia«, sagte Isabelle leise aber eindringlich. »Betrachte es als den letzten Wunsch deiner Großmutter, die nicht mehr lange hier sein wird.«

»Natürlich«, stammelte Julia leise, überwältigt von der gefühlsgeladenen Rede. Oma Belle war keine, die mit Krokodilstränen Herzen weichspülte. Im Gegenteil, sie verlangte und befahl. »Ich tue, was ich kann, Oma Belle«, schob Julia nach.

»Und er soll das Toskana-Bild mitbringen«, forderte Isabelle. »Das ist mein Bild und er weiß es.«

»Was ist das Toskana-Bild?«

»Ach, das weiß Peter dann schon – du musst es nur erwähnen, das ist alles«, sagte Isabelle und erzählte, dass sie Peter Gerlach während des Studiums an der Uni kennengelernt habe. »Ich habe damals, also Ende der Sechziger, gegen den Willen meines Vaters Soziologie und Politik studiert. Mein Vater war sehr wütend darüber. Die Tochter und Erbin des schwerreichen Bankhauses Kellermann sollte überhaupt nicht studieren, sondern nur hübsch, charmant und unterhaltend sein. Wenn sie dann heiratete, sollte sie sich in ein Heimchen am Herd verwandeln. Nein, natürlich nicht. Wir hatten ausreichend Personal für den Herd. Also hatte Frau nur repräsentativ zu sein. Was haben Vater und ich gestritten! Ich bin trotzdem an die Uni. Irgendwann hat er aufgegeben und mein Studium als jugendliche Verwirrtheit abgetan.«

Julia hörte mit offenem Mund zu. Oma Belle, die elegante, weltgewandte Dame im Chanel-Kostüm als Rebellin?

»Jetzt sag nicht, dass du damals mitgemischt hast. Das war doch eine wilde Zeit an den Universitäten, oder? Studentenrevolte, APO, Rudi Dutschke, Spiegelaffäre und so weiter. Hast du Steine geworfen, Autos angezündet?«

»Na, aber hallo!«, lachte Isabelle. »Ich habe mich sogar der kommunistischen Studentenorganisation angeschlossen. Mein Vater war entrüstet, weil er dachte, ich sei zum Feind übergelaufen. Und irgendwie hatte er Recht. Die Tochter und Erbin des Bankhauses Kellermann schrieb Pamphlete und Flugblätter für die Gleichverteilung der Güter, für die Gleichberechtigung der Frau. Vom Recht auf freie Liebe habe ich auch Gebrauch gemacht.«

»Oma Belle!«, rief Julia mit gespielter Empörung. »Wie konntest du mir das vorenthalten?«

Isabelle legte eine Hand auf das Foto von Peter Gerlach und ihr. »Weil mein wilder Ausbruch in einem Desaster endete«, erklärte sie kühl und lehnte sich erschöpft zurück. »Ich will nicht mehr darüber reden. Bitte, Julia, lass es gut sein. Zu Peter kann ich dir nur noch sagen, dass seine Familie ein Haus in der Louisenstraße hatte. Sie betrieb dort ein Baugeschäft. Ich glaube, es hieß auch einfach Gerlach Bau. Da könntest du mit der Suche beginnen.«

»Willst du mir nicht wenigstens sagen, was damals passiert ist? Warum du Gerlach so dringend noch einmal sehen willst?«, fragte Julia enttäuscht.

»Nein«, antwortete Isabelle entschieden, atmete tief durch und klatschte in die Hände, als könne sie damit böse Geister vertreiben. »Lass uns eine Runde durch den Park spazieren«, schlug sie so heiter vor, als hätte sie mit Julia über die Lieblichkeit von Gänseblümchen gesprochen.

Vielleicht, dachte Julia, waren Oma Belles Erinnerungen an Peter Gerlach doch nicht so düster, wie es sich im ersten Moment angehört hatte.

