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Patrick Mehler, ein erfolgreicher Anwalt, sieht eine glückliche Zukunft mit der Reisefotografin Julia vor sich. Doch als Alex, sein ehemaliger Pflegebruder, in seiner Kanzlei auftaucht, wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Alex wird des Drogenhandels beschuldigt – und bittet Patrick um Hilfe. Um seine Unschuld zu beweisen, muss Patrick sich seiner eigenen Vergangenheit stellen und alten Wunden begegnen. Gefangen in einem Strudel aus Erinnerungen und Konflikten, zieht er sich von Julia zurück – ausgerechnet jetzt, wo sie ihn mehr denn je braucht. Wird er den Mut finden, sich seinen Dämonen zu stellen, bevor er die Liebe seines Lebens verliert? Gleichzeitig kämpft der eigenbrötlerische Antiquitätenhändler Robert Schröder mit einer rätselhaften Entdeckung. Ein Erinnerungsstück eines Kunden wirft Fragen auf, die ihn nicht loslassen. Doch seine größte Sorge gilt seinem Sohn Patrick. Kann er ihm in dieser schweren Zeit helfen und einen Weg aus der Krise weisen? Nach dem großen Erfolg von Der Erinnerungsladen geht die bewegende Geschichte der Bewohner der Louisenstraße 13 weiter – voller Emotionen, Geheimnisse und der Kraft der Vergangenheit. Die Feel-Good- Romane der Serie „Louisenstraße 13“ werfen einen lebensbejahenden Blick auf die Themen Liebe, Freundschaft, Erinnern und Vergessen. Dabei kommt die Spannung nicht zu kurz. Wer amüsant geschriebene, tiefsinnige Geschichten liebt und gerne Carsten Henn, Nina George oder Mariana Leky liest, trifft mit diesem Buch eine gute Wahl
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Die Autorin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin.
© 2024, Petra Teufl · petrateufl.com
Petra Teufl, Kleinfeld 5a, 93055 Regensburg
Lektorat: Ursula Hahnenberg · Büchermacherei · buechermacherei.de
Satz u. Layout / e-Book: Gabi Schmid · Büchermacherei · buechermacherei.de
Covergestaltung: OOOGrafik · ooografik.de
Bildquellen: #406142508 | AdobeStock
978-3-757-98494-6
Die Louisenstraße leuchtete in der Herbstsonne. Die Linden entlang beider Straßenseiten glichen filigranen Gestellen für unzählige Goldplättchen. Herrlich! So liebte Immobilienmakler Reinhold Hecht seine Straße. Er schob die Hände in die Manteltaschen und spazierte, wie jeden Monatsanfang, die eine Seite der Louisenstraße rauf und die andere zurück.
Sein Blick wanderte stolz über die Fassaden der Häuser Nummer 4 und 6. Deren kürzlich abgeschlossene Renovierung hatte die neoklassizistischen Wohnhäuser in Schmuckstücke verwandelt. Im Handumdrehen hatte sein Büro die Wohnungen hochpreisig vermieten können. Jetzt war das, was er vor vielen Jahren mit dem Erwerb des Hauses Nummer 15 begonnen hatte, vollendet. Die Louisenstraße war in der Hand seines Immobilienbüros. Zumindest fast. Spätestens in der Mitte der Straße konnte Hecht es nicht mehr ignorieren. Haus Nummer 13, der Schandfleck der Straße. Das schmale, vom Straßenstaub ergraute Haus, das zwischen die wuchtigen Wohnriegel hineingeschoben zu sein schien, wirkte auf Hechts Gemüt, wie ein ständig bohrender Dorn. Wie oft hatte er versucht, dem alten Schröder den Kasten abzukaufen? Sehr oft! Aber Schröder war ein Sturkopf.
»Guten Tag Frau Wimmer«, grüßte er eine Frau um die sechzig in Kittelschürze und Pantoffeln. Hochkonzentriert fegte sie einzelne Blätter vor dem Hauseingang zusammen.
»Herr Hecht, lange nicht gesehen.« Frau Wimmer unterbrach sofort ihre Arbeit. »Machen sie wieder ihren Spaziergang?«
Hecht aktivierte sein Verkäuferlächeln und absolvierte pflichtschuldig eine Runde höflicher Konversation, bevor er auf die Nummer 13 deutete. »Gibt es etwas Neues dort drüben?«
Frau Wimmer schaute nachdenklich über die Straße zum Schaufenster des Antiquitätengeschäfts. »Also, in den letzten Monaten nicht. Die Renovierungen scheinen auch fertig zu sein. Endlich blockieren die Transporter von der Baufirma nicht mehr unsere Parkplätze.«
»Ach ja, Gerlach Bau«, murmelte Hecht vor sich hin. Die wollte er auch noch unter die Lupe nehmen. Offensichtlich ging da was nicht mit rechten Dingen zu. Wie sonst hätte sich Schröder eine Baufirma leisten können? Seine Mieterin stupste ihn am Arm und raunte verschwörerisch: »Seit der Laden so hübsch aussieht, war ich auch mal drin. Diese junge Frau, die seit dem Sommer im Haus wohnt, Julia heißt sie, hat mich bedient. Die ist ja wirklich sehr nett.«
»Jetzt hat der alte Schröder also mehr Kunden als früher, was?«
»Aber ja! Stellen Sie sich vor, der hat mich neulich auf der Straße gegrüßt. Also gesagt hat er nichts, aber er hat mir zugenickt. Der Mann sieht auch wieder gesünder aus. Der hat sich irgendwie verändert.« Frau Wimmer kehrte einige Blätter zusammen und kicherte vor sich hin. »Vielleicht ist er in die Julia verliebt.«
Also solche Spekulationen gingen Hecht dann doch zu weit.
»Das Schild neben der Haustür ist aber neu, nicht wahr?«, fragte er, wobei er die Augen zusammenkniff um die Schrift zu entziffern.
»Ja, stimmt. Das ist für die Kanzlei vom Mehler. Anscheinend hat der jetzt erweitert. Platz ist ja genug im Haus.«
Hecht hörte mit scheinheiliger Freundlichkeit zu. Dabei lag ihm ein saftiger Fluch auf der Zunge. Denn insgeheim hatte er gehofft, Robert Schröder würde langsam altersschwach und senil, so dass er für seine Kaufangebote empfänglicher wäre. Nichts da! Anscheinend blühte der alte Dickschädel noch einmal auf.
»Und wissen Sie, wer hin und wieder zu Besuch dort drüben ist?« Frau Wimmer beugte sich wieder zu Hecht, als verrate sie ein Geheimnis. Er schüttelte den Kopf. »Nein, wer denn?«
»Dieser Bankchef, der manchmal in der Zeitung steht. Also nicht von der Sparkasse oder so. Sondern der mit seiner eigenen Bank. Der fährt vor wie ein König. Dicke Limousine und Chauffeur.«
»Kellermann-Schäfer? Sind Sie sicher?«
»Aber ja doch.«
»Was will der denn da? Will er das Haus kaufen?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Frau Wimmer entgeistert und schob den Besen energisch über die Gehplatten.
Das Gespräch hatte Hecht die Laune verdorben. Er verabschiedete sich und schritt weiter seine Straße ab. Ob er eines Tages den Grundbucheintrag für die Nummer 13 zu seinen Akten heften würde? Als Hecht die Louisenstraße überquerte um an der anderen Seite zu seinem SUV zurück zu schlendern, hatte sich seine Resignation gelegt. Natürlich, wenn er geduldig die Lage beobachtete, ein wenig herumschnüffelte und einige juristische Winkelzüge vollzog, würde er es schaffen.
»Donald Duck oder Mickey Mouse?« Patrick hielt der Besucherin zwei Kaffeebecher entgegen, auf denen jeweils in knalligen Farben ein Porträt der Comic Figuren prangte.
