Love. Alles was du liebst - Roddy Doyle - E-Book

Love. Alles was du liebst E-Book

Roddy Doyle

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Beschreibung

Zwei alte Freunde ziehen durch Dublins Pubs. Um keinen Spruchverlegen, treiben sie ihre Späße miteinander, doch wenn es hart auf hart kommt, sind sie füreinander da. Früher, in ihrer Jugend, waren Davy und Joe gute Kumpels. Inzwischen treffen sie einander nur noch, wenn Davy aus England nach Hause kommt, um seinen Vater zu besuchen. Es sind oberflächliche Begegnungen mit belanglosen Gesprächen. Doch dieser Abend ist anders. Davy und Joe ziehen wie früher um die Häuser. Mit jedem Bier werden sie lebendiger. Lange zurückgehaltene Gefühle und Konflikte drängen nach oben. Joe hat ein Jahr zuvor Frau und Kinder für eine andere verlassen, Jessica - ihren gemeinsamen Jugendschwarm. Das weckt auch bei Davy alte Erinnerungen. Plötzlich erhält Davy einen Anruf aus dem Hospiz, in dem sein Vater liegt. Kann Joe in diesem schweren Moment trotz aller Differenzen seinem alten Freund beistehen? "Love" ist sowohl eine Hymne an Dublin als auch ein herrlich komisches und zugleich bewegendes Porträt der vielen Formen der Liebe.

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Seitenzahl: 441

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Roddy Doyle

Love

Alles was du liebst

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

DER AUTOR

Roddy Doyle, 1958 in Dublin geboren, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Booker-Preisträger. Er studierte Anglistik und Geografie und arbeitete viele Jahre trotz großer literarischer Erfolge weiterhin als Lehrer, bevor er sich ab 1993 ganz dem Schreiben widmete. Mit Romanen wie »The Commitments«, »The Snapper« und »The Van«, deren Verfilmungen zu Kinohits wurden, hat Doyle eine treue Leserschaft gewonnen.

 

DIE ÜBERSETZERIN

Sabine Längsfeld übersetzt seit über zwanzig Jahren Literatur aus dem Englischen ins Deutsche. Ihre Liebe für Zwischentöne und ihr feines Gespür für Dialoge haben schon manchem Titel in die Bestsellerlisten verholfen. Zu den von ihr übertragenen Autorinnen und Autoren zählen u. a. Glennon Doyle, Amitav Gosh, Chan Ho-kei und Simon Beckett.

Das Buch

Früher waren Davy und Joe gute Kumpels. Inzwischen treffen sie sich nur noch gelegentlich, wenn Davy aus England nach Dublin kommt, um seinen Vater zu besuchen. Es sind oberflächliche Begegnungen, sie sind erwachsen geworden, jeder hat sein eigenes Leben. Doch dieser Abend ist anders. Die beiden Männer ziehen wie früher um die Häuser, trinken ein Bier nach dem anderen, und die Gespräche werden immer vertrauter. Lange zurückgehaltene Gefühle und Konflikte drängen nach oben. Joe vertraut seinem Freund an, dass er seine Frau und seine Kinder für eine andere verlassen hat. Als Davy erfährt, dass es sich dabei um Jessica – ihren gemeinsamen Jugendschwarm – handelt, werden auch bei ihm alte Erinnerungen wach: Der Aufruhr um seine temperamentvolle Frau, die Missbilligung seines Vaters, der Tod seiner Mutter, die Flucht aus Irland. Als Davy einen Anruf erhält, wird ihre Freundschaft auf die Probe gestellt.

 

 

 

Für Belinda

 

 

 

There stands the glass –

Fill it up to the brim –

’Til my trouble grow dim –

It’s my first one today –

»There Stands the Glass« von Russ Hull, Mary Jean Shurtz, Audrey Greisham

 

 

 

Er wusste sofort, dass sie es war, erzählte er mir. Er erzählte mir das ein Jahr, nachdem er sie wiedergetroffen hatte. Genau vor einem Jahr, sagte er.

– Genau vor einem Jahr?

– Genau vor einem Jahr?

– Sag ich doch, Davy. Vor einem Jahr – gestern vor einem Jahr.

– Du kannst dich ans Datum erinnern?

– Ja, klar.

– Jesus, Joe.

Er entdeckte sie am Ende eines Flurs und wusste es. Unmittelbar. Sie hatte sich nicht verändert. Obwohl er sie nur aus der Ferne sah. Obwohl sie nur ein Umriss war, ein dunkler, schlanker Schatten, eine Silhouette – inmitten des Spätnachmittagslichts, das hinter ihr durch die Glastür fiel, wusste er es.

– Sie war nie schlank, sagte ich.

Er zuckte mit den Achseln.

– Ich weiß gar nicht, was schlank eigentlich heißen soll, meinte er und grinste.

– Ich auch nicht, gab ich zurück.

– Hab ich einfach so gesagt, sagte er. – Schlank. Okay. Vielleicht eher ein großer Schatten.

– Okay.

– Kein rundlicher.

– Sie hat sich gut gehalten, sagte ich. – Das willst du mir doch damit sagen.

– Genau, sagte er. – Das hat sie wirklich.

– Wo war dieser Flur?, fragte ich ihn.

– In der Schule.

– In welcher Schule?

– Na, in der Schule, wiederholte er.

– In der Schule kannten wir sie noch gar nicht, sagte ich.

Mir war klar, dass er nicht die Schule meinte, auf die wir gegangen waren. So lange kannten wir uns schon. Ich hatte das nur gesagt – also, dass wir sie nicht von der Schule kannten –, weil ich ihn dazu bringen wollte, wieder er selbst zu sein. Ich wollte eine Antwort hören, über die wir lachen konnten. Er war der Witzige von uns.

– Die Schule meiner Kinder.

– Moment, sagte ich. – Beim Elternsprechtag?

– Genau.

– Die Frau deiner Träume trat aus der Sonne heraus und hinein in einen Elternsprechtag?

– Jepp.

– Dreißig Jahre nachdem du sie zum letzten Mal gesehen hast, sagte ich. – Nein, mehr. Viel mehr. Sechs- oder siebenunddreißig Jahre.

– Genau, sagte er. – Kommt ungefähr hin. Was hast du eben gesagt? Sie trat aus der Sonne heraus?

– Glaub schon, ja.

– Tja, sagte er. – Genauso war’s.

Ich lebte nicht mehr in Irland. Drei, vier Mal im Jahr flog ich nach Dublin rüber, um meinen Vater zu besuchen. Früher hatte ich immer meine Familie mitgenommen, aber seit ein paar Jahren kam ich allein. Die Kinder waren inzwischen groß und aus dem Haus, und meine Frau Faye flog nicht gern, und auf die Fahrt nach Holyhead mit der Fähre war sie auch nicht sonderlich erpicht.

– Dein Vater konnte mich noch nie ausstehen.

– Quatsch.

– Nein, konnte er wirklich nicht, sagte sie. – In seinen Augen war ich ein Flittchen. Hat er mal gesagt, das weiß ich.

– Das hat er nicht gesagt.

– Doch. Etwas in der Richtung. Das hast du mir selbst erzählt, weißt du noch? So was denke ich mir nicht aus. Er hat mich noch nie gemocht, und ich tue jetzt bestimmt nicht auf einmal so, als würde ich ihn mögen. Ich hasse dieses Haus. Es ist trostlos.

– Sie gab mir einen Kuss, sagte Joe jetzt.

– Auf dem Flur?

Der Mann, den ich kannte – oder den ich zu kennen glaubte, den ich früher kannte –, der hätte jetzt »Nein, auf den Arsch« oder etwas in der Art geantwortet.

– Ja, sagte er. – Sie hat mich wiedererkannt.

Ich ihn nicht.

Früher kannte ich ihn besser.