Julia öffnete die Fenster des Apartments, das ihre Familie in der Stadt unterhielt. Sie konnte darin wohnen, solange sie wollte. Auch ein Vorteil, wenn Geld keine Rolle spielte. Sie beobachtete die Leute beim abendlichen Bummel zwischen den Restaurants und Bars der Straße. Sie hatte Lust, noch eine Runde durch das belebte Viertel zu drehen, entschied sich aber dagegen. Stattdessen packte sie ihren Koffer aus und inspizierte die Vorräte in den Küchenschränken. Für ein Frühstück reichte es, das Einkaufen konnte sie auf morgen verschieben. Sie legte sich auf das Sofa und lauschte in die Stille, die ihr schwer und bedrückend vorkam. Wo waren die vielen Menschen, die in dem Haus wohnten, was machten sie gerade? Sie vermisste die Stimmen, den Straßenlärm und vielfältigen Geräusche, die das Leben in einer Stadt wie Bombay oder Kairo abends hervorbrachte. Sie gaben ihr das Gefühl nicht allein zu sein. Doch hier waren Fenster und Wände gut gedämmt, das Leben der Anderen blieb vor der Tür. Wenn Julia eine Pause von ihren Reisen brauchte, was nie länger als ein oder zwei Wochen dauerte, wohnte sie bei Oma Belle in deren Wohnung über den Dächern der Stadt. Aber jetzt dort sein? Nein, da würde sie die Abwesenheit von Oma Belle bei jedem Atemzug spüren. Oma Belles Zustand war nicht so gut, wie ihre Großmutter ihr weismachen wollte. Julia kannte Isabelle nicht anders, als dass sie geschickt die Bälle ihres Lebens jonglierte. Diese Frau so matt und abgemagert auf dem Bett zu sehen, machte Angst.

Oma Belle würde sterben! Julia versuchte, diese Aussage zu glauben, doch ihr kindlicher Glaube an die Unsterblichkeit von Oma Belle ließ sich nicht so leicht vertreiben.

Sie beschloss zu bleiben, solange Oma Belle sie brauchte. Was eigentlich bedeutete, dass Julia bleiben würde, bis sie gestorben war. Sie setzte sich an den Tisch, klappte den Laptop auf, klickte ihr E-Mail-Fach an und schrieb an den Auftraggeber für eine Reportage über die antiken Städte Usbekistans eine Absage. Außerdem musste sie diesen Peter Gerlach finden. Aber wie schwierig konnte das schon sein? Ein bisschen Internetrecherche, vielleicht noch den einen oder anderen Nachbarn oder Verwandten ausfragen und sie hätte den Mann gefunden. Aufregender war Peter Gerlachs Geschichte, um die Oma Belle ein Geheimnis machte. Auch eine Art Reise, stellte Julia fest und tippte den Namen Peter Gerlach in die Zeile der Suchmaschine.

Kapitel 2

Schröder schlurfte im Morgenmantel aus dem Bad ins Zimmer. Mit Bett, Nachttisch und Schrank war es ausgestattet wie eine Mönchsklause. Er genoss die Ruhe, die durch die Leere entstand. Bevor er die Tür des wuchtigen Bauernschranks aus dem 18. Jahrhundert öffnete, fuhr er bedächtig mit der Handfläche über das Türblatt. Altes Eichenholz, mit kleinen Rissen, Kerben und von unzähligen Handgriffen gerundeten Kanten. Die Struktur des Holzes war Schröder vertraut. Schon als er vor 35 Jahren das Haus Louisenstraße 13 übernommen hatte, hatte der Schrank in diesem Zimmer gestanden, irgendjemand hatte ihn zurückgelassen. So ein Kasten passte in keine moderne Wohnung. Im Gegensatz zu den Möbeln, die Schröder für sein Antiquitätengeschäft sorgfältig restaurierte, überließ er diesen Kleiderschrank dem Prozess des Alterns.