Die dezent geschminkte Mittfünfzigerin im grauen Kostüm und weißer Bluse, die Haare zu einem Nest gewunden und mit Haarspray verklebt, stand in der Mitte seines neuen Büros im ersten Stock der Louisenstraße 13 und hielt mit beiden Händen ihre Handtasche fest. Wie eine Gouvernante, die sich verlaufen hat. Patrick unterdrückte ein amüsiertes Grinsen.
Die Besucherin ignorierte die angebotenen Kaffeebecher. Stattdessen unterzog sie Patrick mit spitzen Lippen und hochgezogenen Augenbrauen unverhohlen einer kritischen Überprüfung. Dann drehte sie sich langsam im Kreis und ließ ihren Blick über die neuen, teilweise noch verpackten Büromöbel sowie die auf dem Boden verteilten Aktenstapel und Kisten wandern.
Patrick kannte dünkelhafte Musterungen nur zu gut. Damit konnte ihn die strenge Dame nicht verunsichern. Kollegen bei Gericht, die ihn nicht kannten, quittierten sein unkonventionelles Erscheinungsbild oft mit abschätzigen Blicken. Nur weil er nicht im Anzug, der inoffiziellen Uniform der Anwälte, zu Verhandlungsterminen erschien, nahmen Kollegen ihn nicht ernst. Sie glaubten, den Erfolg bereits in der Tasche zu haben. Wenn Patrick sich dann mit vorteilhaften Ergebnissen für seine Mandanten von den Kollegen verabschiedete, genoss er deren überraschte Blicke. Den Fehler, ihn zu unterschätzen, machten sie kein zweites Mal.
»Sie sind wohl der Anwalt hier?«, fragte die Besucherin spitz.
»Richtig, ich bin Patrick Mehler.« Er stellte die Becher auf den Schreibtisch und deutete auf die beiden Besucherstühle, die, gestern erst geliefert, noch in Plastikfolie verpackt waren.
»Bitte, nehmen Sie Platz und entschuldigen Sie das Plastik. Ich richte das Büro gerade erst ein.« Patrick setzte sich in den schwarzen Chefsessel hinter dem Schreibtisch. Den hatte er als Erstes ausgepackt.
»Mein Name ist Erika Mommsen«, sagte die Besucherin, während sie den Rock glatt über die Knie zog, bevor sie sich niederließ.
Als hätte es dieser Rock jemals gewagt, ein Fältchen zu werfen, dachte Patrick. Frau Mommsen brachte ihn aus dem Konzept. Die bisherigen Bewerberinnen auf seine Stellenanzeige für eine Bürohilfe waren zu den Vorstellungsgesprächen nach seinem Ermessen normal gekleidet erschienen. Ordentlich, wie man sich eben für eine Bewerbung anzieht. Nicht so gezäumt und gestriegelt wie Frau Mommsen. Oder war sie etwa eine Mandantin? Eine, die sein Anwaltshonorar anstandslos zahlen würde? Vielleicht hätte er sich doch kämmen und rasieren sollen und nicht in ausgebeulten Jeans, verwaschenem Sweatshirt und abgestoßenen Sneaker aus seiner Wohnung über den Flur in die neuen Büroräume schlurfen sollen. Jetzt war es zu spät.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Mommsen?« Patrick kämpfte gegen den Impuls an, sich in die wuchernden Polster seines Sessels zu lehnen und die Beine auf den Schreibtisch zu legen. Angesichts von Mommsens stocksteifer Haltung erschien Lässigkeit unangebracht.
»Nun, ich denke, ich bin hier, um Ihnen behilflich zu sein.« Erika Mommsen nahm den Mickey Mouse Becher und nippte am Kaffee.
»Sie bewerben sich auf die Stelle als Anwaltsgehilfin?«
»Aber nein!« Mommsen lächelte nachsichtig. »Sie könnten mich sicher nicht bezahlen. So wie es aussieht, stehen Sie am Anfang Ihrer Karriere als Anwalt. Direktor Schäfer vom Bankhauses Kellermann Schäfer schickt mich. Er möchte Ihnen unter die Arme greifen. Deshalb hat er mich auf diesen Außeneinsatz beordert. Ich soll Sie beim Aufbau einer sachgerechten Organisation unterstützen.«
Dank seiner trainierten Anwaltsmimik verzog Patrick nicht einen Gesichtsmuskel, war aber äußerst irritiert. Hielt Karsten ihn für einen blutigen Anfänger? Sicher wollte der einflussreiche Bankdirektor ihn nicht beleidigen, indem er Frau Mommsen auf diese Mission geschickt hatte. So wie er Julias Vater kennen gelernt hatte, war dies einer seiner unüberlegten Versuche behilflich zu sein. Bisher hatte er sich damit begnügt, ihm ungefragt Ratschläge zu erteilen, ein Darlehen zur Erweiterung der Kanzlei oder eine Stelle in der Rechtsabteilung des Bankhauses Kellermann Schäfer anzubieten. Patrick hatte Karstens Vorschläge jedes Mal freundlich abgelehnt.
Und jetzt schickte Karsten ohne zu fragen sein Personal. Julia hatte wohl doch recht mit ihrer Behauptung, dass ihr Vater sich solange in das Leben seiner kürzlich erweiterten Familie in der Louisenstraße 13 einmischen würde, bis alles so lief, wie er sich das vorstellte.
»Ich verstehe«, sagte Patrick, wobei er hoffte, eine gewisse Strenge und Souveränität auszustrahlen. »Karsten schickt Sie, um hier für Ordnung zu sorgen. Aber Sie sagten zu Recht, dass ich mir Ihr Gehalt nicht leisten könne.«
»Nun das ist ganz einfach. Direktor Schäfer leiht meine Arbeitszeit und Kompetenz für drei Monate an Sie aus. Bezahlt werde ich vom Bankhaus Kellermann Schäfer.« Mommsen tippelte mit ihren Füßen im Kreis, so dass sich der Stuhl drehte und damit ihr Profiblick für Büroorganisation. Patrick hätte sich zu gern über den Schreibtisch gebeugt, um zu sehen, ob der Rock bei dieser Bewegung kleine Fältchen warf.
»Sehen Sie, als Anwalt muss man auf bestimmte Dinge achten. Sie verstehen?«
»Nein, ich verstehe nicht«, widersprach Patrick leicht verärgert.
Mommsen tippelte weiter, bis sie wieder Patrick gegenübersaß.
»Nun, das fängt bei dem Geschirr an, mit dem Sie Ihren Mandanten den Kaffee servieren.« Sie deutete auf die Becher mit den Comic-Figuren. »Die beiden sind zwar ganz putzig. Aber für einen Anwalt wäre es angemessen, Getränke in Tassen anzubieten. Es sind die kleinen Dinge, die das Erscheinungsbild einer Kanzlei bestimmen. Und genau deswegen schickt mich Herr Schäfer. Wenn alles auf einem ansprechenden Niveau läuft, zieht er in Betracht, Ihre Kanzlei seinen Bankkunden zu empfehlen.«
»Aha.«
»In einer gut funktionierenden Kanzlei strahlt die innere Ordnung nach außen«, referierte Mommsen ungerührt weiter. »Läuft das Getriebe innerhalb der Kanzlei reibungslos, wirkt das auf Mandanten und zieht jene an, die das zu schätzen wissen.«
Patrick lehnte sich zurück und trank aus seiner Donald-Duck-Tasse. Frau Mommsen hatte also den Auftrag ihm, dem kleinen Anwalt, Stil beizubringen. Als wenn sich ein von Karsten vermittelter, gut betuchter Mandant scheuen würde, sich seiner Kanzlei anzuvertrauen. Als wenn Perserteppiche, langbeinige Sekretärinnen, große Fenster mit Ausblick in den Park oder die Höhe des Honorars etwas über die Qualität des Anwalts aussagen würden. Aber so tickten Karstens Bankkunden nun einmal. Sollten sie sich doch mit ihren Rechtsproblemen an Kanzleien aus dem Hochglanzprospekt wenden.