Wir hatten am selben Tag die Schule beendet. Er fing an zu arbeiten. Ich ging aufs College, auf das University College Dublin. Er hatte Geld, ein Gehalt, ein Einkommen. Ich nicht, zumindest solange ich meinen Abschluss noch nicht in der Tasche hatte. Trotzdem blieben wir in Kontakt. Wir wohnten beide noch zu Hause, keine zehn Minuten auseinander. Ungefähr einmal in der Woche hörten wir zusammen Schallplatten, bei mir vorn im Wohnzimmer. Meistens kaufte er die Platten. Ich stellte dafür das Haus, in dem wir Krach machen konnten. Wir drehten die Musik so laut, dass wir den Song spüren konnten, wenn wir die Hände an die Fensterscheiben legten. Meine Mutter lebte nicht mehr, und meinen Vater störte es offensichtlich nicht. Jahre später erzählte er mir, er wollte damals einfach nur, dass ich glücklich war. Er ertrug den Krach – die Pistols, Ian Dury, The Clash, Elvis Costello –, weil er dachte, das würde mich glücklich machen. Glücklich wäre ich gewesen, wenn er mit dem Schuh oder der Faust gegen die Wand gedroschen und mich angeschrien hätte, endlich den beschissenen Lärm leiser zu drehen. Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, mich gegen ihn auflehnen zu können.

Wenn ich mal Geld hatte, gingen wir saufen, ich und Joe. Das war an Weihnachten und im Oktober, wenn ich vom Arbeiten in Westdeutschland und London zurückkam, ehe ich das frisch verdiente Geld wieder für Bücher und Busfahrten ausgeben musste. Wir ließen uns zügig volllaufen und grölten rum. Ich war permanent auf Streit aus. Schlug auf alles Mögliche ein, mit mir selbst ging ich auch nicht gut um. Ich ließ mich gehen und bekam lediglich eine Ahnung davon, was aus mir einmal werden könnte. Dann zog ich schnell den Kopf wieder ein und imitierte Joe. Er trank, ich trank. Er lachte, ich lachte. Wenn er grölte, grölte ich auch.

– Sie hat dich wiedererkannt?

– Genau, sagte er. – Auf den ersten Blick. Hab ich doch gesagt.

Ich sah ihn an. Mir war klar, warum sie ihn wiedererkannt hatte. Der Junge und auch der junge Mann waren immer noch da. Sein Kopf hatte noch dieselbe Form. Er hatte schon damals eine Brille und trug noch immer – oder wieder – eins dieser Gestelle mit schwarzem Rahmen. Er hatte noch seine Haare auf dem Kopf. Sie waren grau geworden, fast vollständig, aber besonders dunkel waren sie nie gewesen. Er hatte zugelegt, aber nur ein bisschen, und nicht im Gesicht oder am Hals.

– Wo warst du?, fragte ich ihn.

– In der Schule, sagte er. – Habe ich doch gesagt.

– Aber wo genau?

– Vor dem Matheraum, sagte er. – Ich hab gewartet.

– Auf dein Gespräch mit dem Lehrer.

– Genau, sagte er. – Vor mir waren noch vier, fünf Leute, hauptsächlich Mütter. Und ich hatte sonst niemanden mehr auf meiner Liste. Ich war schon fertig. Wir hatten uns aufgeteilt.

– Moment mal, sagte ich. – Trish war auch da?

Trish war seine Frau.

– Genau, sagte er. – Sie war gerade woanders. Stand vor irgendeinem anderen Klassenzimmer Schlange, bei einem anderen Lehrer.

– Du hast die Liebe deines Lebens geküsst, während Trish im selben Gebäude war?

– Einem Riesengebäude, sagte er. – Lass mal die Kirche im Dorf. Das ist ’ne Scheißschule.

Das war schon eher der Mann, den ich zu kennen glaubte. Der Mann, der ich früher sein wollte.

– Du hast sie geküsst, sagte ich.

– Sie hat mich geküsst.

– Und wo exakt war Trish?

– Wo exakt, Davy? Wo exakt? Was wird das hier? Ein Verhör?

– Schon gut.

– Leck mich, Davy.

– Schon gut, tut mir leid. Erzähl weiter.

– Im Hauswirtschaftsraum, sagte er. – Oder beim Werken. Was weiß ich. Wir hatten jeder vier Termine, um so schnell wie möglich durchzukommen. Es hat trotzdem den ganzen Nachmittag gedauert. Für die Lehrer ist es die einzige Möglichkeit, sich zur Abwechslung mal mit Erwachsenen zu unterhalten. Das lassen die sich nicht nehmen. Ich hatte Glück.

– Wie meinst du das?

– Ich war für den Mathelehrer eingeteilt, sagte er. – Was für ein wahnsinniger Klugscheißer. Deshalb stand ich vor seiner Tür. War zufällig da. Einfach so.

– Und sie kam in den Flur, als du dort gewartet hast.

– Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Genau. Wie gesagt – ich hatte Glück.

– Hat eins deiner Kinder Hauswirtschafts- oder Werkunterricht?

– Was?

– Du hast Hauswirtschaft und Werken gesagt. Trish wäre in einem dieser Fachräume gewesen.

– Jetzt machst du schon wieder einen auf Columbo, Davy.

– Entspann dich.

– Ich hab doch nur … Das war als Beispiel gemeint. Mit den Räumen. Trish war irgendwo anders unterwegs, in einem der anderen Fachräume, verstehst du. Irgendwo im Gebäude.

– Um welches Kind ging es?

Ich hatte seine Kinder nie kennengelernt und keine Ahnung, wie sie hießen. Wenn wir uns trafen, erzählten wir uns immer wieder von den Kindern, brachten uns gegenseitig auf den neusten Stand und vergaßen es anschließend wieder. Trish hatte ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.

– Holly, sagte er.

– Sicher?

– Ja, sagte er. – Klar bin ich mir sicher. Leck mich.

– Okay.

– Du bist ein ganz schöner Arsch, Davy.

– Bin ich nicht.

– Doch. Bist du.

– Das ist schon ein kleiner Schock für mich.

– Was spielt das denn überhaupt für eine Rolle?

– Lass gut sein.

– Das tue ich nur für dich.

– Weiß ich.

Ich hatte ihn nie mit seinen Kindern erlebt, aber ich wusste, dass er ein guter Vater war. Und ich wusste, was das heißt. Er war zuverlässig und hatte für Stabilität in ihrem Leben gesorgt. Abends war er immer mehr oder weniger zur selben Zeit nach Hause gekommen. Hatte sie vom Fußballtraining oder vom Turnen abgeholt und war immer pünktlich da gewesen. Die Kinder hatten ihn an der Spülmaschine und an der Waschmaschine erlebt. Sie hatten ihn am Wochenende kochen sehen. Wahrscheinlich mochten sie sein Essen lieber als das von Trish. Samstagabends hatte er ihnen Limo in Weingläsern serviert. Und jeden Tag hatte er ihnen zweimal gesagt, dass er sie liebte, morgens und abends. Er hatte ihnen vorgelesen – dasselbe Buch, immer und immer wieder–, war mit ihnen schwimmen gegangen oder hatte auf einem Stuhl an ihrem Bett geschlafen, wenn sie über Nacht im Kinderkrankenhaus bleiben mussten. Er hatte sich über Asthma, Ekzeme, Zwangsstörungen, Intersexualität informiert. Er gehörte nicht zu der Sorte Männer, die keine Ahnung hatten, welche Fächer ihre Kinder in der Schule belegten. Und er hätte auch nie so getan, als wäre er so einer.

Er hatte recht. Es sollte eigentlich keine Rolle spielen. Es sollte mir nichts ausmachen. Aber es spielte eine Rolle. Und es beschäftigte mich.

 

Wir sahen sie gleich an unserem ersten Tag an einem der Tische unter den Fenstern.

Wir hatten einen Pub gefunden, der uns mochte. Schon seit Monaten zogen wir durch die Innenstadt. Jedes Wochenende, von Freitag nach der Arbeit bis Sonntagabend, zehn Minuten, ehe der letzte Bus nach Hause fuhr. Das war nach meinem Abschluss, als ich endlich eigenes Geld in der Tasche hatte. Wir waren meinem Wohnzimmer und dem Plattenspieler entkommen. Ich konnte meine Runden selbst bezahlen. Wir waren jetzt auf Augenhöhe und konnten richtige Freunde fürs Leben werden, was wir vorher nicht wirklich gewesen waren. Uns zusammen volllaufen lassen, zusammen über die Welt da draußen herziehen, uns nach denselben Frauen sehnen, es nicht zugeben. Für ein paar wichtige Jahre verschmolzen wir zu ein und demselben Mann. Ehe ich wegging. Ehe er Trish kennenlernte. Ehe ich Faye begegnete.