Montags hingen zehn rot-blau-karierte Hemden und zehn beige Cordhosen in Schröders Kleiderschrank. Die Strümpfe zusammengelegt und gestapelt in Schwarz, die Unterwäsche ebenfalls auf Kante geordnet in Weiß. Schröder zählte sechs Hemden. Demnach war heute Donnerstag. Er sollte die gebrauchte Wäsche in die Reinigung bringen, den Laden um zehn Uhr öffnen und in der Werkstatt den Gehstock mit dem Elfenbeingriff fertig machen. Mit Kochen und Einkaufen war Patrick an der Reihe. Allerdings hatte ihn sein Pflegesohn vor zwei Tagen vor einem leeren Teller sitzen lassen. Schröder überlegte, was Patrick von seinen häuslichen Pflichten abgehalten hatte. War es wieder mal eine Frau gewesen, oder ein wichtiger Termin mit einem Mandanten seiner in den Anfängen steckenden Anwaltskanzlei? Egal, dachte Schröder, er musste damit rechnen, auch heute entweder altes Brot mit überreifem Camembert zu essen oder hungrig ins Bett zu gehen. Automatisch Patricks Kochtage zu übernehmen kam jedenfalls nicht in Betracht. Wie sollte eine Hausgemeinschaft funktionieren, wenn man sich nicht auf die Erledigung von Aufgaben verlassen konnte?

Schröder nahm eine Garnitur Kleidung aus dem Schrank und legte sie aufs Bett. Während er sich anzog, hörte er durch das gekippte Fenster Stimmen von der Straße. Eine gehörte eindeutig zu Patrick. Er hielt eine dieser Paragrafenreden, wie Juristen es gerne taten. Die Leidtragende war, der Stimme nach zu urteilen, eine junge Frau. Die Arme. In ihrer Haut wollte er jetzt nicht stecken. Wenn Patrick einmal anfing, die Welt mit Gesetzestexten zu erklären, war jede Widerrede zwecklos. Doch die junge Frau schien wenig beeindruckt.

»Ich habe sehr wohl das Recht das Haus zu fotografieren. Wir stehen hier auf öffentlichem Grund«, konterte sie so deutlich, dass Schröder jedes Wort verstand.

»Ok. Wenn Sie nicht als Gutachterin für den Immobilienhai Hecht unterwegs sind und versuchen, den alten Mann übers Ohr zu hauen, was machen Sie dann überhaupt hier?«, fragte Patrick hörbar aufgebracht.

Nicht doch! Schröder schüttelte den Kopf. Patricks Ton gefiel ihm nicht. Wenn er, ein alter knorriger Mann, sich schwertat, das nötige Maß an Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber aufzubringen, war das eine Sache. Patrick war zu jung dafür, ihm stand das noch nicht zu.

»Hecht? Echt?«, lachte die Frau glucksend. »Immobilienhai mit dem Namen Hecht! Zwei Raubfische in einem Namen, also vor dem hätte ich auch Angst.«

Schröder schmunzelte, hielt beim Zuknöpfen des Hemdes inne, um Patricks Antwort zu verstehen. Leider hörte er nur dessen sarkastischen Ton. Kurz darauf, Schröder stopfte gerade das Hemd in die Hose, hörte er, wie die Haustür zuschlug.

»Guten Morgen, Robert«, rief Patrick aus der Küche.

Als Schröder eintrat, packte Patrick zwei volle Einkaufsbeutel aus. »Du hast Kundschaft«, sagte er, während er eine Milchtüte aus der Tasche zog.

»Wie? Kundschaft?«, fragte Schröder mürrisch, nahm die Milch und stellte sie in den Kühlschrank.

»Darf ich dich daran erinnern, dass du ein Antiquitätengeschäft hast?«, fragte Patrick, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Darfst du nicht!«, murrte Schröder, während er Marmelade und Senf in einen Schrank räumte.