»Frau Mommsen, verstehe ich Sie richtig? Sie haben den Auftrag aus meinem kleinen Büro in der Louisenstraße eine Kanzlei zu machen, die auch in einem der protzigen Hochhäuser am Friedrichsplatz angesiedelt sein könnte?«
»Nun, diese Formulierung hätte ich nicht gewählt, aber Sie bringen es auf den Punkt, Herr Mehler«, bestätigte Mommsen, wobei sie drei Kulis vom Schreibtisch einsammelte und der Größe nach geordnet nebeneinander an die Kante der Schreibunterlage legte.
Patrick beobachtete sie und wusste, dass sich eine Zusammenarbeit, selbst wenn sie zeitlich begrenzt wäre, äußerst anstrengend gestalten würde.
»Es wäre für Sie sicher vorteilhaft«, fuhr Mommsen fort, ohne ihre ordnende Tätigkeit zu unterbrechen, »wenn Sie sich von Herrn Schäfer unter die Arme greifen ließen. Er kann sehr großzügig sein und hat einen ausgeprägten Instinkt für erfolgreiche Investitionen. So gesehen können Sie sich geschmeichelt fühlen.«
Patrick seufzte tief. Er würde Mommsens gestelztes Verhalten keinen einzigen Tag aushalten.
»Frau Mommsen … «, weiter kam Patrick nicht, denn er hörte Schröder durch das Treppenhaus rufen, dass es an der Haustür geklingelt habe. Frau Mommsen reckte ihren Hals wie ein Erdmännchen auf Beobachtungsposten. Ihr Blick verriet, dass sie einen weiteren Vortrag über die Benimmregeln innerhalb einer Anwaltskanzlei für angebracht hielt.
»Entschuldigen Sie«, sagte Patrick schnell. »Die Klingelanlage ist leider defekt.«
»Dieser Zustand ist natürlich untragbar«, stellte Mommsen kopfschüttelnd fest. »Dann gehe ich runter und öffne die Haustür.«
»Nein, danke. Schröder ist im Laden. Der macht das normalerweise.«
»Wer bitte, ist Schröder?«
»Der Besitzer des Antiquitätengeschäfts im Erdgeschoss.«
Mommsen zog eine Augenbraue hoch. »Der Herr in Cordhosen und Holzfällerhemd?«
»Ja.«
»Nun, das ist sicher nett von dem Herrn. Aber er stellt keine angemessene Begrüßung für einen Mandanten dieser Kanzlei dar.«
»Schröder passt für jeden, der in dem Haus ein- und ausgeht«, stellte Patrick nachdrücklich fest. »Er hält sicher auch Ihnen gern die Tür auf, wenn Sie jetzt gehen.«
Um seine Entscheidung zu bekräftigen, stand er auf, nahm den grauen Popeline Mantel vom Haken und reichte ihn Karstens Entwicklungshelferin. Frau Mommsens Hals streckte sich ein weiteres Mal. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass ihre Mission gescheitert war. Kopfschüttelnd und Unverständliches vor sich hin murmelnd, klemmte sie ihre Tasche unter den Arm, nahm ihren Mantel entgegen und stolzierte an Patrick vorbei in den Hausflur.
»Ich hoffe, Sie bereuen Ihre Entscheidung nicht, Herr Mehler«, sagte sie streng, wedelte dann mit der Hand durch die Luft. »Ach, natürlich werden Sie es bereuen! Aber dann stehen Ihr Mentor Schäfer und meine Wenigkeit nicht mehr zur Verfügung.«
Patrick sah Frau Mommsen nach, die mit würdevoller Haltung die Treppe runterging. Er rieb sich nachdenklich über das stoppelige Kinn. Hatte er vorschnell gehandelt? Nein, sicher nicht. Er war bisher bestens zurechtgekommen und auf Mandanten, die mehr auf einen aufgeplusterten Umgangsstil als auf eine fundierte juristische Beratung Wert legten, konnten gut verzichten.
Zufrieden beobachtete Patrick, wie Frau Mommsen sich an die Wand drückte, um einen jungen Mann, der ihr auf der Treppe entgegenkam, vorbeizulassen. Er war sich nicht sicher, ob Mommsen höflich den Weg frei gab oder sich aus Angst möglichst schmal machte. Denn der Kerl wirkte mit seinem halblangen Haaren, zerrissenen Jeans, Lederjacke, Springerstiefel und alles in Schwarz, durchaus einschüchternd. Als dieser Frau Mommsen auch noch kaugummikauend mit »Hi« grüßte, schüttelte diese missbilligend den Kopf und eilte zur Haustür, die Schröder ihr höflich aufhielt. Erst als die Tür ins Schloss gefallen war, wagte Patrick, laut zu lachen.
»Wer war das denn?«, fragte Schröder irritiert.
»Eine Frau Mommsen vom Bankhaus Kellermann Schäfer.«
»So sieht’se aus«, brummte Schröder und verschwand durch die Hintertür in den Laden.
»Und ich bin Alex«, sagte der neue Besucher und schlenderte lässig in Patricks Büro.
Etwas mehr von Frau Mommsens Benehmen hätte diesem Kerl gutgetan. Vor allem, da Alex sich ungeniert in den Chefsessel hinter dem Schreibtisch fallen ließ, sich zurücklehnte und das Natürlichste tat, was man in dieser Sitzposition tun konnte: Er legte seine langen Beine auf der Tischplatte ab.
»Hey!«, stieß Patrick unwirsch aus. »Das ist mein Platz! Deiner ist der da.« Er deutete auf den Besucherstuhl.
Alex sah ihn breit grinsend an, hob betont langsam die Beine an, drehte den Sessel und ließ sie, als wäre es eine Gymnastikübung, in Zeitlupe zu Boden sinken.
Patrick schnappte sich die Becher vom Schreibtisch und trug sie in die Küche. Dieser Alex hatte es faustdick hinter den Ohren. Dem musste man von Anfang an klarmachen, wer hier der Boss war. Patrick stellte amüsiert fest, dass dieser Vorsatz wie eine Anweisung von Frau Mommsen klang. Er zog eine Wasserflasche aus dem Getränkekasten, nahm zwei Gläser aus dem Regal, atmete tief durch, setzte sein ernstes Anwaltsgesicht auf und ging zurück ins Büro.
Alex hockte mit angezogenen Beinen, die Springerstiefel in die Sitzfläche gestemmt, auf einem Besucherstuhl und blies genüsslich eine Kaugummiblase.
»Schuhe runter vom Stuhl!«, befahl Patrick und stellte Gläser und Flasche auf dem Schreibtisch ab.
»Wieso?«, feixte Alex kampflustig. »Ist doch noch Folie drauf.«
Patrick machte murrend eine ungeduldige Handbewegung, was zu seiner Überraschung Wirkung zeigte. Alex stöhnte irgendetwas von Spießertum und Alter, ließ aber seine Füße vom Stuhl gleiten.
»Was kann ich für dich tun, Alex?«, fragte Patrick, als er sich gesetzt hatte.
»Du erkennst mich nicht, was?« Alex griff nach der Wasserflasche, drehte den Deckel ab und goss in beide Gläser ein.
Patrick beobachtete ihn verwundert. Erkennen? Alex? Hatte er jemals einen Alex gekannt? So eine eigentümliche Gestalt wie den Kerl vor ihm, hätte er doch sicher nicht vergessen. Der lange, schlaksige Körperbau, das blasse, längliche Gesicht, das eine schmale Nase und blaue Augen kennzeichneten, wirkten, als wäre Alex einem Comic entsprungen. In Gedanken ging Patrick seinen Aktenschrank durch. Wo tauchte ein Alex auf? In einem Sorgerechtsfall? Einer Strafsache? Ladendiebstahl? Versicherungssache?