An jenem Tag, dem Tag, an dem wir das Mädchen zum ersten Mal sahen, das zu der Frau werden würde, die er Jahre später wiedertraf, hatten wir uns im Keller vom Mercer’s Hospital verlaufen. Wir hatten dem Sheehan’s auf der Chatham Street zu Beginn der heiligen Stunde den Rücken gekehrt – damals sperrten die Pubs am Nachmittag noch für eine Stunde zu – und schlenderten in Richtung Dandelion Market. Aber wir waren schon so betrunken – nein, nicht betrunken, hackedicht trifft’s eher –, dass wir nicht mal mehr in Secondhandshops nach Büchern und Schallplatten stöbern konnten. Also gingen wir wieder zurück ins Freie auf die South King Street. Wir besorgten uns in einem kleinen Laden, den es schon längst nicht mehr gibt, eine Schale Chili, und ich werde mich im Leben nicht mehr daran erinnern, wie er hieß. Der Laden war so winzig, es gab nicht mal ein Klo. Damals war das so, ein Restaurant oder Café ohne Klo war vollkommen normal. Danach standen wir wieder auf der South King Street.

Wir waren ein und derselbe Mann und gestanden uns, dass wir fast platzten, weil wir so dringend pissen mussten, wirklich, wir waren kurz vorm Platzen, und das eine halbe Stunde, ehe die Pubs wieder aufmachten. Vor uns erhob sich das Mercer’s Hospital, und als wir reingingen, versuchten wir, wie zwei junge Männer auf Krankenbesuch auszusehen. Auf jeden Fall liefen wir – keine Ahnung warum, das wird sich mir wahrscheinlich nie erschließen – die Treppe runter in den Keller anstatt nach oben zu den Krankensälen. Ich weiß noch genau, wie niedrig die Decke war, sie hing direkt über unseren Köpfen. Außer uns war niemand zu sehen, keine Männer beim Krankentransport, keine Frauen in grünen Kitteln. Es gab keine Tragen und keine abgestellten Rollstühle. Zumindest nicht, soweit ich mich erinnere. Wir liefen von einem Flur zum anderen – und nirgendwo ein Klo. Schließlich pissten wir in einer Putzkammer in einen Blecheimer, erst er, dann ich. Es war so eng, dass wir nicht gleichzeitig Platz hatten.

Auf dem Weg nach draußen kamen wir an einem Klo vorbei. Wir lachten nicht. Sondern schämten uns sofort, ich schämte mich auf jeden Fall. Als wir durch eine andere Tür zurück ans Tageslicht traten, hatten die Pubs wieder geöffnet.

Es lag direkt vor unserer Nase. War uns vorher noch nie aufgefallen. Es hatte seine eigene Straßenecke. Wir waren sicher schon ein-, zweimal daran vorbeigekommen, hatten es aber nie bemerkt.

– Sieht okay aus, sagte Joe.

Und so war es.

Wir waren wieder nüchtern. Es war ein Nachmittag im frühen Winter. Der Himmel war klar, und die Sonne malte die Häuserblocks gelb und grau an – es waren die letzten Stunden vor Einbruch der Nacht, die perfekte Zeit, um zu trinken. Das Mercer’s Hospital hatten wir hinter uns gelassen. Wortwörtlich. Ein Pint würde uns heilen, die Scham ertränken. Nach dem zweiten würden wir schon wieder lachen.

Wir waren einundzwanzig.

Neugierig blickten wir durchs Fenster. Die Einrichtung wirkte schlicht und lag trotzdem ein bisschen über dem Dubliner Durchschnittspub. Weniger Holz, mehr Licht. An der Bar saß, mit dem Rücken zu uns, ein einzelner Mann. Er trug einen Anzug, und hinten auf dem Jackett ruhte ein grauer Pferdeschwanz. Es war das erste Mal, dass ich außerhalb von The Old Grey Whistle Test einen Mann mit Pferdeschwanz sah. Unter einer Reihe von Fenstern an der Längsseite des Raumes standen ein paar Tische. Nur einer war besetzt, vier Leute saßen dort, ein Mann und drei Frauen. An der Wand zwischen zwei Fenstern lehnte ein Cello, und auf dem Nachbartisch lagen drei Geigenkästen. Die Frauen tranken Pints.

Sie war eine von ihnen.

– Gehen wir rein?

– Auf jeden Fall, sagte Joe.

Die Flügeltür befand sich an der Ecke unter einem Vordach. Er ging rechts rein, ich links. Als wir die Türen aufdrückten, schwangen sie gleichzeitig auf, und wir betraten Seite an Seite und seitwärts den Pub. Hinter uns schwangen die Türen wieder zu. Wir hörten sie knarzen und zum Stillstand kommen.

Es gab keinen Fernseher, keine Pferderennen. Kein Radio, keine Musik.

Niemand sah zu uns herüber.

Der Mann mit dem Pferdeschwanz las in einer Zeitschrift. Sie lag zwischen seinem Gin Tonic und einem Aschenbecher auf dem Tresen. Die Musiker unterhielten sich leise. Damals wusste ich das noch nicht, aber das College of Music war direkt um die Ecke in der Chatham Row. Als ich am darauffolgenden Montag beim Spaziergang in der Mittagspause das nächste Mal dort vorbeiging, hörte ich aus einem geöffneten Fenster Streicher und eine Trompete. Ich war monatelang an dem Gebäude vorbeigelaufen.

Der Barmann war nicht zu sehen.

Wir traten zum Tresen. Gingen an den Musikern vorbei, weiter – tiefer – in den Raum hinein und nahmen uns schließlich zwei Hocker am Ende der Bar. Als wir uns setzten, entdeckten wir ihn. Er hockte auf dem Boden und befüllte das unterste Regalfach mit Britvic Orangensaft. Er hatte uns gehört und drehte sich um, stand stöhnend auf und lächelte. Es war das erste Mal, dass uns ein Barmann anlächelte.

– Gentlemen, sagte er.

Er freute sich, uns zu sehen.

Wir blieben Monate.

***

Beim Näherkommen überbrückte sie mit wenigen Schritten die vergangenen siebenunddreißig Jahre. Das Alter hatte sich in ihr Gesicht geschlichen. Ihr Rücken war leicht gebeugt.

– Aber sie war schön, sagte er.

Schön war ein Wort, das wir nie benutzt hatten. Die Frauen, auf die wir standen, waren immer umwerfend gewesen. Aber dann sahen wir sie zum ersten Mal, und sie war schön.

– Und sie hat mich wiedererkannt, sagte er. – Sie kam direkt auf mich zu.

– Hast du sie da zum ersten Mal gesehen?

– Wie meinst du das?

– Das war doch nicht dein erster Elternsprechtag, sagte ich. – Oder? Was ist mit den Schulaufführungen, Fußball, Hockey – der ganze Kram. Deine Kinder sind doch alle auf diese Schule gegangen, oder?

– Ja, ich weiß, worauf du hinauswillst.

– Du warst jahrelang immer wieder dort. Aber an dem Tag hast du sie zum ersten Mal gesehen?

– Richtig, sagte er. – Ja.

Er sagte Ja: Er hatte aus seinem Richtig ein Ja gemacht. Er befand sich im Zeugenstand.

– Wie das?, fragte ich.

– Wie was?

– So viele Veranstaltungen und Spiele, und du bist ihr nie begegnet?

– Du kennst die Schule nicht, sagte er. – Ein Riesenkasten. Da gehen über tausend Blagen hin.

– Schon, sagte ich.

Ich biss mich fest, machte einen auf Staatsanwalt.

– Schon, aber Elternsprechtage finden doch nicht für alle Eltern und Vormunde der Kinder gleichzeitig statt, oder? Dieser Tag, an dem du sie gesehen hast, der war doch nur für eine Jahrgangsstufe, oder? Habe ich recht? In welche Klasse geht Holly?

– Das war vor einem Jahr, sagte er. – Sie war im Übergangsjahr.

– Was war das noch mal?, fragte ich.

Er sah mich an.

– Ich lebe nicht mehr in diesem Land, erinnerte ich ihn.

– Sie war sechzehn, sagte er.

– Vier Jahre voller Veranstaltungen und Sportturniere und Basare und Jahrgangsstufenfeste.

– Und ich bin ihr nie begegnet.

– Wie kann das sein?

– Vielleicht habe ich nicht aufgepasst, sagte er.