»Also gut«, seufzte Patrick. »Draußen steht eine Frau, die darauf wartet, dass dein Laden geöffnet wird.«

»Was für eine Frau?«

»Jung, hübsch, schlagfertig.«

»Oha, schlagfertig?«, fragte Schröder. »Diese Eigenschaft zählst du sonst nicht auf, wenn du von Frauen redest.«

»Sie ist ja auch keine von denen, über die ich sonst rede«, erwiderte Patrick, zielte mit einem Kohlrabi und warf ihn in einen Korb auf der Arbeitsplatte.

»Sie ist eine Kundin«, fuhr Patrick fort, nachdem er auch mit drei Karotten zielsicher den Korb getroffen hatte. »Sie hat den Fassadenübergang von deinem zum Nachbarhaus fotografiert. Da habe ich gedacht, sie würde das für ein Gutachten im Auftrag des Immobilienbüros Hecht machen. Du weißt schon, wegen …«

»Ja, schon gut«, murrte Schröder.

»Nein, nicht gut«, widersprach Patrick. »Du solltest dich endlich darum kümmern. Wenn Hecht mit seiner Klage durchkommt, wirst du das Haus renovieren müssen und den Schaden an den anliegenden Häusern auch noch zahlen. Nur, weil du dein Haus verfallen lässt.«

»Darum kümmerst du dich doch. Du bist mein Anwalt. Du erklärst dem Gericht, dass das Schwachsinn ist. Wenn der Hecht seine Häuser nicht ordentlich baut, kann ich nichts dafür.«

»Egal!«, gab Patrick nach, zerknüllte die Beutel und stopfte sie in ein Schubfach. »Jedenfalls steht diese Frau da draußen und will in deinen Laden. Sie sagt, sie sei Fotografin. Vielleicht sucht sie eine Location für ein Shooting.«

»Ich schließe wie jeden Tag pünktlich auf. Wenn es wichtig ist, wird sie schon wiederkommen«, brummte Schröder und holte die Kaffeedose vom Regal.

Doch Patrick nahm sie ihm aus der Hand.

»Ich mache dir den besten Kaffee aller Zeiten und du öffnest den Laden«, entschied er. »Tut mir leid, aber ich war etwas grob zu der Frau und du musst das jetzt bitte ausbügeln. Bitteee!«

»Warum? Möchtest du sie zu einer der Frauen machen, von denen du redest?«

»Robert«, stöhnte Patrick auf. »Sie ist eine Kundin und du kannst es dir nicht leisten, Kaufwillige zu vergraulen.«

»Junge Leute kaufen nichts.«

»Quatsch!«

»Schließ du doch auf, wenn es dir so wichtig ist.«

»Ich kann nicht, weil ich gleich einen Telefontermin mit einem Staatsanwalt habe.«

Schröder verzog missmutig das faltige Gesicht, grummelte unverständliche Laute und verließ aber die Küche, weil es mit der Ruhe sowieso vorbei war. An der Garderobe wechselte er die Hausschuhe gegen Straßenschuhe und zog seine Lederweste über. Bei einem zufälligen Blick in den Spiegel bedauerte er, die grauen Stoppel nicht aus dem Gesicht rasiert zu haben. Er fuhr mit den Händen über das weiße Haar, das in alle Richtungen stand, und bemühte sich um eine bessere Laune. Zu einem strahlenden Lächeln würde er es nicht bringen, aber wenigstens sollte die Kundin sich in seiner Gegenwart nicht unwohl fühlen. Obwohl sie ein mieses Zeitgefühl hatte, fand Schröder. Es war schlichtweg unangemessen vor dem Mittag über Antiquitäten, deren Qualität oder Marktwert zu verhandeln. Erst am Nachmittag, wenn die Menschen ihr Tagwerk geleistet haben oder glaubten, es im Griff zu haben, ließen sich solche Dinge mit der gebührenden Aufmerksamkeit besprechen. Dafür brauchte man die Muße einer Teestunde. Schröder hoffte, dass es sich bei der Kundin nicht um eine der neunmalklugen Frauen aus der Nachbarschaft handelte. Eine, die ständig redete, erklärte, argumentierte und ihm von der schwierigen Situation ihrer Ehe oder ihrer Karriere erzählte. Nicht vor dem Mittag!