»Alex wie? Wie lautet dein vollständiger Name?«
»Alexander Schott! Patrick Mehler, du hast geschworen, mich nie zu vergessen«, erklärte Alex anklagend. »Du hast sogar gesagt, du würdest mich nachholen und auf keinen Fall zurücklassen.« Alex prostete ihm mit dem Wasserglas zu. »Soviel zur Glaubwürdigkeit von Anwälten.«
Patrick spürte, wie ihm das Blut absackte. »Der kleine Alex? Pflegekind bei den Fischers?«
Alex nickte, zwinkerte ihm mit dem rechten Auge zu und da war es Patrick klar. Hundert Mal hatte er mit Alex dieses Zwinkern vor dem Badspiegel bei den Fischers geübt. Er muss damals ungefähr zwölf Jahre und Alex fünf gewesen sein. Der dürre Junge, der ihm gerade bis zur Brust gereicht hatte, musste jeden Gesichtsmuskel verziehen, nur um das rechte Augenlid zu schließen. Patrick hatte sich über seine Fratzen kaputtgelacht, was ihm den Zorn des Fünfjährigen und dessen boxende Fäuste in der Magengrube eingebracht hatte.
Patrick war im Alter von etwa elf Jahren vom Jugendamt beim Ehepaar Fischer als Pflegekind untergebracht worden, nachdem er von einer anderen Familie und aus dem Heim abgehauen war. Rebellion gegen alles und jeden waren Patricks verzweifelte Versuche gewesen, nach dem Tod seiner Mutter irgendwie den Kopf wieder über Wasser zu bekommen. Bei den Fischers war er sogar zweieinhalb Jahren geblieben. Für ihn eine Ewigkeit. Die Pflegeeltern waren gar nicht so übel gewesen. Aber den schmerzenden Riss in Patrick und seine Angst im Leben zu ertrinken, hatten sie nicht lindern können.
Mit Hilfe des kleinen Alex hätte er es wahrscheinlich noch länger in der kleinen Wohnung im Hochhaus C 24 der Konradsiedlung am Stadtrand ausgehalten. Doch dann war Beate Fischer schwanger geworden. Für drei Kinder wäre die Wohnung zu klein gewesen und für eine größere reichte das Geld nicht. Klar, dass Patrick gehen musste. Noch bevor die Sozialarbeiterin vom Jugendamt mit neuen Vorschlägen für seine Unterbringung hatte auftauchen können, war Patrick weg gewesen. Ja, er hatte Alex versprochen, wieder zu kommen. Der Knirps hatte sich die Augen ausgeheult, als er Patrick beim Packen des Rucksacks überrascht hatte. Was hätte er dem Kleinen sonst sagen sollen? Ein halbes Jahr hatte Patrick dann auf der Straße gelebt und war schließlich bei Schröder aufgetaucht und geblieben. In die Konradsiedlung, zu Fischers oder Alex war er nie wieder gegangen.
»Ich habe dich nicht vergessen, Alex«, behauptete Patrick.
Alex zog skeptisch die Mundwinkel nach unten und zog einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Zwischen den Schlüsseln baumelte ein Anhänger mit Plastikelefant.
»Hast du den Gorilla noch?«, fragte Alex und schwenkte den Elefanten hin und her.
Patrick schüttelte bedauernd den Kopf.
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Der Besuch im Zoo, als ich bei den Schlangen stehengeblieben war wegen der dicken Anakonda. Fischers und du habt das nicht gemerkt und seid weitergegangen. Die Fischers waren ganz aus dem Häuschen, weil sie meinten, der Löwe hätte mich gefressen oder so. Du hast mich dann gefunden.«
Alex ließ den Elefanten kreisen, als wollte er Patrick damit hypnotisieren. Aber das half auch nichts. Patrick starrte Alex an, als erzählte er die unglaubliche Geschichte vom blauen Pferd.
»Jedenfalls haben die Fischers mir dann diesen Elefanten und dir einen Gorillaanhänger gekauft«, erzählte Alex weiter. »Große Sache, weil sie sonst nie so spendabel waren. Du hast mich an dem Abend ins Bett gebracht und behauptet, der Gorilla und der Elefant würden sich immer wieder finden, weil sie so groß seien und so laut brüllen könnten, dass sie sich durch den ganzen Urwald hören würden.«
»Das weißt du noch?« Patricks Mund fühlte sich an, als habe er einen Löffel Sand gegessen. Wie lange war das her? Ein Leben oder mehrere?
»Natürlich!« Alex lächelte ihn an. »Du warst mein Held. Leider ziehen Helden irgendwann weiter.«
Patrick wich seinem Blick aus, wie damals, bevor er das Treppenhaus von C 24 runtergeschlichen war. »Das ist lange her«, stellte er fest. »Es tut mir leid. Ich war dreizehn, da weiß man nicht viel vom Leben.«
Alex sah ihn aufmerksam an und lächelte dann so vorbehaltlos freundlich, dass es Patrick die Sprache verschlug. Er trank einen Schluck, bevor er fragte, ob Alex ihn wegen der alten Zeiten besuche.
Alex schüttelte den Kopf, zog einen Zettel aus der Brusttasche der Lederjacke und reichte ihn Patrick über den Tisch.
»Ich habe Probleme mit der Polizei«, sagte er. »Mama Fischer meinte, du seist Anwalt geworden.«
»Woher weiß sie das denn?«
»Sie hat mal einen Anwalt gesucht und deinen Namen auf so einer Liste gefunden. Hat es gleich in der ganzen Nachbarschaft herumerzählt, so stolz war sie auf dich.«
Patrick faltete das Blatt auseinander, erleichtert, sich hinter der Wand der Professionalität verstecken zu können. Das Schreiben kam von der Kripo, unterzeichnet von Hauptkommissar Precht. Der schon wieder. Patrick las, dass Alex zu einer Zeugenaussage auf das Präsidium zitiert wurde. Als Grund reihten sich Paragraphen aneinander wie Chiffren einer Geheimsprache. Abgeschlossen wurde die Reihe mit dem Kürzel BtMG, Betäubungsmittelgesetz. Patrick hob den Blick und heftete ihn kritisch in Alex Gesicht.
»Drogen? Echt jetzt?«
»Hey! Du hast kein Recht, mich so anzuschauen!«, konterte Alex aufgebracht.
Patrick hob als Friedenszeichen sofort die Hände. Alex hatte recht. Aber bei Drogendelikten war er eben empfindlich.
Ganz am Anfang seiner Anwaltstätigkeit hatte er hin und wieder einen Drogenfall als Pflichtverteidiger übernommen. Sobald er sich das leisten konnte, hatte er diese Fälle abgelehnt. Für eine Erklärung seines Widerwillens gegen diese Kategorie von Straftaten brauchte er keinen Therapeuten. Sie lag auf der Hand. Seine Mutter war drogenabhängig gewesen und an einer Überdosis Heroin gestorben. Er las noch einmal Prechts Vorladung. Doch die angegebenen Paragraphen wirkten wie eine willkürliche Aneinanderreihung möglicher Delikte.
»Worum geht es? Da steht nur, du sollst als Zeuge befragt werden.«
Alex beugte sich über den Tisch und schnappte sich das Schreiben. »Keine Ahnung!«
»Gib den Brief wieder her!«
Patrick streckte fordernd die Hand aus.
»Wozu?«
»Soll ich dir helfen oder nicht?«, fragte Patrick gereizt. Im nächsten Moment musste er schmunzeln.
»Was lachst du? Ist nicht lustig so ein Wisch«, fauchte Alex und wedelte mit dem Papier.
»Wir streiten wie damals«, bemerkte Patrick amüsiert, lehnte sich über den Tisch und entriss Alex die Vorladung.