Jetzt betrachtete ich ihn genauer. Dachte er sich das aus?

Er zuckte mit den Achseln.

– Ich habe keine Erklärung, sagte er. – Ich weiß es nicht. Die Schule ist groß. Das ist durchaus möglich.

– Aber unwahrscheinlich.

– Stimmt.

– Hat sie dich auch zum ersten Mal gesehen?, fragte ich.

– Darum geht …

Er brach ab. Und fing noch mal von vorne an.

– Das ist nicht der springende Punkt, sagte er. – Tatsache ist, sie sah mich, und es war, als hätten wir uns erst gestern zum letzten Mal getroffen. Ihr Verhalten, wie sie mit mir redete. Als hätten wir 1981 oder so.

– Okay, sagte ich. – Aber hat sie dich früher jemals geküsst? 1981?

– Mach mal halblang, Davy, sagte er. – Hör einfach zu. Sie kam auf mich zu und gab mir einen Kuss.

– Wie?

– Auf die Wange.

– Auf eine?

– Du hörst mir nicht zu, sagte er.

– Tue ich wohl, sagte ich. – Worauf willst du hinaus?

– Sie gab mir einen Kuss, sagte er. – Sie hat mir nicht – was weiß denn ich – ihre Wange zum Küssen hingehalten. Sie hat mich geküsst.

Er hatte recht. Ich hatte ihm nicht zugehört.

– Lippen, sagte er. – Sie streifte mit den Lippen meine Haut, küsste mich. Nicht die Luft daneben. Kannst du dich an sie erinnern?

– Ja, sagte ich. – Kann ich.

– Erinnerst du dich noch an ihr Lächeln?

– Klar, sagte ich. – Glaub schon.

– Tja, sie lächelte – sie lächelte mich beim Küssen an.

– Hat sie nicht gelächelt, als sie dich gesehen hat?

– Sie lächelte schon beim Näherkommen. Als wären wir verabredet – als hätte sie erwartet, dass ich dort an der Wand lehnte.

– Hat dich das nicht beunruhigt – nicht einmal ein bisschen?

– Nein, sagte er. – Warum denn?

– Na ja, das war doch – komplett unerwartet.

– Mir ging’s genauso wie ihr, sagte er. – Es fühlte sich vollkommen selbstverständlich an.

– Also, ich weiß nicht, sagte ich. – Nimm’s mir nicht übel, aber daran ist verdammt gar nichts selbstverständlich.

Wir saßen in einem ziemlich neuen Lokal in der Clontarf Road in der Nähe der Wooden Bridge. Es war ein halbes Jahr her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Wir hatten uns ab und zu gemailt oder über Handy ein bisschen hin- und hergeschrieben, meistens ging’s um Musik oder Fußball oder verstorbene Freunde und Nachbarn. Wenn ich nach Hause kam, machten wir keine Kneipentouren mehr durch die Pubs der Stadt und besuchten nicht mehr unsere alten Orte. Früher hatte ich immer einen Extratag zur Erholung eingeplant, bevor ich wieder nach Hause, nach England zurückflog. Aber ich trank nicht mehr. Ich hatte aufgehört. Ein Glas Wein, ab und zu mal eine Flasche Craftbier nach Feierabend – mehr nicht. Von Pubs hielt ich mich fern. Ich glaubte, dass er auch nicht mehr viel trank. Diesmal trafen wir uns an einem Montagabend. Das Restaurant war halb leer. Wir waren nicht übermäßig laut. Niemand saß in unserer Nähe. Der Kellner war jung, aber alte Schule. Er hielt sich zwischen den einzelnen Gängen dezent zurück und kam nicht ständig an unseren Tisch, um zu fragen, wie wir zurechtkamen und ob alles zu unserer Zufriedenheit sei.

– Tja. Aber so fühlte es sich nun mal an, sagte er. – Als wären wir nie getrennt gewesen.

– Aber –.

– Ich weiß, sagte er. – Ich weiß. Wir hatten nicht wirklich viel miteinander zu tun. Aber hier geht es um Gefühle, nicht um Fakten. Gefühle. Das Gefühl bei all dem.

Es klang, als hätte er das schon mal gesagt. Mehr als nur einmal.

Ich fand, dass er verändert wirkte. Er sah schlecht aus – zerrissen. Gebeutelt. Lustlos stocherte er in seinem Essen herum. Es war nicht mehr viel übrig – er musste gegessen haben. Er sah zu dünn aus. Die Haut unter seinem Kinn war schlaff, ein Truthahnhals. Als wir uns vor einer Stunde wiedergetroffen hatten, hatte ich ihm gesagt, er sehe gut aus, und das auch so gemeint. Aber jetzt sah ich ihn mir richtig an. Er kratzte sich an der Handinnenfläche. Das ging schon so, seit wir uns an den Tisch gesetzt hatten. Ständig legte er die Gabel weg, um sich zu kratzen. Am Hals hatte er sich auch gekratzt. Unter seinem Ohr hatte er rosa Striemen. Ich hatte diesen Frontalzusammenstoß fast genossen – Mann trifft alte Flamme und zerstört sein Leben. Er hatte es mir leicht gemacht. Fast, als hätte er lässig mit einen Arm um die Stuhllehne dagesessen und im Plauderton von seinen Missgeschicken erzählt. Aber jetzt sah ich, dass der Eindruck trog. Er saß vorgebeugt mit auf den Tisch gesenktem Blick und begutachtete, was passiert war.

Er schwitzte. Aber das ging mir genauso. Es war Ende Mai und eine Bullenhitze. Das Gras war verdorrt. Ich hatte bei meinem Vater den Rasen gemäht, und der Auffangsack war mehr mit Staub gefüllt als mit allem anderen. Joes Schweiß glänzte wie die Maske eines Fußballspielers zum Schutz vor Gesichtsverletzungen. Er wischte sich mit dem Arm, mit dem Hemdsärmel, übers Gesicht und wurde wieder zu Joe, einfach nur Joe. Die Maske war weg.

Ich machte es ihm nach und tupfte mir mit der Serviette über die Stirn.

– Diese Hitze.

– Hier drin geht es noch einigermaßen, sagte er. – Trotzdem. Für so was sind wir nicht gemacht, oder?

– Nein, sagte ich. – Ich hab gesehen, dass es schon Waldbrände gibt – am Polarkreis. In Schweden.

– Na, bitte, sagte er. – Das Ende der Welt.

– Nur zu.

– Genau – scheiß drauf.

Er häufte sich Reis auf die Gabel.

– Hör mal, sagte er. – Ich weiß, dass sich das ein bisschen irre anhört, Davy. Was ich dir da erzähle.

– Na ja …

– Nein, wirklich. Schon okay. Aber das war es nicht – ist es nicht. Irre, meine ich. Es fühlte sich normal an. Vollkommen – ja, genau. Normal. Nicht das Ereignis an sich. Sondern wie es sich angefühlt hat. Damals. Es fühlte sich normal an. Verstehst du?

– So ungefähr.

– Langweile ich dich?

– Nein.

– Trish fand es langweilig.

– Du hast es Trish erzählt? Das, was du mir eben erzählt hast?

– Dazu hatte ich nicht die Gelegenheit, sagte er. – Bei Trish bin ich erst gar nicht so weit gekommen, fürchte ich.

– Irgendwie verständlich. Oder?

– Absolut, sagte er. – Wirklich. Ich verstehe das. Ihre Haltung, meine ich. Würde mir wahrscheinlich genauso gehen.

Genau das wollte ich hören. Wie Joe mir erklärte, was mit Trish gewesen war. Wie er diese zeitlose Schönheit wiedergetroffen hatte, während Trish nur einen Schulflur weiter in der Schlange vor dem Hauswirtschaftsraum stand.

Er führte die Gabel zum Mund. Ich sah ihn kauen, schlucken, dann griff er zum Glas.

– Das Essen ist gut.

– Ja.

– Hier kommen wir wieder her.

– Ja.

– Jedenfalls …

Sie standen nebeneinander in der Schlange vor dem Mathezimmer. Er fragte nicht, ob ihre Tochter oder ihr Sohn im Übergangsjahr war. Sie hatten nicht den Eindruck, als müssten sie einander auf den neusten Stand bringen und die jeweiligen Kinder runterrattern. Er wollte das bisschen Zeit nicht vergeuden, das ihnen blieb, bis der Lehrer ihn reinrief.