Schröder schlurfte den Mittelgang des Ladens entlang, ohne den Kristalllüster angeschaltet zu haben. Er mochte das trübe Morgenlicht, das wie ein Weichzeichner auf das Leben wirkte. Beim Vorbeigehen streifte sein Blick kontrollierend die antiken Sessel, Stühle und Tische, Regal und Vitrine. Das Einzige, was sich seit gestern verändert hatte, stellte er fest, war die Staubschicht. Die war um eine Tagesportion angewachsen.

Er schloss die Ladentür auf und schob sie in den Haken, der sie offenstehen ließ.

»Guten Tag, tut mir leid, ich bin zu früh, nicht wahr?«, sagte die Kundin, als sie in der Tür stand. An der Stimme erkannte Schröder die Frau, die Patrick energisch Kontra gegeben hatte. Er brummte eine Bestätigung, wobei er ihr absichtlich nicht ins Gesicht sah, sondern auf die weißen Sneaker und die Beine in naturfarbener Leinenhose. Er sah Kunden grundsätzlich nicht gern ins Gesicht. Sie neigten dann dazu, sich zu erklären, oder schwärmten von der Schönheit des Ladens. Zu oft kam es vor, dass sie angesichts der alten Gegenstände anfingen, ihm Anekdoten aus ihrer Familiengeschichte zu erzählen. Schröder drehte sich auf dem Absatz um und ging vor der Kundin her, zurück an die hintere Wand. Die Frau würde sich im Laden umsehen und vielleicht eine Kleinigkeit kaufen. Sollte sie ein Erinnerungsstück abgeben oder abholen wollen, würde sie sich schon melden.

Schröder machte die Lichter an. Der aus unzähligen Kristalltropfen bestehende Kronleuchter erstrahlte, was der Kundin ein bewunderndes »Wow!«, entlockte. Unbeeindruckt von ihrem Staunen positionierte sich Schröder hinter der wuchtigen Verkaufstheke, starrte in ein dickes Kassenbuch und tat so, als zähle er Zahlenkolonnen zusammen. Das war seine Methode Kunden zu beobachten, ohne sie mit den erwartungsvollen Blicken eines Verkäufers zu belästigen.

»Mein Name ist Julia …«

»Ja, ja«, unterbrach Schröder sie, wobei er den schwerhörigen alten Mann mimte. »Sehen Sie sich nur in Ruhe um.«

Es funktionierte. Julia schlenderte an den Rokoko-Sesseln vorbei, nahm eine Teetasse aus hauchzartem Porzellan von dem mit Intarsien verzierten Tisch und hielt sie gegen das Licht. Vor der Vitrine, in der Emaille- und Silberdöschen ausgestellt waren, blieb sie stehen. Während Schröder die Seiten des Kassenbuchs umblätterte, beobachtete er sie aus dem Augenwinkel. Das Ticken der großen Standuhr schnitt durch die Stille. Normalerweise hielten Kunden das nicht lange aus und stellten bald irgendwelche Fragen. Nicht diese Julia. Sie betrachtete eine Ballerina-Figur aus Meißener Porzellan, die auf einem Beistelltisch stand.

»Diese Figuren waren ein Renner in den 50er Jahren«, sagte Schröder, weniger um die Kundin zu informieren, als zu erfahren, was die junge Frau in seinem Laden zu finden hoffte. Und gerade, als er den Kopf hob, um ihre Reaktion zu erkennen, sah Julia ihn an. Schröder wankte. Er wusste nicht, hetzte sein Herz oder blieb es stehen? Rauschte sein Blut oder tropfte es durch die Adern? Ihn schwindelte. Er räusperte sich, hustete, stützte sich mit den Händen an der Theke ab.

»Was haben Sie?«, hörte er Julia besorgt fragen und ihre Schritte, die näher kamen.