»Ich will nur wissen, ob ich dahin gehen muss«, sagte Alex und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, zog die Beine an, doch bevor die Springerstiefel die Sitzfläche erreichten, ließ er sie zurück auf den Boden sinken.
»Nein, musst du nicht«, antwortete Patrick ernst.
Alex sprang erleichtert auf. »Na dann, ist ja alles geklärt!«
»Setz dich!«, forderte Patrick und deutete auf den Besucherstuhl.
Nachdem sich Alex stöhnend zurück in den Sitz hatte plumpsen lassen, referierte Patrick in geschulter Anwaltsmanier über die Vor- und Nachteile, so einer Vorladung nachzukommen.
Alex zupfte an einer Haarsträhne und verdrehte die Augen.
»Wir gehen zu Hauptkommissar Precht«, fasste Patrick seine Argumentation zusammen. Erst als er Alex ängstlichen Blick bemerkte, fügte er aufmunternd hinzu: »Wenn du nicht weißt, zu welcher Sache du als Zeuge befragt werden sollst, kannst du nicht rechtzeitig reagieren, wenn es plötzlich gegen dich geht.«
»Ich hab aber nichts gemacht. Was soll also passieren?«
»Glaub mir, so schnell kannst du nicht schauen und plötzlich dreht sich der Wind gegen dich. Keine Sorge, du musst auch nichts sagen. Ich begleite dich.«
»Echt jetzt?« Alex strahlte ihn an.
Spätestens bei dem Gesicht hätte Patrick ihm sowieso nichts abschlagen können.
Schröder setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, als er die Wohnung im ersten Stock betrat, die einmal die Erinnerungswohnung gewesen war. In zwei Zimmer war Patrick mit seiner Kanzlei gezogen, im dritten lagerten die Erinnerungsstücke. Schröder wusste, welche Bodendielen knarzten und wollte nicht stören. Der ganz in schwarz gekleidete Kerl, oder junge Mann, oder wie immer er so einen punk-artig gestylten Typen bezeichnen sollte, saß bei Patrick im Büro.
Wie lange war es her, dass solche Gestalten in der Louisenstraße ein- und ausgegangen waren? Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. In den ersten Jahren, nachdem Patrick sich bei ihm niedergelassen hatte, war er hin und wieder mit einer Horde Jungen und Mädchen aufgetaucht, die ähnlich abgerissen dahergekommen waren. Sie hatten sich in eine der leerstehenden Wohnungen im Haus verzogen, um abzuhängen. Wie sich dieses Abhängen gestaltete, hatte Schröder damals nicht wissen wollen. Solange Patrick aufrecht geradeaus gehen und sich verständlich artikulieren konnte, solange er weder Schule noch Haushalt vernachlässigte, hatte Schröder nicht nachgefragt. Wichtiger war ihm gewesen, dass sein Pflegesohn sich bei ihm aufgehoben fühlte.
Warum Schröder, der weder von anderen noch von sich selber als netter Mensch bezeichnet worden war, sich um den verloren wirkenden Jungen hatte kümmern wollen? Seine Antwort gegenüber der Mitarbeiterin des Jugendamts war ein weitschweifiges Plädoyer für soziale Verantwortung gewesen. Die Sozialarbeiterin hatte ihn zwar ungläubig angeschaut, seine Erklärung aber in Patricks Akte notiert und einen Stempel unter die Angelegenheit gedrückt. Sich selber gegenüber musste Schröder zugeben, auf Patricks trotzige Entschlossenheit reagiert zu haben. Auch der verlorene Ausdruck im Gesicht des Jugendlichen hatte ihn gerührt. Das behielt er allerdings für sich. Musste keiner wissen, dass er für einen kurzen Augenblick weich geworden war.
Es hatte jedenfalls nicht dazu geführt, dass er ausgesprochen einfühlsam oder verständnisvoll mit dem jungen Kerl umgegangen war. Schröder hatte seine Aufgabe darin gesehen als Leitplanken entlang des unbefestigten Lebensweges des Jungen zu fungieren. Und Leitplanken sollten immer einen gewissen Abstand zum Fahrzeug haben. Patrick konnte entscheiden, ob er sich an ihnen orientieren oder dagegen krachen wollte. Je nachdem hatten Schröder und sein Pflegesohn eine friedliche oder eine kämpferische Zeit in der Louisenstraße gehabt.
Im Gegensatz zu Patrick und seinen Freunden von damals hatte der junge Besucher nicht nach ungepflegtem Körper und gammeligen Klamotten gerochen. Der war wohl die Ausgabe eines Edelpunks. Eine dunkle Geschichte hing ihm dennoch an. Das hatte Schröder gleich an Miene und Körperhaltung gesehen. Eine Geschichte, die der Typ vielleicht einmal mit einem Erinnerungsstück bei ihm abgeben würde. Schröder hoffte, dass er sich irrte. Nicht jedem Erinnerungsstück hing eine tragische Geschichte an und nicht jeder Fall für einen Anwalt hatte mit Leid und Verbrechen zu tun. Aber viele – nein – die meisten!
Mürrisch vor sich hin grummelnd schloss Schröder die Tür zum Zimmer mit den Erinnerungsstücken und schaltete das Licht an. Heute war einfach kein Tag für sonnige Gedanken. Kein Wunder, das Wetter zwang einem geradezu die schlechte Laune auf – der Himmel grau und ein nicht enden wollender Nieselregen. Schon beim Aufstehen war er über seine Schuhe gestolpert. Dann hatte er die Zeitung so ungeschickt aus dem Briefkasten gezogen, dass die Seiten auseinandergefallen und zu Boden geglitten waren. Im Laden hatte er ein Glas zerbrochen und einen dieser lästigen Kunden einfach stehen gelassen.
Schröder setzte sich in den ledernen Ohrensessel in der Mitte des Zimmers und sah sich um. Das war also von der Erinnerungswohnung übriggeblieben – ein Erinnerungszimmer. Die Verkleinerung rührte nicht daher, dass er weniger Erinnerungsstücke lagerte, pflegte und ihre Geschichten sorgsam konservierte. Die Objekte waren jetzt nur in Seidenpapier gewickelt, gepolstert und katalogisiert in Kisten verpackt. Rein äußerlich nahmen die Erinnerungsstücke deutlich weniger Platz in Schröders Leben ein als vor vier Monaten, bevor Julia in seinem Laden aufgetaucht war. Schröder kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Den Moment, als sie das Foto von Isabelle Kellermann-Schäfer und ihm als strahlendes Liebespaar in Italien auf die Theke gelegt hatte, würde er wohl nie vergessen. Schröder lächelte versonnen vor sich hin. Er konnte ja den Schlüssel vergessen, oder seinen Geldbeutel, oder die Schuhe zu wechseln – aber nie wieder würde er so wichtige Ereignisse vergessen, wie seine Liebe zu Isabelle und wie er sie zerstört hatte oder den Moment als er erkannt hatte, dass Karsten Schäfer sein Sohn und Julia Pfeiffer seine Enkelin waren.
Er betrachtete die entlang der Wände aufgestapelten Plastikkisten. »Eigentlich ganz praktisch«, murrte Schröder, um wenigstens etwas Freundliches von sich zu geben. Julia hatte darauf bestanden, die Kisten in einer Größe anzuschaffen, die er auch im gefüllten Zustand bequem tragen konnte. Sehr umsichtig, stellte Schröder regelmäßig fest, wenn er eine Kiste in seine Werkstatt hinuntertrug, um die darin verpackten Erinnerungsstücke für die turnusmäßige Behandlung auszupacken. Außerdem waren die teilweise sehr alten Objekte auf diese Weise besser vor Licht, Luft und Feuchtigkeit geschützt.