– Dann hattest du also doch das Gefühl, dass es was Besonderes war, sagte ich.

– Nein, sagte er. – Nein. Aber die Schlange wurde kürzer. Und ich wollte wissen, was der Lehrer mir zu sagen hatte. Deshalb war ich schließlich da. Das hatte ich ja nicht vergessen. Und ich wusste, ich musste da rein.

– Okay.

Sie redeten über die Schule, übers Wetter. Banales Zeug. Es regnete, und die Schultern ihres Pullovers – ein großes, sackartiges Teil – waren nass. Ihre Haare auch, ein bisschen. Sie trug die Haare lang, ungewöhnlich lang für eine Frau in ihrem Alter. Dieselbe Länge wie damals, als wir sie zum ersten Mal gesehen hatten, erzählte er mir. Höchstens ein, zwei Zentimeter kürzer. Ihre Haare hatten noch dieselbe Farbe, glaubte er. Sie war noch dieselbe Frau. Er stellte ihr keine Fragen, sie stellte ihm keine Fragen. Sie redeten einfach. Vor ihm betraten zwei Eltern das Zimmer, ein Paar mit identischen Turnschuhen. Er war als Nächster dran. Ihnen lief die Zeit davon. Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche.

– Meine Nummer ist die 087 –, fing sie an.

– Du wusstest, dass was im Busch war.

– Was?

– Da war doch was im Busch, sagte ich.

– Natürlich war da was, sagte er. – Hab ich das abgestritten?

– Na ja, sagte ich.

Es fühlte sich an, als würde ich mich vorbeugen, ihn auffordern, mir eine reinzuhauen, ihm absichtlich mein Gesicht hinhalten. Aber so war es nicht. Ich lehnte mich zurück, und ich wusste, dass ich ihn sauer machte. Ihn reizte – weil ich ihn reizen wollte.

– Eine Frau holt ihr Handy raus, sagte ich. – Und fängt an, dem Mann neben ihr ihre Nummer zu diktieren. Sie ist nicht mit ihm verheiratet, er nicht mit ihr.

– Hör auf, sagte er. – Musst du dir zuerst das Ende eines Films anschauen, um zu entscheiden, ob du den ganzen Film sehen willst? Läuft das bei dir zu Hause so?

– Nein.

– Kapierst du, was ich damit sagen will?

– Kapierst du denn, was ich sagen will?, fragte ich. – Sie hat ihr Handy rausgeholt. Sie wollte deine Nummer. Sie wollte dir ihre geben. Sie wollte dich wiedersehen. Das war dir doch klar – das muss dir klar gewesen sein. Und du willst mir erzählen, das alles war ganz normal?

– Was ist bitte so unnormal daran, sich zu verlieben?, fragte er.

– Auf einem Elternsprechtag?

Er lächelte. Er betrachtete rückblickend die Situation, sah auf sich selbst, sah, was vor einem Jahr passiert war, und das machte ihn plötzlich glücklich.

– Ein Novum in der Geschichte der Menschheit, sagte er. – In der Geschichte des irischen Bildungswesens. Was sagst du dazu, Davy? Ein Mann und eine Frau stehen in der Schlange vor dem Lehrerzimmer und verlieben sich. Hat’s so was schon mal gegeben?

– Denke schon, ja.

– Du hast recht, sagte er. – Schätzungsweise kommt auf jeden Elternsprechtag eine kaputte Ehe. Leider habe ich keine Statistiken parat, die das untermauern könnten. Soll ich jetzt weitererzählen?

– Klar.

– Es ist was Besonderes gewesen, sagte er. – Das schwör ich dir.

– Okay.

– Jedenfalls habe ich also mein Handy rausgeholt.

Er öffnete die Kontakte und tippte, während sie die restliche Nummer diktierte. Dann gab er ihr seine. Danach steckte er das Handy wieder ein. Keine Verabredung, keiner von beiden versprach, sich zu melden.

– Und dann fiel mir ihr Name nicht mehr ein, sagte er.

– Jesus.

– Da war nichts, sagte er. – Absolut nichts. Nada.

– Scheiße.

– Kannst du dich erinnern?, fragte er mich. – Auf Anhieb?

– Nein, sagte ich. – Wie heißt sie?

– Warte, sagte er.

Wie er da so vor dem Klassenzimmer stand, wusste er nicht mal mehr, ob er jemals gewusst hatte, wie sie hieß.

– Ich hätte sie einfach fragen können.

– Das wäre vielleicht ein bisschen schräg rübergekommen, sagte ich.

– Stimmt, sagte er. – Na ja, egal.

– Wusste sie, wie du heißt?

– Ja.

– Bist du dir sicher?

– Ich glaube schon.

– War der Mathelehrer mit Holly zufrieden?, fragte ich.

– Sehr, sagte er. – Holly ist super.

Er hatte ihre Nummer, kannte aber ihren Namen nicht. Er beschloss, dass sie sich als Erste melden müsste. Wenn was geschehen sollte, müsste sie aktiv werden. Was genau passieren sollte, wusste er selbst nicht.

– Es fühlte sich an wie ein Loch, das gestopft werden musste, sagte er. – Nein – das klingt total falsch. Ich meine das nicht vulgär.

– Okay.

– Eine Art Leere, sagte er. – Vier verschwendete Jahrzehnte.

– Du machst Witze.

Er schüttelte den Kopf. Das Grinsen, der Schalk in seinen Augen, als er über die Brillenränder sah, war weg.

– Nur, weil du sie wiedergesehen hast?

Ich beobachtete sein Gesicht, während er um die richtige Erklärung rang.

– Nein, sagte er schließlich. – Nicht nur.

Ich konnte ihm dabei zusehen, wie er versuchte, Worte zu finden, die passenden Worte in der richtigen Reihenfolge. Er wollte sich selbst exakt das Richtige sagen hören: was passiert war, was er gedacht hatte, wie er sich gefühlt hatte.

– Wenn …, fing er an. – Wenn ich sie gesehen hätte … nur gesehen. Dann wäre nichts dabei gewesen. Es wäre einfach nur nett gewesen, oder … Na, eben nett zu wissen, dass sie noch in der Gegend war, dass sie noch so gut aussah, verstehst du? Aber mehr nicht. Ich hätte dir vielleicht geschrieben. Irgendetwas in der Richtung. Wenn ich sie aus dem Auto gesehen hätte. Oder wenn wir beim Verlassen der Schule an ihr vorbeigekommen wären. Ein kleiner Kick – und fertig. Ich wäre ihr nicht nachgelaufen. Oder auch, wenn sie uns entdeckt hätte und rübergekommen wäre, um hallo zu sagen, das wär’s dann auch gewesen. Aber …

Er griff zu Messer und Gabel und schnitt ein Stückchen von seinem Chicken Peri Peri ab.

– So war es eben nicht, sagte er.

Ich dachte, er würde sich das Fleisch in den Mund schieben und mich warten lassen, während er kaute. Doch das tat er nicht. Es ging jetzt nicht darum, sich oder mich zu unterhalten. Er versuchte, mich zu verstehen. Er versuchte, sich in mich hineinzuversetzen, ihm an meiner Stelle gegenüberzusitzen. Er versuchte, sich seine eigene Geschichte anzuhören, seine Version der Ereignisse – die einzige Version –, und zwar zum allerersten Mal. Als ich vor einem halben Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr für ein paar Tage hier gewesen war, hatte er kein Wort gesagt. Auf die Frage, wie es lief – und ich bin mir sicher, dass ich ihn das gefragt habe –, hatte er »grand« geantwortet. Sonst nichts. Es war die Antwort, die ich selbst auch immer parat hatte, wenn ich nach Dublin rüberkam. Mir geht’s grand. Uns geht’s grand. Alles grand. Also alles prima. Zu dem Zeitpunkt musste er Trish schon verlassen haben und von zu Hause ausgezogen sein.

Er hörte sich reden, prüfte seine Wortwahl.

– Sie hatte mich dort erwartet, sagte er. – Und ich hatte sie erwartet.

– Stimmt das?, fragte ich.

Ich glaubte, was er mir erzählte. Es war ihm anzumerken, dass er mir keine Geschichten auftischte, dem Drang widerstand, etwas dazuzudichten, um es amüsanter zu machen.

– Was?, fragte er zurück.