»Hallo? Kann ich etwas für Sie tun? Geht es Ihnen nicht gut?«, rief sie jetzt laut, als wollte sie jemanden weit Entfernten erreichen.

Schröder biss die Zähne zusammen, hob den Kopf und sah in dieses Gesicht, das eine Täuschung sein musste. Er schüttelte den Kopf, richtete sich schwer atmend auf und wankte zur Tür. Julia stützte ihn, redete auf ihn ein. Die Worte verstand er nicht, nur ihre beruhigende Melodie drang zu ihm durch. Mühsam erreichte er die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte die Ellbogen auf und vergrub sein Gesicht im Dunkel der Hände.

»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Schröder schüttelte den Kopf. Wasser strömte aus dem Hahn, Julias Hand stellte ein Glas Wasser vor ihm ab. Weitere Fragen drangen auf ihn ein und er spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Eilige Schritte polterten die Treppe runter.

»Was machen Sie da?«, fauchte Patrick. Er drängte Julia zur Seite und beugte sich über Schröder.

»Ich mache gar nichts!«, erwiderte Julia wütend.

»Ach ja? Dann frage ich lieber, was haben Sie mit Schröder gemacht?«

»Nichts!«, erwiderte sie spitz. »Ich habe mich nur im Laden umgesehen und dann passierte das.«

Schröder wollte erklären, sich, der Frau und Patrick, doch er wagte nicht, aus den Händen aufzutauchen. Außerdem produzierte sein Gehirn keine Worte, die seinen Zustand beschreiben könnten.

»Trink einen Schluck«, sagte Patrick und schob ihm das Glas näher hin. »Ich glaube, Sie verschwinden jetzt lieber.«

»Aber gerne doch!«

Und dann verschwand Julia. Aus der Küche, aus dem Sinn? Schröder atmete auf. Diese Julia würde sich wie eine Fata Morgana auflösen und der Spuk wäre vorbei.

»Schau nach, ob sie weg ist«, sagte er leise, aber fest, auf dem Weg der Besserung. Patrick, das Telefon in der Hand, sah ihn entgeistert an.

»Erstmal rufe ich einen Krankenwagen.«

»Nein!« Schröder erfasste Panik. »Geh und sieh nach!«

Patrick steckte das Handy in die Hosentasche, schnaubte Flüche und lief in den Laden. Schröder lehnte sich zurück, lauschte. Das reichte nicht. Er wollte sicher sein. Also stand er auf, hielt sich am Tisch fest, am Stuhl, dem Küchenschrank und endlich an der Tür. Er wankte über den Hausflur zum Hintereingang des Ladens. Julia stand noch da, einen Silberleuchter in der Hand. Wie konnte es dieses rotblonde Haar, diese blauen Augen, fast zu groß für das zartgeschnittene Gesicht, und diese Pose, das Kinn kampflustig vorgeschoben, noch einmal geben? Noch einmal? Wirrkopf!, schimpfte Schröder und lehnte sich an die Mauer, sodass er Julia nicht mehr sehen musste.

»Also zum letzten Mal, was haben Sie zu Schröder gesagt?«, fragte Patrick, als sei er berechtigt, Julia ins Verhör zu nehmen.

»Und ich sage zum letzten Mal: Nichts!«, antwortete Julia. »Es tut mir leid für Ihren Vater.«

»Er ist nicht mein Vater. Also nicht wirklich, aber sowas wie«, unterbrach Patrick. »Schröder ist nicht der Mann, der einfach so zusammenbricht. Er ist noch nie zusammengebrochen.«

Patricks Stimme klang besorgt. Schröder hörte ihn einige Schritte gehen. Was machte er? Griff er die Frau an? Er wollte nachsehen – wagte es aber nicht.

»Geben Sie mir einfach den Kerzenleuchter«, forderte Patrick.

»Ich klau ihn schon nicht!«, fauchte Julia und stellte den Leuchter mit hörbarem Nachdruck ab.