Vor ihrer Archivierung hatte er die Erinnerungsstücke offen in den Regalen gelagert, die jedes Zimmer der Erinnerungswohnung gefüllt hatten. Ihm fehlte der Anblick der vielfältigen Gegenstände. Wenn er die Räume betreten hatte und die Regale abschritt, hatte er seinen Blick von einem Objekt zum nächsten schweifen lassen. Er hatte nachgespürt, welches Erinnerungsstück Pflege bedurfte oder welche Geschichte er einem Kunden im Antiquitätengeschäft anbieten konnte. Auch der Geruch nach Vergangenem, das Gemisch der Aromen von Holz, Metall, Leder, Papieren, Stoffen, Polier-und Putzmittel und Staub in stockender Luft, war verschwunden. All das fehlte ihm.
Was hatte er stattdessen? Die Wände frisch gestrichen, das Fenster geputzt, die Kisten an den Wänden aufgereiht und gestapelt. Übersichtlich irgendwie. Schröder und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Und wo war jetzt dieses Gemälde verpackt, wegen dem er gekommen war? Er suchte die rote Mappe und entdeckte sie auf einem Tischchen, in dessen Schublade einmal Nähutensilien verstaut gewesen waren. Er blätterte die Seiten durch. Nach Abholnummern in aufsteigender Folge geordnet war jedes Erinnerungsstück gelistet und mit Stichworten beschrieben.
Porträt eines jungen Mannes,
abgegeben September 2002,
Abholnummer 23.56.856; Kiste 42
Als Schröder das 35 cm mal 20 cm große Bild in einem schlichten, vergoldeten Rahmen aus der Schutzverpackung gewickelt hatte, stellte er es an die Wand gelehnt auf eine Kiste. Er setzte sich wieder und betrachtete das Gemälde eines an einen Türstock lehnenden jungen Mannes, der ein weißes, modern geschnittenes Hemd mit Jeans und Turnschuhen trug. Sein Haar war gerade so durcheinander, dass man es noch als Frisur bezeichnen konnte. In der einen Hand hielt er ein klobiges Mobiltelefon der ersten Generation, in der anderen einen Stapel Papier. Das Gesicht verriet eine durchlässige Feinfühligkeit, wirkte verletzlich, und dennoch strahlte der Blick eine Bestimmtheit aus, die den Betrachter neugierig machte. Ein Mann der Neunziger. Bildaufbau, Pose sowie Farbwahl waren dagegen in einem Malstil, der an die Gemälde zu Beginn des 20ten Jahrhunderts erinnerte. Ein zart gehauchter Realismus nicht weit vom Impressionismus entfernt. Ein Mann der Moderne gemalt im Stil des Beginns seines Jahrhunderts. Diese eigentümliche Mischung, hatte Schröder schon vor zwanzig Jahren beeindruckt, als der porträtierte Mann ihm das Gemälde anvertraut hatte.
Zehn Jahre, nachdem er gemalt worden war, hatte dieser Mann als Kunde mit Schröder in dessen Salon gesessen. Die unschuldige Offenheit der Jugend, die in das Gesicht des Kunden gemalt worden war, hatte sich verloren. Schröder hatte bei der Übergabe des Erinnerungsstückes einem Mann gegenüber gesessen, dessen Miene von Traurigkeit und einem bitteren Zug um den Mund geprägt gewesen war.
»Erste Regel«, hatte Schröder dem Kunden erklärt, »keine Namen. Erinnerungen werden anonym erzählt und genauso bewahrt.«
Der Mann hatte an seinem Tee geschlürft und dann gemurrt, dass es für ihn gar keinen Sinn mache, die Geschichte zu diesem Bild ohne die Namen zu erzählen. Erst als Schröder meinte, der Kunde könne gern sein Bild nehmen und wieder gehen, gab dieser nach.
»Von mir aus, dann lasse ich die Namen weg. Ist auch egal. Ich will das Bild ja nur abgeben.«
»Dann können Sie es auch in einem Schließfach lagern oder in einem Keller. Schmeißen das Bild in den Fluss oder verbrennen Sie es. Wenn Sie es mir übergeben, dann nur mit seiner Geschichte. So arbeite ich.«
»Verstehe ich nicht«, entgegnete der Mann trotzig. »Sie sind doch Antiquitätenhändler, oder nicht? Kennen Sie denn alle Geschichten von dem ganzen Krimskrams in Ihrem Laden?«
Schröder hatte milde gelächelt, sich zurückgelehnt und dem Kunden seine Arbeit mit Erinnerungsstücken erklärt. Ein Gegenstand, mit dem eine persönliche Geschichte verbunden ist, sei ein Erinnerungsstück. Ein Gegenstand, dessen Geschichte verloren gegangen ist, sei eine Antiquität. Er kaufe und verkaufe Antiquitäten und könne in dem Rahmen das Bild erwerben, um es weiterzuverkaufen. Daran habe er aber kein Interesse, weil er nicht mit Bildern handele, sondern mit Möbeln und Kleingegenständen.
»Wollen Sie eine Erinnerung in Obhut geben oder nur ein Bild loswerden?«, hatte Schröder gefragt.
Die Miene des Kunden hatte sein inneres Ringen widergespiegelt. Schließlich rieb er sich mit den Händen über das Gesicht.
»Na gut, von mir aus. Dann eben auf Ihre Tour«, sagte er. Sein Blick verlor sich in seinem Porträt, als er erzählte: »Meine Familie betreibt seit drei Generationen ein inzwischen international agierendes Pharmaunternehmen.«
»Stopp! Keine Namen oder erkennbaren Attribute, bitte. Ich bestehe auf Anonymität! Erzählen Sie nur von sich. Welche Erinnerung wollen Sie von mir aufbewahrt wissen?«, hatte Schröder eingeworfen.
»Also gut, nochmal. Das Bild wurde vor zehn Jahren gemalt, als ich achtzehn Jahre alt war. Das Alter, in dem man in meiner Familie als vollwertiges Mitglied gilt. Zumindest, wenn man als Junge auf die Welt kommt. Mädchen werden erst ernst genommen, wenn sie verheiratet sind. Alle Einzelporträts der Familienmitglieder sind in meinem Elternhaus zu einem Ensemble zusammengestellt. Drei Generationen von Kindern und Eltern, wie ein Mosaik. Meines habe ich herausgenommen. Da ist jetzt ein leerer Fleck an der Wand. Die Bilder wurden alle in dem Stil der Porträts der ersten Generation von 1910 gemalt. Die Maler hatten da genaue Anweisungen und praktisch keine Freiheit bei der Gestaltung. Der moderne Mensch in der Tradition der Familie oder so ähnlich soll wohl die Botschaft sein. Egal. Vor zehn Jahren also, wusste ich noch nichts von dem, wie unsere Firma ihr Geld verdient. Ich war vertrauensselig, naiv und dumm.«
»Sie waren jung, das ist alles.«
»Von mir aus. Jedenfalls nach einem Chemiestudium trat ich in die Firma ein und entdeckte zufällig Forschungsunterlagen, die mich erschütterten. Ich versuchte, die miesen Methoden meines Vaters und der Geschäftsführung öffentlich zu machen. Ich ging zur Polizei und zur Presse, doch mein Vater verstand es, beide Wege zu blockieren. Jetzt ziehe ich die Reißleine und verschwinde, fange irgendwo neu an. Mit der Firma und ihren Machenschaften will ich nichts zu tun haben.«
Schröder hatte auf seine gewohnte Art zugehört. Dabei nahm er das Erinnerungsstück in die Hände und studierte es eingehend. Während der Kunde seine Geschichte erzählte, prägten sich ihm sowohl die Worte ins Gedächtnis als auch jede Einzelheit des Objektes. So verwebten sich für ihn die Geschichten mit den Erinnerungsstücken.