– Na, dass du sie erwartet hast, sagte ich. – Stimmt das wirklich? Hat es sich so angefühlt?

Er schluckte.

– Ja, schon.

– Damals, sagte ich. – Dort? In der Schule?

– Ja, sagte er. – Definitiv.

– Deine lang verlorene Liebe stand plötzlich vor dir, sagte ich.

– Nein, sagte er.

Statt ihn ins Kreuzverhör zu nehmen, sollte ich ihm zuhören. Ich war da, um ihm zu zeigen, dass ich ihm zuhörte. Meinen Sarkasmus hatte er gar nicht bemerkt, oder er störte sich nicht daran. Und auf einmal war ich froh. Ich wollte meinen Sarkasmus auch nicht mehr hören.

– Das trifft es nicht, sagte er. – So war das nicht. Ich hatte mir das immer gewaltiger vorgestellt. Mit Herzrasen, verstehst du? Bumm! Bumm! Wie wenn man in Panik ist. Und denkt, jemand würde einen verfolgen. Um einen auszurauben. Ist dir das schon mal passiert?

Ich nickte.

– Du wurdest ausgeraubt?

– Nein, sagte ich. – Ich dachte, du meinst das Gefühl, wenn man spürt, dass ein Herz in der Brust schlägt. Das wie irre pumpt. Das ist uns doch mal passiert. Weißt du noch?

– Weiß ich, klar, sagte er. – Bei Fairview.

– Genau.

– Das vergess ich nie.

– Nein.

– Diese Arschlöcher.

– Jepp.

– Egal. Als ich ihr begegnete, war es jedenfalls nicht so. Überhaupt nicht.

Es gibt einen Grund, weshalb Männer nicht über ihre Gefühle reden. Nicht einfach nur, weil es schwierig oder peinlich ist. Sondern, weil es so gut wie unmöglich ist. Es fehlen die richtigen Worte.

– So ein, du weißt schon, so ein »O mein Gott!«-Gefühl, sagte er. – Das war es nicht. Es war ruhig.

– Ruhig?

– Genau, sagte er. – Glaube ich zumindest. Das ist ein Jahr her. Aber, ja, doch. Ich denke, so war es.

– Na ja, aber danach war es nicht mehr so still, sagte ich. – Nach allem, was du erzählt hast.

– Nein, sagte er. – Das stimmt.

Er schnitt sich noch ein Stück Hühnchen ab.

– Das hat aber nichts mit irgendeiner Midlife-Crisis zu tun, sagte er. – Also fang gar nicht erst damit an. Das kann ich wirklich nicht mehr hören.

– Mit dem Shite hab ich nichts am Hut, sagte ich ihm.

»Shite«, »grand«, »Jesus« – diese Wörter packte ich zusammen mit meiner Zahnbürste in den Koffer, wenn ich für ein paar Tage nach Dublin kam.

– Ich hab mich nicht in eine Jüngere verknallt, sagte er.

– Weiß ich, sagte ich. – Ich war dabei, als sie jung war, okay?

– Ja klar, ’tschuldige. Ich glaube ‒ ach, keine Ahnung.

– Wie, keine Ahnung?

– Ich glaube, vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn sie jung gewesen wäre. Wenn ich mich zum Vollpfosten gemacht hätte, weil ich einer Frau nachlaufe, die halb so alt ist wie ich.

– Komplett schwanzgesteuert.

– Das ist genau –, fing er an.

Er begann zu flüstern, beugte sich über den Teller.

– Du hast keine Ahnung, wie oft ich mir das in den letzten beschissenen zwölf Monaten anhören durfte. Er imitierte vier verschiedene Stimmen. –Komplett schwanzgesteuert, komplett schwanzgesteuert, komplett schwanzgesteuert, verfickte Scheiße komplett schwanzgesteuert.

– Die Letzte, war das Trish?, fragte ich.

– Nein, sagte er. – Nein. Das war mein Sohn. Gareth. Trish war die Erste. Und die Zweite.

Er musste lachen, und ich lachte mit.

– Warte kurz, meinte er.

Er schob sich das Hühnchen in den Mund. Kauend zog er die Augenbrauen hoch. Sein Gesicht hatte trotz der Hitze einen Winterteint. Er sah hungrig aus. Ich hatte bereits aufgegessen. Ich weiß noch, wie ich überrascht auf meinen leeren Teller runtersah. Anscheinend hatte ich den Lachs gegessen, den Brokkoli; ich weiß noch, was ich bestellt hatte, aber ich kann mich nicht daran erinnern, es gegessen zu haben.

Er legte die Gabel neben den Teller.

– Ich glaube, sie hätten es eher verstanden, sagte er. – Es wäre nachvollziehbar gewesen. Wenn ich mit einer jüngeren Frau erwischt worden wäre. Oder mit einer Nachbarin. Der Bekloppten von nebenan.

Ich nickte.

– Ein kleines Techtelmechtel über die Gartenhecke hinweg, sagte er. –Das hätten sie kapiert.

Er seufzte, lächelte.

– Aber –, sagte er.

– Aber was?

– Ich bin … Ich weiß auch nicht. Jetzt sitzen wir hier, und ich versuche immer noch, dir das alles zu erklären. Als ich sie sah, kam es mir so vor, als wäre nicht viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten.

– Und noch mal, sagte ich. – Ich frage dich jetzt noch mal. Stimmt das wirklich?

Er sah auf seinen Teller. Dann hob er den Blick.

– Ich weiß es nicht.

 

Sie war das Mädchen mit dem Cello. Aber das erfuhren wir erst später, bei anderer Gelegenheit. An jenem ersten Tag saßen wir an der Bar und fühlten uns akzeptiert. Mein Sohn ist jetzt im selben Alter wie ich damals – sogar älter –, und wenn er mich lässt, betrachte ich ihn, und dann sehe ich ein Kind, ein Kind, das versucht, erwachsen zu sein. Er trägt einen Bart und hat einen Freund; er lebt in London, in Peckham. Bei ihm läuft’s rund, wie man so sagt. Dabei sieht er so jung aus. Der Bart ist eine Art Verkleidung.

Wahrscheinlich haben wir damals auch so ausgesehen. Wir arbeiteten bereits und waren einundzwanzig, aber schätzungsweise haben wir wie zwei Jungen ausgesehen, die ihren Arsch riskierten, um am helllichten Tag in einem Pub ein Pint zu bekommen. Von einem Erwachsenen. So fühlte ich mich damals, obwohl wir an dem Tag bereits einmal betrunken gewesen waren und noch nie Probleme damit gehabt hatten, in irgendeinem Dubliner Pub bedient zu werden. Mir war seit meinem vorletzten Schuljahr nirgendwo mehr ein Pint verweigert worden. Aber das hier war etwas anderes. Das hier fühlte sich an wie ein Club. Das Nichtvorhandensein – kein Radio, kein Fernseher, keine Musik, kein gerahmtes Poster mit Dubliner Türen an der Wand – wirkte wie Überfluss.

Es war leise.

– Hier gefällt’s mir, sagte Joe – oder flüsterte es vielmehr.

– Mir auch, und wie.

Ich hatte in einem Pub noch nie Zeitung gelesen, aber hier würde ich es tun. Ich hatte noch nie irgendwo allein gesessen und mir gemächlich ein Pint gegönnt; ich trank meine Pints nicht allein. Jetzt würde ich es tun, hier. Ich würde dasitzen und vor mich hinschauen. Ich würde nicht auf meinem Hocker rumrutschen oder mich verstohlen umsehen. Ich würde ein Mann sein.

Das sagte ich nicht. Und dachte es auch nicht. Ich fühlte es. Eine Weile bemerkte ich niemand anderen. Ich sah nicht, wie die Frauen und der Mann ihre Instrumentenkoffer nahmen und gingen. Wahrscheinlich habe ich gehört, wie sie aufbrachen, und wahrscheinlich habe ich mich auch zu ihnen umgedreht. Es ist nicht so, dass ich mich nicht erinnere; es war mir egal – und nur das zählte. Ich weiß noch, wie es sich anfühlte. Ich hatte einen neuen Daseinszustand erreicht. Ich war in den Anzug eines Mannes geschlüpft. Ich war ein Mann. Weil ich diesen einen Pub betreten hatte. Die Jungen, die im Mercer’s Hospital in einen Eimer gepisst hatten, gab es nicht mehr.