»Entschuldigen Sie«, sagte Patrick beschwichtigend. »Ich wollte Sie nicht erschrecken oder so. Ich bin nur erschrocken, weil Schröder die Beständigkeit in Person ist. In dem Zustand habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Dann gehe ich jetzt lieber, bevor noch mehr passiert. Wobei ich nicht weiß, was das alles mit mir zu tun haben soll. Ich hoffe, Ihr Irgendwie-Vater erholt sich schnell wieder«, sagte sie.

Schröder hörte die Ladenglocke. Diese Julia würde gleich verschwinden.

»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, rief sie laut, als wollte sie, dass er es hörte. Schröder hätte Julia am liebsten eigenhändig über die Schwelle auf den Gehweg geschoben und hinter ihr die Tür verrammelt. Warum dauerte es so lange, bis die Ladenglocke ein zweites Mal anschlug und sich die Tür schloss? Was gab es da noch zu sagen? Lass sie gehen, Patrick. Diese Art Frau bringt Unglück!

Endlich tauchte Patrick im Hausflur auf.

»Was machst du denn da? Du solltest dich ausruhen.«

»Ich wollte sicher sein, dass sie weg ist.«

»Sie kommt wieder«, sagte Patrick. »Sie meinte, sie sei gar nicht wegen des Ladens gekommen, sondern wegen dir.«

Schröder wankte und Patrick griff ihm schnell unter die Arme, um ihn in die Küche zu führen.

»Was will sie?«

»Sie sucht jemanden. Mehr weiß ich nicht. Vielleicht geht es um ein Erinnerungsstück. Aber du musst nicht mit ihr sprechen, wenn es dir noch nicht besser geht. Das lässt sich sicher verschieben.«

Schröder murmelte Flüche vor sich hin, während er sich auf Patrick gestützt auf die Couch im Salon legte.

Kapitel 3

»Wenn Sie bitte hier warten würden, der Chef kommt jeden Augenblick«, sagte die Chefsekretärin der Gerlach Bau GmbH, als sie Julia in einen Konferenzraum führte. »Wollen Sie etwas zu trinken? Wasser? Kaffee?«

Nach den Erlebnissen in der Louisenstraße war Julia eher nach einem Schnaps zumute. Sie lehnte dankend ab, woraufhin sich die Sekretärin mit einem professionellen Lächeln zurückzog. Nach einem Blick aus dem Fenster auf das Firmengelände, wo in strenger Ordnung Baumaterialien und Geräte lagerten, setzte sie sich an den langen Besprechungstisch. Hoffentlich taucht Sebastian Gerlach bald auf, dachte Julia. Sie hasste es, in einer nüchtern eingerichteten Warteschleife abgestellt zu sein. Dabei fühlte sie sich wie die Sechzehnjährige, als sie in zerrissenen Jeans, oversized Shirt und Springerstiefeln mit zerzausten Haaren in den Hochglanzräumen des Bankhauses Kellermann-Schäfer auf ihren Vater gewartet hatte. Regelmäßig war sie sich immer wie ein störender Staubfussel im reibungslosen Gefüge der Geschäftswelt vorgekommen. Denn obwohl ihre Besuche mit Karsten Schäfers Assistentin abgesprochen und in seinen Terminkalender eingetragen gewesen waren, hatte Karsten Schäfer Julia immer warten lassen. Jedes Meeting, jede Vertragsverhandlung, jede Bilanz war ihm wichtiger gewesen als die seltenen Besuche seiner unehelichen Tochter. Und Julia hatte gewartet. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, wenn sie ihren Vater wenigstens ab und zu hatte sehen wollen. Ihre Eltern hatten sich getrennt, noch bevor sie geboren worden war. Zwischen ihnen war nur eine flüchtige Studentenliebe aufgeflammt. Außer gelegentlichen Gespräche über Julia hatten ihre Eltern sich nichts zu sagen gehabt.

---ENDE DER LESEPROBE---