»Sie kriegen von mir eine Abholnummer«, hatte Schröder erklärt, als der Kunde fertig erzählt hatte. »Wer immer mir dieses Schildchen überbringt, bekommt den Gegenstand und seine Geschichte von mir. Was genau soll ich demjenigen irgendwann erzählen?«
»Ich will, dass Sie demjenigen erzählen, dass ich mich habe unterkriegen lassen, dass ich versagt habe. Ich habe es nicht geschafft, meinen Vater zu stoppen.« Der Kunde hatte Schröder sein Porträt abgenommen und eine Weile betrachtet. »Nein, das ist es nicht«, hatte er dann leise gesagt. »Das Bild zeigt, wer ich einmal war. Ein Junge, der an sich, seine Familie und an das Gute in der Welt glaubte.«
Er hatte lautlos gelacht, als machte er sich über sein junges Ich lustig. Dann hatte er Schröder ernst angesehen und gesagt: »Ich will diesen Zustand nicht vergessen. Ich befürchte, dass mich die Niederlage in der Auseinandersetzung mit meinem Vater zu einem misstrauischen Ekel macht. Ich bin nicht blöd. Ich weiß, dass man Erlebnisse nicht abstreifen kann wie eine Schlangenhaut. Aber wenn ich mein gutgläubiges Ich, das auf dem Bild porträtiert wurde, von Ihnen aufbewahren lasse, dann wäre ich ruhiger. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Ganz schön naiv, nicht wahr?«
»Woher soll ich das wissen?«, hatte Schröder grimmig geantwortet. »Bin ja kein Lebensberater oder sowas.« Dann hatte er das Bild als Erinnerungsstück angenommen, dem Kunden die Abholnummer gegeben und ihn rausgeschmissen, zwar mit höflichen Worten aber eindeutig.
In den Sessel gelehnt, erinnerte sich Schröder an die Starre, in die ihn die Erzählung des Kunden versetzt hatte. Ein sehr dünner Faden in ihm hatte wohl geahnt, dass er sich selber in einem Zustand des dumpfen Vergessens befunden hatte. Heute würde er anders mit dem jungen Kunden reden. Jetzt, mit der wiedergefundenen Erinnerung an seine Liebe zu Isabelle und daran, wie nach der Tragödie über Nacht nach Argentinien abgehauen war, würde er sagen, dass Davonlaufen keine Lösung sei. Er würde sagen, wenn man einen Haufen Porzellan zerschlag, man den Scherbenhaufen besser wegräume, auch wenn man sich an den scharfen Kanten der Scherben schneide. Aber, wie er dem Kunden damals schon erklärt hatte, war er kein Lebensberater, sondern nur der Lagerist fremder Erinnerungen.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus den Gedanken.
»Schröder?« Julia steckte den Kopf durch den Türspalt.
»Komm rein«, brummte er.
»Störe ich dich? Ich wollte eigentlich zu Patrick ins Büro, aber der scheint Besuch zu haben«, erklärte sie und ließ sich auf dem Rand einer Kiste nieder.
»Warst du wieder geschäftlich unterwegs?«, fragte Schröder angesichts des eleganten Hosenanzugs, den Julia trug.
Sie blies hörbar Luft aus. »Und wie!«, stöhnte sie. »Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Oma Belle nicht die Bohne dankbar dafür bin, dass sie mir testamentarisch den Vorsitz für die Kellermann-Stiftung vermacht hat?«
»Sehr oft«, antwortete Schröder schmunzelnd. »Ich glaube, ich habe dir jedes Mal vor Augen geführt, dass du laut Satzung der Stiftung nach einem halben Jahr den Vorsitz abgeben kannst. Somit musst du nur noch ein paar Wochen durchhalten.«
Julia äffte Schröders belehrenden Ton nach, während sie die Nadeln aus dem Haar zog. Der strenge Dutt zerfiel in eine rotblonde Mähne. Schröder lenkte seinen Blick zurück auf das Porträt. Julia mit langem Haar – das versetzte ihm immer noch einen Stich in der Herzgegend. Wie ähnlich sie damit ihrer Großmutter Isabelle sah. Da könnte er glatt an die Existenz mythischer Gestaltwandler glauben.
»Zurzeit bereiten wir den Jahresempfang der Stiftung vor. Eine höchst komplizierte Angelegenheit«, erzählte Julia. »Allein die Einladungen!« Sie hob mahnend den Zeigefinger und fuhr in der Manier einer Dozentin fort: »Du darfst nicht jeden einladen, darfst aber auch niemanden vergessen. Und Oma Belles letzte Einladung als Vorlage noch einmal zu benutzen, ist unsäglich. Jedenfalls meint das Frau Schlüter, meine allwissende Assistentin. Der Stil der Einladung muss eine persönliche Note haben. Als wäre es mein sehnlichstes Verlangen, die Herren und Damen von so und so an dem Abend begrüßen zu dürfen.«
»Du bemühst dich, das muss reichen«, meinte Schröder ernst, obwohl er sich über Julias lebhafte Art zu erzählen amüsierte. Sie sollte nicht den Eindruck haben, er würde sich über sie lustig machen. Dafür verstand er ihren Zwiespalt zu gut. Natürlich wollte Julia die von ihrer Großmutter aufgedrängte Aufgabe ganz in ihrem Sinne erledigen. Doch die nervtötenden, bürokratischen Notwendigkeiten, die der Alltag einer Vorsitzenden mit sich brachte, waren für eine Reisefotografin nur schwer auszuhalten.
»Oh nein! Das reicht beileibe nicht«, protestierte Julia mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzem Mund, zurück in der Rolle der Dozentin. »Frau Schlüter sagt, der Empfang sei das Highlight der Saison und er müsse perfekt ablaufen. Vor allem sollen die Gäste in Kauflaune versetzt werden, damit sie bei der Auktion zugunsten sozialer Projekte der Stiftung ihr letztes Hemd ausziehen. Als wenn die Stiftung zu wenig Geld hätte. Wirklich, Schröder, ich darf es dir nicht sagen wegen der Schweigepflicht und so – aber die Stiftung ist supergut bestückt.«
»Dann brauchst du das hier gar nicht für die Auktion?« Schröder deutete auf das Porträt.
»Ach du meine Güte! Das ist fantastisch! Welch ein Ausdruck des jungen Mannes«, hauchte Julia den Blick wie gebannt auf das Porträt geheftet.
»Du hast doch gesagt, du bedauerst es, nichts zu der Auktion beisteuern zu können«, sagte Schröder.
»Ja, weil ich nichts besitze, was die Gäste des Empfangs interessieren könnte. Und aus Oma Belles Erbe kann ich noch nichts nehmen, da die Verteilung noch nicht abgeschlossen ist.«
»Wenn du willst, kannst du dieses Porträt spenden.« Schröder sah Julia fragend an. Er war sich nicht sicher, ob das wirklich ein passendes Objekt war, um die Geldbeutel der sogenannten feinen Gesellschaft zu öffnen.
»Gerne!« Julia drückte Schröder einen Kuss auf die Wange. »Es ist ein außergewöhnliches Bild.«
»Es stammt von keinem berühmten Künstler«, gab Schröder zu. »Aber die geschickte Kombination aus Moderne im alten Stil macht es bemerkenswert.«
»Und ich darf es anbieten?«
»Darfst du«, meinte Schröder trocken, »solange du meinen Namen raushältst. Außerdem ist es ein Erinnerungsstück. Das heißt, die Geschichte zum Bild muss der Käufer ebenfalls bekommen.«
»In Ordnung. Dann ist das Bild eben von einem anonymen Spender. Die Geschichte schreibst du auf und wir klemmen sie auf die Rückseite.« Sie überlegte kurz, bevor sie weitersprach: »Der Besitzer will das Bild nicht mehr haben?«
Schröder nickte. »So ist es. Vor einigen Jahren bekam ich einen Brief mit der Abholnummer. Ich solle mit dem Porträt machen, was ich wolle, es werde nicht mehr gebraucht. Es sei von einem Erinnerungsstück zu einer Antiquität geworden. Darüber hatte ich mit dem Kunden damals gesprochen und deshalb bin ich überzeugt, dass er persönlich den Brief geschrieben hat. Beweisen kann ich es nicht. Ein Name stand weder auf dem Umschlag noch in dem Brief. Der hätte mir allerdings auch nichts gesagt, weil ich die Namen der Kunden sowieso nicht kenne. Die Stiftung fördert doch auch junge Menschen, oder nicht?«
»Ja, wir haben da verschiedene Projekte«, bestätigte Julia.