Die Kneipe leerte und füllte sich und leerte sich wieder. Der Mann mit der Zeitschrift – er las das Private Eye – blieb. Nachdem die Musiker gegangen waren, wurde es schnell wieder voll, diesmal kamen Leute mit Einkaufstüten. Früher, sogar am selben Tag noch, hätten wir gelästert. Scheiß auf Shopping. Jetzt lächelten wir. Das waren erwachsene Menschen. Die genau wie wir was tranken. Es waren Frauen mit Einkaufstüten, und Männer mit Frauen. Sie waren nass – draußen regnete es – und glücklich. Immer wieder lachte jemand gedämpft. Niemand versuchte, im Mittelpunkt zu stehen. Jeder kannte den Barmann. Er war der Wirt, und an diesem Nachmittag war er Alleinherrscher; denn er hatte keine Hilfe hinter der Bar. Er strahlte alle seine Gäste an und begrüßte sie, als kämen sie frisch vom Postboot. Und sie strahlten zurück. Sie kannten ihn seit Jahren, und er kannte sie. Wenn er ihnen etwas zu trinken hinstellte, wirkte es beiläufig. Sie waren auf einen Plausch gekommen und wollten seine Bestätigung, und von ihm bekamen sie, was sie suchten. Er wusste wirklich, wer sie waren. Er mochte sie, und sie liebten ihn.

Der Wirt hieß George. Sein Name schwirrte ständig durch die Luft, verschwand nie ganz. George? Der Klang seines Namens hing im Rauch. George. Nie wie ein Befehl, immer wie ein Gruß. George wurde nie hektisch, aber er war immer da. Er lächelte uns zu, wann immer er an uns vorbeikam.

– Gentlemen, sagte er.

Er war weder sarkastisch noch abfällig. Und genau das war der Punkt: Er respektierte uns. Um ehrlich zu sein, hatte kein erwachsener Mann – kein Mann, der älter war als ich – mich je zuvor respektiert. Mit Ausnahme meines Vaters vielleicht. Aber das war mein Vater und ein Witwer. Im Haus gab es nur uns zwei, und wir kamen gut miteinander aus, ohne uns allzu viel Mühe geben zu müssen. Ich liebte meinen Vater, und ich hasste ihn. George kannte uns nicht und schenkte uns trotzdem dieselbe Aufmerksamkeit wie allen anderen. In dieser Stunde am Samstag, zwischen fünf und sechs Uhr, trafen Generationen von Gästen zusammen. Manche kamen früher, und andere blieben länger. Aber in dieser Stunde waren sie alle da, jeden Samstag. Diese eine Stunde wurde zu meiner Lieblingszeit in der Woche. Es gab weder Fernseher noch Radio, um uns die Fußballergebnisse zu verraten, aber ich vermisste nichts. Irgendwann würden wir zu diesen Menschen gehören; wir waren bereits Teil dieser Menschen. Es gab da diesen gut aussehenden Mann, der sich seit ein paar Tagen nicht rasiert hatte und bereits ziemlich viele graue Haare hatte. Er war in Begleitung einer wunderschönen Frau mit Leder-Shopper. In zehn, vielleicht fünfzehn Jahren würde ich wie dieser Mann sein. Ich würde jeden Samstag zur Teestunde hier sein. Nur, dass es dann keine Teestunden mehr geben würde.

– Wie lange sind wir schon da?, fragte Joe mich an jenem ersten Nachmittag.

– Keine Ahnung, sagte ich.

Ich sah auf die Uhr.

– Zwei Stunden? Länger? Vielleicht drei.

– Wie viele Pints hatten wir?, fragte er.

Ich musste erst nachdenken.

– Zwei, antwortete ich.

Ich schaute auf mein Glas. Für ein neues war ich noch nicht bereit.

– Anderthalb.

– Jesus, sagte Joe. – Ist ja unglaublich, Wahnsinn!

Normalerweise wären wir schon beim fünften gewesen, hätten die Welt um uns herum längst ausgeblendet. Uns eingeigelt und aufgeplustert. Wir waren an dem Tag schon mal betrunken gewesen, wir legten also nur nach. Aber es war anders. Jetzt waren wir hier. Hier mussten wir weder unsere Köpfe einziehen noch lästern, mussten Leute, die nichts davon mitbekamen, nicht runtermachen. Wir mussten uns nicht anstacheln und ordentlich aufdrehen. Es war ein Traum; und er besaß sämtliche Qualitäten, um ein richtig guter zu werden. Natürlich lag das am Alkohol, ich weiß, er konnte der Umgebung blinde Flecken und verschwommene Ränder verleihen. Nichts geschah unerwartet oder ungewollt; es gab nichts, das über diesen Nachmittag hinausging. Es war der perfekte Zustand, und jetzt, Jahrzehnte später, ist mir klar, dass dieser Zustand nur an einem Samstagnachmittag bei George erreichbar gewesen war. Ich glaube nicht, dass ich sentimental bin, zumindest nicht nur sentimental.

Ich lächelte George zu.

– Zwei bitte, George, sagte ich.

Ich erinnere mich nicht daran, dass ich gelächelt habe, aber es muss so gewesen sein. Ich war einundzwanzig. In den zehn Jahren vor diesem Nachmittag hatte ich nur gelächelt, wenn ich beschloss zu lächeln. Auch das war hier anders. Ich sah George zu, wie er die Gläser füllte und sie neben die bereits wartenden vier Pints auf das Geschirrtuch stellte. Er lächelte die Sechserreihe an, dann drehte er sich weg und schenkte Gin und Wodka ein. Ich sah Joe an, der ebenfalls lächelte, also muss ich auch gelächelt haben. Es war kein Grinsen. Es war nicht, weil ich frech gewesen war und einen mir unbekannten mittelalten Mann George genannt hatte. Ich war nicht frech gewesen. Frech zu sein gehörte der Vergangenheit an, genau wie Wut und Missgunst, Dummheit, Ausgeschlossensein. Das war der Grund, weshalb Joe lächelte. Wir waren in einem neuen, unerwarteten Leben gelandet, und wir waren dort zu Hause. Erwachsensein war gar nicht so schlimm.

Es gab da noch etwas, eine weitere Komponente. Uns wurde ein neues Leben vorgeführt; wir bekamen Einblick in die Welt der Mittelklasse, eine Leichtigkeit, eine Anmut, die wir noch nie erlebt hatten. Und wenn wir wollten, konnte sie zur unserer werden.

– Gentlemen, sagte George, als er uns die Pints hinstellte.

– Haben Sie vielen Dank, George, sagte Joe.

Jetzt war es an ihm, einen erwachsenen Mann George zu nennen.

– Die sehen sehr gut aus, sagte er.

George schmunzelte und nahm das Geld entgegen. Er brachte das Wechselgeld – »Hier, Sir« – und ließ es neben meinem Pint liegen.

– Danke, George.

Wir waren völlig stramm, logisch. Hackedicht. Das wurde mir klar, als ich aufstand, um nach unten auf die Toilette zu gehen. Ich zählte die Treppenstufen. Als ich mich selbst hörte, ließ ich es sein. Aber sogar das, der Weg zum Klo, war anders. Meine Füße auf den hölzernen Stufen produzierten die selbstsicheren Schritte eines Mannes, der wusste, wo er hinwollte. Ich drehte mich sogar um, um nachzusehen, wer hinter mir die Treppe runterkam. Doch da war niemand; diese Selbstsicherheit ging von mir aus.

Als ich vom Klo zurückkam, leerte sich die Kneipe allmählich. Die Einkäufer gingen nach Hause, ebenso der Mann mit seinem Private Eye und dem Pferdeschwanz. Eine Minute lang – wirklich nur ganz kurz – gab es bloß uns und George. Das war aufregend.

– Ganz schön still jetzt, sagte Joe.

– Ja, sagte George.

Er sammelte die leeren und halb leeren Gläser und Flaschen auf den drei Tischen hinter uns ein. Stellte sie auf die Theke.

– Die Ruhe vor dem Sturm, sagte er.

Er lächelte immer noch. Er liebte den Sturm, er liebte die Ruhe.

Ich sah mich um. Es war eine Welt in Schwarz-Weiß. Weiße Wände, schwarze Fensterrahmen, schwarze Theke, das weiße Hemd von George.

– Das Klo, sagte ich leise.

– Hä?, sagte Joe.

– Das musst du dir anschauen.

– Mach ich.

– Es ist total sauber, sagte ich.

– Verarsch mich nicht.

– Und gut beleuchtet, sagte ich. – Es gibt sogar eine Scheißglühbirne.

– Mein Gott.

– Ungelogen, sagte ich. – Da drin könntest du dein Scheißabendbrot vom Fußboden essen.

Der Raum war warm, und die Kälte, die hereinströmte, als die Tür aufging, war überdeutlich zu spüren und willkommen. Der Eindringling nicht. Wir hatten George für uns gehabt, das war nun vorbei. Der Mann, der zur Tür hereingekommen war, war klein und jung – er war überhaupt kein Mann; er war nur ein Junge, ein Kind wie aus einem Roman von Dickens – und er zog sich schon den Anorak aus, als noch die Tür hin und her schwang. Er trug ein weißes Hemd. Er gehörte zum Personal, der Lehrling.

– William, sagte George.

– George, sagte William.

– Hast du zu Abend gegessen?, fragte George ihn.

– Leber, sagte William.

George klatschte in die Hände und rieb sie aneinander.

– Schön, sagte er. – Mit Zwiebeln.

– Ich mag keine Zwiebeln, sagte William.

Er verschwand hinter einer Tür und kam ohne den Anorak zurück. Als er uns entdeckte, nickte er uns zu. Das gefiel mir nicht. Er war siebzehn, vielleicht achtzehn und nickte uns zu wie Seinesgleichen, wie zwei Jungs vom anderen Flussufer. Er sah nicht, was er hätte sehen sollen. Wenn George uns jetzt wieder ansah, würde er zwei Kinder sehen.

– Hat dir deine Mutter die Zwiebeln auf den Teller getan?, fragte George William.

– Ja, hat sie, sagte William.

– Dann will ich hoffen, dass du sie aufgegessen hast, sagte George und zwinkerte uns zu.

Und damit stand es fest. Wir waren immer noch erwachsen. William schluckte die Lektion, und George räumte die letzten Gläser und Flaschen auf die Theke. Dann ging er zurück hinter die Bar und fing an abzuspülen. George spülte, William polierte. Er sortierte die Flaschen, die George ausspülte, in eine Kiste und brachte sie runter in den Keller. Ich wartete darauf, dass George uns wieder ansah und lächelte, aber er tat es nicht. Mich juckte es wie irre, etwas ganz bisschen Fieses über den Jungen zu sagen. Aber ich tat es nicht. Das wäre nicht erwünscht gewesen; das war mir klar. Es wäre kindisch gewesen.

– Guter Mann, George, sagte Joe. – Zwiebeln sind gut für die Verdauung.

George lachte. Er trocknete das letzte Glas ab, bückte sich und stellte es unten ins Regal. Sein Lachen war weder laut noch konspirativ oder diplomatisch und gezwungen. Er hatte etwas Amüsantes gehört und darüber gelacht. Joe hatte ihn nicht provoziert, seinen Lehrling zu verraten oder uns die Erlaubnis zu geben, über William herzufallen, sobald er wieder aus dem Keller kam. Er hatte etwas Witziges gesagt – Zwiebeln waren immer für einen Lacher gut – und damit gleichzeitig unser Stimmrecht im Land der Erwachsenen behauptet. Und Georges Reaktion hatte dieses Recht bestätigt.

– Noch zwei, bitte, George.

Die Tür schwang immer wieder auf, und eine neue Art von Kunden schlüpfte herein und bevölkerte den Gastraum, sie waren jünger als die Einkäufer von vorhin, aber trotzdem zwei oder drei entscheidende Jahre älter als wir. Wir saßen weit hinten bei den Garderobenhaken in der Nähe der beiden Treppen, die runter aufs Herrenklo und rauf zu den Damen führten. Der Pub füllte sich schnell, ganz so, als wäre eine Riesenclique an Freunden hereingeschwärmt. Sie belegten den Bereich neben der Tür und schienen dann Kundschafter in die noch unbesiedelten Ecken auszusenden. Sobald sich eine Lücke auftat, traten zwei oder drei hinein und belegten die verbleibenden Hocker an der Bar und die Tische und Bänke entlang der Wände. Sie waren hier alle zu Hause und alle irgendwie miteinander verbunden. Obwohl es, wie ich jetzt erkennen konnte, gar kein einziger, fröhlicher Pulk war. Es gab Männer in Zweier- oder Dreiergruppen, zwei einzelne Gäste, Pärchen und Pärchen mit Pärchen und zwei größere, lose Gruppen von Freunden. Sie hatten etwas an sich. Selbstvertrauen, vielleicht. Eine körperliche Entspanntheit – sie standen und lehnten und saßen und schlugen die Beine übereinander, als hätte man ihnen beigebracht, wie man so was ordentlich macht. Obwohl weder Weihnachten war noch Weihnachten vor der Tür stand, wirkten trotzdem alle wie gerade heimgekehrte Emigranten, die sich woanders Verhaltensweisen, Ideen, eine Körpersprache angeeignet hatten, die sie in Irland niemals gelernt hätten.

Sie waren umwerfend.

William schenkte uns Bier nach und stellte die Gläser vor uns hin.

– Weißt du die Ergebnisse?, fragte ich ihn.

Ich brauchte dringend was Vertrautes, und William war uns in dem ganzen Laden hier noch am ähnlichsten.

– Was wollt ihr wissen?, fragte er.

– Leeds.

Er lächelte.

– Verloren.

– Liverpool, sagte Joe.

– Gewonnen.

Er gab Joe sein Wechselgeld.

– Bitte sehr, der Herr.

Das genügte; das beruhigte uns. Eben hatte ich noch den Drang verspürt, zu gehen oder mich volllaufen zu lassen. Ich hatte ein bisschen Panik bekommen und Joe garantiert auch. Aber wir sagten nichts. Wir saßen da, beobachteten und hörten zu. Was nicht daran lag, dass die meisten dieser Leute uns ein paar Jahre voraus hatten. Inzwischen bin ich mir auch gar nicht mehr so sicher, ob das stimmte. Ich sah in die jungen Gesichter um mich herum und in die im langen Spiegel hinter der Bar. Vor Ende des Jahres bin ich zweiundzwanzig, sagte ich mir. Ich hatte eine Ausbildung; ich hatte einen Abschluss. Diese Menschen waren hier zu Hause; das war der Grund. Zu Hause, hier, bei George. Überall zu Hause, wahrscheinlich. Wir waren eben erst hier angekommen. Wir hatten gerade mal den Fuß in der Tür. Wir hatten noch keinen Stallgeruch.

Joe kam damit besser zurecht als ich. In Gedanken war ich gut; ich war charmant, redegewandt, kommunikativ. Aber – das ist mir jetzt klar, als ich mich selbst da sitzen sehe – ich saß einfach nur da. Ich schaute mir alle im Spiegel an. Immerhin fühlte ich mich nicht ausgeschlossen. Das war ein großer Fortschritt. Doch ich war schüchtern.

Joe nicht. Zumindest glaube ich das. Er drehte sich nicht auf seinem Hocker um, um sich der Gruppe hinter uns zuzuwenden. Er warf nichts über Ronald Reagan oder den Zustand des Irish Rugby in die Runde. Er platzte nicht, wie mein Vater es ausgedrückt hätte, dazwischen. Aber er war unbeschwerter, irgendwie – lockerer als ich. Er saß quer auf seinem Hocker und reichte Pints und Wechselgeld hin und her. Er alberte mit Leuten herum, die er noch nie gesehen hatte. Er lächelte Frauen an. Er war da, viel mehr als ich es war oder je hätte sein können. Dafür liebte ich ihn, und auch wieder nicht.

Sie war da. Die Frau, die uns vorhin aufgefallen war, das Mädchen, das, wie wir noch herausfinden würden, Cello spielte – sie war zurück. Jetzt konnte ich sie richtig sehen. Als Erstes fiel mir auf, dass ich sie von irgendwoher kannte, und es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, dass ich sie erst vor drei Stunden hier gesehen hatte. Viel wichtiger war die Tatsache, sie entdeckt zu haben. Wie ein lange vermisster und plötzlich wiederentdeckter Mensch. Ich glaubte sogar, ihren Namen zu kennen.