Schröder nickte zufrieden. »Gut, dann wird das Bild passend weitergegeben, wenn es denn überhaupt verkauft wird.«
Julia stellte sich so dicht vor das Porträt, als wolle sie sich dem Sog des Blickes des verletzlichen jungen Mannes aussetzen.
»Es ist wirklich eindrucksvoll«, stellte sie bewundernd fest. »Ein Foto könnte diesen Moment nicht besser einfangen. So wie das Model zwischen Tür und Angel steht, als wisse es nicht, ob er den nächsten Raum betreten solle.« Sie drehte sich um und sah Schröder erwartungsvoll an. »Welche Erinnerung hängt mit dem Bild zusammen?«
Klar, dass sie diese Frage stellt, dachte Schröder. Julia liebte es, wenn er die Geschichten der Erinnerungsstücke erzählte und ihm gefiel es, wie sie zuhörte. Da er sich bei der Pflege von Beziehungen spröde und ungelenk vorkam, war er dankbar für diesen einfachen Weg eine Verbindung zu seiner Enkelin herstellen zu können. Er wollte gerade anfangen, als er Schritte auf dem Flur hörte, dann fiel die Wohnungstür ins Schloss und ein hüpfendes Gepolter ließ die Treppe ächzen.
»Die Geschichte muss wohl warten. Ich glaube, Patricks junger Totengräber ist gegangen«, stellte Schröder fest.
Julia sah ihn fragend an. »Totengräber? Als Mandant? Spannend! Jedenfalls muss ich langsam wissen, ob Patrick mich auf dem Empfang begleiten wird. Bei der Frage weicht er mir immer aus. Würdest du mit mir dahin gehen?«
»Auf gar keinen Fall!«, murrte Schröder und winkte Richtung Tür. »Zieh Leine! Ich wette, Patrick hat auch eine Geschichte für dich.«
»Danke, Opa«, sagte Julia und Schröder wurde verlegen. Opa klang immer noch seltsam in seinen Ohren. Er sah Julia nach, die das Zimmer verließ, um in Patricks Büro zu wechseln. Er hatte gar nicht das Recht, Opa genannt zu werden. Was hatte er denn dafür getan? Gar nichts! Schröder seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als könnte er die Trübsal, die ihn erfüllte, wegwischen. War einfach nicht sein Tag heute. Vielleicht sollte er sich ein Erinnerungsstück mit in die Werkstatt nehmen, dem eine freundliche, zuversichtliche Botschaft anhing.
»Die Zitronenpresse aus Glas zum Beispiel. Die hatte eine Norwegerin gebracht. Die Zitronenpresse war zwar ein gebräuchliches Küchenutensil, jedoch war sie vor vielen Jahrzehnten ihrem Großvater, einem Landwirt aus Norwegen geschenkt worden. Das war zu einer Zeit, als es, wenn überhaupt, selten Zitrusfrüchte dort zu kaufen gab. Also galt die Zitronenpresse für die Familie als exotische Rarität und stand in die Vitrine bei dem guten Geschirr. Der Norweger schenkte die Zitronenpresse seiner Enkelin, die sie mit nach Deutschland nahm.
»Sie erinnert mich an meine Heimat, meine Familie und an all das, was es damals noch nicht gab. Ich möchte, dass die Erinnerung an die Zufriedenheit, die mein Großvater trotz des materiellen Mangels ausstrahlte, bewahrt wird«, hatte die Kundin erzählt.
Als erfolgreiche Managerin gewöhne sie sich viel zu schnell an den Luxus, den Geld zu bieten habe. »Ich befürchte, dass ich dabei vergesse, wofür die Zitronenpresse für mich steht. Es beruhigt mich, wenn Sie sich um sie kümmern.«
Die Norwegerin war eine der wenigen Kunden, die seit Jahren eine Art Miete für die Lagerung ihres Erinnerungsstückes überwies. Worin lag in dem Fall eigentlich der Nutzen seiner Arbeit? Schröder grummelte missmutig vor sich hin. Diese Frage war typisch für so einen Tag wie diesen.
Einige Tage später blieb Patrick verschwitzt mit dem Rennrad am Straßenrand stehen, zog die Softshelljacke aus und stopfte sie in die Fahrradtasche. Die Herbstsonne wärmte die Straßen der Stadt noch einmal durch. Die bunten Laubbäume strahlten unter blauem Himmel und die Außensitze der Cafés waren voll besetzt. Ein Atemzug voll Sommer mitten im Oktober. Wenn er nicht zum Polizeipräsidium Mitte hätte fahren müssen, um Alex zu der Zeugenvernehmung zu begleiten, hätte er sich Julia geschnappt und wäre mit ihr raus in den Wald gefahren. Schöne Vorstellung. Bis zum Wochenende würde das Wetter sich nicht halten. Das war auch in Ordnung. Die Vorstellung eines Wochenendes mit Julia im Bett erschien ihm sowieso strahlender als ein Wald mit rotgelbem Blätterdach.
Patrick fädelte sich zwischen stehenden Autos vor einer roten Ampel hindurch auf den Fahrradweg, durch den Park und dann immer geradeaus auf der Fahrradstraße. Er zog die diagonale Überfahrt einer Kreuzung dem Warten an zwei Fahrradampeln vor, radelte lieber auf dem Fußgängerweg als an einer Reihe parkender Autos vorbei. Er kannte den Weg zum Polizeipräsidium Mitte in- und auswendig.
Seit Schröders Verhaftung vor vier Monaten war er die Strecke oft gefahren. Der alte Meisterdieb Karlheinz Südhoff hatte in seiner Wut auf Schröder die Beute eines Einbruchs bei Juwelier Krämer heimlich bei ihm versteckt. Schröder war verhaftet worden und hatte die Situation genutzt, sich endlich daran zu erinnern, was er vor fünfzig Jahren verbrochen und zerstört hatte. Manchmal brachten scheinbare Katastrophen Steine ins Rollen, die mit ihrer Bewegung positive Entwicklungen anschoben. Ohne diese aus Schröders Vergessen hervorgepflügten Ereignisse wäre Julia nicht in die Louisenstraße gezogen. Unvorstellbar!
Zu Schröders Erinnerungen gehörte aber auch, dass er Kalle vor fünfzig Jahren in eine Situation getrieben hatte, in der dieser in Notwehr einen Menschen erschießen hatte müssen. Dafür gab es keine Entschuldigung. Das Mindeste, was Schröder für seinen alten Freund als bescheidenen Ausgleich tun konnte, war, Patrick als Anwalt für Kalle zu engagieren und die Kosten zu tragen.
Patrick war bei einigen Vernehmungen Kalles durch den zuständigen Hauptkommissar Lorenz Precht im Präsidium gewesen. Er glaubte, Precht in der Zeit einigermaßen kennengelernt zu haben und schätzte ihn als einen bedachten und integren Polizisten. Umso mehr wunderte ihn, dass der Hauptkommissar so eine mit Paragrafen gespickte Zeugenvorladung an Alex verschickt hatte. Das war nicht gerade die sanfte Tour. Im Gegenteil!
Wie gut, dass Alex mit dem Wisch zu ihm gekommen war. Oder nicht? War er zu befangen, wie es im Juristendeutsch hieß, um seinem Pflegebruder anwaltlich zu helfen? Er war ja jetzt schon auf hundertachtzig. Dabei hatte er sich noch gar nicht angehört, was Precht von Alex konkret wissen wollte. Wo war seine Disziplin als Anwalt geblieben?